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3.3  Der Verlust der Transzendenz als menschliches Verhängnis

Friedrich-1979/1982

 

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Die Natur kennt diesen teleologischen Schlachtruf der Geschichte nicht. Sie findet im Gegenteil durch Gräber stets zu sich zurück. Im <Tiefurter Journal>, jenem Blatt der Stürmer und Dränger um den jungen Goethe in Weimar, steht der bedeutsame Satz, der Tod sei »ein Kunstgriff der Natur, viel Leben zu haben«.    wikipedia  Teleologie  "Zwecklehre"   wikipedia  Journal_von_Tiefurt (1781-84)

Treffender und knapper läßt sich die Verschiedenheit natürlichen und geschichtlichen Geschehens kaum formulieren. Die raumzeitlich sich entfaltende und immer wieder zu sich zurückfindende Natur nämlich vernichtet nicht, indem sie handelt, sondern sie erhält, indem sie vernichtet. Ihr Grundgesetz heißt Verwandlung, ihre Geschichte ist das Werden, das weder der Vergangenheit noch der Zukunft, sondern nur dem ewig pulsenden Herzschlag des Kosmos unterworfen ist. Das mag vielleicht ein wenig pathetisch oder gar romantisch klingen, aber es ist trotzdem wahr. 

Die Natur, in so vielfältigen Erscheinungen, Entwicklungen, Katastrophen und Aufschwüngen sie sich auch offenbaren und damit dem menschlich-messenden Zeitbewußtsein gelegentlich den Eindruck teleologischer Zweck­mäßigkeit und Absicht suggerieren mag — letztlich stellt sie doch in diesem ungeheuren Prozeß brodelnder Verwandlung immer wieder das her, was man das »kosmische Gleichgewicht« oder auch, um mit Johannes Kepler zu reden, »die Harmonie der Welten« nennen könnte.

Es gibt kaum eine poetisch bewegendere Aussage über diesen Sachverhalt als die Verse, die Goethe, der ja auch ein großer Naturforscher war, mit <Eins und alles> überschrieb und die folgendermaßen lauten:

 

 

»Im Grenzenlosen sich zu finden, 
Wird gern der Einzelne verschwinden, 
Da löst sich aller Überdruß; 
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, 
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen 
Sich aufzugeben - ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen! 
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen, 

Wird unsrer Kräfte Hochberuf. 
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister, 
Zu dem, der alles schafft und schuf. 

 

Und umzuschaffen das Geschaffne, 
Damit sichs nicht zum Starren waffne, 
Wirkt ewiges, lebendiges Tun. 
Und was nicht war, nun will es werden 
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden, 
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln. 
Erst sich gestalten, dann verwandeln: 
Nur scheinbar stehts Momente still. 
Das Ewige regt sich fort in allen: 
Denn alles muß in Nichts zerfallen, 
Wenn es im Sein beharren will.«  

 

Denn alles muß in Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will — mit dieser Schlußzeile lieferte Goethe fast so etwas wie eine kosmische Weltformel: eine Weltformel, die er übrigens durch deren geniale Umkehrung gleichsam auf die Probe stellte. Ein zweites Gedicht zum gleichen Thema, betitelt: <Vermächtnis>, beginnt nämlich mit den Verszeilen:

»Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! 
Das Ew'ge regt sich fort in allen, 
Am Sein erhalte dich beglückt! 
Das Sein ist ewig: denn Gesetze 
Bewahren die lebendgen Schätze, 
Aus welchen sich das All geschmückt.«

Beide Versionen stimmen, so paradox sie sich zunächst auch anhören mögen, völlig miteinander überein, weil sie mit jeweils entgegen­gesetzten Vorzeichen die gleiche Grundeinsicht verlautbaren, nämlich: daß nur werden kann, was vergeht, und daß nur vergeht, was auch wieder wird. 

Nichts anderes sagte am Beginn abendländischer Denkentwicklung Heraklit, als er seine Weltformel in die drei Worte faßte: Eins ist alles. Und das gleiche hinwiederum definierte rund zweieinhalb Jahrtausende später Julius Robert Mayer, als er das Gesetz von der Erhaltung der Energie aufstellte und bewies.

*   wikipedia  Transzendenz   

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Nach dem, was vorstehend über das Wesen der Geschichte als treibenden Tatfaktor menschlichen Handelns einerseits und das Grundgesetz natürlichen Werdens und Vergehens andererseits gesagt wurde, dürfte erhellen, daß ein Konflikt zwischen dem homo sapiens und der ihn immer noch nährenden Urmutter Erde unausweichlich war. Je intensiver nämlich die hervorragendsten, weil von klimatischen Voraussetzungen am meisten begünstigten Teile des Menschengeschlechts ihrer Zeitlichkeit innewurden, um so eifriger waren sie darauf erpicht, sie durch die Ansammlung von Erfahrung und Wissen zu überlisten — bis schließlich, mit Heraufkunft der Neuzeit der große Durchbruch zur rationalen und damit später folgerichtig auch imperialen Beherrschung der Welt zwecks individuellen Daseinsgenusses gelang. 

Die überlegenen Rassen des Planeten begannen dessen Ressourcen planmäßig mit immer raffinierteren Methoden auszubeuten und zu verbrauchen. Die Hybris der Geschichte wurde potenziert durch die Hybris von Technik und Wissenschaft — durch die Hybris von Mächten also, die dem stammes­geschichtlich ererbten Neugier-Trieb des homo sapiens ihre Existenz ebenso verdanken wie der Fertigkeit dieses Aufrechtgehers, Hände und Kopf gleichermaßen geschickt und auf Erfahrungen abgestimmt zu gebrauchen — und das heißt: potenziert durch Mächte, die den Fortschritt als Existenz-Erfüllung und Bestätigung so unabdingbar benötigen wie die Geschichte selbst.

Es werden gelegentlich Stimmen laut, die vermuten, dieser potenzierten Hybris der menschlichen Entwicklung liege ein »genetischer Defekt« zugrunde. Möglicherweise sei der Mensch im Schöpfungsplan des Planeten Erde gar nicht vorgesehen gewesen; lediglich ein »Irrtum« der Evolution (oder gar eine Panne) habe ihm die Chance eingeräumt, das aus sich zu machen, was aus ihm geworden sei. Andere wiederum meinen, der Mensch sei vielleicht nur ein Experiment, ein Entwurf der Schöpfung, den sie, falls er mißlinge, gnadenlos wieder verwerfe, wenn es an der Zeit sei. 

Daß solche Gedanken überhaupt auftauchen konnten und noch auftauchen, hat zweifellos mit dem Verlust der Transzendenz zu tun, der mit jenem Umbruch der Epochen zwischen Mittelalter und Neuzeit einsetzte und der Gottfried Benn Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts in einem Brief an seinen Freund Oelze zu dem sarkastischen Satz veranlaßte: Er komme endlich dahinter, daß alle großen Geister der weißen Rasse seit 500 Jahren die eigentliche innere Aufgabe darin erblickten, »ihren Nihilismus zu verschleiern und zu bekämpfen«

Fünfzig Jahre zuvor hatte Nietzsche, als er vom »europäischen Nihilismus« sprach, seiner an Fortschritts-Neurose erkrankten Epoche die gleiche Diagnose gestellt.

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Warum der Verlust der Transzendenz die menschliche Hybris enthemmende und damit den Nihilismus fördernde Wirkungen zeitigt, erklärt ein Blick auf das kulturelle Verhalten des homo sapiens. 

Der geschichtlich vorwärtsdrängende Gestaltungswille des Menschen konnte nämlich so lange an seiner gegenmenschlichen, zerstörerischen Entfaltung gehindert werden, solange ein intakter kultureller Überbau, zu dem auch die Religion gehört, die Sozietät einigermaßen in der Balance zwischen der geistigen Sublimierung gewonnener Erfahrungen und täterischer Barbarei zu halten imstande war. 

Religion und Kunst (und im weitesten Sinne überhaupt alles, was man als Lebens-Stil, als Zusammenfassung und Höherwertung von Lebens­äußerungen bezeichnet), sie übernahmen somit eine Art Hemmungsfunktion innerhalb der Gesellschaft — eine »Hemmungsfunktion«, die an die bessere Seite der Menschheit appellierte, indem sie deren Bedürfnis nach Transzendenz wachhielt und befriedigte. 

Durch seine Kultur war der zeitliche Mensch stets in die Lage versetzt, mit der zeitlosen Ewigkeit, der er entstammt und der er nach wie vor angehört, Zwiesprache zu halten und Trost zu empfangen angesichts der Barbarei, in die ihn seine Physis immer wieder hineindrängt. Durch Kultur behauptete er sich vor dem Anspruch einer sich unablässig selbst liquidierenden Geschichte, manchmal mit mehr Glück und Entschiedenheit, manchmal mit weniger. 

Aber selbst in den problematischsten Phasen der Antike und des Mittelalters verlor die Kultur nie die Substanz ihrer fermentierenden seelischen und damit auch sozialen Erneuerungskraft. Als entscheidender Faktor der Humanität zeigte sie sich ihrer Aufgabe gewachsen, über den Trümmern der Geschichte das geistige und seelische Klima der Zeit zu reinigen, sofern der Gesellschaft auch nur noch ein Funken seelischer Widerstands­bereitschaft innewohnte.

Daß demgegenüber just von jenem Jahrhundert an, in dem sich die Neuzeit ausdrücklich unter dem Vorzeichen der Humanität zu formieren anschickte, der menschenbildnerische Einfluß der Kultur nachzulassen begann, um am Ende der Neuzeit schließlich zu einem billigen Ramschgeschäft kultureller Werte zu entarten — das ist wohl eine jener tragisch-ironischen Pointen, die der Weltgeist bereithält, um sich durch Höllengelächter bei seinen Verächtern in Erinnerung zu bringen.

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Vielleicht mag zunächst die Behauptung befremdlich klingen, daß ausgerechnet in den, durch Kunst und Wissenschaft, durch Philosophie und lebens­festlichen Kultur-Dekor, aber auch durch religiösen Eifer hervorragend ausgezeichneten Saecula zwischen 1400 und 1900 der kulturelle Impetus erlahmt sei. Denn in der Tat gibt es keine Epoche der Menschheitsgeschichte, die sich soviel Kultur, ja: kulturellen Luxus leistete wie diese, und die ihn auch in derart vollen Zügen genoß.

Schaut man bewundernd zurück auf diese abendländische Symphonie des Geistes und der Sinne (und wer täte dies nicht mit Vergnügen?), dann mutet es wie schiere Ignoranz an, von diesen Jahrhunderten zwischen Giordano Bruno und Nietzsche, zwischen Giotto und Cezanne, zwischen Boccaccio und Fontane, zwischen Monteverdi und Brahms etwas anderes zu behaupten als dies: sie seien der Orgelpunkt des Abendlandes gewesen, über dem die Melodie der Humanitas sich strahlend entfaltet habe, allen Religionskriegen und sonstigen geschichtlichen Malaisen zum Trotz.

Was hier, in diesen Jahrhunderten zwischen Renaissance und Fin de siecle erlahmte, war allerdings auch nicht der kulturelle Impetus, der ihnen wahrhaftig nicht mangelte; vielmehr war es der anthropologische Integrations­anspruch der Kultur, der sich aus der Gesellschaft verabschiedete. Das heißt: die Kunst begann sich unmerklich zuerst und später zunehmend offenkundig aus einem Subjekt der Gesellschaft in deren Objekt zu verwandeln. 

Die Entstehung der ersten Tafelbilder signalisierte bereits die sich anbahnende Veränderung: Das Kunstwerk wurde mobil und damit verfügbar. Natürlich gab es auch zuvor schon verfügbare Kunstwerke. Die Römer zum Beispiel plünderten ganz Griechenland aus und schmückten mit den geraubten Bildwerken ihre Villen. Aber vorbestimmt waren diese Werke nicht für diesen Zweck; sie wurden dazu erniedrigt. Seit der Renaissance jedoch wurde Kunst zur Verfügbarmachung produziert, weil entsprechende individuelle »Nachfrage« entstanden war.

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Das heißt: 

Die Zeitgenossen begehrten Kunst als Besitz, den sie seiner ästhetischen Reize wegen zumindest ebenso oder sogar mehr als wegen seiner Inhalte zu schätzen wußten. Auf diese Weise wurde der Prozeß der Kunstvermarktung eingeleitet, der bereits im Übergangsfeld zwischen Renaissance und Barock jenen merkwürdigen Stil des Manierismus hervorbrachte, durch den sich erstmals der neuzeitliche Katzenjammer als nihilistische Clownerie bekundete. 

Der Manierismus gab somit einen kultur-anthropologischen Vorgeschmack auf das, wozu Kunst fähig ist, wenn sie sich, ihrer sozialen Bindungen und Pflichten ledig, vornehmlich intellektuell und ästhetisch interessant zu empfehlen versucht. Zugleich legte er Zeugnis ab dafür, wie hoffnungslos die Künstler jener Epoche sich selbst und ihrer Gesellschaft abhanden gekommen waren und wie die Zeit sich anschickte, aus den Fugen zu geraten. Vor dem Blick erscheint der Dänenprinz Hamlet, den Shakespeare zu einer Symbolfigur des Zeitalters erhob: Tat und Gedanke liegen in diesem Tragödienhelden bis zur Selbstvernichtung im Widerstreit. Der Nihilismus wirft seinen schrecklichen Schatten über ihn.

In dem Maß, in dem der Mensch der Neuzeit seine Bindungen an die Transzendenzen nicht mehr oder doch zumindest immer weniger ernst zu nehmen begann, verstärkte sich seine Konsumhaltung gegenüber der Welt. Entschieden trachtet er danach, seine Umwelt, anstatt sie seelisch zu be-werten und schöpferisch zu gestalten, vornehmlich materiell zu ver-werten. Schließlich wurde nur noch der vermarktbare und entsprechend gewinnbringende Mehrwert als der Weisheit letzter wirtschaftlicher Schluß angebetet; von immaterieller Aufwertung der Wirklichkeit redet fast schon niemand mehr.

Daß es soweit kommen konnte, hat Gründe, die weit hinter den Beginn der Neuzeit zurückreichen.  

Wahrscheinlich ist dafür, daß die Vorstellung vom wirtschaftlichen Mehrwert menschlicher Arbeit die Verhaltensweise der Abendländer zu erregen begann und schließlich völlig korrumpierte, der Zivilisationsprozeß selbst ein wesentlicher Auslöser gewesen. Wie schon der Begriff »Zivilisation« bezeugt, handelt es sich bei diesem Prozeß um die allmähliche Verbürgerlichung, sprich: Verstädterung der Menschheit, durch die sich die geistige und soziale Struktur der Spezies eben dort, wo »Zivilisation« stattfand, durchgreifend veränderte. 

Denn das enge Zusammenleben vieler Menschen der verschiedensten Intelligenz- und Begabungsstufen in einem Ballungszentrum forderte existenznotwendig eine Verfeinerung der ursprünglichen Sozialinstinkte; Mord und Totschlag wären sonst die Folge des natürlichen Umwelt- und damit Revierverlustes gewesen. Das heißt: die Menschen, die sich einander in den Städten nah auf den Leib rückten, waren in besonderer Weise aufeinander angewiesen. Sie sahen sich gezwungen, ihre Aggressionen einzuschränken oder zu sublimieren um einer gemeinsamen Existenzsicherung willen.

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Diese Verlagerung oder Sublimierung natürlicher, leib-seelischer Reaktionen, die man wahrscheinlich auch als Verdrängung bezeichnen könnte, führte ebenso notwendig wie folgerichtig zu einer Potenzierung intellektueller Eigenschaften; die physisch verlorengegangenen Reviere wurden sozusagen im imaginären Raum des Geistes wiederhergestellt. Daß heute von »geistigem Eigentum« gesprochen wird, hat nicht zuletzt darin seinen Grund.

Es liegt auf der Hand, daß ein Zusammenwirken der innerhalb einer urbanen Sozietät sublimierten und potenzierten intellektuellen und täterischen Kräfte zugleich deren kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung in einem unvergleichlich höheren Maße zu garantieren und zu fördern vermochte, als dies jemals einer in dörflicher Gemeinschaft oder gar in Einzelhöfen lebenden Landbevölkerung möglich gewesen wäre. Dementsprechend war das Prinzip der Arbeitsteilung dem Zivilisationsprozeß auch von vornherein einprogrammiert. Nur die Zusammen­fassung und Steigerung der Arbeitskraft, aber auch der Intelligenz vieler Individuen zu einem gemeinsamen Ziel konnte Leistungen erbringen, die weit die Möglichkeiten des Einzelnen übertrafen.

Ohne diese konzentrierende, zivilisierende Dynamik der Stadt und der in ihr geschaffenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen ist das, was wir Staat nennen, undenkbar. Die Stadt ist sozusagen der Schmelztiegel, in dem die Gesellschaft das Erz ausschmilzt, mit dessen Hilfe sie ihre Brücken in die geschichtliche Zukunft erbaut.

»Jede große Kultur«, sagt Oswald Spengler, »beginnt mit einem gewaltigen Thema, das sich aus dem stadtlosen Lande erhebt, in den Städten mit ihren Künsten und Denkweisen vielstimmig geführt wird und in den Weltstädten im Finale des Materialismus ausklingt.«

Es ist hier nicht der Ort, auf den menschheitlichen Zivilisationsprozeß ausführlicher als mit diesen andeutenden Stichworten einzugehen. Immerhin lassen diese im Zusammenhang unseres Themas erkennen, daß der Begriff »Zivilisation« jene spezifische Form sozialer Organisation kennzeichnet, die sowohl Konzentrierung als auch Potenzierung menschlicher Intelligenz und Gestaltungskraft ermöglicht.

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Zivilisation errichtet und füllt die Zeughäuser, aus denen sich der täterische Fortschritt ebenso armiert wie der kulturschöpferische Impetus. Ohne zivilisatorische Basis bleibt der Radius kultureller Aktivität vergleichsweise beschränkt auf das, was man, vielleicht ein wenig zu sehr verallgemeinernd, aber keineswegs abschätzig »Volkskunst« nennen könnte. Allen Frühformen der Hoch-Kulturen eignet dieser »Volkskunst«-Charakter ebenso wie beispielsweise den kultischen und künstlerischen Äußerungen der sogenannten Primitiven. Insofern erübrigt sich auch die alte Streitfrage, ob Zivilisation und Kultur Gegensätze seien, die einander ausschlössen. Sie schließen ebenso wenig einander aus wie Geist und Seele; vielmehr sind sie auf Wechselwirkung angewiesen, wenn sie ihre humanisierende Kraft entfalten wollen. Seele kann nicht ohne Geist höherstimmend in Erscheinung treten, und Kultur bedarf der Zivilisation, um sich als Hochkultur manifestieren zu können.

Dennoch geraten Kultur und Zivilisation, obwohl verschwistert, einander im Laufe der Menschheitsgeschichte doch immer wieder in die Quere. Das liegt daran, daß die Zivilisation in der Frühphase ihrer Entwicklung den sozial bedeutsamen Mehr-Wert »Kultur« zwar unabdingbar benötigt, um sich zu aktivieren und einen Sinn zu geben — daß sie aber im späteren Verlauf ihrer Entfaltung der kulturellen Komponente zumindest teilweise entraten kann, ohne sich dabei selbst aufgeben zu müssen. Technik und Wirtschaft sind zum Beispiel zwei soziale Faktoren, durch die sich Zivilisation sogar noch dynamisch-expansiver zu bekunden vermag als durch Kultur. Ein Blick in die Gegenwart liefert dafür allenthalben Beweise genug.

Es konnte gar nicht ausbleiben, daß der Zivilisationsprozeß in jenem Abschnitt der Menschheitsgeschichte entscheidend vorwärtsdrängenden Auftrieb erhielt, in dem in Europa die Individuen der Spezies sich entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und damit ihres eigenen Glückes Schmied zu werden. Und es war wohl auch unter solchen Vorzeichen unausweichlich, daß die Zeitgenossen der Neuzeit zuerst nur zögernd und mit halbwegs schlechtem Gewissen, schließlich aber mit ungehemmter Lust am Irrtum Kultur mit Zivilisation zu verwechseln und dann kurzerhand gleichzusetzen sich anschickten. Sie beruhigten sich mehr und mehr bei dem Gedanken, daß, wer sich fortschrittlich-zivilisiert verhalte, sozusagen auch seiner kulturellen Pflicht genüge. 

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Nur auf diesem Denk-Abweg konnte es dazu kommen, daß heute kaum noch jemand zusammenzuckt, wenn von Kulturindustrie, Literaturvermarktung, Bestsellern oder Spekulationen mit Kunstwerken die Rede ist.

Der zivilisierte Spätmensch vermag sich gar nicht mehr vorzustellen, daß Kultur etwas sei, das sich seinem innersten Wesen nach dem ökonomischen Zugriff eher verweigert als ihm entgegenzukommen — und dies, obwohl Kultur selbstverständlich auch der materiellen Investition bedarf, um Erscheinung werden zu können. Für diesen Spätmenschen stellt bereits die Produktion von kulturellen Surrogaten eine zivilisatorische Qualität dar, obwohl diese, kulturell gesehen, auch nicht den geringsten menschenbildnerischen Wert hat, im Gegenteil ...

Inzwischen beginnt allerdings auch manchem Fortschrittsanhänger zu dämmern, daß die Zivilisation nicht nur in der kulturellen Rolle, in die sie seit der Früh-Renaissance hineinmanövriert worden war, versagte, sondern auch ihrer sozial-organisatorischen Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Die fortschreitende Verstädterung der Gesellschaft und damit deren zunehmende Intellektualisierung bei gleichzeitiger Einengung des individuellen Aktionsraumes zeitigte nämlich eine Tendenz zur menschlichen Vermassung einerseits und zur Über-Intellektualisierung andererseits, vor der jede zivilisierende Ordnungskraft, anstatt sich gestaltend durchzusetzen, weitgehend zur passiven Verkehrsregelung verdammt ist; das heißt: sie kann gerade noch bewirken, daß sich der sogenannte Fortschritt in einigermaßen geregelten Bahnen voranwälzt, aber sie hat keine Macht über dessen Richtung und Sinn. 

Dieser Zug der zivilisierten Lemminge nimmt groteskerweise in dem Augenblick unserer Geschichte hybride Züge an, in dem die Individuen angeblich auf dem besten Wege sind, endlich aus der laut Kant selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten, um persönlicher Freiheit und Freizügigkeit am nächsten zu kommen.

Angesichts der tatsächlichen menschlichen Verhältnisse in den sogenannten zivilisierten Ländern, die bereits den ganzen Erdball überschatten, mutet solcher Idealismus wie die Katzenjammer-Euphorie einer Menschheit an, die sich, indem sie sich an ihren Phrasen berauschte, um den Verstand soff. 

Denn ob Ost oder West, ob Demokratie, Diktatur oder Monarchie welcher Provenienz auch immer — überall dort, wo sich Alte und Neue Welt im Zeichen der Zivilisation die Hand reichen (oder auch nicht), haben sich jenseits der politischen und pseudomoralischen Strukturen längst die eigentlichen Erben der Neuzeit auf den Thron der Menschheit geschwungen und zwingen den Völkern des Planeten die Knute ihres Handelns auf: Technik und Wirtschaft. 

Selbst die Wissenschaften, denen sie ihren Aufschwung verdanken, erniedrigen sie zu ihren Sklaven — nur mit dem einen, längst außer Sozial-Kontrolle geratenen Zweck, den technischen und wirtschaftlichen Willen zu materieller Macht zu nähren. 

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Auf diese Weise denaturiert und hypertrophiert die zivilisatorische Arbeitsteilung zur Fetischisierung der Arbeit als Inbegriff menschlicher Lebensmoral und Lebenserfüllung schlechthin.

Denn weder ist Arbeit an sich ein ethischer oder ein sozialer Wert, noch stellt der durch Arbeit erzielte Wohlstand bereits Freiheit dar, solange sich dieser vornehmlich im Verbrauch des Geschaffenen erschöpft. Im übrigen sind die Wohlstandsbürger der technokratischen Wirtschaftsdiktatur ohnehin bereits damit befaßt, ihr feierlich proklamiertes Recht auf Arbeit dadurch ad absurdum zu führen, daß sie durch ihre Schlaraffiavorstellung vom Leben der Industrialisierung und damit auch der fortschreitenden Mechanisierung des Arbeitsaufwandes Vorschub bis zur eigenen Eliminierung durch die elektronisch gesteuerte Maschine leisten.

Mit anderen Worten: Die hochzivilisierten Wohlstandsbürger teilen ihre Arbeit längst nicht mehr untereinander auf, um einen sozialen Mehrwert zu erreichen, sondern die Arbeitsteilung erfolgt inzwischen sogar zwischen Mensch und Maschine, also zwischen einem Lebewesen und einer leblosen Mechanik. Hier nun endet der Klassenkampf, den Karl Marx zur Sicherung der Mehrwertanteile für die sozial Schwächsten der arbeitsgeteilten Industriegesellschaft, nämlich für die Arbeiter proklamierte.

In einer Gesellschaft, die, weil ihr nichts mehr anderes einzufallen scheint, sich selbst unentwegt ausbeutet, um sich Freiheit und Wohlstand vorzugaukeln, und die diesen Irrwitz als Beitrag zum Wirtschaftswachstum und zur Konjunktur zu rechtfertigen sucht, sind alle Klassenkämpfe ausgekämpft. Es gibt in ihr zwar, wie eh und je, immer noch Reiche und vielleicht sogar Arme, aber Sklaven sind sie alle. Von Freiheit keine Spur. Im Gegenteil, die Chance zur Freiheit verringert sich von Tag zu Tag, und zwar rasant.

Denn die Kulissen, die Technokratie und Ökonomokratie zwischen der Menschheit und ihrem Ursprung, aber auch vor deren zivilisatorischer und kultureller Wirklichkeit in Stahl und Beton sowie durch die Medienberieselung und durch die Proklamation öffentlicher Meinungen aufrichten, werden immer höher, psychedelisch bunter und absurder.

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Und vor allem: sie sind immer tiefer in die Perspektive hineingestaffelt; auch der ungetrübte Blick kann ihnen schon gar nicht mehr entrinnen. Dement­sprechend empfängt dieser Blick auch fast alles nur noch aus zweiter Markt- und Medienhand, und zwar als Konsumgut. Selbst ferne Länder denaturieren auf diese Weise zur Staffage, angeboten zur touristischen Ausbeutung: die Erde, ein riesiger Verbrauchsplanet der zivilisierten Menschheit, per Versandkatalog zur allseitigen Bedienung angeboten, sogar frei Haus. 

Während Konkurrenzschlachten auf den Weltmärkten geschlagen werden und Wirtschaftsbürgerkriege in den Staaten der freien Welt toben, während Drogenräusche den nihilistischen Himmel öffnen und Eros auf den pornographischen Strich geht, während die einen das Selbst­bestimmungs­recht für Tausendfüßler proklamieren und die anderen millionenfach das Leben abtreiben, für das sie international auf die Barrikaden steigen, während die einen öffentlich meinen und die anderen öffentlich widersprechen, während globaler Kulturabfall den Äther verseucht, Zeitungsschreiber Weltgerichte einberufen und abhalten, während dies alles und weitaus mehr geschieht, und während die Lebensquantität des homo sapiens milliardenfach überschwappt und sich selbst zur Last wird, vermindert sich die Lebensqualität der Spezies rapide. 

Alles, was dem Menschen einst Größe verlieh in seiner Fragwürdigkeit, landet entweder im Ramsch oder im Museum. Und das heißt: das, was man im zeitgeistigen Jargon <soziale Relevanz der Kultur> nennen könnte, findet schlechthin nicht mehr statt. 

Selbst die Religionen erweisen sich machtlos gegenüber den technokratischen Göttern. Weder Christentum noch Buddhismus, weder Shintoismus noch Mohammedanismus, weder Hinduismus noch Taoismus konnten und können der fortschrittlichen Hybris Einhalt gebieten. Sie beginnen sich langsam mit den neuen Herrschern der Erde zu arrangieren und die Maschinen ebenso zu segnen, wie sie früher die Kanonen segneten, anstatt die seelischen Kräfte der Menschheit zu mobilisieren gegen den Wahnsinn der Selbstvernichtung alles dessen, was das Leben lebenswert macht und ihm erst humane Würde verleiht.

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