1.1 - Der Mensch: ein zwiespältiges Wesen
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Alles kommt also darauf an, daß der Mensch sich verändern kann und will. Ist er von Natur aus ein für alle Male festgelegt, oder kann er lernen, die jeweils notwendigen Veränderungen auch gegen Widerstände in sich selbst und in der Gesellschaft und Umwelt durchzusetzen?
Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen liefern seine Geschichte, um deren Deutung er sich seit Jahrtausenden bemüht, und die viel jüngeren Wissenschaften vom Menschen, seiner Gesellschaft und Kultur bis hin zur Futurologie als dem Versuch, seine Zukunft zu erkennen und zu gestalten.
Zumindest seit es Hochkulturen gibt, haben jede Religion und Philosophie, jedes Volk und jede Gruppe und besonders deren jeweils tonangebende Schichten den Menschen in ihrem Sinne gedeutet — sie haben ihr jeweiliges Menschenbild verabsolutiert. Der Jude fixierte es im Alten Testament, der Christ im Alten und im Neuen. Wer den Menschen anders sehen wollte, war in ihren Augen ein Sünder oder ein Barbar. So erschienen etwa den Chinesen, den Bewohnern des "Reiches der Mitte", Juden und Christen im fernen Europa als Wilde. Soweit Unterscheidungen wahrgenommen wurden, dünkte sich die eigene Gruppe der fremden überlegen, waren die oben besser als die unten.
Lange Zeit prägte die Vorstellung, der Mensch sei eindeutig bestimmt, das Weltbild aller Kulturen: Götter oder die Natur, hätten ein für alle Male festgelegt, was der Mensch denken und fühlen, was er wollen und sollen müsse. Man meinte, entscheidend Neues unter der Sonne gebe es nicht. Das Leben der Völker sei im Grunde eine ewige Wiederkehr des gleichen. In jedem Menschen stecke Gutes und Böses; doch überwiege meistens das Böse. Daher müsse er in die Zucht genommen werden. Höchstens könne ihn eine gütige Gottheit im Jenseits erlösen. Er selbst sei unfähig, die Verhältnisse auf Erden zu verändern.
Die Idee von dem einen unveränderlichen Menschen verblaßte erst im Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen, als die Welt sich "auszuweiten" begann. In dem Maße, in dem immer mehr Menschen miteinander in Berührung kamen, mußten sie staunend erkennen, wie verschieden sie waren. Manches, was man bisher für undenkbar gehalten hatte, rückte nun in den Bereich des Möglichen; es war zu offensichtlich, um ignoriert zu werden. Der Christ mußte den Buddhismus zur Kenntnis nehmen; die Bewohner von Staaten entdeckten, daß es staatlich nicht organisierte Stammesgemeinschaften gab; Europäer mußten anerkennen, daß neben der Monogamie noch andere Familienformen existierten.
Angesichts der Vielfalt der Lebensformen wurde es immer schwerer, für alle Gruppen gültige Maßstäbe zu setzen. Es schien leichter zuzugeben, daß hier und jetzt dieses besser oder schlechter sei als jenes. Man ging schließlich so weit zu behaupten, Umwelt und Geschichte bestimmten die Natur des Menschen. Sie sei daher das genaue Gegenteil von der Natur des Tieres, das ganz von Instinkten beherrscht sei. Der Mensch hingegen könne sich radikal verändern, sich frei entwickeln, sich immer wieder neu anpassen. Seinem Wesen nach sei er unbegrenzt, vielseitig und vieldeutig. Er könne alles sein und glauben. Heute und hier könne das Gegenteil von dem, was er gestern und dort geglaubt hat, wahr sein.
Die Auffassung von der Veränderbarkeit des Menschen, aber nur von seiner Veränderung zum Besseren, erreichte dann im 18. und 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Sie wurde für ebenso naturnotwendig gehalten wie einst seine Unveränderbarkeit.
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War für die Vergangenheit und Gegenwart die Vielfalt des Menschen typisch, so würde sich in der Zukunft immer rascher das wahre Menschentum gegenüber allen zufälligen Unzulänglichkeiten durchsetzen. Im Jahrhundert der Aufklärung und Wissenschaft würden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wie von selbst die Fesseln jahrtausendealter Unwissenheit und Unfreiheit sprengen. So mündete der relativistische Pluralismus der Neuzeit meist in einen monistischen Optimismus.
Heute spricht viel dafür, daß weder der Monismus noch der totale Relativismus die Natur des Menschen erschöpfend erklären: Der Mensch ist weder ein absolut begrenztes noch ein grenzenlos plastisches Wesen. Angesichts der Fülle neuer geschichtlicher, gesellschaftlicher und psychologischer Erkenntnisse erscheint er uns als viel zu komplex, als daß sich seine sogenannte Natur auf einen einfachen Nenner zurückführen ließe.
Um es vorwegzunehmen: Der Mensch ist nicht nur ein wissendes Geschöpf (homo sapiens), sondern auch ein Werkzeuge produzierendes Wesen (homo faber). Ihm wohnt ein Spieltrieb inne (homo ludens), er handelt als ein gesellschaftlich-politisches Wesen (zoon politikon); ja, nicht zuletzt stellt er sich selber und die Welt in Frage (animal metaphysicum). Er ist ein widersprüchliches, vielfach bedingtes und doch auch immer wieder seine Bedingungen überwindendes Wesen. Er fragt und sucht voller Furcht und Angst, voller Hoffnung und Verzweiflung, voller Phantasie und Illusion. Niemand hat das besser gesagt als Matthias Claudius:
Der Mensch verachtet und verehret,
Hat Freude und Gefahr,
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr .....wikipedia Matthias_Claudius *1740 bei Lübeck
Leben und Tod, Hunger und Liebe, die Last der Arbeit und die Lust der Libido, Aggression und Sympathie sich selber und seinen Mitmenschen gegenüber, Streben nach Solidarität, Genossenschaft und Brüderlichkeit, aber auch der Drang nach Herrschaft und Macht wohnen in derselben Brust. Der Mensch will leben, doch ist er nur allzuoft bereit, auch zu töten und sogar selber den Tod zu erleiden.
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Der aufrechte Gang ist einer der wesentlichen Unterschiede zum Tier. Erst indem er sich aufrichtete, konnte der Mensch seine Hand für anderes gebrauchen, und daran hat sich auch beim "homo sapiens sapientissimus" nichts geändert: Er kann seine Hand den Mitmenschen reichen, sie zum Gruß erheben, mit ihr streicheln, er kann sie aber auch zur Faust ballen, um zuzuschlagen; er kann mit der Hand Werkzeuge herstellen, aber auch Warfen. Vielleicht hat der aufrechte Gang des Menschen sogar zur Ausformung seiner Wertvorstellungen beigetragen: Er schaut nach oben zum Himmel auf und entleert seinen Körper nach unten auf die Erde. Das Obere wird zum Höheren, was ihm zu Füßen liegt zum Niederen. Entsprechend werden die höher gelegenen Organe oft höher bewertet: Der Kopf gilt mehr als der Bauch, das Herz mehr als die Geschlechtsteile.
Die Natur geht mit dem Menschen in mancher Hinsicht erstaunlich sparsam oder gar geizig um. Dasselbe Organ muß für verschiedene Funktionen herhalten. Der Mund dient zum Essen und zum Küssen, das Uro-Genitalsystem zur Begattung wie zur Ausscheidung der Abfallprodukte der Nahrung. Die negativ bewertete Ausscheidungsfunktion entwertet leicht auch die anderen Funktionen desselben Organs. Wie erklärt es sich sonst, daß Organe wie After, Penis und Vagina in so vielen Kulturen verachtet werden? Die Ausscheidung der Fäkalien vollzieht sich in strengster Isolation, der Geschlechtsverkehr gehört meist der privaten Sphäre an, aber schon das Speisen und Trinken geschieht in Gemeinschaft und dient als Mittel der Vergesellschaftung.
Daß der Mensch nicht isoliert leben kann, wußte schon Aristoteles. Er nannte ihn ein "zoon politikon", d.h. ein gesellschaftlich-politisches Wesen. Tatsächlich hat der Mensch stets als Mitmensch (socius) in kleineren oder größeren Gruppen gelebt, sei es friedlich, sei es im Kampf. In der relativ stabilen Ordnung des christlichen Hochmittelalters betonte Thomas von Aquin die Verbundenheit aller Christenmenschen, während im England des 17. Jahrhunderts Thomas Hobbes unter dem Einfluß der blutigen Bürgerkriege im Menschen nur die Wolfsnatur sehen wollte (homo homini lupus).
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Im Zeitalter der Aufklärung nahm Kant die heutige Auffassung vorweg, indem er den Menschen als gesellig-ungeselliges Wesen deutete, wobei ihm allerdings das gesellige Moment als das stärkere erschien.
Im Gegensatz zum Verhalten der Herdentiere beruht die Geselligkeit des Menschen nicht auf einem einfachen Instinkt. Dieser biologische Mangel ist ein wesentliches Merkmal seines Menschseins. Er versucht, ihn wettzumachen durch die Produktion eines Überschusses an geistigen und kulturellen Gütern und Leistungen. Gerade die Schöpfungen des Geistes im weitesten Sinne des Wortes durchbrechen den engen Kreis der bloß vom Instinkt diktierten Produktion von Leben und Lebensmitteln. Sie erstrecken sich von den der Lebensbewältigung dienenden "instrumentellen" Verhaltensweisen und Fertigkeiten bis zu den "höheren" Sphären der Kunst, Religion und Philosophie. Ob er zu den Sternen aufschaut oder die Götter anbetet, ob er singt oder dichtet, beim Tanz und Spiel, im Liebeswerben und in der Kontemplation fühlt sich der Mensch oft mehr als er selbst denn bei seiner täglichen Fron.
Zur Erzeugung sowohl geistiger als auch praktischer Überschußprodukte mußte er freilich erst einmal die Sprache und damit Intelligenz und Phantasie entwickeln. Erst mit der Sprache konnten sich logisches Denken und Effizienz entfalten, nicht zuletzt mit und in der Arbeit.
Ein Mindestmaß an Arbeit ist unerläßlich, um dem Menschen die erforderlichen "Lebensmittel" zu beschaffen. Das Ausmaß der Arbeit, ihre Form, ihr Entwicklungsstand können aber außerordentlich verschieden sein. Es gibt einfache Gemeinschaften, in denen sich die Menschen nur wenig abzumühen brauchen. In den höher entwickelten Gesellschaften hingegen sind immer größere Anforderungen der Preis, den der Fortschritt dem Menschen abverlangt.
Um sich selbst zu schonen und seine materiellen Bedürfnisse dennoch zu befriedigen, hat der Mensch die Arbeitsteilung erfunden: Er setzte zu bestimmten Arbeiten Tiere ein, während er diese als Jäger zuerst nur verspeiste.
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Als Ackerbauer nutzte er z.B. Ochse und Pferd, als Viehzüchter Kuh und Ziege, als Händler Pferd, Esel oder Kamel. Dem Ritter und Reiter diente das Pferd im Krieg; in anderen Gegenden mochten es Elefanten und Dromedare sein.
Aber nicht nur Tiere läßt er für sich arbeiten: Er hat auch gelernt, schwächere Menschen für sich einzusetzen. So kann der Mann und Vater — in manchen Gesellschaften auch heute noch — seine Frau und Kinder oder andere Erwachsene versklaven und zu Arbeits- und Lasttieren degradieren.
In gewisser Weise gehören Arbeit und Geschlecht zusammen und beeinflussen einander, auch wenn mancher Marxist anderer Auffassung sein mag. Neben der Arbeit als der Produktion von Lebensmitteln sollte daher die Sexualität als Erzeugerin des Lebens gleichrangig berücksichtigt werden. Sogar Friedrich Engels hat die Produktion des Lebens bereits einmal gleichberechtigt neben die Arbeit gestellt und in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Familienformen hingewiesen. Für Freud stand die Produktivkraft "Libido" im Zentrum des Interesses. Heute sprechen wir von Sozialisation und meinen damit vor allem das Aufwachsen des Menschen in der Familie.
Schon hier treten sein gesellig-ungeselliger Charakter, aber auch seine relative Gleichheit und Ungleichheit in Erscheinung. Mann und Frau, Erwachsener und Kind sind einander ungleich. Zwar lieben sie einander und helfen einander in der Familie — dennoch können hier der Ehemann, der Vater, aber auch die Mutter als die Stärkeren gegenüber den schwächeren Kindern Macht ausüben, sie reglementieren und unterdrücken, ja sogar ausbeuten und mißhandeln.
Auch die intimsten Beziehungen der Menschen sind alles andere als eindeutig. Bei der Frau sind die geschlechtlichen Funktionen wie etwa Menstruation, Defloration und Gebären schon schmerzhaft. Aber auch die geschlechtliche Liebe, die oft mit Recht als Urbild und Vorbild harmonischen und zärtlichen Miteinanders erscheint, kann leidvoll sein und in Aggression umschlagen, ja zu extremem Sadismus und Masochismus pervertiert werden. Allzu leicht kann aus der streichelnden Hand die schlagende, aus dem lebensspendenden Sexualakt der Lustmord werden.
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Auch die Sprache deutet darauf hin, wie eng die Extreme beieinander liegen und wie leicht aus Liebe Haß, aus Freundschaft Feindschaft, aus Kooperation Aggression werden kann. Das Wort Rute steht für Penis wie für das Prügelinstrument; machen impliziert Macht; Potenz erinnert an Können, aber auch an Vater (pater) oder Potentaten; aus dem Wort Gewalt läßt sich Bewältigung einer Aufgabe, aber auch Vergewaltigung ableiten. Sie "fertig zu machen" kann heißen, ihr den Orgasmus zu verschaffen, aber auch sie zu töten. Man erobert eine Stadt oder das Herz einer Frau, die dem Mann "zu Willen" ist. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, daß der Mann eine Frau biologisch nicht nur durch Liebe gewinnen, sondern auch mit Gewalt unterwerfen kann.
Diese Ambivalenz trägt zur Erklärung der patriarchalischen Familienform bei. So enthält die natürliche biologische Basis der Familie zwei Entwicklungsmöglichkeiten: Welche von beiden sich durchsetzt, bestimmen nicht zuletzt geschichtlich-gesellschaftliche Umstände. Sie mögen Familienformen begünstigen, die auf echter Liebe, Hilfe und Genossenschaftlichkeit beruhen; sie können aber auch zu Verhaltensweisen führen, für die Ungleichheit, Herrschaft und Unterdrückung typisch sind.
Standen in der Frühphase der Menschheit der bloße Kampf ums Überleben sowie die Sexualität und Familiengemeinschaft im Vordergrund, so gewann im Laufe der Jahrtausende die intellektuelle Leistung an Bedeutung. Dennoch dürften Emotionen und Affekte das Denken noch lange Zeit geprägt haben. Vor allem war der Mensch darauf aus, die Rätsel, die er sich selber stellte und die die Welt ihm aufgab, mit Hilfe seiner Phantasie zu lösen.
Seinem ursprünglichen Bild von der Natur und von sich selber liegt der Glaube an Geister und Zauberkräfte zugrunde, der lange vorhielt und die Religionen, aber auch die Beziehungen der Menschen zueinander gestaltete. Der Mensch konnte sich die Welt nur nach seinem Ebenbild, also beseelt, vorstellen. Totems und Tabus, Vergöttlichungen und Verteufelungen, Dogmen und Mythen sollten ihm den Sinn und Zweck der Welt und seiner eigenen Existenz erklären.
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Mit Hilfe der Mythen suchte er die Kluft zwischen der realen Welt mit ihren Problemen und der Traumwelt mit ihren Möglichkeiten zu überbrücken. Hier entstanden aber auch jene religiösen und ideologischen Wahngebilde, die ihn ihrerseits beherrschten.
Nur langsam lernte bzw. lernt der Mensch, sich von solchen Wahngebilden freizumachen und der Vernunft einen größeren Platz einzuräumen. Er entdeckt, daß es bestimmte Naturgesetze gibt, mit deren Hilfe er die Umwelt beherrschen und nutzen kann. Rationales Denken beginnt die Imagination und die Phantasie zu ergänzen. In einem langen und mühsamen Prozeß wird die Welt immer mehr entzaubert, drängt schließlich die Wissenschaft die Religion zurück.
Um es zu wiederholen:
Sprache, Arbeit, Liebe und Intelligenz sind die vier Grundpfeiler des menschlichen Lebens, ohne die die Vergesellschaftung des Menschen kaum vorstellbar wäre. Wie steht es aber mit der Dreiheit von Gewalt, Macht und Herrschaft? Immer wieder berufen sich Konservative zu deren Rechtfertigung auf einen Machtinstinkt. Man weiß aber heute, daß der Mensch zwar Triebe aber keine Instinkte besitzt.
Was der Macht biologisch zugrunde liegt, ist umstritten. Man hat gelegentlich unterstellt, daß sich auch noch im modernen zivilisierten Menschen eine bestimmte Organisation der Drüsen erhalten hat, die im Augenblick der Gefahr den Körper mit Energie speisen, und daß diese aus dem Steinzeitalter stammende biologische Struktur das Streben nach Macht begünstige. Im Laufe der Zeit hätte sich dieses Machtstreben bei den damaligen Jägern im Kampf ums Dasein sozusagen biologisch verankert.
Dagegen nehmen heute die Psychologen und Soziologen wohl mit Recht an, daß die Macht eher als eine psychische Entartung der normalen Bedürfnisse nach Sicherheit und Geltung, Geselligkeit und Führung zu deuten ist. Nur in bestimmten Konstellationen steigern sich diese Bedürfnisse dann bis zum Wunsch nach Machtausübung. Damit wäre das Machtstreben im Menschen höchstens latent angelegt und würde nur unter ungünstigen Bedingungen aktualisiert. Oder anders formuliert: Die Macht läßt sich auch als Reaktion auf äußere und innere Behinderung von Bedürfnisbefriedigung verstehen. Erst Frustration erzeugt somit Aggression.
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Aber gegen wen ist dann die Aggression gerichtet?
Zunächst, so könnte man meinen, werde sie sich stets gegen den Urheber der Frustration richten. Der Unterdrückte müßte sich demnach gegen den Unterdrücker auflehnen, der Ausgebeutete gegen seinen Ausbeuter, der Sklave gegen seinen Herrn. Marx hat in der Tat geglaubt, daß gerade dieser Mechanismus den Gang der Weltgeschichte entscheidend bestimmt habe und weiter bestimmen werde. In Wirklichkeit ist die Auflehnung des Schwächeren gegen den Stärkeren eher die Ausnahme. Mit Recht sagt schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Menschen seien eher bereit, die ihnen auferlegte Unbill zu ertragen, solange sie irgendwie tragbar sei, als sich von ihr zu befreien. Auch Rousseau hat eingeräumt, daß Sklaven schließlich dazu kommen können, ihre Ketten zu lieben. Die Hinnahme der Unterdrückung und Abhängigkeit wird noch dadurch erleichtert, daß die Unterdrückten sich zum Ausgleich fast immer gegen noch Schwächere wenden können.
Wir kennen ja alle den Typ des Radfahrers, der sich nach oben bückt und nach unten tritt. Die Vorarbeiter können sich an den Lehrlingen, die Unteroffiziere an den Soldaten, die Angehörigen der Mittelschicht an denen der Unterschicht und Mehrheiten an Minderheiten abreagieren. Auch dem sozial Schwächsten bleibt schließlich noch die Aggression gegen den biologisch Schwächeren: Der Mann kann sich an der Frau, die Eltern können sich an den Kindern schadlos halten. Und das Fatale ist, daß sich dieser Mechanismus bis ins Unendliche fortsetzen kann: Die Kinder finden sich mit der Mißhandlung der Eltern ab im Bewußtsein, daß sie sich demnächst an ihren eigenen Kindern werden rächen können. Schließlich kann sich die Aggression sogar gegen die eigene Person wenden: Der Mensch hat sich so mit seinem Unterdrücker identifiziert, daß er dessen Funktion übernimmt — bis zur geistigen oder auch materiellen Selbstverstümmelung, ja bis zum Selbstmord.
Gewalt, Macht und Herrschaft sind Schulbeispiele der Entmenschung des Menschen. Das Problem hat verschiedene Seiten: Institutionen, die dem Menschen helfen und dienen sollen, verwandeln sich fast unmerklich in Herrschafts- und Unterdrückungs- oder gar Vernichtungsinstrumente.
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Die Seelsorgerin Kirche erfindet die Inquisition, der "Vater Staat", der seinen Landeskindern Schutz und Sicherheit bieten soll, wird zum Tyrannen und Despoten, das täglich Brot spendende Unternehmen zahlt Hungerlöhne.
Aber bewirken nur die Institutionen eine Entmenschung des Menschen? Kann er sich nicht auch als Mensch selbst in einen Unmenschen verwandeln?
Angelegt in ihm scheint, wie schon ausgeführt, beides. Denn unter den Begriff "Mensch" fällt alles, was Menschenantlitz trägt, und dieser Begriff umfaßt mindestens vier Bilder vom Menschen: den noch nicht entmenschten "Naturmenschen", den entmenschten Zivilisationsmenschen, den die Entmenschung aufhebenden Kulturmenschen und schließlich den Menschen im allgemeinsten und abstraktesten Sinne.
Diese letzte biologische Kategorie reicht also vom Höhlenmenschen bis zum Raumfahrer, vom friedfertigsten Primitiven bis zu Nero, von Hitler bis zu Gandhi, vom Spießer bis zum genialen Irren. In dieser umfassenden Sicht ist sogar noch der "Unmensch" Mensch.
Das genaue Gegenteil vom Unhold, vom Scheusal und Teufel in Menschengestalt ist der nicht entmenschte Mensch, der "homo humanus". Er ist mitfühlend und bejaht die menschlichen Werte — Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Ordnung, Glück und Frieden — im Gegensatz zu den Unwerten — Unwahrheit, Ungerechtigkeit, Unfreiheit, Unordnung, Unglück und Unfrieden. Will der Mensch überleben, so sind Leben und Liebe wertvoller als Tod und Haß, Aggression und Chaos, die freilich auch im Menschen mitangelegt sind und daher nicht als Lug und Trug abgetan werden können.
Diese Unwerte lassen sich aber nicht grenzenlos mehren. So kann der Mensch nicht immer nur lügen, nicht immer nur andere hassen und alles vernichten — als isoliertes Wesen wäre er selber nicht mehr lebensfähig. Umgekehrt kann er im Prinzip echte Werte wie Liebe oder sogar Wahrheit grenzenlos steigern. Der Sieg der Wahrhaftigkeit und Friedfertigkeit würde auch nicht zur Passivität, zum Absterben, also zur Atrophie oder Entropie führen. In der Natur schlummern immer noch genügend spontane Gegenkräfte, die eine lebensbedrohende Erschlaffung des Menschen verhindern würden: Unglück, Krankheit, Tod.
Vielleicht sind die Möglichkeiten, ein reiches und erfülltes Leben auf der Grundlage einer Art von Lebensplan bewußt zu verwirklichen, im Verlauf der Geschichte doch eher größer geworden. Es mag aber auch sein, daß in dem Maße, wie das Leben reicher wird, auch dessen Grenzen immer deutlicher spürbar werden. Selbst wenn es gelingt, so manche Krankheit zu besiegen und das Leben zu verlängern, sind totale Gesundheit oder gar das ewige Leben kaum vorstellbar.
Wo Leben ist, da lauert der Tod, und dieser Tod ist gerade für den modernen Menschen, der als Individuum in seiner Gruppe oder Gemeinschaft nicht mehr total aufgeht, aber auch nicht mehr an ein Leben nach dem Tode im Paradies zu glauben vermag, ein sehr ernstes Problem. Selbst wenn er in höchstem Alter lebensmüde werden und sich mit dem Tod abfinden sollte, so würde ihn der Verlust von Freunden und Verwandten noch die Bitterkeit des Todes kosten lassen. Der Tod, den Ernst Bloch einmal "die stärkste Nicht-Utopie" genannt hat, errichtet eine letzte unüberwindliche Schranke.
In unserer religionsarmen Zeit ist es kein Zufall, daß moderne existentialistische Philosophen wie Camus oder Sartre den Tod so ernst genommen haben, daß ihnen das Leben absurd erschien. Der Widerspruch bleibt - auch das erfüllteste Leben, auch das Leben in der und für die Gemeinschaft bleibt Leben zum Tode. Es muß dem einzelnen überlassen bleiben, ob er das Leben dennoch für lebenswert hält oder ihm, weil er es für sinnlos hält, ein Ende setzt. Anders als derjenige, der im Frieden oder im Krieg seine Mitmenschen mordet, handelt der "Selbstmörder" keinesfalls inhuman.
Die ganze Spannweite menschlicher Existenz mit der fast unübersehbaren Vielfalt unterschiedlicher und oft sogar gegensätzlicher Verhaltensweisen bleibt auch für die Erhellung der Zukunft ein Problem, das zu lösen leichter wird, wenn man die Vergangenheit - die Geschichte des Menschen - mit einbegreift.
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