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  2.2. Was Kunst wirklich ist   

 

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Goethe plädiert in den zitierten Verszeilen des Gedichts <Dauer im Wechsel> für die geistig-seelische Ausgewogenheit menschlichen Erkennens und Schaffens als Voraussetzung sinnvoller Daseinsbewältigung. Denn ebensowenig wie Leidenschaft der Empfindung, wenn sie geistiger Kontrolle enträt, die Humanität zu fördern vermag, ebensowenig kann hinwiederum der Geist selbstherrlich erkennen und urteilen ohne das Korrelat der Empfindung. 

Nur das Zusammenwirken beider Lebensmächte stiftet jene praktisch-sichernde Lebenswirklichkeit, deren das, wie Arnold Gehlen treffend definiert, »Kulturwesen Mensch« bedarf, um sowohl seelisch als auch materiell überstehen zu können in einer Natur, in der es sich, seiner Eigenart nach, nicht mehr geborgen fühlt.

Nirgendwo wurde die Verstoßung der Spezies Mensch aus der Natur und deren Verwandlung in den homo sapiens knapper und bildhaft eindringlicher dargestellt als im ersten Buch Mose des Alten Testaments. Dort schließt die Schöpfungsgeschichte mit der Fabel vom Baum der Erkenntnis, von dessen Früchten zu essen Gott dem ersten Menschenpaar nachdrücklich verbot. Aber von Eva verführt, widersteht Adam der Versuchung nicht. Von dem Augenblick an, so berichtet die Bibel, da sie von dem Apfel der Erkenntnis gekostet hatten, gewahrten Adam und Eva, daß sie nackt waren, und sie begannen Gut und Böse zu unterscheiden. Damit war für sie das Paradies natürlicher Unwissenheit und kreatürlicher Geborgenheit kein Ort des Bleibens mehr. Wörtlich endet das dritte Kapitel des ersten Buches Mose:

»Und Gott der Herr sprach: Siehe der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was Gut und Böse ist. Nun aber, daß, er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er die Erde bebaue, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Baum des Lebens.«

Bemerkenswert an diesem vor rund 2500 Jahren niedergeschriebenen Text ist nicht nur, daß er, vorgeschichtliche menschliche Lebenserfahrung zusammenfassend, bis auf den heutigen Tag nichts an anthropologischer Verbindlichkeit eingebüßt hat, sondern auch die in ihm zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, daß Gott, indem er den Menschen aus dem Paradies verstößt, den »Baum des Lebens« vor dem Zugriff des Menschen schützen will. Das heißt: Schon in der geschichtlichen Menschen-Frühzeit drängt sich dem homo sapiens die


beunruhigende Ahnung auf, daß sich sein Erkenntnisdrang auch gegen das Leben selbst richten könne.

Nichts anderes besagen, in fortgeschrittener Menschenzeit, Hölderlins bedeutsame Verszeilen, die jene Betroffenheit als das Thema der Humanität schlechthin unterstreichen: »Verderblicher denn Schwert und Feuer ist / der Menschengeist, der götterähnliche, wenn er nicht schweigen kann, und sein Geheimnis / unaufgedeckt bewahren.«

Angesichts solcher Hybris wird verständlich, warum der biblische Gott hinter dem ersten Menschenpaar das Tor zu seiner Schöpfung unerbittlich verriegelt und durch Engel bewachen läßt - und warum er den Menschen gebietet, die »Erde zu bebauen, von der sie genommen« seien.

Mit dieser Ausstoßung und diesem Gebot aber nun war der Mensch auf die eigene Tat, den eigenen Willen angewiesen, wenn er sich behaupten wollte. Er mußte etwas schaffen, sich eine eigene Welt und Wirklichkeit stiften, um das verwirkte Paradies für seine eigene Existenz wieder herzustellen. Dieses zu schaffende und geschaffene Neue war und ist bis auf den heutigen Tag die Kultur - und zwar im weitesten Sinn des Wortes, die Religion eingeschlossen. Insofern hat Arnold Gehlen zweifellos recht, wenn er die Eigenart des von ihm auch als »Mängelwesen« bezeichneten homo sapiens in dessen kultureller Leistung erblickt und diese kulturelle Leistung zugleich als Indiz für die nicht mehr natürliche oder besser: nicht mehr ausschließlich natürliche Existenz des Menschen wertet.

An der Frage nun, wie weit der Mensch noch Natur sei und wie weit nicht, entzündet sich seit Jahrtausenden die philosophische Spekulation; aus dieser Frage resultieren auch die tragischen Irrtümer, denen sich der Mensch immer wieder ausliefert, ja: in die er sich oft mit uneinsichtiger Verbissenheit verrennt. Verleiten doch die menschlichen Erkenntnis-Tatsachen, die freilich erstaunlich genug sind, leicht zu der Annahme, daß geistige Einsicht und geistig gelenkte Tatkraft den Menschen der Natur gänzlich entfremde und ihn zu deren Gegenüber oder gar zu deren Beherrscher erhebe. Diese Auffassung vermochten auch die katastrophalen Fehlhandlungen, durch die sich der homo sapiens im Verlauf seiner blutigen Geschichte als das trotz oder sogar wegen seiner Intelligenz unvernünftigste Geschöpf dieses Planeten entlarvte, so gut wie nicht zu erschüttern. Stolz auf den Spielraum der Freiheit, den ihm sein Geist gewährt, mißbraucht der Mensch unentwegt die

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Freiheit zu seinem eigenen Schaden, ohne auch nur einen Schritt über jenen Tag hinaus gelangt zu sein, an dem die Cherubim ihm die Rückkehr ins Paradies verwehrten. Was nimmt es wunder, daß angesichts dieser verqueren humanen Lage Friedrich Nietzsche die Forderung erhob, der Mensch sei etwas, was überwunden werden müsse? Jedenfalls gewinnt vor dem Hintergrund solcher anthropologischen Misere der Ruf dieses seit Heraklit vielleicht lebensweisesten Philosophen nach dem »Übermenschen« eine wesentlich andere Bedeutung als diejenige, welche ihm flinke Etikettierer vorurteilsschnell beimaßen und noch beimessen.

Aber wir wollen die Frage nach dem Übermenschen hier nicht weiter verfolgen, sondern uns stattdessen um so nachdrücklicher der bestehenden menschlichen Realität zuwenden, deren »natürlicher« Hintergrund und Untergrund philosophischer Einsicht offensichtlich so bedenklichen Widerstand entgegensetzt. Was liegt angesichts dieses - seit Jahrtausenden ungebrochenen - Widerstandes näher, als die anthropologischen Probleme nicht nur von der philosophischen und soziologischen, sondern sie auch von der biologischen Seite, also von der Natur selbst her, anzugehen und zu fragen, was denn am Menschen trotz dessen Eigentümlichkeit noch natürlich und dementsprechend, da als Verhaltensmuster programmiert, unabdingbar sei.

Die Antworten, die hier die Naturwissenschaften von der allgemeinen Biologie über die Verhaltensforschung bis hin zur Biophysik und Biochemie bereitstellen, sind ebenso verblüffend wie eindeutig. Zusammengefaßt münden sie in die lapidare Feststellung: fast alles. Zeigt sich doch bei näherem wissenschaftlichen Hinsehen, daß die Evolution, als sie (sei es durch Zufall, wie Jacques Monod meint, oder sei es durch Notwendigkeit) die Hominiden zur Spezies homo sapiens mutieren ließ, einen zwar für unsere Begriffe ungeheuerlichen und (in der biblischen Geschichte vom Sündenfall durchaus richtig erkannten) einmaligen Lebenssprung riskierte - daß sie dabei aber durchaus nicht so grundstürzend revolutionär und sich selbst in Frage stellend vorging, wie sich das der Mensch in seiner späteren geistigen Vermessenheit vorgaukelte. Denn was durch diese Mutation entstand, war zwar ein anderes, aber nicht das ganz andere Lebewesen. Die Regularien, an die es trotz seines freien Willensspielraumes gebunden blieb, waren und sind die gleichen, die für alles Lebendige gelten. 

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Die Unterschiede sind, wo sie hervorstechen, mehr graduell als prinzipiell - und zwar bis in die Höhen menschlicher Geistestätigkeit hinein. Mit gutem Grund läßt daher Goethe im >Faust< den Erdgeist die bedenkenswerten und für die »antirationalistische« Epoche überdies auch bezeichnenden Sätze ausrufen:

»Nur wenn Natur dich unterweist,
dann geht die Seelenkraft dir auf,
wie spricht ein Geist zum andern Geist.«

Gewiß: Verse mögen als Beleg dem nüchtern urteilenden Intellekt wenig gelten, obwohl die Poesie oft intuitiv die menschliche Erkenntnislage tiefer und zutreffender erfaßt als wissenschaftliche Detail- und Fakten-Pedanterie. Aber im vorliegenden Fall kommt der Poesie ein relativ junger Forschungszweig der Biologie beweisführend zu Hilfe, der viele anthropologische Vorstellungen der Vergangenheit entweder revidiert oder endgültig als unrealistische Gedankenkonstruktionen entzaubert, nämlich die vergleichende Verhaltensforschung. Indem diese wissenschaftliche Disziplin die Verhaltensweisen von Menschen und Tieren exakt untersucht, erkundet sie auch die Grundantriebe menschlichen und tierischen Verhaltens.

In dem Beitrag <Adam malte abstrakt> wurde darüber eingehend referiert. Darum seien hier nur noch einmal einige entscheidende Einsichten, zur Abstützung der Beweisführung, rekapituliert. 

 

Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Forschung ist die Erkenntnis, daß die Lebewesen von der Natur auf zweifache Weise für die Verwirklichung ihres individuellen und sozialen Daseins ausgerüstet werden - zum einen durch genetisch programmierte, also ererbte Eigenschaften, und zum anderen durch die Fähigkeit, diese ererbten durch erlernte Eigenschaften zu ergänzen, zu erweitern und zu steigern.

Wenn Konrad Lorenz aus seinen Tierbeobachtungen nur diese eine geniale Einsicht gewonnen hätte, wäre schon dadurch der Nobelpreis mehr als verdient gewesen. Denn diese Einsicht offenbart ein schöpferisches Grundgesetz des Lebens, wonach mit relativ geringem genetischem Aufwand eine möglichst große und flexible Variationsbreite von Aktion und Reaktion der Lebewesen geschaffen wird und das ihnen dadurch die »Anpassung« an den Lebensraum erleichtert. 

Mit anderen Worten: indem die Natur ihren Geschöpfen die Fähigkeit des »Lernens« Zusprach, mußte sie ihnen auch potentiell ein gewisses, je nach Organstruktur und Umwelterfordernissen unterschiedlich begrenztes Maß von Freiheit einräumen. 

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Demnach, so vermerkt (nach einem Zitat von Konrad Lorenz) 1958 Earl W. Count in einer Arbeit über die <Biologische Entwicklungs­geschichte der menschlichen Sozietät> demnach ist »der Unterschied zwischen einem Insektenstaat und einer menschlichen Gesellschaft nicht der zwischen einem einfachen und einem komplexen sozialen Automatismus und einer kulturisierten Sozietät - wie man tatsächlich vielfach angenommen hat -, sondern der zwischen einer Kultur mit hoher instinktiver und geringer Lernkomponente auf der einen Seite und einer Kultur mit hohem Lernanteil auf der anderen«.

Es liegt auf der Hand, daß einzelne Lebewesen, die über hohe Lernfähigkeiten verfügen, sich nicht nur freier bewegen können als Arten, die auf wenige instinktive Verhaltensweisen angewiesen sind, sondern daß sie auch intelligenter und damit überlegener erscheinen.

Ein Hund wirkt in unseren Augen (und ist es auch de facto) freier und klüger als eine Schildkröte, und eine Krähe hat zweifellos einem plumpen Maikäfer mehr als nur das größere Körpervolumen voraus. Dennoch ist der Spielraum der Freiheit, über den selbst so hoch entwickelte Tiere wie Schimpansen zum Beispiel oder Delphine durch ihre differenzierte Organstruktur und ihre bedeutende Lernfähigkeit verfügen, im Vergleich zum Aktionsraum des menschlichen Willens ziemlich eng und erlaubt nur verhältnismäßig primitive Intelligenz­leistungen im Rahmen eines instinktiv abgesicherten Verhaltensmusters. 

Das heißt: Kulturwesen wie die Menschen sind sie nicht, und alle Versuche, Schimpansen oder Delphine auch nur um ein geringes über die Intelligenzschwelle zu locken, die das menschliche Dasein vom Tierreich trennt, schlugen bisher fehl - sie schlugen fehl, obwohl diese tierischen Intelligenzleistungen von der menschlichen Vernunft nur ein kleiner, allerdings entscheidender Schritt trennt, nämlich die Fähigkeit zur Reflexion und Reproduktion.

Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, müssen wir vorab fragen, wie Eigenschaften, die nicht genetisch programmiert sind, überhaupt durch Lernen erworben werden können. 

Zunächst einmal setzt der Lernvorgang eine entsprechende physiologische Apparatur voraus, deren Funktionstüchtigkeit und -radius sinnvoll auf die Organstruktur des jeweiligen Lebewesens abgestimmt ist. 

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Diese Apparatur besteht bei den höheren Lebewesen aus dem Zentralnervensystem und dem Hirn. Über das Zentralnervensystem melden elektrische Impulse dem Hirn die Sinneswahrnehmungen; dort werden sie verarbeitet, und von dort empfängt das Zentralnervensystem auch wieder die Befehle zu körperlichen Reaktionen. Natürlich ist das Hirn mehr als nur eine einfache Schaltzentrale, denn es schaltet nicht nur, sondern, und das ist im Zusammenhang unserer Betrachtung entscheidend wichtig, es speichert, einer Datenbank vergleichbar, auch Informationen. Diese Aufspeicherung nennt man Gedächtnis.

Wir wollen hier nicht näher ausführen, wie diese Speicherung erfolgt, sondern nur feststellen, daß sie in zwei Stufen abläuft. Empfängt das Hirn eine Information (oder konkreter ausgedrückt: eine Wahrnehmungstatsache), die ihm neu erscheint, so übernimmt es sie in das sogenannte Kurzzeitgedächtnis. Erweist sich die Information als unerheblich, das heißt: mißt ihr der Organismus keine langanhaltende Erfahrungsbedeutung bei, so wird sie wieder gelöscht. Ist jedoch der umgekehrte Sachverhalt gegeben, das heißt: gewinnt die Information nachhaltige Bedeutung für den Lebenshaushalt, so wird sie in das Langzeitgedächtnis überführt und dort auf Abruf aufbewahrt. Je mehr Erfahrungswerte nun ein Lebewesen in seinem Langzeitgedächtnis zu speichern vermag, um so differenzierter kann es sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen - und um so klüger, um so »wissender« wird es, und um so freier...

Allerdings müssen wir hier gleich hinzufügen, daß diesem Gedächtnisspeicher (wie jedem Speicher) als Hauptfaktor des Lernvorgangs und der damit verbundenen biologischen Vorteile physiologische Grenzen gesetzt sind, und zwar beim Menschen ebenso wie beim Tier. Denn einerseits reicht die Kapazität auch der differenziertesten Gehirnstruktur nicht aus, um alle als wesentlich empfundenen Informationen aufzubewahren und zu verwerten; eine Selektion muß notgedrungen stattfinden. 

Und andererseits bleiben die Informationen weitgehend auf das Individuum beschränkt, in dessen Hirn sie gespeichert wurden. Es ist immer nur ein auf das Lebenswichtige beschränktes Minimum von erworbenen Informationen, das von Generation zu Generation sozusagen als Lebenserfahrung weitergereicht werden kann. Ein großer Teil der Hirn-Datenbank stirbt mit dem Individuum dahin, und die nachfolgenden Generationen müssen jeweils neu ihre Erfahrungen sammeln. Aber immerhin: diese Erfahrungen reichen aus, um den Fundus der ererbten Eigenschaften durch Erlerntes aufzustocken und damit die Lebenstüchtigkeit und Anpassungsfähigkeit zu intensivieren.

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Spätestens an dieser Stelle dürfte erkennbar geworden sein, wodurch sich die von Count angesprochene »Kultur mit hohem Lernanteil«, durch die er die menschliche Sozietät charakterisiert, von den tierischen Gemeinschaften unterscheidet - nämlich durch die Fixierung und Aufbewahrung erworbener Informationen außerhalb des menschlichen Hirns und deren ungeschmälerte Weitergabe an nachfolgende Generationen in Schrift und Bild, aber auch in Form von Gerätschaften, von Bauwerken und von handwerklichen Techniken. Die Möglichkeiten, die sich durch eine derartige Erweiterung des Lernprozesses dem Menschen eröffneten, waren gewaltig; konnte er nun doch die Leistungen seines Gehirns auch ohne direkten Objektbezug fast beliebig potenzieren, indem er nicht nur auf die in seinem Kopf gespeicherten Daten, sondern auch auf die immer reicher sich auftürmenden Informationen, die er aus seiner kulturellen Überlieferung bezog, zurückgriff. »Die Entstehung der vom Objekt unabhängigen Tradition macht alles Erlernte potentiell erblich.« (Konrad Lorenz)

Daß dieses Potential an erworbenen, vornehmlich schriftlich fixierten und tradierten Informationen durch die Erfindung der Buchdruckerkunst im 15. Jahrhundert noch einmal (und zwar gleichsam ins Unermeßliche) potenziert wurde, dürfte ebenso einleuchten wie die anthropologische Konsequenz, die daraus unausweichlich folgen mußte. Auch dazu ein Zitat von Lorenz: »Die Weitergabe und Verbreitung des menschlichen Wissens ist so schnell und so wunderbar, daß es beinahe verzeihlich erscheint, wenn so manche vergessen, daß auch der menschliche Geist Organisches, Materielles zur Grundlage hat.«

So wenig aufregend diese knappen Sätze auch anmuten, so geisteshistorisch sensationell sind sie de facto. Ziehen sie doch just in einem Augenblick höchster Verblendung durch den Geist naturwissenschaftlich die Wurzel sowohl aus dem vorso-kratischen als auch aus dem antirationalistischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zu Nietzsche und Klages. Sie entzaubern nämlich den Geist, indem sie ihn von dem Nimbus des Absoluten befreien und stattdessen an seine natürlichen Grundlagen und Funktionen erinnern.

Das Verb »befreien« wird in diesem Zusammenhang mit bewußtem Nachdruck gebraucht, denn diese Ernüchterung in Sachen des Geistes käme, recht verstanden und beherzigt, in der

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Tat einer Befreiung gleich — einer Befreiung nämlich von den beklemmenden Fehlleistungen, die dem homo sapiens unter dem Vorzeichen spirituellen Hochmutes unentwegt unterlaufen. 

Aber der Konjunktiv signalisiert bereits, daß der vorschnell als »mündig« deklarierte Mensch von solcher Einsicht und Beherzigung noch weit entfernt ist. Im Gegenteil: vehement wehren sich gerade diejenigen, die kraft ihrer geistigen Fähigkeiten dazu vorbestimmt wären, die Denkwende zum Nutzen der Spezies zu vollziehen, gegen diesen Befreiungsakt. Sie verteufeln die Verhaltensforschung als wieder­auferstandenen biologischen Positivismus, der die niedrigsten, nämlich die kreatürlichen Instinkte gegen die Freiheit des Denkens mobilisiere und dementsprechend eine Renaissance faschistischen oder doch zumindest faschistoiden Weltanschauungs-Terrors vorbereite.

Sehen wir einmal davon ab, daß Weltanschauungs-Terror nicht nur ein Privileg des faschistischen, sondern auch des sozialistischen Machtanspruchs ist und dementsprechend ideologischer Verkrampfung schlechthin entspringt - sehen wir davon einmal ab, so besagt ja die vorhin apostrophierte »Entzauberung des Geistes« keineswegs, daß dadurch einer emotionalen Barbarei das Wort geredet wird. Angestrebt wird vielmehr eine Einsicht in die tatsächlichen menschlichen Verhältnisse, und zwar zur Förderung und nicht zur Minderung der Humanität.

 

Vor rund fünfzig Jahren prägte Ludwig Klages das Schlagwort vom Geist als dem Widersacher der Seele. 

Aus romantischem Geist und mit bekennerischem Pathos versuchte Klages damals die Menschheit vor der Gefahr geistiger Hypertrophie zu warnen und in später anthropologischer Weltstunde den Widerstand der Seele gegen diese Entwicklung zu mobilisieren. Obwohl Klages genial das bis zum Krisenpunkt gediehene menschliche Dilemma erkannte und trotz erregender Einsichten in die Antriebe des Schöpferischen, mußte dieser Aufruf zur seelischen Mobilmachung an seiner eigenen Problematik scheitern und sich dadurch den schlimmsten Mißverständnissen ausliefern. 

Diese Problematik ergab sich dadurch, daß Klages eine schlüssige Definition sowohl dessen, was er unter »Seele«, als auch dessen, was er unter »Geist« verstand, schuldig blieb und nach dem damaligen Stand der Wissenschaft vielleicht auch schuldig bleiben mußte. Gerade er, der in seiner Schrift <Vom Wesen des Bewußtseins> einen ungemein klärenden Beitrag zur Definition der sogenannten »Bewußtseins­tatsachen« geliefert hatte, gestand in seinem Hauptwerk <Der Geist als Widersacher der Seele> freimütig:

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»Obwohl ein großer, wenn nicht der größte Teil unserer Forderungen darauf ausging, an der Seele die Punkte des geringsten Widerstandes gegen die Eingriffe des Geistes zu ermitteln, und, wie wir glauben möchten, auch nicht ohne Erfolg, so ist es uns nicht gelungen, zu erklären oder verständlich zu machen, auf welche Weise ehedem - also vor Jahrtausenden in irgendeiner Menschengruppe - der erste Einbruch des Geistes habe stattfinden können.«

Aus diesen Worten spricht noch eindeutig die Auffassung, daß der Geist - als eine von der leibseelischen Menschenwirklichkeit getrennte Macht - gleichsam von außen her in die menschliche Daseinssphäre eingebrochen sei und, wie Klages meinte, sie allmählich vergiftet habe. Davon jedoch kann nicht die Rede sein, weil das, was wir Geist nennen, ein lebensimmanenter und damit unabdingbarer Faktor des leibseelischen, das heißt: des organismischen Regelkreises selbst ist.

Was im Lebenshaushalt des Menschen mit fortschreitender Entwicklung humaner Fähigkeiten (und diese Fähigkeiten hinwiederum stimulierend) tatsächlich in Widerstreit geriet, das sind die gen-programmierten, also die ererbten und dementsprechend gleichbleibenden Verhaltensweisen einerseits, und es sind die aus der Erfahrung hinzugewonnenen und kumuliert überlieferten, in ihrer Substanz und in dem Wert, den das Bewußtsein ihnen beimißt, sich unentwegt verändernden Informationen andererseits.

Kant war hier durchaus auf dem richtigen Erkenntnisweg, als er die menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit auf zwei Möglichkeiten des Urteils zurückführte, nämlich auf Urteile a priori und a posteriori. Knapp ins Anschauliche übersetzt: auf spontane und auf bedachte, reflektierte Urteile, beziehungsweise auf subjektive und objektive. Aber der Schluß, den Kant aus diesen denkerischen Überlegungen zog, verdeutlicht zugleich das anthropologische Dilemma, an dem sich beispielsweise das Unbehagen von Klages entzündete; glaubte Kant doch allein dem erkennenden und reflektierend überprüfenden Bewußtsein die menschen- (oder noch besser: geist-)gemäße, nämlich die »objektive« Rezeption der Wirklichkeit zusprechen zu müssen. 

Ins Biologische übersetzt heißt das nichts anderes als dies: Kant vertraut den erworbenen Erkenntnis-Tatsachen mehr und entschiedener als den genetisch-programmierten Reflexionen sei-

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ner leibseelischen Existenz. Für ihn ist, grob vereinfachend gesagt, ein a priori wahrgenommener Tisch erst dann ein Tisch, wenn sein urteilender Verstand ihn eindeutig als solchen a posteriori identifiziert hat.

Hier tritt deutlich die Überbewertung der cognitiven Hilfsmittel, die das gespeicherte Lernpotential des menschlichen Gedächtnisses bereitstellt, durch das erkennende Bewußtsein zutage. Nicht mehr das subjektiv-spontan wahrgenommene und auch unreflektiert oder doch nur kurz reflektiert für »wahr« hingenommene Objekt gilt als Realität, sondern das, was der erkennende Geist daraus macht, wie er es »objektiv« bewertet. Tatsächlich aber findet durch solche »Objektivation« ein Objektverlust, ein Wirklichkeitsverlust statt, der zugleich auch die sogenannte Freiheit des Geistes und die damit verbundenen menschlichen Willkürhandlungen erklärt. Gewinnen doch die aufgesammelten und über unzählige Generationen hinweg bewahrten Erkenntnistatsachen derart die Überhand, daß sie die Balance von Ererbtem und Erworbenem nicht nur stören, sondern daß sie die ererbten Fähigkeiten geradezu überschwemmen. Sie emanzipieren zu Informationen an sich, die sich, auch ohne unmittelbaren Objektbezug, im Rechenzentrum des menschlichen Gehirns selbst überprüfen und verschränken. Dieser Vorgang abstrakten Informationsaustausches ohne Umsetzung in körperliche Aktion ist nichts anderes als das, was wir »denken« nennen.

Abstraktes Denken wäre jedoch ebenso wenig möglich wie die deskriptive Aufbewahrung erworbener Informationen ohne Sprache. Ist die Sprache doch die Fähigkeit, die wahrgenommene und dementsprechend als wahr erkannte Wirklichkeit sowohl zu benennen als auch über sie, die empfangenen Informationen miteinander vergleichend und sie gegeneinander abwägend, zu reflektieren und sie sich sowie den anderen Gliedern der Gemeinschaft, die - wie man treffend sagt - »die gleiche Sprache sprechen«, immer wieder ins Bewußtsein zurückzurufen.

Genial hat es der homo sapiens verstanden, das Kommunikationsmittel Sprache, nachdem er es aus einfachen Lautäußerungen zu artikulierten Wörtern und Wortlauten hatte formieren können, in einen deskriptiven Code zu chiffrieren, mit dessen Hilfe er die nicht ererbten, sondern erworbenen Informationen mit relativ wenig Aufwand als Engramme weiterzugeben vermochte. Dadurch wurde, wie Konrad Lorenz sagte, auch das

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nicht Vererbbare in noch vermehrtem Maße erblich. 

Der Vergleich mit den Chromosomenchiffren des genetischen Codes, der sich hier aufdrängt, erscheint so abwegig nicht, wenn man bedenkt, welch ungeheure Fülle von Erkenntnis-Stoff mit den Buchstaben des Alphabetes und mit den Zahlen-Zeichen von o bis 9 vergleichsweise mühelos bewältigt wird.

Aber die in Buchstaben verschlüsselte Sprache und deren grammatikalische Ordnungsgesetze oder Strukturen, über die sich die Linguisten derzeit die Köpfe zerbrechen, sind nicht etwa, wie man vielleicht vorschnell vermuten möchte, nun doch ein gewichtiger Beweis für die entschiedene Emanzipation des Menschen von der Natur und damit für die Eigenständigkeit und auch Eigengesetzlichkeit des Humanverhaltens. Denn Sprache ist mehr als nur das Produkt menschlicher Intelligenz, für das sie heute oft in Verkennung ihres Ursprungs gehalten wird - sie ist auch eine individualisierte Äußerung des Lebens selbst. Dazu ein kurzer Hinweis.

In einem schmalen, aber inhaltsträchtigen Büchlein mit dem wissenschaftlich-nüchternen Titel >Die vorgeburtliche Entstehung der Sprache als anthropologisches Problem< stellt der Verfasser Günther Clauser einleitend fest:

»Wenn ich die Motivation meiner Untersuchung bildlich fasse, so steht am Anfang das Erstaunen darüber, daß alle Menschenkinder auf der ganzen Erde als erste Worte melodisch-rhythmische und doppelsilbige Lallworte artikulieren: bam-bam, bi-bi, po-po, weh-weh und wau-wau. Alle Babys sagen Pa-pa und Ma-ma. Dieses Phänomen enthält möglicherweise die Lösung der Frage nach dem Sprachursprung. Mich wundert, daß die physiologisch und psychologisch orientierte Sprachforschung bislang darin kein genetisches Problem sah.«

Nach der Lektüre von Clausers Buch muß man dem Erstaunen des Verfassers über diesen Sachverhalt beipflichten. Bereits die eingehenden Beobachtungen tierischer Lautäußerungen, insbesondere die Erforschung der sogenannten Delphinsprache, lassen nämlich auf die genetische Programmierung stimmlicher Ausdrucksbekundungen schließen, sei es als emotionale Verlautbarung (Lust-, Warn- oder Schreckensschrei) oder als Zeichen der Verständigung zwischen Artgenossen. Das besagt, daß Sprache nicht etwas gänzlich Neues, ja Naturfremdes und nur dem Menschen Eigentümliches sei.

Die Tatsache, daß dem primitiven tierischen Lautausdruck der semantische Sinn ebenso fehlt wie dem Lallen des Kleinstkindes - diese Tatsache legt die

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Vermutung nah, daß die Verschränkung und Differenzierung on Lautäußerungen zu semantischen, das heißt: zu Bedeuungseinheiten und schließlich zu grammatikalisch-logischen Abläufen keine primäre, sondern nur eine sekundäre menschliche Leistung darstellt. 

Sprache ist schon Sprache, bevor sie sich emantisch und logisch geordnet konstituiert und damit zum Code der Tradition avanciert. Und so entschieden sie sich auch von ihrem Ursprung zu abstrahieren scheint, so nachdrücklich bleibt sie doch mit diesem Ursprung wie mit einer Nabelschnur verbunden; wo Sprache, ob nicht artikuliert oder artikuliert, in ves Wortes unmittelbarster Bedeutung zum »Laut« wird, ist sie auch und zuvörderst Sprache der Natur. Sie verlautbart das Leben selbst. Hierzu schreibt Clauser

»Der Rhythmus ist ein Urphänomen alles Lebendigen. Die vitalen Funktionen aller Organismen - Nerventätigkeit, Kreislauf, Atmung, Ernährung - sind rhythmisch organisiert. Die Rhythmik hat für den Menschen eine erweiterte Bedeutung. Als Organisationsform der Zeit erschließt sie die vierte Dimension er Wahrnehmung. Sie induziert und organisiert die gesamte Reifung und Entwicklung während der Ontogenese. Gleichgewichtssinn und inneres Ohr registrieren als rhythmischen Einruck den intra-uterinen Schall. Sie bilden in enger anatomischer und physiologischer Verwandtschaft das häutige Labyrinth, das stammesgeschichtlich für den aufrechten Gang des Menschen und für seine Sprache bedeutsam war. 

Während der Phylogenese macht es für die Menschwerdung eine entscheidende explosive Entwicklung durch: Die stürmische Differenzierung des Labyrinths ergänzte seine fortschreitende Einbeziehung in den knöchernen Schädel. Diese ermöglichte, zusammen mit einer Umbildung des knöchernen Gehörganges, einer spezifischen Ausprägung des Unterkiefergelenks und einer Vergrößerung des Gehirnschädels, daß die eigene Stimme durch Knochenleitung wahrgenommen werden kann. Der menschliche Schädel wurde im Zuge der Menschwerdung zum optimalen Sende-, Empfangs- und Resonanzorgan für die Sprache, das wichtigste Medium zwischenmenschlicher Verständigung.

Dem Gestaltkreis von Wahrnehmung entspricht während der gesamten Ontogenese der Sprache die Kommunikationskette Sprecher - Sprachschall - Hörer. Sie wird in der Phase der Sprachschöpfung durch Mutter und Kind und deren rhythmische Ein-Stimmung repräsentiert. In dieser engen biologischen Verbindung wurzeln alle sozialen Beziehungen, auch die Sprache.«

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Um des thematischen Zusammenhangs willen müssen wir uns versagen, anknüpfend an dieses Zitat noch auf die Eigentümlichkeit des menschlichen Stimmapparates und die dadurch bedingten artikulatorischen Vorteile des homo sapiens im einzelnen einzugehen. Nur so viel sei, mit den Worten Clausers, zu diesem Punkt noch angefügt:

»Die Embryonalentwicklung der Sprachorgane ist gleichzeitig der Beginn ihrer Funktion. Sie verläuft nicht nur in der rhythmischen Abhängigkeit von Wachstumsdilatationen, sondern auch in ihrer Entwicklungsdynamik sehr >herznah<. Das menschliche Stimmband stammt nicht - wie das der Säugetiere - von der Skelett-, sondern von der Herzmuskulatur ab. Dies macht die starke Abhängigkeit der Stimme und Sprache vom Affekt verständlich. Auch die muskulären Organe der Mundhöhle und die Muskeln des inneren Ohrs zeigen als einzig extra-cardiale Organe Bauelemente, die der Herzmuskulatur gleichen. Der Mensch spricht und hört also mit dem Herzen.«

Von dieser wissenschaftlichen Erkenntnis, die übrigens auf den psychoanalytischen Forschungen von Sigmund Freud basiert, stellt sich leicht eine Brücke her zu der poetischen Erkenntnis von Joseph von Eichendorff, daß der Dichter »das Herz der Welt« sei. Denn indem sich der Dichter der Sprache als Ausdrucksmittel bedient, um seine Welterfahrung mitzuteilen (um sie zu »verlautbaren«), verweist er nicht nur auf den Bedeutungsgehalt von Worten, sondern er offenbart auch den lebendigen Ursprung der Sprache selbst - wie ja Kunst überhaupt mehr verspricht als nur die Fixierung und Weitergabe von sachlichen Informationen. Sie lehrt vielmehr, wie Nietzsche sagt, »Lust am Dasein zu haben«. Und diese Lust am Dasein teilt sich dem Menschen stets dann am erregendsten und bewegendsten mit, wenn er den Rhythmus des Lebens selbst verspürt - wenn er sich in diesen Rhythmus einzustimmen, an ihm teilzunehmen vermag.

Insofern ist sicher die unmittelbarste, weil unbewußte und von außen her noch vergleichsweise ungestörte Rezeption der Lebensrhythmen die des Embryos im bergenden Mutterleib und die des - von der herausfordernden Umwelt-Flut noch weitgehend unerreichten - Säuglings.

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Insofern aber erscheinen auch die Warnungen der Kinderpsychiatrie gerechtfertigt, die sich auf die empirische Feststellung gründen, daß die prägenden seelischen Schäden beim Kind (mit entsprechenden Folgen für den später Erwachsenen) während der Schwangerschaft und in den ersten zwölf Monaten, meist jedoch schon zwischen dem ersten und vierten Monat des kindlichen Erdendaseins verursacht werden, und zwar vornehmlich durch das »unnatürliche« Fehlverhalten der Eltern. 

Pathologische Zustände der Kommunikations- und Kontakt-Schwäche, der Objektverfremdung, der Depression und In-Aktivität treten auf, die schon in diesem frühesten Kindesalter jene nie mehr oder nur sehr schwer zu beseitigende Wirklichkeitsphobie anzeigen, unter der ein großer Teil der Gesellschaft leidet. Daß dies nicht nur kinderpsychiatrisch zu denken geben sollte, muß wohl kaum hinzugefügt werden ...

Versuchen wir nun an dieser bemerkenswerten Stelle zunächst einmal eine Art Zwischenbilanz aus den vorgebrachten (und notgedrungen sehr bruchstückhaften) anthropologischen Stichworten zu ziehen, so müssen wir im Hinblick auf das Generalthema Kunst wohl folgendes festhalten:

Just der Drang nach Erkenntnis, der den Menschen aus dem kreatürlichen Paradies ausschloß und ihn wichtiger biologischer Sicherungen beraubte - just dieser Erkenntnisdrang garantierte dem homo sapiens (und man möchte diesen Vorgang fast als Ironie der Hybris bezeichnen) zugleich entscheidende Überle-benshilfen bei dem schwierigen Geschäft, sich teils eigenverantwortlich, teils naturgebunden auf der Erde einzurichten. Im Verein mit den körperlichen Vorteilen, die ihm die Evolution zugesprochen hatte, der Greifhand nämlich und dem aufrechten Gang, konnte sich das Mängelwesen Mensch kraft seirler Intelligenz nicht nur behaupten, sondern sich auch eine eigenständige Umwelt errichten: Neben der Wirklichkeit der Natur erschuf es die Wirklichkeit der Kultur und domestizierte, wie die Anthropologen sagen, sich darin selbst.

Aber so energisch dieser Prozeß der Selbstdomestikation, gefördert durch die unermeßliche Neu-Gier des Menschen, auch fortschritt - sich von der Natur, die ihn nährte, endgültig abzunabeln, gelang den Nachfahren Adams nicht und konnte ihnen nicht gelingen, da der Baum des Lebens, wie wir aus der Bibel erfahren, ihrem Zugriff entzogen war. Immerhin jedoch gedieh die individuelle Vereinzelung und Vereinsamung der Spezies unter dem Vorzeichen absoluter Freiheit bis zu jenem Punkt, an dem wir heute stehen und den nicht nur Nietzsche als menschlichen Nihilismus kennzeichnete.

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Bar jeglichen Weltvertrauens, von Gott verlassen und die Objekte der Wirklichkeit grüblerisch anzweifelnd, den eigenen Regungen ebenso mißtrauend wie den Bekundungen der Artgenossen, von Informationen überbrandet und vom Streß des Wissens und Lernens zermartert, von seiner eigenen Technik überfordert und von Mangel bedroht - inmitten dieser Schrecken versucht sich der homo sapiens durch die sinnlose Befriedigung seiner Begierden zu betäuben, um sich über die irdische Endlichkeit seiner Existenz hinwegzutäuschen. Kaum nimmt es Wunder, daß er sich in dieser kläglichen Verfassung auch des Trostes begibt, den ihm Religion und Kunst zu bieten vermochten - ein Trost, der sich, was die Kunst betrifft, nicht in der Idee, sondern in der Wirklichkeit des Schönen verbirgt.

Erweist sich doch bei näherem Zusehen die Kunst als die eigentliche Sprache der Humanitas, die zwischen dem Ewigen und dem Irdischen, zwischen Leben und Geist, zwischen Ererbtem und Erworbenem, zwischen Seele und Intelligenz vermittelt, und zwar nicht durch abstrakte Überlieferung, sondern durch lebendige Erinnerung. Durch die Kunst erkennt der Mensch die Welt nicht nur und nicht vornehmlich, sondern er erlebt sie. Das Leben, schreibt Nietzsche, »das Leben ist wert, gelebt zu werden, sagt die Kunst. Das Leben ist wert, erkannt zu werden, sagt die Wissenschaft.«

Ob allerdings diesem künstlerischen Erlebnisprozeß der herkömmliche Begriff des Schönen noch gerecht zu werden vermag, nachdem er, wie wir gesehen haben, immer wieder in ästhetische Sackgassen führte, erscheint fraglich. Zu eng auch ist er verknüpft mit der Vorstellung vom schönen Schein, durch den sich der Mensch seine trüben Stunden zu verklären wünscht. Gerade das jedoch leistet Kunst, sofern sie Größe besitzt, am allerwenigsten - und sie will und soll es auch keineswegs leisten.

Was sie bietet, das ist Erinnerung als Gegenwart; und indem sie dies tut, hält sie das Gespräch des Menschen mit seinem Ursprung zeitlos in Gang. Nicht ohne tieferen Grund war daher die Kunst zu allen Zeiten eng mit der Religion verschwistert. Wo sie sich von der Religion ablöste oder ihrer religiösen Dimension entriet, entartete sie entweder zum gesellschaftlichen Zierat oder zum Public-Relation-Service öffentlicher Meinungen. Entwicklungen dieser Art aber haben mit Kunst meist nur noch ästhetische Formalien gemein - und manchmal noch nicht einmal diese...

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Gewiß: nur allzu oft nimmt pseudo-künstlerische Attitüde, auf diesen Sachverhalt kritisch angesprochen, Zuflucht zu dem Dürerwort, wonach man weder wissen könne, was Schönheit noch was Kunst sei und dementsprechend alles, was sich als solche bezeichne, auch als Kunst hingenommen werden müsse.  Allenfalls werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nicht so sind, wie sie sein sollen, als Kriterium noch zugelassen oder gar als Alibi in die ästhetische Diskussion eingebracht, um selbst noch dampfende Kuhfladen als künstlerisch relevante Objekte zu rechtfertigen und ihnen eine artistische Protesthaltung oder Enthüllungstendenz ideologisch zu injizieren.

Um hier die absoluten Maßstäbe, an denen das Kunstwerk gemessen werden muß (und sie gibt es!) gegen den Nonsens artistischer Willkür wieder in Erinnerung zu rufen und um der Humanitas willen zurechtzurücken, ist die »Ästhetik als Wissenschaft von den Empfindungen« auf das Bündnis mit den  Naturwissenschaften angewiesen; von dort nämlich kann sie sich, wie auch wir dies getan haben, beweiskräftigen Rat holen zur Beseitigung epochaler und dementsprechend folgenschwerer ästhetischer Mißverständnisse. 

Wie wertvoll dieser Rat sein kann, das hat Konrad Lorenz durch seine erkenntnis-theoretischen Einsichten bewiesen, und wie grundstürzend Lorenz selbst diese Einsichten für die Kultur- und Menschheitsgeschichte bewertet, mag ein Zitat aus <Die Rückseite des Spiegels> belegen:

»Ich glaube sichere Anzeichen dafür wahrzunehmen, daß eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sich aufbauende Selbsterkenntnis der Kulturmenschheit aufzuleuchten beginnt. 

Wenn diese - was durchaus im Bereich des Möglichen liegt - zur Blüte und zum Tragen kommen sollte, würde damit das kulturelle geistige Streben der Menschheit ebenso auf eine höhere Stufe gehoben werden, wie in grauer Vorzeit durch das Fulgurieren der Reflexion die Erkenntnisfähigkeit des Einzelmenschen auf eine neue und höhere Stufe gehoben wurde. 

Eine reflektierende Selbsterforschung der menschlichen Kultur hat es nämlich bisher auf unserem Planeten nie gegeben, ebensowenig wie es vor Galileis Zeit eine in unserem Sinne objektivierende Naturwissenschaft gab.

Die naturwissenschaftliche Erforschung des Wirkungsgefüges, das die menschliche Sozietät und ihre Geistigkeit trägt, hat eine schier unabsehbar große Aufgabe vor sich. Die menschliche Sozietät ist das komplexeste aller lebenden Systeme auf unserer Erde.

Unsere wissenschaftliche Erkenntnis hat kaum die Oberfläche ihrer komplexen Ganzheit angekratzt, unser Wissen steht zu unserem Unwissen in einer Relation, deren Ausdruck astronomische Ziffern erfordern würde. Dennoch aber glaube ich, daß der Mensch als Spezies an einer Wende der Zeiten steht, daß eben jetzt potentiell die Möglichkeit zu ungeahnter Höherentwicklung der Menschheit besteht.

Gewiß, die Lage der Menschheit ist heute gefährlicher als sie jemals war. Potentiell aber ist unsere Kultur durch die von ihrer Naturwissenschaft geleistete Reflexion in die Lage versetzt, dem Untergange zu entgehen, dem bisher alle Hochkulturen zum Opfer gefallen sind. 

Zum erstenmal in der Weltgeschichte ist das so.«

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