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7 - Der lange Sommer 

Wo die Bien', saug ich mich ein, Bette mich in Maiglöcklein, 
Lausche da, wenn Eulen schrein, Fliege mit der Schwalben Reihn 
Lustig hinterm Sommer drein. Lustiglich, lustiglich leb ich nun gleich 
Unter den Blüten, die hängen am Zweig. 
W.Shakespeare, Der Sturm

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Der lange, nun schon 8000 Jahre währende Sommer ist zweifelsohne das entscheidende Ereignis der Menschheits­geschichte. Obwohl die Landwirtschaft schon früher begann, vor rund 15.000 Jahren im Fruchtbaren Halbmond, züchteten wir erst in diesem Zeitraum unsere wichtigsten Nutzpflanzen, zähmten unsere Haustiere, bauten die ersten Städte, die ersten Bewässerungsgräben, schrieben die ersten Wörter nieder und prägten die ersten Münzen. Und all das geschah nicht nur ein Mal, sondern viele Male in verschiedenen Teilen der Welt. 

Noch ehe der lange Sommer 5000 Jahre alt war, waren in West- und Ostasien, in Afrika und Zentralamerika Städte entstanden, und sie waren einander erstaunlich ähnlich. Ob sie nun von Ägyptern, Maya oder Chinesen erbaut worden waren, Tempel, Häuser und Befestigungsanlagen sind alle als solche zu identifizieren. Als hätte der menschliche Geist schon die ganze Zeit einen Städtebauplan geborgen und nur darauf gewartet, bis die Umstände seine Umsetzung zuließen. Diese menschlichen Siedlungen wurden von einer Elite beherrscht, die sich auf fähige Handwerker stützte. In einigen Gesellschaften wurde Schrift entwickelt, und schon in den frühesten Aufzeichnungen — Tontafeln aus dem alten Mesopotamien — begegnet uns das Leben, wie es in einer großen Metropole gelebt wird.

Bis vor kurzem glaubte man, dieser lange Sommer sei die Folge eines kosmischen Glücksfalls gewesen: Die Milankovic-Zyklen und Sonne und Erde standen »genau richtig« zueinander, um eine Phase der Wärme und Stabilität von zuvor unbekannter Dauer herbeizuführen. Wie außergewöhnlich dieser Glücksfall war, wird klar, wenn wir die vier vorangegangenen Warmzeiten damit vergleichen. In all diesen Fällen finden wir keine Stabilität, sondern ein langes, unstetes Abkühlen, bis ein Punkt erreicht ist, an dem die Erde in ein weiteres Kälteloch fällt.

Bill Ruddiman, Umweltwissenschaftler an der University of Virginia, stellte in den natürlichen Zyklen nichts fest, was für die Stabilität unseres langen Sommers verantwortlich gemacht werden könnte, und so begann er nach einem singulären Faktor zu suchen — etwas, das nur auf diesen letzten Zyklus einwirkte, nicht aber auf die früheren. Dieser singulare Faktor, so sein Befund, waren wir selbst, und damit revolutionierte er eine weitere Entwicklung der jüngsten Zeit — nämlich die Ausweisung des Industriezeitalters als eigene geologische Epoche.

Der Nobelpreisträger Paul Crutzen (der für seine Forschungen über das Ozonloch geehrt wurde) und seine Kollegen haben den bedeutenden geologischen Vorgang als Erste erkannt und benannt. Sie tauften ihn <Anthropozän> — was »Zeitalter der Menschheit« bedeutet — und legten seinen Beginn auf 1800 n.Chr. fest, als das Methan und das CO2, das die gigantischen Maschinen der Industriellen Revolution zusammenbrauten, das Klima der Erde zu beeinflussen begannen.62) 

Ruddiman erweiterte diese Argumentation um einen einfallsreichen Dreh, denn er spürte etwas auf, das er für menschliche Einflüsse auf das Erdklima hält, die schon lange vor 1800 einsetzten. Ruddiman entdeckte eine Anomalie, als er die Anteile zweier wichtiger Treibhausgase — Methan und CO2 — in den Luftblasen im Eis Grönlands und der Antarktis auflistete. Das Eis enthüllte, dass bis vor rund 8000 Jahren der Methananteil in der Atmosphäre größtenteils von Milankovic' 22.000 Jahre dauerndem Insolationszyklus gesteuert wurde. Das macht Sinn, denn Methan wird in großen Mengen von Sümpfen produziert, sodass in warmen, feuchten Zeiten (in denen es viele Sümpfe gibt) mehr Methan produziert wird als in trockenen, kalten Phasen.

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Beim Beginn des letzten Insulationszyklus vor 8000 Jahren verlor der Milankovic-Mechanismus die Kontrolle über die Methan-Emissionen. Hätte der Insulations­zyklus sie weiter gesteuert, hätte vor rund 8000 Jahren ein allmählicher Rückgang des Methans einsetzen müssen, der dann vor 5000 Jahren in einen rapiden hätte übergehen müssen. Stattdessen begann der Methananteil nach einer flachen Delle vor 5000 Jahren wieder langsam, aber nachhaltig zu steigen. Das - so Ruddiman - sei der Beweis dafür, dass die Menschen der Natur die Kontrolle über die Methan-Emissionen entrissen hätten, und folglich müssten wir den Beginn des Anthropozäns auf vor 8000 Jahren und nicht auf vor 200 Jahren datieren.

 

Die Anfänge der Landwirtschaft — besonders der Reisanbau auf überfluteten Terrassen in Ostasien — ließen den Trend wieder umkippen, denn solche Anbauverfahren können unglaubliche Mengen des Gases produzieren. Fairerweise muss man anmerken, dass zur damaligen Zeit auch Bauern mit anderen Getreidearten, die ebenfalls viel Feuchtigkeit brauchen, ihren Beitrag leisteten. Der Taro-Anbau (für den man Bewässerungssysteme erbauen und instand halten muss) war beispielsweise vor 8000 Jahren schon auf Neuguinea hoch entwickelt. 

Selbst Jäger und Sammler könnten eine Rolle gespielt haben. Ein Beispiel dafür ist der Bau von Wehren, die riesige Bereiche Südostaustraliens jahreszeitlich in Sümpfe verwandelten. Diese Bauwerke waren vielleicht die größten, die je von nicht sesshaften Menschen erschaffen wurden; sie regulierten damit Sümpfe für die Zucht von Aalen. Bei großen Stammestreffen wurden die Aale in Massen gefangen, getrocknet und geräuchert und über weite Entfernungen gehandelt.63) 

Ruddiman fand in den Eisblasen auch Beweise, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre schon viel früher von Menschen beeinflusst wurde als zunächst angenommen. Wie sich der CO2-Gehalt im Verlauf der glazialen Zyklen verändert, ist gut bekannt. Im Grunde steigt das CO2-Niveau rapide, wenn das Vergletscherungsstadium endet, dann folgt ein allmählicher Rückgang, wenn sich die nächste Kälteperiode nähert. Im Verlauf der letzten 8000 Jahre stieg der Anteil des atmosphärischen CO2 von rund 160 Teilen pro Million auf das vorindustrielle Maximum von 280 Teilen pro Million. 

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Würden noch natürliche Zyklen das irdische Kohlenstoff-Budget verwalten, behauptet Ruddiman, hätte das CO2 um 1800 rund 240 Teile pro Million betragen müssen. Auf den ersten Blick erscheint seine Argumentation dürftig. Schließlich hätten die frühen Menschen doppelt so viel Kohlenstoff emittieren müssen wie unser Industriezeitalter zwischen 1850 und 1990 — eine Menge, wie sie nur eine Bevölkerung von vorher nie erreichter Größe mit Maschinen schaffen konnte, die Kohle verbrennen. Der Schlüssel, erklärt Ruddiman, liegt in der Zeit. 8000 Jahre sind zumindest nach menschlichen Maßstäben eine lange Spanne, und während die Menschen überall auf dem Globus Wälder absägten und verbrannten, fungierten ihre Aktivitäten wie jemand, der Federn in eine Waagschale häuft: Irgendwann sind genügend Federn beisammen, dass sich die Waagschale senkt. Und so, postuliert Ruddiman, sei das Anthropozän entstanden.

Die klimatische Stabilität, die die Menschheit im Verlauf der letzten 8000 Jahre geschaffen hat, ist laut Ruddiman so labil, dass sie noch immer für große Zyklen à la Milankovic empfänglich wäre; und der Archäologe Brian Fagan meint, diese Zyklen könnten so verstärkt werden, dass sie sich wahrhaftig durchschlagend auf die menschliche Gesellschaft auswirken. Man denke nur an die leichte Verlagerung der Erdumlaufbahn zwischen 10.000 und 4000 v.Chr., die der Nordhalbkugel zwischen sieben und acht Prozent mehr Sonnenschein brachte. Dies bedeutete für Mesopotamien 25 bis 30 Prozent mehr Regen, veränderte das Verhältnis zwischen Niederschlägen und Verdunstung erheblich und vermehrte die den Pflanzen zur Verfügung stehende Feuchtigkeit insgesamt auf das Siebenfache. Was einst eine Wüste war, verwandelte sich in eine saftig grüne Ebene, die eine dicht gedrängte Bauernpopulation ernähren konnte. Nach 3000 v. Chr. jedoch kehrte die Erde auf ihre vorherige Umlaufbahn zurück — die Regenfälle ließen nach, und viele Bauern waren gezwungen, ihre Felder aufzugeben und auf der Suche nach Nahrung weiterzuziehen.64)

Brian Fagan interessiert sich besonders für den Zusammenhang zwischen Klima und den frühen Zivilisationen. Er glaubt, dass die vom Hunger vertriebenen Abwanderer Zuflucht an strategisch günstigen Orten wie zum Beispiel Uruk (im heutigen Südirak) fanden, wo Bewässerungskanäle von den großen Flüssen abzweigten. Da sie als Erste Zugriff auf das Wasser hatten, litten Orte wie Uruk weniger unter den schwankenden Niederschlagsmengen, und eine zentrale Autorität verschaffte hier den hungernden Migranten Arbeit bei Bauprojekten wie beispielsweise der Instandhaltung der Bewässerungskanäle.

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Der Rückgang der Regenfälle, meint Fagan, zwang die Bauern von Uruk auch zu Innovationen, und so nutzten sie erstmals Pflüge und Zugtiere und bestellten die Felder in einem Rotationsverfahren, das die Ernte verdoppelte. Da die Getreideproduktion um strategisch günstig gelegene Städte herum konzentriert war, spezialisierten sich die Siedlungen des Umlands auf die Produktion von Handelsgütern wie Keramik, Metallgegenstände oder Fische, die auf Märkten wie denen von Uruk gegen das immer knapper werdende Getreide getauscht wurden. All diese Veränderungen führten zur Ausbildung einer immer stärker zentralisierten Macht, die wiederum die ersten Bürokraten der Welt hervorbrachte, deren Aufgabe es war, das lebenswichtige Getreide zu verwalten und zu verteilen.

Unter dem Strich führten diese Veränderungen zu einem Umbau des menschlichen Zusammenlebens, und um 3100 v. Chr. hatte sich in den Städten Südmesopotamiens die erste Hochkultur der Welt ausgebildet. Die Stadt an sich, würde Fagan sagen, ist eine entscheidende menschliche Anpassung an trockeneres Klima.

Kehren wir nun zu Bill Ruddimans Analyse zurück, denn sie hält noch ein paar Überraschungen parat. 

Er sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Zeiten mit wenig atmosphärischem CO2 und Epidemien, die vom Bakterium Yersinia pestis verursacht wurden — dem »Schwarzen Tod« des Mittelalters. Diese Pestepidemien waren von globalem Ausmaß und töteten so viele Menschen, dass auf aufgegebenem Ackerland wieder Wälder wuchsen. Dabei absorbierten die Bäume CO2 und senkten die Atmosphären­konzentration um fünf bis zehn Teile pro Million. Weltweit sanken die Temperaturen daraufhin, und in Gegenden wie Europa kam es zu relativ kalten Phasen.

Ruddimans These bedeutet, dass den Altvorderen ein chemisches Zauberkunststück gelungen ist, als sie so viel Treibhausgase produzierten, dass die Erde »gerade richtig« ausbalanciert blieb, um eine weitere Eiszeit zu verzögern, der Planet sich aber nicht zu sehr aufheizte — als wären wir in jenem Stadium unserer Entwicklung Teil von Gaias Gleichgewicht gewesen, nicht die Störfaktoren. Ruddiman zufolge war es jedoch eine verdammt knappe Angelegenheit.

Würde eine neue Eiszeit einsetzen, könnten wir die ersten Anzeichen wahrscheinlich in der Gegend von Baffin Island in der ostkanadischen Arktis entdecken. Ringe aus toten Flechten um die Eiskappen der Insel erzählen von Eiszeiten, zu denen es nicht kam: Was diese Vegetation absterben ließ, waren Schneeansammlungen, die sich, wenn es noch vor einem Jahrhundert einen winzigen Bruchteil kühler gewesen wäre, in Eis verwandelt und das Abgleiten in eine eisige Welt eingeläutet hätten. Wäre dieser Schnee nicht wieder geschmolzen, hüllte sich das Innere des nordöstlichen Kanadas heute zu einem großen Teil in einen Eismantel, der Jahr um Jahr weiter nach Süden wüchse.

Der neue Eisbohrkern aus Dome C stellt Ruddimans Theorie infrage, weil er zeigt, dass unsere gegenwärtige Zwischeneiszeit sich zwar von den letzten vier (die Ruddiman untersucht hat) unterscheidet, in gewisser Hinsicht aber der fünften vor unserer eigenen ähnelt, zu der es vor rund 430.000 Jahren kam.

Damals waren die Einflüsse von Milankovic-Zyklen und die CO2-Niveaus mit den heutigen vergleichbar, und die Wärmeperiode war außergewöhnlich lang — 26.000 Jahre im Gegensatz zu den 12.000 Jahren der anderen. Nur im Lauf der Zeit wird sich zeigen, ob Ruddiman Recht hat, wenn er den Anfang des Anthropozäns auf vor 8000 Jahren und nicht auf vor 200 Jahren legt. Nichtsdestotrotz zählt seine Analyse zu den provokantesten und anregendsten, die in jüngster Zeit veröffentlicht wurden.

Wann auch immer sein Anfang gewesen sein mag, heute gibt es unmissverständliche Anzeichen, dass das Anthropozän unangenehm wird. Die Wissenschaftler entdecken in unserer Atmosphäre so große Veränderungen, dass sich wieder einmal eine Zeitpassage zu öffnen scheint. Wird das Anthropozän zur kürzesten geologischen Epoche der Geschichte?

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