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(5)  Ein Dritter Weg als humane Möglichkeit? (S. 220-224)

 

(5)  220-224

Dieses Buch versuchte den Lebens- und Denkweg Ossip Flechtheims nachzuzeichnen. Es bleibt die Frage nach seinem Vermächtnis, nach den Einsichten, die er vermitteln konnte, nach den Aussichten auf eine bessere Welt, die ihm stets wichtigstes Anliegen seines Denkens und Handelns war.

Flechtheim war ein Intellektueller im besten Sinne des Wortes. Als er 1927 sein Studium aufnahm, galt in weiten Kreisen des akademischen Deutschland ein solcher Begriff des Intellektuellen noch immer als Schimpfwort, bezeichnete er doch den Exponenten der westlichen und oft als jüdisch geschmähten Zivilisation, dem der völkische Begriff der deutschen Kultur überheblich entgegengesetzt wurde. Ossip Flechtheims politisches Ideal stand in der Tat für Vernunft, für clarté und soziale Gerechtigkeit. Davon ausgehend, wirkte Flechtheim in vornehmlich drei Arbeitsgebieten: in der Kommunismusforschung, der Politikwissenschaft und im wissen­schaft­lichen Zukunftsdenken.

1. In der Kommunismusforschung, die Flechtheim vor allem durch seine Pionierstudie zur KPD-Geschichte bereicherte, gehörte er früh zu denen, die den in Ost wie West etablierten Denkschemata eine differenzierte Interpretation entgegenhielten. 

Seine persönliche Begegnung mit dem organisierten Kommunismus in Deutschland wie seine baldige Abkehr von der KPD machten ihn nicht zum Renegaten. Er erkannte rasch den Transformationsprozess der KPD: Aus einer selbst ernannten Avantgarde der proletarischen Revolution wurde, nach dem Ende der Blütenträume, das Instrument sowjetischer Politik. 

Der Stalinismus hatte, dies sah Flechtheim viel eher als manch naiver bürgerlicher fellow traveller der Sowjetunion, nur negative Auswirkungen auf die internationale Arbeiterbewegung. Doch gehörte Flechtheim zur zunächst kleinen Minderheit westlicher Forscher, für die Stalinismus und Kommunismus nicht identisch waren. So erkannte er rasch die Differenzierungsprozesse und die Risse im kommunistischen Lager. Seine Schriften waren von der Hoffnung auf Veränderungen in Richtung eines demokratischen Sozialismus getragen, den Flechtheim zwar kaum je genau bestimmte, dessen Inhalt jedoch auf eine Mischung zwischen parlamentarischer und Rätedemokratie hinauslief. 

Von solcher Hoffnung war Flechtheims Kritik am sowjetischen Modell bestimmt; eine Kritik, deren Tonart oft milder ausfiel als seine scharfen Urteile über die negativen Entwicklungen im westlichen Kapitalismus. Flechtheim suchte auch innerhalb der kommunistischen Parteien nach möglichen Partnern für das Projekt einer Synthese von Sozialismus und Demokratie. Damit leistete er, trotz mancher Widersprüche, einen wichtigen Beitrag zur Überwindung des Lagerdenkens im Kalten Krieg, das für ihn eine Fortsetzung der Spaltung war, an der die deutsche und europäische Arbeiterbewegung ab 1933 zugrunde gegangen war. Mit diesem Denken wollte Flechtheim als ein geistiger Brückenbauer zwischen Ost und West wirken, wenngleich er die politischen Verhältnisse nicht ändern konnte.

2. In der Politikwissenschaft der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft trat Flechtheim vor allem durch seine Untersuchungen zum Parteiensystem wie durch seine Überlegungen zu den sich wandelnden Formen und Möglichkeiten der modernen Demokratie hervor. 

Der aus dem Exil zurückgekehrte Forscher und Hochschullehrer hatte einen nachweisbaren Anteil am Projekt einer Erziehung und wissenschaftlichen Ausbildung, die den Deutschen den Anschluss an eine demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung ermöglichen sollte. -- Er suchte aktuelle politische Zusammenhänge vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen zu durchleuchten. Dass politisches Denken und Handeln kritisch-emanzipatorisch fundiert sein sollten, um die bürgerliche wie die sozialistische Demokratie zu stärken, war ihm Erkenntnis, doch keine bloße Phrase. Ein Parteiensystem ohne genügende soziale Basis, in der die politischen Institutionen nur dem Geschäft und Profit dienen, war für ihn jedoch kein genügender Ausweis von Demokratie. Seine Warnungen vor autoritären Dispositionen und neofaschistischem Denken in der Bundesrepublik, so überspitzt sie manchmal klangen, waren auch Konsequenz seiner Erfahrung mit dem deutschen und europäischen Faschismus. 

Dieser war, wie Flechtheim betonte, aus kapitalistischen Strukturen erwachsen. Immer stand deshalb für ihn die Frage nach den jeweiligen Macht- und Besitzverhältnissen im Mittelpunkt der politischen Analyse, ohne dass er die Vielfältigkeit sozialer Prozesse darauf reduzierte. Um 1968 gehörte Flechtheim zu den Hochschullehrern, die den studentischen Protest gegen autoritäre Strukturen und Haltungen in Universität und Gesellschaft unterstützten, doch warnte er vor Dogmatismus und Gewalt.

3. Flechtheim leistete eine - keineswegs unumstrittene - Pionierarbeit bei der Entwicklung einer Disziplin, die das Nachdenken über die Zukunft aus dem Bereich bloßer Spekulation oder Prophetie herausheben wollte, und er gab dieser Disziplin ihren Namen: Futurologie

In dieser kritischen, nicht systemkonformen Futurologie, die Fragestellungen der Philosophie, Politik und Pädagogik nach prognostischen und planerischen Gesichtspunkten vereine, gehe es um eine Gesamtschau möglicher, wahrscheinlicher, insbesondere aber auch wünschenswerter Entwürfe der Zukunft, betonte Flechtheim. Er grenzte sich von etablierten, technokratischen Zukunftsdeutungen ab, die den gesellschaftlichen Status quo fundieren und lediglich im technischen Bereich grundlegend Neues erblicken wollten. So stellte er Rüstungswettlauf und Kriegsgefahr, Hunger und Massenelend in den gesellschaft­lichen Zusammenhang von ungleicher Entwicklung und ungleicher Verteilung an Lebensgütem und Lebenschancen. Er war ein Wegbereiter einer gesellschaftskritischen Ökologie und verband dies mit der Frage nach der Verfügung über das Eigentum an Produktions- und Informationsmitteln wie an Kulturgütern. Flechtheim setzte den Begriff des Ökosozialismus in der politischen Debatte ein. Dies alles war Teil seiner Überlegungen nach den Möglichkeiten einer partizipativen Demokratie. Er suchte nach Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen in seiner und für seine Zukunft. Flechtheim überwand den marxistischen Geschichtsdeterminismus und zeigte sich darin, vielleicht mehr als er dies selbst empfand, als ein Denker im Sinne von Marx.

Zwar enthält die Futurologie immer ein starkes Element des Spekulativen, doch ist Flechtheims Zukunftsdenken darauf nicht zu reduzieren. Hier sei an einige seiner Aussagen erinnert, die Flechtheim 1970 in seinem Werk <Futurologie. Der Kampf um die Zukunft> getroffen hatte: so an die mögliche Überlagerung des Ost-West-Gegensatzes durch einen Nord-Süd-Konflikt, der die Schwachen dazu bringen könne, aus Verzweiflung Bombenattentate in den Tunnels und auf den Brücken von Manhattan zu verüben. Flechtheim, dem jeder Nationalismus fremd war, konnte sich gleichfalls 1970 eine Situation vorstellen, in der - etwa 1990 - eine Volksabstimmung die Frage der deutschen Einheit neu stelle. Vor allem aber war für ihn die rechtzeitige Überwindung der spätstalinistischen Strukturen die einzige Möglichkeit für die Sowjetunion, einer sozialistischen Gesellschaft zumindest näher zu kommen. Im Westen sah Flechtheim die Alternative zwischen der Erweiterung der politischen Demokratie auf den wirtschaftlichen Bereich und der Aushöhlung der politischen Freiheiten, ihre allmähliche Ersetzung durch ein plebiszitär fundiertes System des autoritären Neocäsarismus.

Zugleich werden in Flechtheims Werk die Grenzen der kritischen Futurologie deutlich. Diese war Teil der optimistischen Annahme, das öffentliche Leben könne in seinen verschiedenen Teilen weitgehend geplant werden. Die kritische Futurologie war jedoch vor allem Ausdruck eines linken Krisenbewusstseins der Bundesrepublik wie überhaupt der westlichen Industriegesellschaft nach 1970. Flechtheim nutzte seine Art des Zukunftsdenkens in der Mischung von moralisch fundierter Gesellschaftskritik und Sozialwissenschaft als Erweiterung von und als Ersatz für den klassischen Marxismus. Analyse und Prognose wuchsen mit Ideologiekritik und Utopie zur Suche nach einem spezifischen Beitrag zur Modernisierung und Demokratisierung des Sozialismus zusammen. Indes erwies sich die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts als stärker denn Flechtheims utopisches Denken, das einen Dritten Weg als humane Möglichkeit sah.

 

Ossip Flechtheims Lebenswerk hinterlässt den Eindruck großer Konsequenz. Dies war das Resultat seiner Suche nach einer Synthese von Demokratie und Sozialismus, Ökonomie und Ökologie, Marxismus und bürgerlichem Humanismus. Der Politologe, Historiker und Zukunftsforscher schuf ein Werk, das in seiner Verbindung von politischer Theorie und empirischer Forschung zur Diskussion herausfordert. In Flechtheim steckte, gewissermaßen, ein Erbteil des freiheitlichen russischen Sozialismus, der im Stalinismus unterging. Aber er verkörperte auch die besten Traditionen eines nicht-elitären, politisch engagierten deutschen Bildungsbürgertums, an dem es in der deutschen Geschichte oft mangelte und noch teilweise mangelt.

Die Bundesrepublik, deren demokratisches Grundgesetz er mit Inhalt zu erfüllen suchte, begriff Flechtheim als eine Art Zwischenland zwischen einem bürgerlich-revolutionären Westen und einem bürokratisch-autoritären Osten, zwischen einem Norden mit seiner Tradition der demokratischen Selbstverwaltung und einem Süden der menschlich wärmeren Beziehungen.

Er wollte dazu beitragen, die negativen Seiten einer spezifisch-historischen Tradition der Deutschen abzubauen, ohne zu glauben, er könne anderen ihr Denken und Verhalten vorschreiben. Erwiesen sich hier seine Arbeit und die Anstrengungen der aus dem Exil zurückgekehrten Wissenschaftler als langfristig erfolgreich?

Immer reagierte Flechtheim sensibel auf Ungerechtigkeiten, die ihm und anderen zugefügt wurden; er war verletzlich, doch nicht wehleidig. Persönliche Mitleidenschaft suchte er auf die Ebene überpersönlicher Zeitdiagnose zu heben, auch wenn dies noch so unbequem und schmerzhaft war. Das den Juden im 20. Jahrhundert zugefügte Leid hatte Flechtheim grausam gezeigt, wie gefährdet ihre Existenz im Zeitalter einer scheinbaren Sicherheit ist, aber er suchte nicht nach nationalistischen Antworten auf Pogrome, Ausgrenzung und Vernichtung.

Ein Selbstverständnis als Jude, das er keineswegs verleugnete, war dennoch nicht Zentrum seines Denkens. Doch maß er den Grad an demokratischem Bewusstsein in Deutschland stets am Umgang der Deutschen mit der eigenen Vergangenheit. Ihm war dabei bewusst, dass Lernprozesse, wie alle Entwicklungen in der Geschichte, diskontinuierlich und langwierig verlaufen können. Doch die Alternative zum Lernprozess ist im schlimmsten Fall die gegenseitige Vernichtung der einander bekämpfenden Seiten.

Flechtheim hielt den Menschen zum Besten wie zum Schlimmsten für fähig. Die humanistische Ethik von Weltreligionen und philosophischen Denksystemen, auch die ökonomisch fundierte Lehre des Marxismus böten, für sich genommen, vielleicht keinen ausreichenden Schutz vor einem Rückfall in die Barbarei. Nur das immer wieder und immer neu zu begründende Zusammendenken und -wirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte könne diesen verhindern. 

Ossip Flechtheim war Theoretiker wie Praktiker des sozialen Engagements. Sein Denken bleibt eine Herausforderung, denn die Krisenzustände, die Flechtheim analysierte und kritisch kommentierte, sind nicht verschwunden. Wer wolle behaupten, schrieb Ossip Flechtheim 1987, dass die Geschichte 

"der Gang einer weisen und gütigen Gottheit durch die Welt sei, eines Gottes, der uns geraden Weges zur besten aller möglichen Welten führt? Gleicht ihr bisheriger Verlauf nicht eher einer Odyssee, jener Irrfahrt des Odysseus, die ihn so lange seiner Heimat fernhielt? Landete dieser schließlich in seinem heimatlichen Ithaka, wo ihn seine treue Penelope für alle Unbill entschädigte, so wissen wir noch nicht, ob den Irrfahrten des Menschen­geschlechts je ein ähnlich glücklicher Ausgang beschieden sein wird. Jedenfalls genügt es nicht, wie Penelope auf das glückliche Ende zu warten; für eine bessere Zukunft müssen wir uns selbst einsetzen." (Flechtheim 1990 Zukunft retten, S.35.)

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