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              Informationsminister Heiland stocherte nervös in seinem Essen. »Siehst blaß aus, Martin«, bemerkte Peter Buchholz kauend. Als keine Reaktion kam, versuchte er es mit einem Scherz: »Ich werde den Piloten bitten, daß er die Kiste einmal so richtig ins Trudeln bringt. Das belebt. Die Spanier verstehen sich auf solche Kunststückchen.«

Heiland schob den Teller beiseite: »Du fliegst alleine.« - »O nein, mein Lieber, wir sind gemeinsam geladen, wir sehen uns die Sache gemeinsam an, und dann entscheiden wir auch gemeinsam.« 
»Vergiß es. Sie wollen, daß wir uns an ihren Grenztruppen beteiligen, also werden wir es tun.«
»Vor dem Rat hörte sich das noch ganz anders an...« Heiland legte dem Schutztruppenminister die Hand auf den Arm:
»Keine zehn Pferde kriegen mich in diesen Helikopter...«
»Ach so... Du hast Schiß vorm Fliegen!«
»Meine Zunge ist trocken wie 'ne Puderquaste.«
»Die beste Therapie ist die Offensive, das ist bekannt.«

Zwei Herren näherten sich ihrem Tisch. Buchholz begrüßte sie und stellte sie seinem Kollegen vor: »Senor Vargas vom spanischen Informationsministerium, Miguel, unser Pilot. Na, dann wollen wir mal.«

Heiland folgte der fröhlich plaudernden Gesellschaft aufs Flugfeld. Der Bell Jet Ranger stand mit hängenden Rotorblättern vor ihnen wie ein flügellahmes Insekt.

Buchholz drückte sich neben ihn auf die hintere Bank. Der Pilot entfernte den Überzug vom Staurohr und drehte an der Benzinzufuhr, die zwischen den Sitzen lag. Seine Hand fuhr unter das Kabinendach, wo sie nach einer genau festgeschriebenen Choreographie zwischen Kipp- und Drehschaltern virtuos hin und her tanzte. Heiland vertraute sich dem Piloten an wie einem Arzt, der vor der Operation die Instrumente sortiert. In der Luft war ein Zwitschern, als hätte sich ein Vogelschwarm in der Kabine niedergelassen.

»Helikopter Seawind 2040 ready for take-off.«
»Roger. Altimeter set thirty point ten. Clear for take-off.«
Er krallte sich in den Sessel und mußte feststellen, daß der Kurvenflug, in dem Algericas wie ein Tischtuch unter ihnen weggezogen wurde, ein wohliges Kribbeln im Bauch verursachte. Die Schaumkronen auf dem Meer schienen schräg vom Himmel zu regnen, um gleich darauf, dem kippenden Horizont folgend, waagerecht auf sie zuzurollen. Er bekam eine Ahnung davon, wie es sich anfühlte, aus der Welt katapultiert zu werden, und es gefiel ihm. Insbesondere gefiel ihm, daß sich seine Verantwortung für diese Welt dabei in nichts auflösen würde...
»In einer Stunde wird es dunkel«, hörte er Vargas sagen, »allmählich dürften sie sich bereitmachen da drüben. Die meisten versuchen es nachts. Sie kapieren einfach nicht, daß wir sie genausogut im Dunkeln aufspüren können.«

»Wie viele sind es pro Tag?« fragte Buchholz.
»Wer weiß das schon. Einige Tausende. Die meisten stammen aus Schwarzafrika. Die Marokkaner gehen nicht gerade zimperlich mit ihnen um. Erst letzte Woche hat die Armee an der senegalesischen Grenze eine Reihe von Flüchtlingscamps bombardiert. Allmählich aber gehen den Marokkanern Treibstoff und Munition aus. Jetzt sind die GO!-Staaten gefordert.«

»Wie soll das funktionieren?« entgegnete Buchholz irritiert. »Wir haben ein striktes Waffenembargo verabschiedet, oder nicht?«

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»Juristische Positionen lösen keine Probleme, Senor. Es mag für Sie makaber klingen, aber ohne die gewaltsame Dezimierung im Vorfeld unserer Grenze wären wir Europäer aufgeschmissen. Die Menschen drängen zu Millionen an die nordafrikanischen Küsten. Marokko, Algerien und Tunesien sehen aus wie nach einem Heuschreckenangriff. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird geklaut und zu Flößen umfunktioniert. Türen, Dachbalken, einfach alles.« Vargas reichte seinen deutschen Gästen die Karte. »Wir patrouillieren mit zwanzig Schnellbooten in der Straße von Gibraltar, außerdem sind ständig vier Hubschrauber im Einsatz. Trotzdem gelingt es einem beträchtlichen Teil, bei uns anzulanden. Womit wir beim Punkt wären: Der spanische Öko-Rat hat beschlossen, eine zusätzliche Pufferzone einzurichten. Der gesamte Küstenstreifen zwischen Huelva im Westen und Benidorm im Osten wird bis zu zwanzig Kilometer tief ins Landesinnere geräumt. Das macht natürlich nur Sinn, wenn dort genügend Militär präsent ist, um die Eindringlinge auch aufzuspüren.«

»Und dabei dachten Sie an uns?« nuschelte Buchholz über die Karte gebeugt.
»An Sie, an die Franzosen, die Engländer, die Schweizer, egal. .. Alleine schaffen wir es jedenfalls nicht mehr. Die Alternative wäre für niemanden verlockend. Bedenken Sie nur die Ströme von Aidsinfizierten, die sich illegal nach Norden bewegen würden.«

Heiland lauschte den Ausführungen des Spaniers eher beiläufig, er war viel zu sehr damit beschäftigt, Miguels Flugmanövern mit dem Gewicht seines Körpers Nachdruck zu verleihen. Als der Helikopter unvermutet niederstürzte, um plötzlich mit erhobenem Schwanz in niedriger Höhe stehenzubleiben, wurde ihm schließlich doch noch schlecht. Buchholz reichte ihm eine Kotztüte.
»Hier haben wir es mit einem der typischen Flöße zu tun«, dozierte Vargas in der Art eines Museumsführers.

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»Vier, fünf kräftige Balken aneinandergenagelt, das ist es meist schon. Viele werden von der Strömung in den Atlantik gerissen.«
Heiland mußte aufstoßen, es gelang ihm aber, die gallige Flüssigkeit wieder runterzuschlucken. Unter ihnen kräuselte sich die See. Inmitten dieses von peitschenden Rotorblättern entfachten Sturms kauerte eine Gruppe verängstigter Menschen auf schaukelnden Planken. Fünf junge Männer, eine Frau. Sie saß als einzige aufrecht und barg ein Baby in den Armen. Ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet.

Er kam sich in dieser Glaskuppel wie ein Außerirdischer auf Stippvisite vor. Der Pilot zog die Maschine behutsam hoch, als sei ihm der Anblick peinlich. Von Backbord näherte sich in rasender Fahrt ein Schnellboot. Es hielt direkt auf das Floß zu und pflügte es unter. Sekunden später stob der Helikopter mit gesenktem Haupt auf die afrikanische Küste zu. Heiland erbrach sich. »Es sind Hunderte«, fuhr Vargas ungerührt fort, »zählen Sie mal mit.«

»Ab wo werden sie angegriffen?« fragte Buchholz, um Kontenance bemüht.
»Ab wo? Sie werden gestellt, wo immer wir ihrer habhaft werden, Senores. Was dachten Sie denn?« »Auch vor ihrer eigenen Küste?«
Dem Spanier ging die Empfindlichkeit der Deutschen sichtlich auf die Nerven: »Natürlich«, knurrte er, »je eher, desto besser.« »Es wäre doch möglich, daß es sich um Fischer handelt«, hakte Buchholz nach.

Vargas starrte ihn fassungslos an. Auch Heiland warf seinem Kollegen einen abschätzigen, fast mitleidigen Blick zu. Fischen war in allen Anrainerstaaten seit der Choleraepidemie von 2024 unter Todesstrafe gestellt. Die ökologischen Zeitbomben der Vergangenheit tickten in solcher Menge im Meer, daß auch in hundert Jahren keine Besserung in Sicht sein würde.

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Fast die Hälfte der europäischen Industrie war hier über Jahrzehnte hinweg kostenneutral entsorgt worden. Der Massentourismus, der am Ende auf 340 Millionen Besucher pro Jahr angewachsen war, hatte die Gewässer zwischen Gibraltar und der Südtürkei endgültig zugeschissen.

Sie folgten der Küste nach Melilla. »Ich denke, wir haben genug gesehen«, sagte Heiland, als sie wieder einmal in geringer Höhe über die Köpfe der Flüchtlinge donnerten. Vargas gab dem Piloten das Zeichen zur Umkehr.

»War 'ne blöde Bemerkung mit den Fischern«, entschuldigte sich Buchholz, als sie eine Stunde später im Gästehaus des spanischen Öko-Rats zu Abend aßen.

»Sagen wir mal so«, antwortete Heiland kauend, »sie hat unseren Sachverstand nicht gerade unter Beweis gestellt. Wieviel Mann können wir ihnen bewilligen? Zwanzigtausend?« Er schnupperte am vino tinto und blickte den Schutztruppenminister über den Rand des Glases fragend an. Buchholz nickte und ging auf sein Zimmer. 

Er wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann. Im Helikopter hatte Heiland Höllenqualen gelitten beim Anblick der verzweifelten Menschen, und jetzt erteilte er mit einem Augenzwinkern Unterstützung für dieses Schlachtfest an Europas verwundbarster Stelle.

 

                 Malin legte das Buch beiseite. Ihm war aufgefallen, daß seine Augen immer wieder zum Beginn des Absatzes zurückglitten, nachdem sie sich eine Zeitlang über die Zeilen bewegt hatten, die ihren Sinn allerdings verborgen hielten. Er betrachtete das Foto von Marinella, das er seit ihrer Trennung als Lesezeichen benutzte. Dies war einer der wenigen Momente, in denen er auf seine Traurigkeit sah wie auf das Wetter, dem man ausgeliefert ist. Sie hatte keinen bestimmten Anlaß, das machte ihre Autorität aus.

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Er stellte die Beschallung ein und zündete sich eine Zigarette an. Es war die letzte, aber es beunruhigte ihn nicht. Er hatte sich mit seinem Suchtverhalten arrangiert. Die monatliche Ration von fünf Schachteln war wie üblich nach drei Tagen verbraucht. Das gleiche galt für den Alkohol. Was ihn jedoch zu ängstigen begann, war die Tatsache, daß es ihm immer schwerer fiel, nach diesen drei Tagen in die Nüchternheit zurückzufinden, die am Ende doch äußerst angenehm war. Vielleicht sollten sie Zigaretten und Alkohol ganz verbieten. Leute wie er würden es ihnen danken, aber Leute wie ihn gab es offensichtlich nicht in ausreichender Zahl.

Er legte den Kopf zurück und lauschte der Musik. Er mochte diese alten Stücke mit Synthesizern und elektrischen Gitarren. Er sollte eine Lesson nehmen. Drei Videos waren aufgelaufen, und wer wußte schon, ob sie nicht falsche Schlüsse zögen, wenn er sie jeweils auf einmal konsumierte, obwohl es rechtens war. Schließlich durfte man bis zu drei Lessons stehenlassen, und er nutzte diese Möglichkeit für gewöhnlich auch aus. Im Grunde war es wie mit den Zigaretten. Er nahm immer alles auf einmal ...

Xenia würde ihm guttun. Die schöne Quälerin war nicht leicht zu ertragen, und er gehörte nicht zu jenen, die ein masochistisches Verhältnis zu ihr pflegten wie mancher seiner Arbeitskollegen. Aber in Stimmungen wie dieser konnte ihre rotzfreche Rhetorik sogar erheiternd wirken. Er kramte im Abfall nach den Kippen und drehte sich eine allerletzte Zigarette. Dann ging er in den Medienraum, gab seine Bürgernummer ein und setzte sich im Sessel zurecht, der ihm trotz seines Komforts unheimlich war, weil er das Gefühl vermittelte, unter der komplizierten Apparatur in eine Scheinwelt zu entschwinden, aus der es vielleicht kein Zurück mehr gab. Der Helm, der Nasenschlauch, der Anzug mit seinen Sensorenanschlüssen schienen ihm eine zu erdrückende und plumpe Einrichtung, um seiner Phantasie auf die Sprünge zu helfen.

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Im Grunde widerlegte dieses Monstrum die permanente Technikschelte, die sie paradoxerweise über Millionen solcher Anlagen wie eine Staatsreligion in die Köpfe der Menschen pflanzten. Dennoch war Malin ein ums andere Mal fasziniert von der virtuellen Realität, die er unter dem Helm empfing.

Er betätigte den Abrufknopf und befand sich in einem Raum, von dessen hoher Decke zarte Leuchtfäden wie Spinnweben herabhingen. Der Boden war mit einem heidefarbenen Teppich bedeckt, in seiner Mitte lag ein lackiertes, schwarzes Holztablett, darauf ein silberner, pyramidenförmiger Samowar sowie zwei flache Teeschalen. Um das Tablett waren weiße Sitzkissen gruppiert. Er war gespannt, auf welche Weise Xenia sich diesmal zeigen würde. Sie war ein Biest und reizte die Spannbreite zwischen Nähe und Distanz voll aus. Er sah sich um. In der Ecke lehnte eine gerahmte Tuschezeichnung an der Wand.

»Was meinst du, wo hänge ich sie hin?« hörte er Xenia mit ihrer unnachahmlich rauchigen Stimme sagen. Sie lehnte in der Tür und schlang ihr langes Haar im Nacken zu einem Knoten zusammen. Ein dunkelroter, seidener Morgenrock floß ihr bis zu den nackten Füßen. »Aber setz dich doch.« Malin hockte sich hin, während Xenia ihm gegenüber im Schneidersitz Platz nahm und Tee einschenkte. Als sie die Schale zum Mund führte und ihn aus ihren großen, grünen Augen anblickte, glaubte er, sich auflösen zu müssen. Xenia-Kick nannte man das.

»Warum, glaubst du wohl, nennt man mich die Quälerin?« begann sie die Unterhaltung, die ja letztlich doch nur ein vorgefertigter Monolog war, der den Besucher allerdings geschickt vereinnahmte. »Ich will es dir sagen: weil Menschen wie du die Wahrheit noch immer als Qual empfinden. Die Wahrheit aber ist, daß wir eine Schuld zu begleichen haben, eine Schuld gegenüber unserem Planeten, gegenüber seinen Pflanzen und Tieren. Dazu bedarf es einer Gehirnwäsche. Denk nach über das Wort. Es bedeutet, daß wir in euren Gehirnen saubermachen ... Erst wenn der Gedankenschmutz von Jahrhunderten getilgt ist, kommen eure Herzen wieder in Ordnung.«

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Sie sah ihn lächelnd an. Malin bemerkte einen spöttischen Zug um ihre Lippen, aber er mochte sich auch täuschen. Es war nicht einfach, diesem Blick standzuhalten, aber die Regeln besagten, daß der Besucher seine Augen offenzuhalten hatte, wenn er die Lesson nicht wiederholen wollte, was letztlich nur noch anstrengender war. Er hatte schon von Leuten gehört, die unter den Augen der Quälerin ohnmächtig geworden waren.

»Halte deine Hand hoch«, forderte Xenia ihn freundlich auf. »Was siehst du zwischen dir und deiner Hand?« Was sollte er sehen? Nichts natürlich. »Nichts? Bist du sicher?« Klar war er sicher, es gab nichts zu sehen. Sie stand auf und drückte ihm ein feuchtes Tuch auf Mund und Nase. Er erstickte fast unter ihrem Klammergriff. Als er sich den Helm vom Kopf reißen wollte, ließ sie los. »Zwischen dir und deiner Hand befindet sich Luft. Ohne Luft können wir nicht atmen, jedes Lebewesen bedient sich aus demselben Luftvorrat. Er ist das Bindeglied zwischen uns. Du siehst, wir sind alle miteinander verbunden.«

Malin schwebte im Raum und blickte auf die Erde herab, die von einem verletzlichen, blaßblauen Häutchen umgeben war. »Unsere Atmosphäre ist begrenzt, sie ist begrenzt belastbar und begrenzt lebensfähig. Stirbt sie, sterben auch wir. Trink deinen Tee.«

Dies war eine jener kleinen Gemeinheiten, die sie gelegentlich einzustreuen pflegte, schließlich saß man Lichtjahre von ihr entfernt in einem kleinen Normraum unterm Vermittler, der ganz schön auf die Ohren drückte.
»Ich begleite dich jetzt fünfzig Jahre zurück in die Zeit der Verblendung. Ich zeige dir Bilder aus einer Stadt. Aufgenommen an einem x-beliebigen Platz an einem x-beliebigen Tag ...«

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Malin zuckte zusammen. Wieder einmal war er auf den Lärm nicht vorbereitet. In Verbindung mit der bleigeschwängerten Luft, die der Nieselregen in niedriger Höhe band, wirkte das Konglomerat wie eine subtile Folter. Für einen Moment glaubte er sich erbrechen zu müssen. Er atmete so flach es eben ging, aber sofort verbreitete sich ein widerwärtiger Geschmack im Mund. Es hatte keinen Sinn, an den Geräusch- und Geruchsensoren zu drehen, die Zentrale merkte es ja doch. Die Gesichter der Menschen mit ihrem Ausdruck mühsam gezähmter Hysterie sahen aus wie Masken. Niemand verwendete einen Mundschutz. Auf seiner Arbeitsstelle mußten sie sich die Dinger schon aufsetzen, wenn sich ein Baufahrzeug nur näherte.

Er saß auf einem Betonkübel, der mit Erde gefüllt war und in dessen Mitte ein kahles, hanfgeknebeltes Bäumchen wurzelte, um dessen Stamm sich Plastikgefäße und bunte Dosen türmten. Hinter ihm befand sich ein U-Bahn-Eingang. Eine Gruppe glatzköpfiger Jugendlicher stand unbehelligt inmitten dieses Mahlstroms von Menschen, der in respektvollem Abstand vorbeifloß. Die Autos stoppten. Im Verkehr tat sich eine Lücke auf. Malin ging auf die andere Straßenseite. In einem Schnellrestaurant standen die Wartenden unter einer grellen Neondusche Schlange. Uniformierte Diener aller Hautfarben wieselten hinter dem blitzblanken Tresen herum. Sie alle trugen die gleichen albernen Papierschiffchen auf dem Kopf. Auch die Gäste steckten in einer Art Uniform. Auf ihren Jacken, Hosen und Schuhen prangten markante Schriftzüge, die er nicht zu deuten wußte. Am Straßenrand hockte ein korpulenter Kerl bei laufendem Motor in einem Auto und stopfte kleine gelbe Stangen in sich hinein. Er sah aus, als hätte man ihn aus Schleim gefertigt und durchs Schiebedach aufs Polster gegossen, wo er seitdem festklebte. Das Auto vibrierte unter einem dumpfen Klangbrei, der selbst den wabernden Sound des zähflüssigen Verkehrs übertönte. Malin fröstelte und ging auf die nahe Brücke, vorbei an einem Spielsalon. Die Kinder, die hier in stoischer Ruhe an antiquierten Geräten arbeiteten, hatten alte, gelangweilte Gesichter.

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Gelegentlich wurden sie wie Schmeißfliegen hinausgescheucht, um kurz darauf wiederzukehren, als stünde ihnen der Stumpfsinn zu. Vor ihm schlenderten zwei kichernde junge Mädchen in kurzen Röcken. Sie hatten einen anmutigen Gang, und, bei Gott, sie hatten anmutige Hintern. Eines der Mädchen drehte sich um und schleuderte ihm aus dem Schatzkästchen ihrer schnippischen Gesten einen Blick zu, der ihn erröten ließ. Er krallte sich ans Geländer und spürte die Schwingungen der Brücke in seine Arme kriechen. Unten zog ein Paddler seine Bahn, vorbei an den dreckbesäten Ufern mit ihren gespenstischen Baumskeletten. Eine wachsgesichtige Dame hielt eine Zeitung mit dem Titel DIE WAHRHEIT vor die Brust, als wollte sie etwas beweisen.

Malin flüchtete in einen gläsernen Kiosk. Er beugte sich über einen Kübel voller Blumenleichen. Sie verströmten keinerlei Geruch. Jeden Moment erwartete er die Pflanzenschutzpolizei, aber nichts rührte sich. Ein Kind zwinkerte ihm zu, er zwinkerte zurück, aber die Mutter riß es davon. Draußen standen die Zeiger einer Uhr auf fünf vor zwölf.

Jetzt erinnerte er sich, was ihn an Xenias Lessons so störte: die platte Symbolik! Im nächsten Moment fand er sich auf einer Wiese am Waldrand wieder. Noch dröhnte die Stadt in seinen Ohren, aber allmählich drang das Zwitschern von Vögeln zu ihm durch. Eine warme, ungetrübte Sonne löste die Verkrampfung in seinen Gliedern, und das Spiel des Windes im hohen Gras wirkte beruhigend aufs Gemüt. »Aber wollt ihr denn durchaus zugrunde gehen, so tut es lieber auf einmal und plötzlich. Dann bleiben von euch vielleicht erhabene Trümmer übrig!« hörte er die Stimme der Quälerin.

Er blickte irritiert auf. Xenia musterte ihn wie man einen Lieblingsschüler mustert. »Nietzsche«, lächelte sie und schenkte frischen Tee ein.

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»Es herrschte eine grandiose Langeweile damals«, fuhr sie nachdenklich fort, »die in einem dumpfen, nicht enden wollenden Zerstörungswerk kulminierte. Erst wenn du in der Lage bist, die Zusammenhänge in den unscheinbaren alltäglichen Begebenheiten zu lesen, wirst du verstehen, warum wir heute zu dienen haben. Bis demnächst, mein Freund ...«
Siebzehn Minuten. Malin schälte sich aus dem Anzug. Wie sanft sie sein konnte. Und wie rätselhaft. Da hatte er sie schon ganz anders erlebt. Wahre Haßtiraden konnte sie vom Stapel lassen.

 

 

                Eszra wunderte sich, daß niemand öffnete. Er schaute durchs Küchenfenster und ging ums Haus. Percys Großvater hockte mit einer Gartenschere am Rosenbeet. Eszra tippte ihm auf die Schulter.
»Hi!«
Der Mann fuhr herum: »Mein Gott, Junge, was hast du mich erschreckt...«
»Was haben wir denn da, Philip, eine Gartenschere? Ist denn das erlaubt?«
»Weißt du, mein Junge«, sagte der Mann und erhob sich, »Leute wie mich ändert man nicht mehr.«

Eszra mochte den alten Herrn, er mochte die buschigen, sich nach oben ziehenden Augenbrauen, die wunderschön gebogene Nase, die großen, enganliegenden Ohren und die müden Augen, die gelegentlich voller Sympathie aufblitzten. Der alte Herr hatte Stil. Und wenn man bedachte, daß sein Leben gespalten war, daß es sozusagen in zwei Welten stattgefunden hatte, dann mochte man sogar die ironisch-intelligenten Spitzen, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegen die »große Erlösung«, wie er die Revolution nannte, fallen ließ.
»Siehst gut aus, mein Junge ...«
»Wo ist Percy?«
»Na, wo schon?«
»Darf ich rein?«
»Frag nicht so dumm«, brummte Dr. Baro.

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»Hör mal, Doc«, sagte Eszra leise und führte den alten Herrn ins Haus, »was würdest du sagen, wenn ich dir erzähle, daß ich im Besitz von zwanzig Litern Sprit bin?«
Baro schaute den Freund seines Enkels lange und fast mitleidig an: »Ich würde es sein lassen, wenn ich du wäre.«
»Aber nicht, wenn du du wärst, stimmt's?« Eszra packte den Doktor bei den Schultern: »Sag ja!«
»Ich sag ja, daran liegt's nicht. Aber überleg dir genau, was du tust. Was ist mit Laura? Sie dürfte auf keinen Fall etwas davon erfahren. Auf keinen Fall, hörst du? Das ist meine Bedingung.«

»Okay Doc, danke.« Er umarmte den Mann und stürmte durch den Garten auf die getarnte Garage zu. Sie war total zugewachsen mit den Jahren. Ob sie das Tor überhaupt noch aufbekommen würden, war gar nicht sicher. Er hob die Grasnarbe an und kletterte durch den Geheimgang. Percy saß mit geschlossenen Augen auf dem heruntergeklappten Verdeck und begleitete die Musik aus den Boxen des Autoradios mit einem imaginären Schlagzeugwirbel. »My eyes have seen you« von den Doors, einer Band aus der Beatles-Zeit. Eszra setzte sich ans Steuer des fünfzig Jahre alten schwarzen Carreras und legte die Füße auf den ledernen Beifahrersitz.

»Zu grell!« schrie Percy, als er seinen Freund bemerkte, und klatschte in die ihm dargebotene flache Hand.
Eszra stellte das Tape aus: »Ich weiß, was noch viel greller ist!«
»Nee, oder..?«
»Doch! Charly hat's geschafft! Er hat's geschafft... frag nicht, wie!«
»Weiß der Doktor Bescheid?«
»Er ist einverstanden. Allerdings ohne Laura.«
»Quatsch! Natürlich kommt sie mit.«
»Er will es nicht.«
»Was ist los, Esz? Ich denk, du bist in meine Schwester verknallt?

Die beißt uns die Schwänze ab, wenn sie erfährt, daß wir sie hiergelassen haben.«
Und wie aus einem Mund riefen beide: »Er muß es ja nicht erfahren!«
Sie lachten schallend los und trommelten wie die Wahnsinnigen auf die Sitze ein: »Unhappy Girls« von Mr. Jim Morrison, ein Star in den Augen dieser jungen Gentlemen.

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