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1. Es ist einfacher,
sich das Ende der Welt vorzustellen
als das Ende des Kapitalismus

Fisher-2009

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In einer Schlüsselszene von Alfonso Cuaróns Film <Children of Men> (2006) besucht der von Clive Owen gespielte Charakter Theo einen Freund in der Battersea Power Station,(1) die in naher Zukunft eine Kombination von Regierungsgebäude und privater Kunstsammlung sein wird. Kulturschätze wie Michelangelos David, Picassos Guernica und das aufblasbare Schwein von Pink Floyd werden in diesem Gebäude, das selbst schon ein renoviertes, denkmalgeschütztes Kunstwerk ist, aufbewahrt.

1 Die »Battersea Power Station« ist ein ehemaliges Kohlekraftwerk am südlichen Themseufer in London. Es ist denkmalgeschützt und ist u.a. auf dem Cover von Pink Floyds Album »Animals« abgebildet. Das Kraftwerk wurde 1983 vom Netz genommen, seitdem wird es nicht mehr genutzt. Mehrere Entwürfe, die Battersea Power Station als Wohn- oder Ausstellungsraum zu nutzen, sind bis heute nicht verwirklicht. (Anm.d.Ü.)

Uns Zuschauern bietet sich in dieser Szene ein einmaliger Einblick in das Leben der Elite von Children of Men, die sich hier verschanzt hat, um den Folgen einer Katastrophe zu entgehen, die eine Massensterilität verursacht hat: Seit über einer Generation sind keine Kinder mehr geboren worden. Theo stellt eine Frage: »In hundert Jahren wird kein Schwein mehr da sein, um sich das hier anzusehen. Wieso machst du weiter?« Zukünftige Generationen stellen nicht länger ein Alibi für das Anhäufen von Kunst dar, weil es keine zukünftigen Generationen mehr geben wird. Sein Gegenüber gibt ihm eine süffisante Antwort voll nihilistischem Hedonismus: »Weißt du, wieso, Theo? Weil ich einfach nicht darüber nachdenke.«

Children of Men zeigt uns eine für den Spätkapitalismus spezifische Dystopie. Sie bedient sich nicht des bereits bekannten totalitaristischen Szenarios, das in dystopischen Filmen für gewöhnlich entfaltet wird (z.B. in James McTeigues V wie Vendetta aus dem Jahr 2005). In P.D. James’ Buch, auf dem der Film basiert, ist die Demokratie abgeschafft worden und das Land wird von einem selbsternannten »Wächter« regiert. Klugerweise vernachlässigt der Film diesen Aspekt, weshalb die Situation auf uns Zuschauer so wirkt, als wären die omnipräsenten autoritären Maßnahmen innerhalb einer politischen Struktur eingeführt worden, die zumindest nominell demokratisch geblieben ist. Der »Krieg gegen den Terror« hat uns auf eine solche Entwicklung vorbereitet: Die Normalisierung einer Krise produziert eine Situation, in der es unvorstellbar geworden ist, dass Notfallmaßnahmen wieder aufgehoben werden könnten. Wann sollte das auch sein – wenn der Krieg vorbei ist?

Wenn man Children of Men sieht, erinnert man sich zwangsläufig an einen Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschriebenen Satz: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.«

Dieser Slogan fasst treffend zusammen, was ich unter »kapitalistischem Realismus« verstehe: das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.

Früher waren dystopische Filme und Romane eine Art Fingerübung in diesem Vorstellungsvermögen. Die Katastrophen, die sie ausgemalt haben, waren ein erzählerischer Prätext für die Herausbildung einer anderen Form des Zusammenlebens.

Nicht so Children of Men. Der Film entwirft eine Welt, die eher wie eine Zuspitzung oder Verschlimmerung von unserer wirkt als wie eine Alternative zu dieser. In beiden, der Welt des Films ebenso wie in unserer, sind ein Ultra-Autoritarismus und das Kapital keinesfalls inkompatibel: Café-Ketten existieren parallel zu Gefangenenlagern.

In Children of Men ist der öffentliche Raum aufgegeben worden und wurde liegen gebliebenem Müll und herumstreunenden Tieren überlassen. Eine besonders erinnerungswürdige Szene spielt in einer verlassenen Schule, durch die ein Reh läuft. Anhänger des Neoliberalismus, die kapitalistischen Realisten par excellence, haben die Zerstörung öffentlicher Räume immer gefeiert. Aber im Gegensatz zu ihren offiziell geäußerten Wünschen ist der Staat in Children of Men nicht einfach verschwunden, sondern wurde lediglich auf seine Grundfunktionen aus Militär und Polizei zurechtgestutzt.

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(Ich bezeichne diese Wünsche als »offiziell geäußert«, weil der Neoliberalismus hinterrücks auf den Staat zurückgegriffen hat, während er ihn ideologisch missbilligte. Dies wurde auf spektakuläre Art und Weise während der Bankenkrise 2008 klar, als der Staat auf Einladung neoliberaler Ideologen herbeieilte, um das Bankensystem zu stützen.)

Die Katastrophe in Children of Men erwartet uns nicht in der Zukunft, noch liegt sie bereits hinter uns. Stattdessen durchlebt man sie einfach. Es gibt keinen exakten Augenblick des Desasters, die Welt endet nicht mit einem Knall, sondern döst vor sich hin, franst aus, und fällt Stück für Stück auseinander. Niemand weiß, was die Katastrophe verursacht hat. Ihre Ursachen liegen weit in der Vergangenheit, sie sind so vollkommen von der Gegenwart entkoppelt, dass sie wie die Launen eines bösartigen Wesens wirken: ein negatives Wunder, ein Fluch, den keine Buße lindern kann. Eine solche Zerstörung kann nur durch ein Eingreifen gelindert werden, das man ebenso wenig vorhersehen kann, wie der Beginn der Katastrophe zu prognostizieren war. Es ist sinnlos geworden zu handeln, nur unsinnige Hoffnung ergibt noch Sinn. Aberglaube und Religion, die liebsten Zufluchtsorte der Hilflosen, befinden sich in voller Blüte.

Aber was ist mit der Katastrophe selber? Es ist klar, dass das Motiv der Sterilität metaphorisch verstanden werden muss, als Verschiebung hin zu einer anderen Form von Ängsten. Diese sollten als kulturelle Ängste verstanden werden: Der Film stellt die Frage, wie lange eine Kultur ohne etwas Neues überleben kann. Was passiert, wenn die Jugend nicht mehr in der Lage ist, Überraschendes zu produzieren?

Children of Men legt nahe, dass das Ende bereits gekommen ist, dass es durchaus der Fall sein könnte, dass die Zukunft nur mehr Wiederholungen und um sich selbst kreisende Permutationen bieten wird. Könnte es wirklich möglich sein, dass es keine Brüche mit dem Alten, keine »Schocks des Neuen« mehr geben wird? Solche Ängste resultieren in einer bipolaren Schwingung: Die »schwache messianische« Hoffnung, dass es immer etwas Neues geben wird, schlägt in die missmutige Überzeugung um, dass niemals etwas Neues geschehen wird. Der Fokus verschiebt sich vom »Next Big Thing« zum letzten großen Ding und der Frage, wie viel Zeit seitdem vergangen ist und wie groß es denn in der Rückschau eigentlich war.

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Im Hintergrund von Children of Men zeichnen sich die Ideen von T.S. Eliot ab. Nicht umsonst hat der Film das Sterilitäts-Motiv aus Das wüste Land entlehnt. »Shantih, Shantih, Shantih« – der Epigraf, der den Film beendet – hat mehr mit Eliots Fragmenten gemeinsam als mit dem Frieden der Upanishaden. Vielleicht werden dabei die Sorgen eines anderen Eliots sichtbar – des Eliots, der »Tradition and the Individual Talent« (1919) geschrieben hat, das in Children of Men verschlüsselt nachwirkt. Schon vor Harold Bloom hat Eliot in diesem Essay die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Kanonischen und dem Neuen beschrieben. Das Neue defi niert sich in Abgrenzung zum bereits Etablierten, gleichzeitig muss sich das bereits Etablierte als Reaktion auf das Neue rekon-fi gurieren. Eliots Argumentation war, dass wir keine Vergangenheit mehr besitzen werden, wenn die Zukunft erschöpft ist. Die Tradition ist bedeutungslos, wenn sie nicht länger herausgefordert und modifi ziert wird. Eine Kultur, die nur erhalten wird, ist keine Kultur. Das Schicksal von Picassos Guernica im Film ist dafür ein gutes Beispiel. Einst war es ein Aufschrei aus Kummer und Wut über faschistische Verbrechen, jetzt ist es Wanddekoration. Wie die Battersea Power Station, wo es im Film hängt, wird dem Bild nur ein ikonischer Status zugesprochen, wenn es von jeglichem Kontext oder von jeglicher Funktion befreit ist. Kein Kunstwerk kann seine Kraft erhalten, wenn es nicht immer wieder mit neuen Augen betrachtet wird.

Wir brauchen nicht auf die nahe Zukunft aus Children of Men zu warten, um die Transformation unserer Kultur in Museumsstücke zu beobachten. Die Macht des »kapitalistischen Realismus« leitet sich teilweise von der Art und Weise ab, wie der Kapitalismus alle vorhergehende Geschichte subsumiert und konsumiert. Das ist einer der Effekte seines »Äquivalenzsystems«, das allen kulturellen Objekten, egal ob es sich um religiöse Ikonen, Pornogra-fi e oder einer Ausgabe von Das Kapital handelt, einen monetären Wert zuweist. Wenn man durch das British Museum wandert und sieht, wie dort Gegenstände aus ihren Lebenswelten gerissen und gehortet werden, so als wären sie an Bord eines »Predator«-Raum-schiffs, bekommt man ein sehr mächtiges Bild davon, wie dieser Prozess funktioniert. Mit der Umwandlung von Praktiken und Ri-10
tualen in rein ästhetische Objekte werden die Weltanschauungen vergangener Kulturen objektiv ironisiert und in Artefakte transformiert. Kapitalistischer Realismus ist daher nicht nur ein bestimmter Typ Realismus, er ähnelt eher einem Realismus an sich. Marx und Engels selbst haben das schon im Manifest der Kommunistischen Partei angemerkt:
»[Das Kapital] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.« (Marx/Engels 1972: 464f.) Der Kapitalismus bleibt übrig, wenn die Rituale oder elaborierten Symbolwelten aller anderen Glaubenssysteme kollabiert sind und nur noch der Zuschauer-Konsument durch die Ruinen und Relikte wandert.

Aber dieser Wandel vom Glauben zur Ästhetik, vom Engagement zur Zuschauerschaft, wird im Allgemeinen als einer der Vorzüge des kapitalistischen Realismus beschrieben. Dadurch, dass er von sich behauptet, dass er – wie es Alain Badiou ausdrückt – »uns von den ›tödlichen Abstraktionen‹, die durch die ›Ideologien der Vergangenheit‹ inspiriert sind, erlöst habe« (Badiou/Cox/Whalen 2001), präsentiert sich der kapitalistische Realismus als ein Schild, der uns vor den Gefahren schützt, die bereits dem Glauben an sich innewohnen. Eine ironisch-distanzierte Haltung, die typisch für den postmodernen Kapitalismus ist, soll uns gegen die Verführungen des Fanatismus immunisieren. Unsere Erwartungen herunterzuschrauben, so erzählt man uns, sei ein kleiner Preis dafür, dass wir vor Terror und Totalitarismus sicher sind. »Wir leben in einem Widerspruch«, meint Badiou:
»ein brutaler Stand der Dinge, im höchsten Maße ungleich – in dem jegliche Form von Existenz nur auf der Basis von Geld bewertet wird – wird uns als ein Ideal präsentiert. Um ihren eigenen Konservatismus zu rechtfertigen, können die Partisanen

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der etablierten Ordnung diesen Zustand nicht wirklich als ›ideal‹ oder ›wunderbar‹ beschreiben. Stattdessen haben sie beschlossen, einfach alle anderen Zustände ›schrecklich‹ zu nennen. Sicherlich leben wir nicht unter den Bedingungen des vollkommen Guten, so sagen sie. Aber wir müssten glücklich sein, dass wir nicht unter den Bedingungen des Bösen leben. Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Aber sie ist besser als die blutigen Diktaturen. Der Kapitalismus mag ungerecht sein. Aber er ist nicht kriminell wie der Stalinismus. Wir lassen Millionen Afrikaner an AIDS sterben, aber wir geben wenigstens keine nationalistischen Deklarationen von uns, wie es Milošević tut. Wir töten Irakis per Flugzeug, aber wir schlitzen niemandem mit einer Machete die Kehle auf, wie es in Ruanda der Fall war.« (ebd.) Der »Realismus«, der hier beschrieben wird, funktioniert analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind.

In ihrer Darstellung, die zweifelsohne die beeindruckendste seit der von Marx ist, beschreiben Gilles Deleuze und Felix Guattari den Kapitalismus als eine dunkle Potenzialität, die alle vorangegangenen sozialen Systeme heimgesucht hat. Das Kapital, so ihre Argumentation, ist »die Sache, der Namenlose«,2 eine Abscheulichkeit, die primitive und feudale Gesellschaften schon heraufkommen sahen, aber daran »gehindert wurde einzutreten« (De-leuze/Guattari 1977: 195). Als er dann endlich eintritt, bringt der Kapitalismus eine enorme Entweihung der Kultur mit sich. Er ist ein System, das nicht länger durch ein transzendentes Gesetz geregelt wird. Im Gegenteil, er zerstört all diese Regeln, nur um sie auf einer ad-hoc-Basis wieder einzusetzen. Die Grenzen des Kapitalismus sind nicht per Anordnung fi xiert, sondern werden pragmatisch und improvisatorisch defi niert (und redefi niert). So erinnert der Kapitalismus ein wenig an das »Ding« aus dem gleichnamigen Film von John Carpenter: eine monströse, unendlich formbare En-tität, die fähig ist, alles zu absorbieren und zu verdauen, mit dem

2 »Der Namenlose« bezieht sich auf Samuel Becketts Roman Der Namenlose von 1953. (Anm.d.Ü.)

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sie in Kontakt kommt. Das Kapital, so Deleuze und Guattari, ist ein »kunterbuntes Gemälde« (ebd.: 45) von allem, was jemals war; ein merkwürdiger Hybrid aus dem Ultra-Modernen und dem Archaischen. Seitdem Deleuze und Guattari die beiden Bände von Kapitalismus und Schizophrenie geschrieben haben, scheinen sich die deterritorialisierenden Impulse des Kapitalismus auf den Finanzsektor beschränkt zu haben, wohingegen die Kultur von den Kräften der Reterritorialisierung beherrscht wird.

Diese Malaise, das Gefühl, dass es nichts Neues gibt, ist selbst nicht neu. Wir befi nden uns am notorischen »Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama nach dem Fall der Berliner Mauer verkündet hat. Fukuyamas These, dass die Geschichte mit dem liberalen Kapitalismus auf ihrem Höhepunkt angelangt sei (Fukuyama 1992), mag auf breiter Front verspottet worden sein, aber auf der Ebene des kulturell Unbewussten ist sie weitestgehend akzeptiert und sogar übernommen worden. Man sollte nicht vergessen, dass Fukuy-amas Idee, dass die Geschichte einen »fi nalen Strand« (J.G. Ballard) erreicht hat, nicht nur triumphalistisch war. Fukuyama warnte, dass seine »strahlende Stadt«3 heimgesucht werden würde, aber er hatte dabei den Geist Nietzsches und nicht den von Marx im Sinn. In einigen von Nietzsches hellsichtigsten Passagen beschreibt er die »Übersättigung einer Zeit in Historie«: »[D]urch dieses Ueber-maass geräth eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst«, schrieb Nietzsche in Unzeitgemäße Betrachtungen, »und aus ihr in die noch gefährlichere des Cynismus« (Nietzsche 1988: 279), in der »kosmopolitische Anfühlerei« (ebd.: 410), eine distanzierte Zuschauerhaltung, das Engagement und das Involviert-sein ersetzen. Dies sind die Existenzbedingungen von Nietzsches »letztem Menschen«, der alles schon gesehen hat, aber von jenem Exzess der (Selbst-)Wahrnehmung dekadent geschwächt ist.

Fukuyamas Position verhält sich in gewisser Weise spiegelbildlich zu Fredric Jamesons These, wonach der Postmodernismus die »kulturelle Logik des Spätkapitalismus« (Jameson 1986) darstellt.

3 Eine Anspielung auf »La Ville radieuse« des französischen Architekten Le Corbusier. In diesem Essay entwirft er die Vision einer Gesellschaft, in der der Staat für die Verwaltung der Ökonomie nicht länger notwendig ist. (Anm.d.Ü.)

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Jameson verstand das Scheitern von Zukunftsentwürfen als konsti-tutiv für eine postmoderne Kultur, die – wie er fast schon prophetisch bemerkte – durch Pastiche4 und Revivals dominiert werden würde. Wenn man sich vor Augen führt, dass Jameson überzeugende Argumente für den Zusammenhang zwischen postmoderner Kultur und gewissen Tendenzen im konsumentengetriebenen Kapitalismus (bzw. Postfordismus) nennt, könnte man fast auf die Idee kommen, dass das Konzept des kapitalistischen Realismus über-fl üssig sein könnte.

In gewisser Weise stimmt das sogar. Was ich als »kapitalistischer Realismus« bezeichne, kann man durchaus als ein Teil dessen beschreiben, was Jameson »Postmodernismus« nennt. Aber trotz Jamesons heroischer Begriffsarbeit bleibt der Begriff des »Postmodernismus« umkämpft, seine Bedeutung ist fluktuierend, vielschichtig und insofern zwar sachgerecht, aber nicht sonderlich hilfreich. Wichtiger als dies scheint mir aber zu sein, dass sich einige der von Jameson beschriebenen und analysierten Prozesse heute verschärft haben und dermaßen chronisch geworden sind, dass sie sich dadurch verändert haben.

Letztlich gibt es drei Gründe, warum ich den Begriff »kapitalistischer Realismus« dem des »Postmodernismus« vorziehe. Als Jameson seine These in den 1980er Jahren zum ersten Mal vorstellte, existierten politische Systeme und Ideen, die zumindest dem Namen nach noch Alternativen zum Kapitalismus darstellten. Heute haben wir es aber mit einem tieferen, weitaus umfassenderen Gefühl der Erschöpfung, der politischen und kulturellen Sterilität zu tun. In den 1980er Jahren existierte der »realexistierende Sozialismus« noch, wenngleich er sich bereits in den letzten Zügen befand. In Großbritannien traten die Bruchlinien des Klassenantagonismus durch ein Ereignis wie den Bergarbeiterstreik in den Jahren 1984-85 offen zutage. Die Niederlage der Bergarbeiter war ein entscheidender Moment in der Entwicklung des kapitalistischen Realismus und zwar ebenso was ihre symbolische Dimension als auch was ihre praktischen Auswirkungen betrifft. Die Schließung der

4 Als »Pastiche« bezeichnet man die Imitation eines Stils, ohne diesen in irgendeiner Form zu modifi zieren (Anm.d.Ü.)

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Gruben wurde damit begründet, dass es nicht »ökonomisch realistisch« sei, diese weiter zu betreiben. So wurden die Bergarbeiter zu den Darstellern einer proletarischen Romanze auserkoren, die dem Untergang geweiht war. Die 1980er Jahre waren die Zeit, in der für den kapitalistischen Realismus gekämpft wurde. Er etablierte sich, als Margaret Thatchers Doktrin »Es gibt keine Alternative« – prägnanter kann man den kapitalistischen Realismus nicht auf den Punkt bringen – zu einer brutalen, sich selbst erfüllenden Prophezeiung wurde.

Zweitens steht der Begriff des »Postmodernismus« in einem Bezug zum Modernismus. Jameson beginnt seine Arbeiten über den Postmodernismus mit einer Untersuchung der Idee, die u.a. auch von Theodor W. Adorno geteilt wird: Schon alleine wegen seiner formalen Innovationen besitzt der Modernismus ein revolutionäres Potenzial. Aber was passierte, war, dass modernistische Motive in die Populärkultur integriert wurden. So tauchten plötzlich surrealistische Techniken in der Werbung auf. Zur gleichen Zeit, als bestimmte Formen des Modernismus absorbiert und kommodifi ziert wurden, wurde das Credo des Modernismus – sein angeblicher Glaube an einen Elitarismus, sein monologisches, von oben kommendes Modell von Kultur – scharf kritisiert und im Namen von »Differenz«, »Diversität« und »Vielfalt« verworfen. Der kapitalistische Realismus inszeniert diese Konfrontation mit dem Modernismus nicht länger. Im Gegenteil, er nimmt das Verschwinden des Modernismus als gegeben hin: Der Modernismus wird zu etwas, was periodisch wiederkehren kann – aber nur als fossilierter, rein ästhetischer Stil, niemals als Ideal der Lebensführung.

Zum dritten gibt es eine Generation, die den Fall der Berliner Mauer nicht mehr miterlebt hat. In den 1960er und 1970er Jahren musste sich der Kapitalismus dem Problem stellen, wie man Energien von außerhalb einfangen und absorbieren konnte. Mittlerweile steht er vor dem gegenteiligen Problem: Nachdem er alle Externa-litäten erfolgreich absorbiert hat, stellt sich die Frage: Wie soll er ohne ein Außen, das er kolonisieren und sich aneignen kann, weiter funktionieren? Für die meisten Menschen in Europa und Nordamerika, die jünger als 20 Jahre sind, ist der Mangel an Alternativen zum Kapitalismus nicht länger ein Thema. Der Kapitalismus be-

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stimmt nahtlos den Horizont des Denkbaren. Jameson hat in diversen Horrorszenarien beschrieben, wie der Kapitalismus in unser Unbewusstes eindringt. Heute wird die Tatsache, dass er die Träume der Bevölkerung kolonisiert hat, als so selbstverständlich angesehen, dass dies kaum noch eines weiteren Kommentars wert ist. Es wäre gefährlich und irreführend, sich vorzustellen, dass die Vergangenheit quasi ein Zustand vor dem Sündenfall und damit voller politischer Potenziale gewesen ist.

Von daher sollte man sich den Stellenwert der Kommodifi zierung in der Produktion von Kultur im 20. Jahrhundert in Erinnerung rufen. Aber der alte Konfl ikt zwischen Zweckentfremdung (détournement) und Vereinnahmung (récupération)5, zwischen Subversion und Inkorporierung, scheint sich erledigt zu haben. Heute haben wir es weniger mit der Inkorporierung, der Einverleibung von Dingen, die angeblich mal subversiv gewesen sind, zu tun, als vielmehr mit ihrer Präinkorporierung: dem präventiven Formatieren und Gestalten von Begehren, Ansprüchen und Hoffnungen durch eine kapitalistische Kultur. Man muss sich nur die Etablierung von gesetzten »alternativen« oder »unabhängigen« kulturellen Zonen anschauen, in denen unaufhörlich alte Gesten der Rebellion oder der Kontroverse so durchgespielt werden, als würde dies zum ersten Mal geschehen. Begriffe wie »alternativ« und »unabhängig« bezeichnen nichts, was außerhalb eines Mainstreams passiert. De facto sind sie die dominanten Stile innerhalb des Mainstreams. Niemand verkörperte diesen totalen Stillstand stärker als Kurt Cobain und Nirvana . In seiner hundsmiserablen Trägheit und ziellosen Wut verlieh Cobain der Mutlosigkeit einer Generation eine ermattete Stimme, die nach der Geschichte gekommen ist und von der jede Bewegung antizipiert, registriert, ge- und verkauft wird, bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Co-bain wusste, dass er nur ein weiterer Teil des Spektakels ist, dass nichts besser auf MTV funktioniert als ein Protest gegen MTV,

5 Als détournement bezeichnet man eine künstlerische Praxis, bei der ein Kunstwerk ein Original in einer Weise variiert, die der Intention oder Aussage des Originals entgegensteht. Dies geschieht in der Regel zu politischen Zwecken, z.B. in »Spoof Ads«, bei denen die Logos und Werbeplakate bekannter Marken verfremdet werden. (Anm.d.Ü.)

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dass jede seiner Bewegungen ein im Voraus festgelegtes Klischee ist und dass selbst das Bewusst-Werden dieses Zusammenhangs ein weiteres Klischee darstellt. Der Cobain paralysierende Stillstand ist genau derselbe, den Jameson beschreibt: Wie die postmoderne Kultur im Allgemeinen fand sich Cobain in einer »Welt, in der stilistische Innovation nicht mehr möglich ist« wieder, »in der man nichts mehr tun kann als alte Stile zu imitieren, durch die Masken und mit den Stimmen der Stile in einem imaginären Museum zu sprechen« (Jameson 1998: 7).

Hier bedeutet sogar der Erfolg, dass man gescheitert ist, weil er nichts anderes darstellt als neues Futter, mit dem sich das System ernährt. Aber die starke existenzielle Angst von Nirvana und Co-bain gehören zu einer älteren Zeit; auf sie folgte ein Pastiche-Rock, der zwar die musikalischen Formen der Vergangenheit reproduzierte, aber nicht ihre innere Unruhe.

Cobains Tod bestätigte nur die Niederlage und die Einverleibung der utopischen und prometheischen Ambitionen von Rock. Als er starb, stand Rock bereits im Schatten von HipHop, dessen globaler Erfolg genau die oben schon erwähnte Präinkorporation durch das Kapital vorwegnahm. Für einen Großteil der HipHopKünstler war jegliche »naive« Hoffnung, dass eine Jugendkultur irgendeine Änderung herbeiführen könnte, schon durch die nüchterne Umarmung einer brutalen, reduktionistischen Version von »Realität« ersetzt worden. »Im HipHop«, schrieb Simon Reynolds 1996 in einem Essay für The Wire,
»hat ›real‹ zwei Bedeutungen. Zuerst steht es für authentische, kompromisslose Musik, die sich dem Ausverkauf an die Musikindustrie und einer Abmilderung ihrer Botschaft verweigert. ›Real‹ bedeutet aber auch, dass die Musik eine Realität refl ek-tiert, die sich durch die spätkapitalistische, ökonomische Instabilität, institutionellen Rassismus, verstärkte Überwachung und Schikanierung von Jugendlichen durch die Polizei konstituiert. ›Real‹ bedeutet aber auch einen Tod des Sozialen: es bedeutet, dass Firmen auf steigende Gewinne nicht mit höheren Löhnen oder verbesserten Sozialleistungen reagieren, sondern mit Stellenabbau (dem Entlassen der Kernbelegschaft um einen fl ottierenden Pool von in Teilzeit oder ›frei‹ beschäftigten Ar-

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beitern ohne Sozialleistungen oder Jobsicherheit hervorzubringen)« (Reynolds 1996). Letztlich war es so, dass HipHop gerade durch die Performance der ersten Version von »real« – das »Kompromisslose« – nahtlos in die zweite Version, die »Realität« des ökonomisch instabilen Spätkapitalismus, eingepasst werden konnte. Hier hat sich seine Authentizität als hochgradig vermarktbar erwiesen. Gangster-Rap re-fl ektiert also nicht einfach nur bereits vorher existierende soziale Bedingungen, wie viele seiner Fürsprecher meinen, noch verur sacht es diese Bedingungen, wie seine Kritiker argumentieren. Stattdessen ist es eher so, dass der Kreislauf, durch den HipHop und das soziale Feld im Spätkapitalismus einander verstärken, eines der Mittel ist, mit denen sich der kapitalistische Realismus in eine Art anti-mythischer Mythos verwandelt. Die Affi nität zwischen HipHop und Gangsterfi lmen wie Scarface, Der Pate, Reservoir Dogs, Goodfellas und Pulp Fiction begründet sich in der gemeinsamen Behauptung, dass sie die Welt von sentimentalen Illusionen befreit haben und zeigen, »wie sie wirklich ist«: ein Hobbes’scher Krieg aller gegen alle, ein System immerwährender Ausbeutung und allgemeiner Kriminalität. Im HipHop, schreibt Reynolds, »bedeutet ›get real‹, einem Naturzustand ins Auge zu sehen, in dem die Maxime ›Fressen oder Gefressen werden‹ gilt, wo man entweder ein Gewinner oder ein Verlierer ist und in der die meisten zu den Verlierern gehören.« (ebd.)

Die gleiche »Neo-Noir«-Weltsicht fi ndet man in den Comics von Frank Miller und den Romanen von James Ellroy, in denen eine Art Machismo der Entmythologisierung vorherrscht. Beide Autoren posieren als unnachgiebige Beobachter, die sich weigern, die Welt schöner zu reden, damit sie in die angeblich simplen ethischen Binaritäten des Superhelden-Comic und des traditionellen Krimis passt. Ihr »Realismus« wird durch ihre Fixierung auf das offensichtlich Korrupte eher unterstrichen anstatt untergraben – selbst wenn das übertriebene Insistieren auf Grausamkeiten, Verrat und Brutalität bei beiden Autoren schnell wie eine Pantomime wirkt. »In seiner Pechschwärze«, schreibt Mike Davis 1992 über Ellroy, »gibt es kein Licht mehr, das Schatten werfen könnte und das Böse wird zu einer forensischen Banalität. Das Ergebnis entspricht doch

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sehr der wirklichen moralischen Struktur der Reagan-Bush-Ära: einer Übersättigung mit Korruption, die keine Empörung oder auch nur Interesse mehr weckt.« (Davis 2006: 66) Aber diese De-sensibilisierung besitzt im kapitalistischen Realismus eine Funktion: Davis vermutete, dass der »L.A.-Noir in der Postmoderne (…) die Entstehung des homo reaganus« (ebd.) geradezu unterstützt haben könnte.

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