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Einer hat mitgedacht - Ermutigung als Widerstand

Manès Sperbers Wirkung im real existierenden Sozialismus

detopia-2010: Sozialismus steht hier - im Inhaltsverzeichnis jedoch - wohl richtiger - Stalinismus.

 Manes Sperber 

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Als ich 1977 in Westberlin ankam nach politischer Haft und erzwungenem Weggang, da schien es in den ersten Monaten, als sei nun alles sinnlos geworden. Der "Fall" war schnell verbraucht in den Medien, man saß wieder vor einer Mauer. Nur diesmal abgeschnitten von dem Zuhause dahinter.

Politische Gruppierungen meldeten sich, wollten, daß ich ihrer Meinung war. Viele linke Intellektuelle winkten ab, wollten nichts zu tun haben mit dem <Dissidenten>. Wie leise traten sie gegenüber der Repression, die ich kennengelernt hatte und über die man ja allerhand wissen konnte. Es ging ja schon viele Jahre so: Es gab Bücher, Zeugen, Fakten, den XX. Parteitag — die Bücher von Solschenizyn, Schalamow und Jewgenia Ginsburg. Ich gebe zu, daß ich irritiert war, auch an mir selbst und dem, was ich schrieb, zweifelte.

Manes Sperbers Aufsatz <Stufen der praktikablen Unwissenheit> war für mich eine rettende Entdeckung. Zwei Sätze möchte ich zitieren:

"Damit es uns gelinge, unser Nichtwissen über einen Sachverhalt oder über ein Ereignis und seine Hintergründe intakt zu bewahren, brauchen wir nicht erst irgendeinen Verdrängungs­mechanismus in Gang zu setzen. Es genügt, daß wir kein ausdrückliches Interesse haben, etwas zur Kenntnis zu nehmen; zum Beispiel weil es uns nicht unmittelbar angeht oder weil solches Wissen Verpflichtungen mit sich bringen könnte, denen wir uns dank der mühelos aufrechterhaltenen Ignoranz mit gutem Gewissen entziehen können."  

Ich las dann alles, was ich von Sperber bekommen konnte.

Und mir wurde klar, auch in der persönlichen Begegnung, daß Grenzgänger immer wieder das Thema Freiheit, Flucht, Diktatur, Macht, Sozialismus aufwerfen und damit Ängste, Hoffnungen und Enttäuschungen freisetzen, die sie selbst abbekommen. Die Zeit rast, die Ereignisse überschlagen sich. Man erlebt schon, was man erlebt. Aber begreift man es? Wer begreift wirklich das Ausmaß der Veränderungen, die in Mittel- und Osteuropa begonnen haben?

Von einem, der den Wechsel der Zeiten vorausgesagt und herbeigesehnt, wohl auch herbei­geschrieben hat zu einem wichtigen Teil, handeln meine Ausführungen.

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Etwas hat sich in Bewegung gesetzt, kann sein, es ist die Geschichte. Bücher, Meinungen, Einschätzungen erscheinen in neuem Licht, auch Brüche und überraschende, manchmal unheimliche Verifikationen kommen vor. Als ich im Herbst '87 auf einem Symposium in Wien über die Wirkung der Literatur von Manès Sperber in den Ländern des sogenannten "realen Sozialismus", den es dort nicht gab, sprach, erwähnte ich auch die Bedeutung von kleinen, inoffiziell eingerichteten Bibliotheken, zum Beispiel der "Umweltbibliothek" in Ostberlin, in der Zionsgemeinde. Dort, so sagte ich, steht an einer etwas versteckten Stelle, in der zweiten Reihe, ein Buch mit 1033 Seiten. Es darf geraten werden, um welches Buch es sich handelte. Ja, "Wie eine Träne im Ozean". 

Als ich am Tag nach dem Vortrag zurückfahren wollte, telefonierte ich auf dem Bahnhof noch schnell mit Berlin. Ich hörte, daß soeben die "Umwelt­bibliothek" durchsucht worden war, es gab Beschlag­nahmungen von Büchern, im Keller wurden auch Druckmaschinen mitgenommen vom Staatssicherheits­dienst. Dazu Festnahmen. Eine unklare, bittere Lage für die Freunde dort. Solidarität mußte organisiert werden. Gespenstig nahe war plötzlich das, worüber wir auf der Tagung gesprochen hatten und wovon ein beträchtlicher Teil der Prosa und der Essays von Manès Sperber handeln.

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Die Stalinisten, so schien es, hatten ihr Timing. Vielleicht wollten sie etwas beweisen oder signalisieren. Aber eine andere Uhr lief auch. Verbotene, weggeschaffte Bücher wehren sich nämlich, verfemte Autoren sind erstaunlich lebendig, auch über ihren Tod hinaus, Besucher von kleinen Bibliotheken können demonstrieren und die Bevölkerung, die aus den Fenstern sieht, motivieren, sich den Protesten anzuschließen. Wie geschehen im Herbst '89. Eine andere Uhr lief auch. Zwei Jahre hatte das Politbüro noch, als sich die Geheimpolizei wieder an Büchern vergriff in kirchlichen Räumen. In Polen war schon etwas passiert, in Ungarn dann auch, Ostberlin, Leipzig, Sofia, Prag, Bukarest. Und Moskau? Demokratie könnte schon kommen, aber von unten, nicht nur durch einen einzigen mitunter recht sympathisch wirkenden älteren Mann mit Hut.

Und da alles so schnell geht, möchte ich etwas verweilen, denn es gibt keine Erlösung, keine wirkliche Entmachtung der Tyrannis, auch der potentiellen in uns, ohne ehrliches Erinnern. Wir kommen nicht davon los, auch nicht als Betroffene, ohne Analysieren, ohne befreiendes Einlassen auf diese uns prägende Vergangenheit. 

1987, als Honecker und Mielke noch scheinbar fest auf ihren gepolsterten Stühlen saßen, mußte darauf hingewiesen werden, daß Autoren wie Manes Sperber nicht nur in Westeuropa viele Leser haben, sondern auch in Gegenden, die vielleicht in Wien und München nicht so gut gekannt werden. Zum Beispiel in Zwickau, Greiz, Jena, Plauen, Saalfeld, in Ostberlin.

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In deutschsprachigen Städten also, hinter einer Grenze allerdings, die bis vor kurzem ziemlich gut gesichert war. Der Staat und die Einheitspartei legten viel Wert darauf, Schriftsteller wie Manes Sperber nicht zu Lesungen eingeladen zu haben. Es gab keine Hommage an der Akademie, keine Korrespondenz mit dem dortigen PEN-Zentrum. Seine Bücher wurden nicht veröffentlicht, auch nicht durchgelassen als "Reiselektüre" oder intellektuelle Beigabe in Paketen. Ganz genau wurde nachgelesen und aussortiert, wer auf ihren Listen stand. Und Manes Sperber stand ziemlich weit oben auf ihren Listen.

"Ein Feind", sagten sie, "was heißt hier Literatur, der ist gegen Staat und Partei, es sind Machwerke eines Abtrünnigen, eines zionistischen Renegaten ..."  

Niemand sollte ihn kennen, niemand ihn lesen, niemand seine Prosa abschreiben mit drei Durch­schlägen. Es sei denn, ein dortiger Bürger wollte unbedingt in noch gesichertere Verhältnisse, dann gab es Paragraphen, Mittel und Wege, das zu bewerkstelligen. 

Und doch, Literatur überwindet Grenzen, auch diese, Manuskripte finden ihren Weg, Taschenbücher besonders, sie sind klein und handlich, man kann sie in Zwischenräume von Autos und Taschen stecken oder bei sich tragen im sehr wörtlichen Sinne. Entsteht an dieser Stelle schon Unruhe? Ist das schon bekannt? Gut, wenn es bekannt ist und gewußt wird, bis vor kurzem konnte man ganz gut erleben, wer etwas mitnahm an die Friedrichstraße. Und welche Verlage mutig waren in Leipzig, wer aufmuckte gegen die Zensurliste und wer nicht. Es gab doch dieses Hinnehmen und Abfinden.

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Etwas mußte riskiert werden. Einzelne haben so gehandelt, auch Journalisten und Diplomaten. Und so kursierten eben zum Beispiel Bücher von Manes Sperber in den real existierenden Staaten, ein Exemplar erreichte viele, manchmal hunderte, wenn es gut ging. Ich wette, daß auch Adam Michnik und Vaclav Havel ihren Sperber gelesen haben, wenn man sie reden hört. Dazu, denke ich, Popper, Camus, Solschenizyn, Kopelew, Hannah Arendt, Paz, Glucksmann ... Die verbotene Literatur: Bis vor kurzem mußte sie noch geschmuggelt werden. 

Durch viele Hände gegangene Bücher sahen dann entsprechend aus, es wurde geklebt und gefaltet, auch erneut abgeschrieben und anderweitig kopiert. Die Technik war zum Glück fortgeschritten in den letzten Jahren, es existierten schon kleine, leistungsfähige Fotokopiergeräte in diversen Wohnungen. Ganz so wie in den fünfziger und sechziger Jahren ließ sich das angemaßte staatliche Monopol auf Wahrheit, Papier und Vervielfältigung nicht mehr durchsetzen. Es gab Lücken, Wege, Aktivitäten. So wie es in anderen Zusammenhängen Widersprüche gab und Konflikte, die auf Lebendigkeit hindeuteten, auf Beschäftigung und Weiterdenken.

Die "Träne" behauptete sich, ein Erinnerungs- und Aufklärungsbuch, das sich stemmt gegen den Zeitgeist, den raschen, mitunter rasenden ... Was war die Komintern, alles bloß Stalinisten, die stur Befehle befolgten?

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Es gab auch Dojno Faber und Sönnecke, sie kämpften gegen die Nazis, setzten ihr Leben ein. Und ließen sich nicht in den geschlossenen, totalitären, verlogenen Kreis locken, der ihnen von den Politstellvertretern Stalins angetragen wurde. Und Slavko, dieser raffinierte Polizeityp, diese Mischung aus Verständnis und Brutalität, wie ähnlich war er dem Stasioffizier, der in der Keibelstraße das "Gespräch" mit dir geführt hatte, dachte ein DDR-Leser.

Dazu die Essays, auch "All das Vergangene", Biografische, im sehr Gegenwärtigen, Hiesigen, Dortigen, wo – wie überall – Literatur ihren alten Kampf um die Selbstbehauptung austrägt. Gegen Zensur und jeweilige Macht. Zum Beispiel gegen die heutige Fiktion, es sei alles anders über Nacht, "gewendet": Nur nicht in der Vergangenheit wühlen, nach vorn sehen, einen Schlußstrich ziehen, Stasi-Akten vernichten, den ehemaligen politischen Häftlingen nicht sagen, was über sie ausgebrütet wurde . . . Wer so nach vorn sieht, erkennt nicht, was kommt, begreift nicht, was war. Reproduziert möglicherweise das Alte. Denn es gibt ja den Wiederholungszwang in der abgedrängten, scheinbar entmachteten Geschichte. Kann man gut bei Mitscherlich nachlesen. Und studieren am Ablauf der letzten Jahrzehnte. Und erleiden kann man ihn auch, diesen Ablauf. Mörderisch. Millionenfach. Oder klein und läppisch, als Zugabe, als Spitzelbericht, als Mauersteher, als Umweltverbrechen, wenn egal ist, was in Elbe und Saale wegfließt Richtung Klassenfeind, Richtung Hamburg.

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Im Politischen wurde in diesen achtziger Jahren für viele doch recht klar, was einzelnen schon 1937 unabweisbar geworden war: Es handelt sich dort, wo angeblich das Volk herrscht in paradiesischen Zuständen, um gewöhnliche Herrschaft, gewöhnliche Diktatur im neuen Kleid, mit Phasen von Terror. Die Clique im Politbüro ist sehr an Übermacht interessiert, ohne Korrektiv und verbindliche Mitsprache der auch in "liberalen Zeiten" recht autoritär Regierten. Das Parlament entmachtet, in der DDR-Gegend seit '33 die Menschenrechte außer Kraft, obwohl alles schön und gut in der Verfassung stand für die Zuschauer von außen, die sich lange blenden ließen vom eigenen Glauben an Gutes und Besseres anderswo. 

Dazu der Geschäftssinn auf mancherlei Seite, Diktaturen handeln ja, z.B. mit politischen Gefangenen, der Rauskauf als fester Haushaltsposten im laufenden Jahr: Koko. "Kommerzielle Koordination", fast ein Papageienname. SchaIck-Golodkowski. Und ewig sollte das gehen, wäre es nach dieser neuen Rechten gegangen. Auch das geht von Menschen wie Manes Sperber aus, als Gefahr für die einen, als Hoffnung für die anderen: Die authentische Linke widersprach diesem Herrschaftssystem, das sich frecherweise sozialistisch nannte, bezog antifaschistische und antistalinistische Position, ohne sich im "Anti" zu verlieren, ohne starr zu werden in Haß und Dagegen. Sie lebt, spricht, schreibt, argumentiert, erinnert, fragt, drängt auf Öffnung, Reform und Demokratisierung. 

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Ist da, immer noch da, nicht wegzukriegen, nicht totzuschweigen, nicht wegzuschwemmen von Propaganda und lautstarken, Pseudolinken Beschallungen, die in diesen Tagen fast nur noch aus China, Vietnam und Kuba zu vernehmen sind in grotesker, senil-suizidaler Art und Weise. 

Die authentische Linke lebt. Demokratisches, Soziales ist für sie keine Phrase, keine Beschwichtigung, kein ideologischer Hammer, kein Sockel, kein Denkmal für Führer und "Repräsentanten", sondern eine durchgehaltene humane Orientierung. Freilich noch nirgendwo eingelöst ganz und gar, auch nicht in den westlichen Demokratien. Aber ganz bestimmt nicht dort, wo das behauptet wurde in so hartnäckiger, selbstgefälliger Weise.

An dieser Stelle könnte Einspruch kommen, gerade weil sich die Zeiten erheblich geändert haben. Links? Vielleicht gar noch Sozialismus? Das ist doch alles aus und vorbei! Weg mit diesen Ideologien! Auch mit allen Aposteln und Mahnern! "Rote aus der Demo raus" riefen Demonstranten zuletzt in Leipzig. Und meinten nicht nur die gewendeten Stalinisten, die plötzlich andere Töne vernehmen ließen als noch Tage vorher, sondern auch die, die angefangen hatten zu demonstrieren mit der "Internationale" und der großen Nähe zur Charta 77, zu Solidarnosc und Glasnost. Sie hatten den Räumfahrzeugen der Polizei gegenübergestanden ... Ist die Linke tot, wenn der Stalinismus am Sterben ist? Das ist keine Abschweifung, Manes Sperber hat diesen Konflikt thematisiert, ich erlaube mir aus aktuellen Gründen einige längere Zitate. Aus vielen Gesprächen weiß ich, wie heftig gerade in Osteuropa, auch in der DDR, in diesen Tagen darüber diskutiert wird.

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In "Positionen – Ein Essay über die Linke" schreibt Sperber 1952: 

"Ein merkwürdiges Gerücht kehrt hartnäckig immer wieder. Verloren im Nebel heilloser Verwirrung, erschöpft von fruchtlosem Bemühen soll die Linke seit gestern oder vorgestern zu bestehen aufgehört haben. Und jene, die dieses Gerücht verbreiten, fügen hinzu, daß die Begriffe 'links' und 'rechts' nun jedes Sinns entbehren. Es ist fast ebenso lächerlich wie traurig, den eigenen Tod bestreiten und die allzu eiligen Totengräber um einen Aufschub bitten zu müssen ... 

Gewiß ist die Linke durch fragwürdige Siege und unverstandene Niederlagen bedroht ... Zu allen Zeiten hat sie den Kampf gegen das Absolute geführt, gegen jene sublime Maskierung einer magischen, religiösen oder philosophischen Verneinung. Die Stellung der Linken ließ sich damit als Negation einer Negation definieren. Sie wurde spruchreif, ihr Gehalt positiv dank jenen, die für sie litten und starben ... Im Sommer 1914 erlitt sie eine Niederlage, eine schwere, folgenreiche: Sie hat sich mit der Macht identifiziert, hat anfangs den 1. Weltkrieg unterstützt. Doch eine versöhnte, in diesem Sinne 'positiv' gewordene Linke ist ein unauflöslicher Widerspruch ..... 

Das Schicksal der Linken in diesem Jahrhundert wird sich in dem Kampf entscheiden, den sie gegen die neue Rechte des Stalinismus zu führen hat; gleichzeitig muß sie sich gegen die alte Rechte verteidigen, doch diese versteckt sich wenigstens nicht hinter Fahnen, die sie einer ermordeten Revolution gestohlen hat ... Die Rechte wird gleichzeitig mit der Macht geboren, ob sie nun aus einer Revolution hervorgegangen ist oder nicht. 

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Durch die Institution gerechtfertigt und legitimiert, legitimiert die Rechte ihrerseits die Institution in all ihrem Tun und rechtfertigt sie. Ihre herrschende Ideologie entspringt der Auffassung von einer gesellschaftlichen Ordnung, die im wesentlichen als endgültig anerkannt wird ... Und die Macht hat immer Intellektuelle gefunden, die bereit waren, deren Herrschaft zu rechtfertigen, sie mit Ruhm zu überhäufen und auch ein wenig Kritik zu üben ... 

Umgekehrt ist die Ideologie der Linken zunächst negativ definiert. Sie betrachtet die bestehende Ordnung als eine Unordnung, die geschützt und durch die institutionalisierte Macht nur schlecht verborgen wird ... Die autoritäre Macht ist ein unmenschlicher Betrug, sie hat ihren Ursprung in der Gewalt und der List. Das Motto der Linken: 'Man kann niemals unschuldig regieren'. Sie gibt daher einer Gesellschaft den Vorzug, in welcher der Mensch nicht mehr regiert und in der jede Form der Regierung endgültig durch die Verwaltung der Sachen ersetzt wird ... 

Manche haben sich dem stalinistisch gewordenen Kommunismus verschrieben in der Hoffnung, dort eine Kirche zu finden. Diese haben ihm später den Rücken gekehrt, nur um sich einer anderen Kirche in die Arme zu werfen. Was haben wir mit ihnen gemeinsam, mit diesen Leuten, die sich dem Leben nur dann zu stellen wagen, wenn sie vom Panzer der Dogmen eingeschnürt und beschützt werden? ... Statt nach zwei Weltkriegen die Völker für die europäische Einheit zu mobilisieren, hat die Linke die Politik der Einflußbereiche, den Skandal des Vetorechts der

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Großen anerkannt, und in völligem Widerspruch zu ihrer Tradition hat sie sich nicht gegen die Gebietsabtretungen, die Deportationen ganzer Völker und andere Erpressungen gewehrt. Die Linke hat diese verhängnisvollen Irrtümer begangen, weil sie glaubte, in jeder Beziehung mit den Siegern solidarisch sein zu müssen. Solidarisch auch mit jenem totalitären Staat, den nur die Aggressionen seines faschistischen Alliierten in das Lager der Antifaschisten trieb ... 

Die Sowjetunion hat sich, zwar mit verschiedenen Mitteln, jedoch mit denselben Konsequenzen, der baltischen Staaten, Polens, Rumäniens, der Tschechoslowakei, Bulgariens, ehemalig deutscher Territorien sowie der deutschen Ostzone bemächtigt. Sie hat die nationale Unabhängigkeit von sieben Völkern zerstört und beutet nun nach Leibeskräften deren Wirtschaft aus ... Die Annexionen in Europa bereiten den Krieg vor; sie sind immer sein Vorspiel gewesen. Nur wer überhaupt keine politischen und wirtschaftlichen Kenntnisse besitzt, kann sich zum Beispiel einbilden, daß eine alte Nation von über 70 Millionen Einwohnern, die im Herzen unseres Kontinents lebt, ein hohes Arbeitsethos und technische Einrichtungen besitzt, die zu den fortgeschrittensten in Europa gehören, daß diese Nation sich auf Dauer mit den ihr aufgezwungenen Bedingungen zufrieden geben wird. 

Man muß die eindeutigste Lehre unserer Zeit völlig verkennen, um nicht vorherzusehen, daß der nationalistische Dynamismus der Völker in einem fürchterlichen Aufstand explodieren wird, sobald der totalitäre Apparat des Unterdrückers genügend geschwächt sein wird.

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Dieser, weit entfernt, die nationale Frage zu lösen, setzt sie im Gegenteil von neuem auf die Tagesordnung und mit ihr das Ziel der Revolutionen aus dem vergangenen Jahrhundert ... Die Anhänger der Rechten versuchen andererseits hartnäckig, den Stalinismus mit dem Sozialismus, kurz mit der Linken zu identifizieren und glauben zu machen, daß ohne Stalin die Welt endgültig in Frieden und Glückseligkeit leben würde ...  Hingegen bedarf es keiner weiteren Beweise mehr, daß das stalinistische System die permanente und totale Gegenrevolution und somit das Ideal der Rechten verkörpert. Dort ist der Staat das einzige Subjekt - er ist die Allmacht."

 

Ich habe lange zitiert, vielleicht sind meine Beweggründe dafür verständlich. Was Manès Sperber 1952/53 schrieb, übrigens noch vor dem 17. Juni, kann beinahe vierzig Jahre später einer vergleichenden Prüfung unterzogen werden. Der Konflikt 'links'-'rechts' wird weiterhin heftig ausgetragen. Wer hat die moderne rechte, pseudolinke Tyrannis dieses Jahrhunderts entscheidend angeschlagen, wenn nicht die suchenden, machtkritischen, auf Wahrheit und Demokratie versessenen Aktivisten der Bürger­rechts­bewegungen? Der kleinen, antiautoritären Gruppen innerhalb und außerhalb der Kirchen, die sich nicht einschüchtern ließen, die gegen das Absolute einfallsreich, solidarisch, gewaltfrei ankämpften.

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Ein erneuter Krieg, "nationalistischer Dynamismus", den Sperber befürchtete?

Ein Krieg hat stattgefunden. Geführt mit unter­schiedlichen heißen und kalten, oft heimtückischen Methoden. Man muß die Mielke-Direktiven lesen, z.B. aus dem Jahr '76, wie Personen "destabilisiert", fertig­gemacht werden auf Befehl. Ein Krieg nach innen, gegen die eigene Bevölkerung, hat stattgefunden.

Und Afghanistan, Armenien, die Lage in den baltischen Ländern bis heute. Die Rückschläge in Rumänien. Aber: Auch in der Sowjetunion regt sich der demokratische Widerstand bis hinein ins Politbüro. Souveränität und Menschenrechte will man wiederhaben, Öffentlichkeit, Demonstrationsrecht. Gewalt wird verneint unten an der Basis der Gesellschaft, weil man so lange in der Gewalt leben mußte. Man hält den Kremlherren heute zum 1. Mai das Plakat "Diktatur nein danke" unter die Nase. So weit ist es gekommen. Der totalitäre Apparat ist geschwächt, die ökonomisch-ökologisch-sozialen Katastrophen sind fast da. Und die demokratische Opposition kämpft um Veränderungen mit recht guten Erfolgen. Auch, um in letzter Minute das neue alte Absolute, den Nationalismus, den Krieg gegen Andere, Fremde zu verhindern. Hoffen wir, daß das gelingt. Manes Sperber beschrieb ja die mögliche Gefahr auch, um sie zu bannen.

Und Deutschland?

Mauer und Teilung, Aus- und Eingrenzung ließen sich nicht halten. Die Kriegsschuld bleibt, das Morden, Vergasen und Ins-KZ-Schicken. Grenzen erneut zu verschieben bringt neues Leid, also Verzicht. Wirklich Frieden schließen, Europa wollen, Grenzen auf andere Art relativieren, gemeinsam, multikulturell. Die alten Gefahren bleiben, die vielen Fahnen in Leipzig zum Schluß, das Brüllen und Drohen gegen Andersdenkende.

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Der Haß gegen Ausländer und "Ostler". Ein westdeutsches Ehepaar, gut gekleidet, Mitte vierzig, in der U-Bahn mit Blick auf den verkaufsoffenen Samstag: "Na, da werden wieder viele Beutelratten unterwegs sein." Für den, der es nicht weiß, DDR-Bürger sind unter anderem an den Einkaufsbeuteln erkennbar, sie werden, glaube ich, alle im Erzgebirge hergestellt, in Lößnitz. Farbe und Form signalisieren die andere Herkunft. "Beutelratten", wie spitz und böse das kam aus den gepflegten Mündern der Landsleute.

Aber bei allem, und ich sage das nicht beschwichtigend, ist klar: Eine pluralistische Demokratie hat Möglichkeiten, diesen Gefahren zu begegnen. Diktaturen, ob von rechts oder pseudolinks, nicht. Wenn der Druck, die administrative Gewalt ein wenig weg ist, kommt zutage, was konserviert war und neu entstanden ist unter den Bedingungen von Stasi und Einheitspartei. Ja, auch deutsche Geschichte, Gehorsam, Kuschen und Auftrumpfen bei passender, von oben geduldeter oder befohlener Gelegenheit. Aber auch Wut, weil man drangsaliert wurde so lange, so zynisch verdeckt und enorm offenbar. Und wer sich in den zurück­liegenden Jahren im Taktieren übte, in der beschönigenden, retuschierten Darstellung der stalinistischen Verbrechen, der könnte spätestens in diesem Augenblick seine Irrtümer zugeben. Sperber 1953: "Es gibt keine Wahrheit, die wir aus taktischen Gründen verschweigen müßten, keinen Betrug, den wir mit Schweigen, und wäre dies auch nur vorläufig, übergehen dürften. 

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Deshalb ist der Kampf der Linken für die Freiheit immer von der Suche nach Wahrheit begleitet, vom Streben nach Wissen und Bewußtheit. Die wirkliche Linke im Unterschied zu den Vertretern der Pseudo-Linken hat nichts zu versprechen als diesen Kampf, nichts zu bieten als diese Suche, die den Menschen daran gewöhnt, außerhalb und gegen das Absolute zu leben."

Also auch kein Ministersessel wird versprochen, kein "repräsentativer Wohnraum", kein großes Bankkonto mit viel DM im Kurs 1:1 ... Klingt das nicht ein wenig puritanisch, zu sehr nach Aufopferung, Idealen und Verzicht? Manes Sperber hat immer wieder auf die verheerende Wirkung der Unterdrückung, auch des Mangels, der Zurücksetzung hingewiesen. Vor allem auf die sozialen und psychischen Folgen. Wenn diese Unterschiede und Ungerechtigkeiten heute reduziert werden – und nicht nur für DDR-Bürger –, um so besser. Mit Hilfe einer intensiven Ost-West-Kooperation, ja, einverstanden, wer könnte etwas dagegen haben. 

Wird es schwierige Übergangsjahre geben?

Mit ihnen ist zu rechnen. Muß man nur zusehen und abwarten, was andere tun? Nein. Jetzt nicht mehr warten, dulden, hinnehmen. Sondern annehmen, aktiv gestalten, kritisieren, Bürger sein, kein Untertan mehr, kein Schaf, das falsche Hirten führen. Sozialer Neid, Arme-Vetternwirtschaft und eine Langzeitexistenz hinter Mauern mit kleinen Ausflügen, genau und fies dosiert, das konnte nicht gutgehen. Aber was kommt dann, danach? Demokratie, Toleranz, Solidarität lassen sich nicht verordnen. Auch nicht eilig überstreifen. 

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In unserer heutigen Situation sind Teile des neostalinistischen Machtapparates zusammengebrochen durch eine Aktivität von unten, von denen, die unterdrückt wurden. Besonders in deutschen Zusammenhängen halte ich das für sehr wichtig: Neben dem großen Defizit, seit 1933 unter undemokratischen Verhältnissen leben zu müssen, waren die letzten vierzig Jahre Diktatur nicht getragen von der Zustimmung der Mehrheit (wie das '33 durchaus der Fall war), nicht vom Fertigmachen und Beherrschen-Wollen anderer Völker. Man wurde beherrscht und versuchsweise fertiggemacht. Die Wirkung von Gewalt, von Druck konnte nun – und ich sage das nicht zynisch – selbst leidvoll erfahren werden.

Und wenn sich aus diesen Erfahrungen Bürgerrechts­bewegungen bildeten, zeitgleich auch in anderen osteuropäischen Ländern, und dies war so, und es gelang, die alte Macht abzuschütteln in einem international günstigen Augenblick – die sowjetischen Panzer blieben in ihren Kasernen, hielten wohl sogar die Stasi-Einheiten in Schach, die ausrücken und niederwalzen wollten – dann ist dies heute eine Ausgangsposition, die neu ist. Aber: Kann sie genutzt werden? Sind Menschen, die nur die Diktatur kennen, fähig, ohne "Linien", ohne Befehle von oben, selbstbestimmt zu leben? Und dabei noch fair zu sein zu anderen, sich nicht erneut in Großmanns­sucht hervorzutun nach all dem Ducken? Oder nun nicht mehr wegzugehen nach den sinnvollen Monaten des "Fluchtstreiks" über Ungarn, der auch dazu beitrug, daß die Dämme der Diktatur brachen? Sind neue Verhaltens­weisen ab sofort möglich? Daran darf gezweifelt werden.

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Es ist außerdem damit zu rechnen, und es wurde schon angedeutet, daß in den nächsten Jahren trotz bzw. auch wegen der intensiven West-Ost-Kooperation soziale Spannungen auftreten werden, neue Hierarchien, Interessen­gegensätze, Heimweh nach vertrauten Freuden oder Konflikten. Werden diese Spannungen ausgehalten von denen, die solch ein langes Ausgeliefert-Sein an die Macht erlebten, wird die Toleranz und die Konfliktfähigkeit vorhanden sein? Auch bei denen, und das ist immerhin eine Mehrheit in deutsch-deutschen Belangen, die Stalinismus nicht persönlich erlebten, aber jetzt Partner sein sollen, ein Volk, eine mündige, friedvolle, von den Nachbarn nicht gefürchtete Gesellschaft? Recht viel verlangt ist das alles. Und an dieser Stelle, bei diesen Fragen, jetzt müßte ja das Spekulieren einsetzen, möchte ich streng zu meinem Thema zurückkehren und einen Ort konkretisieren, einen Leser vorstellen. Denn all das, was jetzt ist, kommt ja woher. In den Köpfen mußte ja etwas sein. Was?

Nun, zum Beispiel Lektüre. Wie ist es, frage ich, wenn ein verbotenes Buch zum Beispiel in Jena landete auf Umwegen, wie kann man es sich vorstellen in München, Wien und Paris? So konnte man es sich vorstellen in der Zeit vor November '89, und ich sage es gleich: schwierig, beunruhigend, mitunter traurig muß man es sich vorstellen. Einsichten quälen auch, Entscheidungen können über eigene Kräfte und biografische Gegebenheiten gehen. Zum Druck kommt das Bewußtsein des Drucks hinzu. 

In der "Träne" heißt es an einer Stelle: "Wir sind Revolutionäre, wir erkennen niemandem das Recht auf Gleichgültigkeit zu." 

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Schriftsteller wie Manes Sperber gehen weit, bis an diesen Abgrund, über den es keine Brücke gibt. Den Mut zusammennehmen und den Schritt wagen, sagt er, dann kann es sein, daß ein Halt da ist. Vor diesem Abgrund standen auch seine dortigen Leser, wenn sie, oft ganz unerwartet, mit dem konfrontiert wurden, was sie betraf. Ganz besonders, direkt und schmerzhaft-unausweichlich sie selbst betraf. Sie stießen auf eine Sprache, auf Gedanken, Überlegungen, auf Prosa, die die Prosa ihres Alltags, vielleicht auch ihr Verhältnis zur abgelehnten und doch hingenommenen, somit zumindest teilweise durchaus bejahten Macht beschreibt, erklärt und bewertet. Man ist selbst gemeint und recht allein, einsam mit einem verbotenen Buch unter solchen Umständen. Was man liest, kann man nicht "offiziell" zitieren als "Autoritätsbeweis". 

Es gibt keine Rezension in der Zeitung über den Autor, keinen Bücherstand, keine Ausstellung, kein Symposium in der Nationalbibliothek. Unser Leser ist zurückgeworfen auf sich, auf Heimliches, dennoch Wahres, dem die öffentliche Existenz verweigert wird. Jetzt müssen wir sagen: wurde.

Aber bleiben wir ein wenig in dieser anderen Wirklichkeit, sie war ja Gegenwart bis vor wenigen Monaten. Genauso ist es, denkt unser Leser bei der Sperber-Lektüre, hier steht es schwarz auf weiß. Aber die Realität, die total-reale, angeordnete, geplante, gestaltete, behauptete Realität, die recht viel Macht hat, sieht anders aus. Wird widersprechen, strafen, zurückweisen, ungeschehen machen wollen. In diesen Konflikt hinein kam unser Leser. 

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Und er war gleich da, von den ersten Zeilen an, wenn wach aufgenommen und in Beziehung gesetzt wurde. Die Lektüre konnte nicht mehr zurückgenommen werden, auch nicht die Bezüge zur Lebenspraxis ...

Diese Herrschaft ist auch deswegen möglich, so Manes Sperber über die Diktatur, "weil es gelingt, jene, die von ihr bedroht und bestraft werden, zur Selbstentfremdung zu zwingen. Und die Selbstentfremdeten gewähren ihren Oberen sozusagen Einlaß in ihre Seelen und stellen sich manchmal, ohne dessen sofort gewahr zu werden, auf deren Seite". Das findet sich gedruckt vor Augen und in eigenen Händen. Die Biographie des Autors sagt, daß er selbst kennengelernt hat, wovon er spricht. Er hat es aber begriffen, überwunden, sich frei gemacht. Und was ist mit mir? Diese bohrende Frage stellt sich ein. In welcher Zeit lebe ich, fragt unser Leser, in einer Friedenszeit, die neuer, besser, fortschrittlicher ist? Die Parteispitze hat gegen Hitler gekämpft, viele ältere Deutsche nicht, haben ein schlechtes Gewissen, mucken nicht auf. Und wenn, dann tuschelnd, "hatte Adolf vielleicht doch recht ... wir haben nichts gewußt". Sie greifen zurück auf den unverarbeiteten Müll der alten Gewaltherrschaft, der sie einmal zugestimmt haben. Nein, mit diesem dumpfen, bösen Antikommunismus will unser Leser nichts zu tun haben. Es kann auch kein Argument sein gegen Diktatorisches, dieses unbelehrbare Anlehnen an andere Tyrannen. Überhaupt dieses Aufrechnen, dieses den eigenen Anteil abwehrende Vergleichen! Nein, das will er nicht. 

Aber wenn es die neue, bessere Zeit ist, woher kommt

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dann dieser Druck, das Lähmende, Eingemauerte, Kleinkarierte, Angeberische? Am Abend Westfernsehen, mit den Augen verschwinden ... Politik ist vielleicht überhaupt schmutzig, man kann doch nichts machen ... das hört unser Leser oft. Wer-wen, es geht um diesen Machtkampf, das ist Politik, sagt die Partei. Die Künstler gehen weg, haben Pässe oder werden weggeekelt.

Und was ist mit mir, fragte unser Leser, was soll ich tun? Ich bin nichts besonderes, habe einen Beruf, arbeite, die Arbeiter sind angeblich an der Macht . . . Daß ich nicht lache ... Er ist aufgewühlt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Beschwichtigungen, Lücken, alte Reflexe: Wer gegen die Partei ist, ist gegen das Neue, gegen den Sozialismus. Das Neue muß wirklich existieren, sonst sind es Hirngespinste, wird gesagt. Anarchisten, Revisionisten, Dissidenten, für die ist kein Platz hier. Manche hauen auch ab, stellen Anträge. Eines Tages sind sie verschwunden. Ist auch irgendwie komisch. Sie gehören dann nicht mehr dazu. Das Fremde überhaupt, dieser Manes Sperber ist auch fremd, obwohl er Dinge weiß und schreibt, bei denen ich zusammenzucke ... Auf Fragen gibt es Kurzantworten, wie auswendig gelernt: Hitlers Krieg hat die deutsche Teilung verursacht. Der Freund­schafts­vertrag mit Hitler war für Stalin reine Taktik. In der DDR gibt es keine stalinistischen Opfer, es muß nichts erinnert und bereut werden. Wir stehen in der geschichtlichen Kontinuität der Sieger ... Ganze Ketten von solchen Sprach­regelungen laufen ab ... 

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Manes Sperber, vorher nie gehört, war der nicht mal im Westfernsehen, irgendein Preis ... Lebt in Paris, schreibt in deutscher Sprache, Galizien, wo ist denn das? Ist links, kritisiert den sowjetischen Kommunismus? Und dann ist er links? Alles geht möglicherweise durcheinander bei solcher Lektüre. Viele Zusammenhänge fehlen. Man müßte diskutieren, vergleichen, weiterlesen, reisen. Zumindest "fliegende Universitäten" haben wie in Polen. Es bleiben Impulse, Stiche, Anstöße.

Merkwürdig, denkt unser Leser, ich werde da hineingezogen. Was ist das für eine Sprache? Literatur, Psychologie, Wissen­schaft, manchmal auch Predigt und Zuspruch, als ob ich beichten könnte, ohne verraten zu werden. Und immer auch Biographie. Aber nicht als Selbstgespräch. Der Andere, vielleicht auch ich, ist ebenso wichtig. Und auch das ist möglich als Reaktion: Der hat gut reden, sitzt in Paris, kann es sich leisten. Aber dann kehrt man zurück zu den Fakten: Er saß in Nazihaft, mußte emigrieren, der Bruch mit der KP, Faschisten und Stalinisten als Feinde. Nein, der hat es nicht leicht gehabt. Und unser Leser geht die Liste der Vorurteile durch, der möglichen Denunziationen. "Schreiberlinge", "Abtrünnige", "Renegaten", immer fällt noch eine Schäbigkeit ein, "CIA" oder "Kriegshetzer" oder "geheimdienstlich gesteuert". Oder auch Schweigen, Abwinken, Übergehen, "wer bitte? Gibt es nicht wichtigere Namen, wichtigere Bücher"?

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Entwertungen mit dieser Vernichtungstendenz stehen ja nicht nur im "Zentralorgan", das eine millionenfache Auflage hat, sondern sie wirken auch, graben sich ein, ein Ressentiment entsteht, ein "dummes Gefühl", irgend etwas, das mit "Sünde" – man denke sich ein weltliches Wort dafür – zu tun hat. Und dann möchte man es eben genau, übergenau wissen. Der so geprüfte Autor darf eigentlich keine Fehler haben, in keinem Punkt mit eigenen – oder auch offiziellen – Positionen kollidieren. "Jeder schafft sich in seinem geheimsten Inneren eine Enklave", heißt es im Sperber-Essay "Gewalt von oben", "in der er den letzten Rest seiner persönlichen, geheimgehaltenen Freiheit gegen das Regime bewahrt. Er wird ein mutloser Rebell, der stets von einem schlechten Gewissen geplagt wird, obschon er sich ... unterwirft und nicht gegen die Machthaber erhebt."

Das muß man sich vorstellen, solche Sätze liest einer zum Beispiel in Leipzig oder Jena, Mitte der siebziger oder achtziger Jahre. Er ist dort polizeilich gemeldet von Geburt an und gebunden an herrschende Gesetze und Bräuche ... Man ist kein Parteigänger des Systems, aber koexistiert, ist "daran gewöhnt". Der Gang zur Wahl zum Beispiel — unser Leser gehört mit hoher Wahr­schein­lichkeit zu den 99,9 Prozent, die hingehen und den einen Zettel der vorbestimmten "Kandidaten der Nationalen Front" in den Kasten werfen. Er ist völlig illusionslos, das ist natürlich keine Wahl, aber "so ist es eben, warum an diesem Punkt anecken". Und vielleicht zitiert er sogar rechtfertigend eine Liedzeile des aufsässigen Dichters Biermann, der fragt, warum man "sein Herz auf'n Tisch so mächtiger Leut" legen soll, freilich sagt dieser das in einem anderen Zusammenhang.

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Sperber: "Dieser eklatante, allen offenbare Widerspruch erzeugt jene Haltung der Doppelzüngigkeit." Und wenn die Machthaber dies als Vorwurf erheben:

"Er ist in der Tat psychologisch fast immer begründet. Da die totalitäre Diktatur durch die Verallgemeinerung des Unsicherheitsgefühls jeden, der in ihrem Bereich lebt, dazu verurteilt, sich zu verstellen und in der tragischen Riesenfarce eine vorgeschriebene Rolle zu spielen, vermeidet es jeder, öffentlich etwas anderes zu sagen, als dem Regime angenehm ist, um nicht über sich selbst, seine Familie und seine Freunde Unglück heraufzubeschwören. Es ist also natürlich, oder sagen wir, es wird zur zweiten Natur des 'Doppelzünglers', auf zwei Ebenen zu denken und zu sprechen. Gleichzeitig aber bleiben alle ihrem Enklavengeheimnis treu; sie leben also in einer schlechthin unbegrenzten sozialen Unaufrichtigkeit ..."

Und was macht unser Leser, wenn er das liest? Soll er die zweifellos zutreffenden Erkenntnisse über Enklavengeheimnisse in sein Enklavengeheimnis einordnen und mit schlauem Lächeln das deprimierende Getue der "doppelten Buchhaltung" fortsetzen? Vielleicht legt er das Buch an dieser Stelle weg oder vernichtet es, hält es nicht aus, wendet sich aggressiv gegen die dämmernde, bittere Einsicht. Und ist dann vielleicht sogar etwas erleichtert, denn die Angst läßt nach, die innere Unruhe, er ist wieder in Übereinstimmung mit seiner Umwelt, oder besser, den Forderungen seiner Umwelt. Die negativen Gefühle richten sich, jetzt durchaus im Einklang mit seiner Obrigkeit, gegen das störende Objekt. 

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Denkbar wäre auch ein halblaut geäußerter Satz, halb zitiertes Feindbild, halb zustimmender, schiefer Seufzer: "Kein Wunder, daß sie sowas bei uns nicht drucken ..." Oder unser Leser sagt: "Ja, ich bin auch ein Doppelzüngler, aber ich will es nicht länger sein. Ich werde ja krank, schizophren, dieser Sperber ist auch Psychologe, was sollen meine Kinder denken, hier rede ich so, dort so ... Aber wenn ich überall meine Meinung sage, was dann? Was sind die Folgen? Der Autor spricht selber vom 'Unglück, das so heraufbeschworen werden kann'." Die Angst meldet sich.

Und zum Beispiel auch solche Gedanken: "Ich bin es ja gar nicht gewöhnt, ehrlich zu sprechen. Wann habe ich jemals in einer größeren, öffentlichen Runde laut gesagt, was ich wirklich denke?" Daran kann er sich nicht erinnern. Er hat keine Erfahrungen mit dem Ehrlich-Sein und dem Austragen von Konflikten. 

"Die", denkt er, "lassen doch keine Diskussionen zu. Die sind doch sofort beleidigt und schnappen ein, auch zu, und nicht nur mit Argumenten ... Ich muß berücksichtigen, wo ich lebe", das denkt unser Leser. Und er hat recht, das muß er wirklich berücksichtigen. Aber wenn er es berücksichtigt, und auch der Autor der beunruhigenden Zeilen tat dies, heißt das, weiterzumachen wie bisher? Nein. Aber was tun, das weiß er nicht. Am liebsten möchte er lange nur schreien, toben, nur vorwerfen, alles herausbrüllen, was ihm so viele Jahre gegen den Strich, die Seele ging. Sehr vernünftig, sehr diskussionsbereit und "dialogfähig" würde das erstmal nicht klingen. Aber es ist in ihm nach all dem. 

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Wohin soll er damit? So oder so, wir oder sie, das eine oder das andere, mit dieser Denkstruktur hat er Erfahrung. Wenn nicht das hier, dann das drüben. Aber das meint dieser Sperber wohl nicht. Wofür ist der denn nun?

Fragen, Zweifel, Kompliziertheiten, die unserem Leser nicht erspart werden.

Vieles kommt hoch, wenn diese Stelle ganz innen berührt wird durch Seiten mit Druckbuchstaben drauf. Woher kommt denn das, was da drückt und die Kehle zuschnürt, ich wollte doch nur ein Buch lesen . . . Fragen, Fragen, Fragen. Und die Antworten muß unser Leser selbst finden. Es vergeht also Zeit, man kann nicht sofort eine Änderung herbeiführen und einfach etwas befolgen. "Kohl hat gesagt, Ludwig Erhard meinte, Marx und Engels, Lafontaine oder Weigel ..." Die Suche nach dem Ratschlag, dem Trick, dem Rezept beginnt. Und auch das kann diesem schmalen verbotenen Buch vorgeworfen werden und damit dem Autor: Wenn schon die Krankheit diagnostiziert wird, dann bitte schön auch die Heilung, die Therapie dazu, das Medikament. Ein Herr Doktor soll es sagen, machen . . . und dann ist es wieder gut. Aber es gibt keinen Herrn Doktor bei diesen existentiellen Fragen, keinen endgültigen Ratgeber, keinen Guru, keinen Meister. Gerade Persönlichkeiten wie Manes Sperber verwehren diese Vergötzung oder realpolitische Wahl­kampf­verwurstung für jeweilige Interessen. Ziemlich klar, unmißverständlich, auch ironisch und mitunter sarkastisch wird der Betroffene auf sich selber verwiesen. Auf seine eigene Verantwortung und aktive Suche.

Daß dann, wenn der Schritt ins Ungewisse gewagt

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wird, auch Menschen da sind, die nicht gleichgültig bleiben, möchte ich behaupten. Aber es gibt keine Garantie dafür. In den Ländern, von denen hier die Rede ist, entstanden in den letzten Jahren, regional und national unterschiedlich, wichtige Freundeskreise, Gruppen, Organisationen, ich erinnere an Solidarnosc, die Charta 77, auch an die "Initiative für Frieden und Menschenrechte". Unser Leser müßte also unter Umständen, um nicht völlig allein zu bleiben, wenn er Entscheidungen trifft, "Verbindungen" herstellen, auf andere zugehen. Die observiert werden, die gefährlich leben ... In der DDR waren solche Gruppen bis zum Herbst '89 "Staatsfeinde", aber sie existierten und stellten immer wieder Öffentlichkeit her. Konnten sogar nachweisen, daß die Wahl gefälscht wurde. In unserem Leser bleibt der Druck, das Unsicherheitsgefühl, "in etwas hinein­zugeraten", was man dann nicht mehr überblicken, nicht mehr rückgängig machen kann. Denn es gibt keine Rückkehr in den "normalen Alltag", der von Privatheit, Zurückhaltung, Gleichgültigkeit oder unterdrückter Angst geprägt ist, wenn sich das Gewissen gemeldet hat, wenn die automatisierten Handlungen nicht mehr ganz klappen, wenn das Geheimnis, die eigene und die staatlich-parteiliche Komödie, enttarnt sind. Nichts ist dann mehr, wie es vorher war.

Eine Literatur, wie sie von Manes Sperber kommt, trifft diese sensiblen Zonen einer weiten, vielschichtigen, aber traumatischen, verwundeten psychischen Landschaft. Unterhaltung, Abenteuer, Reminiszenz? Das Gegenteil ist der Fall. 

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Diese Literatur, fast jede Zeile, beunruhigt, fordert heraus, legt sich an mit dem, was noch viel Macht hat über Menschen. Oder hatte. Und was die Zukunft bestimmen will. Oder wollte. Und was durch etwas gestützt wurde, was Manes Sperber so beschreibt: "Länger dauernde Herrschaft wäre unmöglich, wenn der Mensch nicht vor allem ein ängstliches Wesen wäre. So beruht die Macht des Systems, psychologisch betrachtet, auf dem Entgegenkommen gegenüber dem Schrecken, das durch die Angst hervorgerufen und immer wieder gefördert wird." 

An dieser Stelle wirft unser Leser vielleicht heftig ein: 

"Es gab doch gute Gründe für die Angst! Gab es keine Stasi, kein MfS? Wie wichtig und bedrohlich das klang! 'Ministerium für Staatssicherheit'. Und die Spitzel, die politische Strafverfolgung, die Gefängnisse. Das ist doch nicht weg über Nacht! Kann mir keiner einreden! Man konnte nicht entfliehen, oft nicht mal besuchsweise reisen! Anträge stellen, jahrelang warten, auf ihre Gnade angewiesen sein, so war es doch! Vor dem Knast hatten wir Angst! In den Westen wollten wir nicht, zu viele sind schon weg. Dort gibt es auch Arbeitslose, die warten nicht auf Zugereiste! Die Mauer stand, die war fest, auch durfte fast keiner Besuchsreisen manchen von drüben, wenn die hier nicht wollten, die Behörden ... Harte Trennungen, Opfer ... Ich habe nur ein Leben, Kinder... Was heißt hier 'Entgegenkommen'? Und ich habe noch andere Ängste: Ob es Krieg gibt, die vergiftete Umwelt, weltweit ... Da beruhigte es mich manchmal, so komisch das klingt heute, wenn sie ihre optimistischen Phrasen gedroschen haben. 

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Ich glaubte nicht an sie, aber sie hatten Wirkung. 'Wir werden es schaffen' und so weiter, einfache Antworten, die nicht stimmten, aber irgendwie Sicherheit gaben... Die ist jetzt völlig weg... Vielleicht ist das gemeint mit 'Entgegenkommen'? Im Westen, im Parlament, die Politiker, auch im Wahlkampf hier, die streiten sich nur, Demonstrationen, Skandale, wenn das besser ist ... Kapitalismus ... Ist Demokratie wirklich besser? Oder kommt da auch nichts raus ..."

 

So könnte unser Leser reden zwischen Hoffen und Bangen.

Und nicht wissen, wo die Alternative liegt, die Lösung. Vor allem, weil es die Lösung nicht gibt. Demokratie muß man kennen, erlernen, erkämpfen, Menschenrechte muß man mögen! Der Westen macht ihm Angst, auch manchmal die ganze Welt, die er noch nicht kennt. Dann bleibt er lieber zu Hause und flucht. Und er hatte oder hat gute Gründe für seine Angst. Es war eine richtige Einschätzung: Wer zum Beispiel in Leipzig öffentlich zur Buchmesse (kleine Anfrage: Nahm der Europa-Verlag seine Bücher mit in die DDR? Wenn nicht, warum nicht? Falls es Zensur gab, wie hat er reagiert?) das Verlegen von Büchern des Schriftstellers Manes Sperber forderte und vielleicht Werke von ihm besaß und auslieh, konnte heftig attackiert werden. Auch für Jahre seine Freiheit verlieren. Wer eine pluralistische, offene Gesellschaft forderte oder zusammen mit anderen vorbereitete, und sei es nur durch die Lektüre von Karl Popper zum Beispiel, gefährdete sich in erheblichem Maße. 

Ein freier, großartiger Künstler wie Wolf Biermann wurde ausgebür-

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gert, und es nützte ihm nichts, daß er Sozialist war, daß sein Vater in Auschwitz umgebracht wurde als Jude und Kämpfer gegen Hitler, im Gegenteil, das machte ihn noch gefährlicher! Wie auch den von Hitler zum Tode verurteilten Robert Havemann, der davonkam, gegen Ulbricht auftrat und jahrzehntelang, bis zu seinem Tod 1982, schikanös isoliert wurde. Gerade diese freien, im echten Sinne linken Geister gefährdeten die, die "Links-Sein" gepachtet hatten als Staatsideologie und peinliche "falsche Erfüllung", wie es Bloch nannte.

Und wer die Reden von Gorbatschow allzu wörtlich nahm und in Taten umsetzen wollte, oder, wie es der Liedermacher Krawczyk genau elf Jahre nach der Ausbürgerung seines älteren Kollegen Biermann in Ostberlin tat, in einem offenen Brief die Aufhebung der Zensur forderte, konnte ab sofort nicht mehr auftreten, auch nicht in Kirchen, Sicherheitsbeamte standen vor den Türen und drohten mit "noch ganz anderen Maßnahmen". All dies war realistisch und konnte geschehen. Die bangen Fragen unseres Lesers, seine Angst, hatten gute Gründe. Auch wenn er das tat, was vielleicht einzig in der Lage ist, den Schrecken und die "unbegrenzte soziale Unaufrichtigkeit" zu besiegen, zu überwinden, nämlich aktiv zu werden, nicht mehr alles hinzunehmen, sich von hörigen, mutlosen Depressionen und autoritären Reflexen zu befreien, wird das noch lange in Kraft bleiben, zumindest innen, wogegen er sich jetzt wendet. Und wird den Preis diktieren, der an Leid, an Risiko und erneutem Widerstehen zu erbringen ist.

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Das von Sperber beschriebene "Entgegenkommen" bezieht sich auf die "Demission der Person, die herbeigeführt wird durch den Verlust des Selbstwertgefühls". Und dieser wieder entsteht durch die "aufgezwungene Herrschaft des Unsicherheitsgefühls als auch durch die Zerstörung von fundamentalen und deshalb gewöhnlich sicheren und sichernden menschlichen Beziehungen". Der Sohn, die Tochter, der Vater, der Freund, der Mann können plötzlich zum "unsicheren Kandidaten" werden, in deren Gegenwart man "aufpassen muß". Der Bruder kommt nach Hause und hat eine Verpflichtung als "Reserveoffizier" unterschrieben, um das Studium zu sichern im gewünschten Fach ... Er sagt beschwichtigend: "Machen alle so, vielleicht geh' ich auch in die Partei. Warum soll ich mir Steine in den Weg legen, die wollen's doch so." Viele solcher Reden können gehört werden zu verschiedenen Zeiten, auch das Auswechseln von Namen ist erlaubt. Dazu wieder Sperber: "Hier wird deutlich, was der größte Erfolg der Herrschenden sein kann: Die Majorität der Einwohner ... wird zu potentiellen Verrätern, zu Mitläufern ... Alle ihre Bindungen, auch die familiären, die freundschaftlichen, verwandeln sich in Verschwörungen ... Es handelt sich bei diesem eigenartigen Drama um die Begegnung, ja um die Verquickung zweier überdimensionaler Ängste — der aggressiven Angst, die die Herrschenden um so quälender bedrängt, je mehr wirkliche und vermutliche Gegner existieren, und die Angst der Unterdrückten. Die beiden verflechten sich in einem grenzenlosen Unsicherheitsgefühl, dem weder Herrscher noch Beherrschte entgehen können."

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Die Herrscher sind ihm nicht entgangen. Die Beherrschten werden noch lange brauchen, ein wirkliches Sicherheitsgefühl wiederzufinden ohne Gewalt gegen andere. Also in einer offenen Gesellschaft mit Konflikten und Unruhe. Und da wir bei diesem Prozeß nicht ohne Erinnerung und Konkretes auskommen, dazu ist auch Raum und Zeit nötig, Schilderung, Bericht, möchte ich noch kurz eine wirkliche Biografie vorstellen.

1979/80, Jena, ein junger Mann bekommt von einem Freund, der in Berlin lebt, zwei "West-Bücher" zugesteckt, darunter Essays von Manes Sperber in der dtv-Taschenbuchausgabe. Er hat den Namen des Autors noch nie gehört. Gelernter Schlosser, Abend­studium, Fachabitur, eine Frau, deren Bruder ist Offizier. Heimlich beginnt er zu lesen in einer kleinen Kammer, die er sich mit Holzbrettern verkleidet hat, die Türe schließt er ab, auch, um vor den Kindern ab und zu etwas Ruhe zu haben. In der Holzverkleidung hat er zwei Verstecke für Bücher, Platten und Tonbänder, er fühlt sich sicherer, wenn "aufgeräumt" ist. Auf seiner Arbeitsstelle spricht er offen, der Meister läßt ihn, meldet nichts, kannte seinen Vater, ist in der Partei. Dieser junge Mann liest an zwei Abenden das "Leben in dieser Zeit", liest von dem Diener des Offiziers, der im Jahre 1918 plötzlich seine Koffer und Kisten abstellt, sich aufrichtet und auf dem Wiener Nordbahnhof den ohrfeigt, der ihn viele Jahre herumkommandiert hatte als "Putzfleck". Meuternde Soldaten stehen ihm bei, von ihren Kappen hatten sie die kaiserliche Kokarde entfernt.

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Der Offizier, äußerst erstaunt, ergreift die Flucht. In Jena, Anfang der achtziger Jahre, liest ein Mann also in einem kleinen, holzgetäfelten Zimmer bei abgeschlossener Tür: "Der dreizehnjährige Zeuge", es ist der junge Manes Sperber, "erfuhr in dieser Szene, die sich rasend schnell abgespielt hatte, daß Geschichte solch einfache Sprache benutzen und sich mit solch einfachen Gesten vollziehen konnte. Denn dies war einer der Augenblicke, in denen das Kaiserreich, wehrlos wie ein Sterbender, unterging und die Krone einer 650jährigen Dynastie zu Boden rollte. Und man konnte sich nicht vorstellen, daß sich einer nach ihr würde bücken wollen ... An dieser Bahnhofsszene ist in erster Linie bemerkenswert", schreibt Manes Sperber weiter, "die blitzschnelle Metamorphose der realen Machtverhältnisse nach der Zerstörung der scheinbar festgefügten, unabänderlichen Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Der Diener, ein 'Melde-Gehorsamst'-Untertan, verwandelte sich durch das Dazwischen-Treten der Meuterer zu seiner eigenen Überraschung plötzlich in einen Rebellen; der Herr aber verkümmerte zum eigenen Schatten, der im Nichts verschwindet, in langen Sprüngen davoneilt ... Seit Jahrtausenden vollbringen Menschen in ihren Tagträumen die befreiende Tat. Damit dieser Traum Wirklichkeit werde, bedarf es eines noch erstaunlicheren Geschehnisses: Die Macht muß plötzlich hilflos werden wie ein verlorenes Kind im Sturm der Zeiten. Man sah Giganten zusammenbrechen, weil ein Strohhalm sie unsanft berührt hatte ..."

Immer wieder las der Leser aus Jena diese Stelle, fast

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jeden Abend holte er das Buch hervor, konnte die beschriebene Szene auf dem Wiener Nordbahnhof bald auswendig. Sein Tagtraum: Die Funktionäre der Einheitspartei verlieren ihre Macht, räumen freiwillig, wenn auch etwas verdutzt, die einge­nommenen Plätze auf der Tribüne am Vormittag des Ersten Mai, des "Internationalen Kampf- und Feiertages der Werktätigen". Es gibt freie Wahlen, eine wirkliche Gewerkschaft, in den Läden liegen alle Bücher, die Menschen können reisen, wohin sie wollen. Und fortbleiben oder wiederkommen, viele kommen wieder. Der ehemalige Parteisekretär der Stadt, ein besonders hartnäckiger Dogmatiker, wird in der Stadt gesehen, in einem Einkaufsnetz Solschenizyns "Gesammelte Werke" . . . Solche Szenen wollte er gern erleben, Bahnhofsszenen ... In der Straßenbahn sah er fortan genau in die Gesichter, zwischen vier und fünf Uhr nachmittags in die der Schichtarbeiter, die aus den großen Betrieben kamen, Zeiss, Schott, Jenapharm, und nach Hause wollten. Noch einkaufen gehen, Zigaretten holen, Wochenende in den Garten, was kommt im Fernsehen, hat Jena ein Auswärtsspiel, müde, geschafft, die Kinder brauchen neue Anoraks, solche alltäglichen, menschlichen Gedanken sprachen aus den Gesichtern, die er ansah in der Straßenbahn. Alltag - der niemandem vorzuwerfen war, Erschöpftheit, keine Protestdemonstrationen, keine abgetrennten Embleme. Wenn sowjetische Offiziere in die Bahn stiegen, viele sind in Thüringen stationiert, waren sie vorschriftsmäßig gekleidet. Sie sahen nicht aus, als ob sie gleich eine Meuterei vorhätten. Zu den einfachen

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Soldaten war kein Kontakt möglich, sie blieben in den Kasernen, hinter den grünen Bretterzäunen oder auf ihren großrädrigen Lastwagen ... Wann würde unser Leser die ersehnte Szene erleben? 650 Jahre ... an diese Zahl mußte er immer wieder denken, wie viele Generationen, wie viele gelebte Leben. Wer weiß, sagte er sich, an welchem Punkt wir uns befinden.

Der Tagtraum unseres Lesers ist fast Wirklichkeit geworden. Für viele ist das eine große Überraschung. Freudig die einen, pikiert die anderen. Und eine Frage stellt sich ein: Hat nun die Geschichte ihr Ziel erreicht? Was ist mit dem Erinnern, dem Zweifel, der bohrenden, herausfordernden Funktion der Literatur, der politischen Essayistik, der individual- und sozial­psychologischen Kenntnis und Erkenntnis der Welt, vor allem aber der eigenen, vielleicht bevorstehenden Irrtümer? Sie kennen die Keuner-Geschichte von Brecht, wo er gefragt wird, was er gerade tut. "Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor ..." Was ist der nächste Irrtum, was ist zu beachten im Jahre '90, wo einige Tyrannen die Bühne verlassen mußten? Ich bin in den letzten Monaten vielen Leuten begegnet, die aktiv mitgeholfen haben, die Zustände in Mittel- und Osteuropa zu verändern. Es ist eine Tatsache, die ich beweisen kann, daß Manès Sperber beinahe zur Pflichtlektüre dieser Aktivisten gehört. Und dies nicht in Form einer kultischen Handlung, sondern der Autor eher als Gesprächspartner, als einer, der mitgedacht hat.

Der in Nazihaft saß wie Robert Havemann und Heinz Brandt, der emigrieren mußte aus Berlin, aus

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Deutschland, dann aus Frankreich ... nach den Moskauer Prozessen 1937 Bruch mit der KP ... in der Schweiz bis '45 ... Der Mord am jüdischen Volk, beschlossen und vollzogen in fabrikmäßiger Grauenhaftigkeit ... Wir sind Deutsche ... Darf man den Stalinismus bekämpfen oder ist er die gerechte Strafe? Manès Sperber bekämpfte ihn als eine Form von Tyrannis ... Die Gestapo jagte ihn und die GPU ... Wie hat er das ausgehalten – fast völlig ohne Verbündete in einer Zeit der Verfolgungen, des Krieges? Er mußte vorsichtig sein, wahrscheinlich ein Leben lang, es gibt Anschläge und Autounfälle ... Und er kritisiert auch den Westen, nimmt hart Stellung gegen McCarthys fanatisch-mißtrauisches Examinieren. Wandte sich radikal gegen Franco und Pinochet. Aber eben auch gegen die Niederwerfung der ungarischen Revolution 1956, gegen den Einmarsch der "befreundeten Armeen" in die Tschechoslowakei 1968 ...

Eine solche politische und wirklich gelebte Biografie ist so wichtig zur Orientierung gerade heute, gerade für jüngere Menschen, die oft meinen, "daß sowieso keiner mehr durchsieht ... daß alle schuldig waren ... daß keiner sich widersetzt hat ..." Doch, welche haben sich widersetzt. Haben als Antifaschisten nicht eine neue Diktatur errichtet nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft. Das ist ja das Furchtbare: Auf deutschem Territorium wurden die ehemaligen Opfer zu neuen Tätern. Es sollte eigentlich endlich gelernt werden, daß es human, demokratisch geht und gehen muß. Aber wie mit diesem Stasi-Apparat im Rücken, im Genick? Mit den Siegern Stalin und Breschnew?

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Kürzlich fand in Ostberlin ein internationaler Kongreß statt, der erste dieser Art, "Interforum" nannte er sich, die demokratische, antitotalitäre Opposition diskutierte untereinander, Vertreter von Solidarnosc neben dem Prager Bürgerforum, viele Studenten aus China, die vor kurzem auf dem Platz des Himmlischen Friedens für Demokratie eingetreten und blutig attackiert worden waren, jetzt im Exil ... 

Ein Vertreter des Ostberliner Neuen Forums/Bündnis 90, das die ersten Aufrufe im Oktober '89 verfaßt hatte, sich als offene Opposition zusammenzuschließen und gewaltfrei zu demonstrieren, zitierte Manes Sperber, eine Passage aus dem Essay "Positionen — Über die Linke", über die fatale Verwechslung von Politik, Partei und Kirche, wo dann alles eng wird, total, wo Meinungen dominieren, nicht Wahrheit und Objektivität, Clique, nicht Solidarität mit den Erniedrigten. Neurotische Rebellen können an die Macht kommen, das ist Sperbers Warnung, und die Macht erneut nicht teilen, sie installieren womöglich ein neues Regime mit hehren Zielen ... Der Vertreter des Neuen Forums wollte dagegen gewappnet sein. Und nicht bloß persönlich, als Willenserklärung, sondern mit dem Hinweis auf unverzichtbare demokratische Strukturen, die den Mißbrauch der Macht verhindern. Also wirkliche Wahlen, die es in der DDR gab. Das Recht auf Öffentlichkeit ohne Zensur, Demon­strations­recht, freie Gewerkschaften, offene Grenzen.

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Und was machte unser Leser aus Jena, von dem wir schon hörten, im Herbst vergangenen Jahres? Er war trotz einer Haus­suchung im Lande geblieben, jedoch in ständiger Angst vor neuen Repressalien. Fing an, Bilder zu malen, zog sich zwischenzeitlich auch etwas zurück aus der "Szene". "Wir haben Kinder", sagte er seinen Freunden. Mit Gorbatschow und der zunehmend veränderten sowjetischen Politik kam wieder Hoffnung auf. Um so härter traf ihn das Abkoppeln der SED von der Glasnost-Politik, das Verbieten von sowjetischen Zeitschriften und Filmen. "Jetzt ist es aus", sagte er und war einer der Erstunterzeichner des Neuen Forums in Jena. Im September wieder Vorladungen, harte Drohungen, ein Wohnungseinbruch, seine Frau wurde im Hausflur von Unbekannten angegriffen, am Trabant wurde herumgebastelt nach seinem Eindruck. 

Entweder-oder, so stand es, so empfand er die Situation. Es war kein hochfliegendes Gefühl von Tapferkeit und Kampf für Menschenrechte, was er empfand, sondern letzte Gegenwehr mit dem Rücken zur Wand. An einem Abgrund stehend, weitere 650 Jahre vor einem inneren Auge, das nicht mehr zusehen wollte und konnte: keinen Tag länger so leben!

Manchmal sagte er zu Hause zu seiner Frau, die dachte wie er und auch unterzeichnet hatte: "Vielleicht haben wir den Mut, weil uns schon alles egal ist. Zu lange geht das ..." Im Kreise der Freunde, vor allem, wenn Jüngere zuhörten, redete er anders, ermutigte: "Das dauert nicht mehr ewig, paßt mal auf. Wir sind schon zu viele." 

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Zu tun war im Herbst 1989 der Schritt ins schon beschriebene Ungewisse, wo es auch abwärts gehen kann, unter Panzer, in Polizeiketten hinein. Sie hatten in Leipzig und anderen Städten auch Hunde mit und scharfe Munition, dazu umgebaute Räumfahrzeuge, mit großen Gittern vorn, die über die ganze Straße gingen, scharfe, angeschliffene Spitzen an der Oberseite, Fallschirmjäger mit Einzel-und-Häuserkampf-Spezialausbildung in den Nebenstraßen. Ziemlich offen drohten sie mit Gewalt und Tod, mit Internierung und "Niederschlagen der Konterrevolution". 

Aber, man konnte ja im Fernsehen zusehen: Die Demonstranten wichen nicht zurück. Sie, die anderen, die angeblich Auserwählten von Partei, Geschichte und Schicksal, wichen zurück. Es kam auch zu Szenen wie auf dem Wiener Nordbahnhof, Armisten kehrten nicht in die Kasernen zurück, Kampfgruppenleute, Familienväter, verweigerten den Befehl, ließen sich weinend auf Parkbänke fallen, "ich schieße nicht auf meine Kollegen". Auch Schirmmützen wurden geklaut.

Dann die Öffnung der Grenze, das Aufatmen, ins Freie kommen. Der Schock auch, so lange eingeschlossen, aus- oder eingegrenzt gewesen zu sein. Gefühle kamen hoch, Strudel der Freude, der Angst. Sinnlos erschien vieles, was bisher das Leben bestimmt hatte. Absurd-bizarr die Grenzbefestigungen, die Wachtürme. Wie aus einer fremden, bösen Komödie. Die man allerdings selbst erlebt und mitgemacht hatte ... irgendwie ... und in verschiedenen Rollen. Und bei aller Freude, allem versuchten Aufatmen hin und wieder, in der U-Bahn, bei einem Gespräch oder wenn Wolf Biermann seine aufsässigen Lieder sang: "Wann kommt der Hammer? Geht denn das gut?" 

Diese Verunsicherung wird lange bleiben, denn Traumatisches ist passiert in den zurückliegenden Jahrzehnten. 

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Und auf die neue Lage, völlig veränderte Lage, wird so reagiert, wie es bekannt ist aus anderen Beispielen: Der eine tut so, als sei eigentlich nichts geschehen. Er versucht, einfach weiterzumachen. Der andere kann sich nicht lösen von der Niedergeschlagenheit, der Apathie. Er sieht keinen Sinn, sieht nichts Neues. Das Parlament, so lange entmachtet, hat nicht sein Vertrauen. Freiwilligkeit, Wahlen-Können kommt ihm nicht so wichtig vor. Opposition, weil nicht "an der Macht", hat eben "verloren". Fast sehnt er sich zurück in die alten vertrauten Zeiten der "klaren Fronten". Und, das ist die dritte Möglichkeit, eine wachsende Zahl von Menschen stellt sich mutig, offen der neuen Lage. Versucht produktiv zu reagieren, Chancen zu ergreifen und gleichzeitig das Vergangene nicht einfach abzutun, sondern wachzuhalten, was wie und durch wen und warum geschehen ist, passieren konnte. 

"Produktiv reagieren", das kann auch Empörung einschließen: Wenn sich zum Beispiel ausgerechnet die SED über Nacht "PDS" nennt, "Partei des demokratischen Sozialismus"! Und was ist jetzt, nach zwei Wahlen, dem Reden über Geld, dem Aufmarsch westdeutscher Politiker auf Wahlkampftribünen, dem Sturz von Spitzenkandidaten, weil sie Spitzel waren? Chancen, Risiken, Versprechungen, Vorschläge, Ausgebürgerte kehren zurück, machen Lesungen, die Emigration ist wieder da, auch die Ausgereisten können Besuche machen, ihre Erfahrungen mit dem Westen weitergeben. 

In Ostberlin neue Minister, alte Parteien, neue Namen, die legale Existenz von Bürgerinitiativen, auch einer lange in der DDR verbotenen SPD. 

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Alles sehr anders, aktiv, aufgeregt, in recht großer Eile. Was geht in unserem Leser vor? Verschiedenes: Es überwiegt die Erleichterung. Die Stasi hat keine legale Macht mehr, die offiziellen Lügen, all der Druck ist weg. Aber Gewalt, hat er gelernt, ist immer möglich. Neue Diktaturversuche kann es geben, neue List, neue Varianten der alten Machtanmaßung. Es gibt kein Endgültig-vor-bei-und-vorüber, man muß auf der Hut sein, ohne eine Atmosphäre der Heimlichkeit und des Mißtrauens zu kultivieren. Diese Heimlichkeit der Macht muß weg, Öffentlichkeit, Kontrollierbarkeit, Akteneinsicht her. An Brechts Grabstein wurde "Saujud" geschmiert. Biermann ist auch so einer. Wer hat das getan? Neue, alte Nazis? Skinheads, Reps? Oder entlassene Stasi-Leute, die Stimmung machen wollten in Berlin, wo gerade zum ersten Mal seit sehr langer Zeit der Jüdische Weltkongreß tagte? Sollte bewiesen werden, daß ein neuer Geheimdienst gebraucht wird?

Unser Leser ist unsicher, mißtrauisch. Er traut den Stasi-Schergen immer noch allerhand zu. Aber eben auch den jungen, harten Gesichtern, die er im Zug traf nach einem Fußballspiel. "Sind hier Ausländer", fragten sie. "Hier, ich", hätte er sagen sollen. Aber hat es nicht getan. Und in Berlin, in der Normannenstraße, in der Zentrale des alten Staatssicherheitsdienstes, gibt es ein Bürgerkomitee, aber was gehen da noch für Leute ein und aus? Die kennt er doch. Ihre Autos auf dem Hof, dem großen Parkplatz, sind noch da. 

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Es gab auch keinen Prozeß bisher, was ist mit den politischen Staatsanwälten, den Tätern? Mit Mielke, Honecker, Krenz? Werden sie noch einmal öffentlich beurteilt werden? Der neue Innen­minister treibt Kraftsport, schrieb und verteidigte seine juristische Dissertation in den bitteren achtziger Jahren, durfte das, im Vorwort SED-Parteitagsgesänge, obligatorische Zitate ... Er verteidigt die Stasi, "diese Leute sind phantastisch ausgebildet", sagt er, "können schießen". Nun, ihre phantastische Ausbildung haben wir zu spüren bekommen. Daß ausgerechnet der Innenminister der neuen Demokratie von ihr so beeindruckt ist, berührt unangenehm. Bekommen die ehemaligen politischen Häftlinge Akteneinsicht in das, was die Stasi zusammentrug, was gegen sie fabriziert wurde an Tücke und Rufmord? "Nein" sagt der neue Innenminister forsch.

Und was ist mit den Rechtsanwälten? Kaum einer, scheint mir, spricht ehrlich. Wie sah seine "Kooperation" mit der Partei-Mafia aus, wenn er politische Mandanten vertrat? Und die "gemeinsam zu erreichenden Ziele"? Was waren die Bedingungen, was war die Praxis, um sich halten zu können in der DDR-Anwaltskammer? Ohne Tricks und falsche, vorwurfsvolle Kürze muß darüber geredet werden. Einige Betroffene saßen auch jahrelang ab, was da ausgekungelt wurde. Und ein Herr Schnur als Christ und Demokrat und Spitzel schoß den Vogel ab. Dynamische, recht ausgeruhte Leute kommen nach vorn, setzen sich in Minister­sessel, reden nach drei Tagen cool und clever, als hätten sie ewig im Parlament gesessen. Merkwürdig kommt ihm das vor, unserem Leser aus Jena, einsam fühlt er sich mitunter, niedergeschlagen.

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Wie rasch die neue Macht ihre Fürsprecher findet. Sind das alles Demokraten? Revolutionäre? Ist das nicht eine neue, alte Unterwürfigkeit, eine Flinkheit, ein Funktionieren, das ihn immer so erstaunt hat in den zurückliegenden Jahren? Woher weht der Wind, wer ist der Stärkere, auf wen muß ich hören, wo muß ich "rein"? Dieses lange geübte Anpassungs­verhalten, wie sehr es ihn anwidert ... Aber auch andere Haltungen erlebt, andere Stimmen hört er, auch im neuen Parlament. Und sie ermutigen ihn. Die Grenzen auf, der west-ost-europäische Wind weht die stalinistische, fremdenfeindliche Muffigkeit schon weg, hofft er.

Und bei solchen Grübeleien, das ist mein Schluß, nimmt er Bücher zur Hand, liest zum Beispiel die Passage:

"Daß Sklaven von der Befreiung träumen, bedarf keiner eingehenden Deutung. Allerdings findet man schon in der Bibel Sklaven, die ihre Herren anflehen, sie nicht in die Freiheit zu entlassen. Andere aber träumen von einer Zukunft, in der sie selbst Sklavenhalter sein werden. 

Jede Gesellschafts­ordnung, in der die Gleichheit der Chancen nicht für alle garantiert ist, erzeugt den Willen zum Umsturz der Macht nicht zuletzt bei solchen, die die Macht nicht abschaffen, sondern für sich selbst erringen möchten, um sie fortan selbstherrlich auszuüben. So treten die zur totalen Herrschaft drängenden Parteien gewöhnlich als unversöhnliche Feinde jeder Herrschaft auf. Haben sie diese aber errungen, so versagen sie die Freiheit allen, die sich ihnen nicht bedingungslos unterwerfen." 

Manes Sperber, Zitat Ende.

 

Vielleicht, denkt unser Leser, war ich selbst auch ein Sklave. Aber er hat seine Herren weder angefleht, zu bleiben, noch hat er, wenigstens bis jetzt, Gelüste, einem allmächtigen Politbüro vorzustehen. Was sein Leben in den letzten Jahren ausmachte, mit einigen Schwankungen, das war gerade der Entschluß und die daraus resultierenden Taten, die bedingungslose Unterwerfung zu verweigern.

Dies — denkt unser Leser zurecht — könnte eine gewisse Garantie sein, die politische Sklaverei zu überwinden, innen und außen, gemeinsam mit anderen. Und als unser Leser das dachte und die "Essays zur täglichen Weltgeschichte" vor ihm lagen, hatte er plötzlich ein Gefühl von Glück. Und dies ist ohne Einschränkung und Peinlichkeit zu akzeptieren: Denn unser Leser dachte daran, daß er die Lektüre gekauft hatte in Westberlin, in einer von vielen Buchhandlungen. 

Er kann weg, reisen, und wiederkommen, wann immer er will. Jetzt könnte er aufstehen und losgehen! Er kann alle verbotenen Bücher, das Geld einschränkend voraus­gesetzt, über die Grenze mitnehmen und schon im Zug, vor aller Augen, zu lesen beginnen. Bald werden sie auch in den eigenen Buchhandlungen liegen. Das findet er großartig und das wichtigste Zeichen, den für ihn wichtigsten Beweis, daß die letzten vierzig oder – im anderen Bild – 650 Jahre wirklich vorbei sind! 

Freilich nur vorbei sind, solange wir aktiv verhindern, daß sie wiederkommen. 

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