Wolfgang Müller
Über Magdalena von Jürgen Fuchs
Als Jürgen Fuchs, "gedrängt von Wolf Biermann und Sarah Kirsch, die dazu weder Zeit noch Nerven hätten", 1991 das <Handtuchzimmer> im Haus 6 der Gauckbehörde mit Beschlag belegte, um als befristeter Mitarbeiter "einiges herauszufinden und das Archiv von innen zu sehen"..., um "herauszufinden, was Zersetzung, was Liquidierung von feindlich-negativen Personenzusammenschlüssen wirklich bedeutet hat", ahnte er möglicherweise nicht, in wie hohem Maße dieses Projekt auch eine Wiederbegegnung mit den Bildern seiner eigenen Vergangenheit sein würde — mit den Triumphen, Niederlagen, Ängsten, Dilemmas und inneren Kämpfen des jungen Genossen der SED, des Marxisten und Lyrikers, des Studenten und jungen Vaters in Jena, des Soldaten der NVA – ausführlich beschrieben in seinen Büchern Fassonschnitt und Ende einer Feigheit – des <Staatsfeindes> im Kreis um Robert Havemann und Wolf Biermann, des Häftlings im Stasigefängnis Berlin-Hohenschönhausen und schließlich des nach Westberlin Abgeschobenen, der bis zum Fall der Mauer noch im <freien Teil> der Stadt die zersetzende <Fürsorge> der <Soldaten an der unsichtbaren Front> erdulden mußte.
Die Arbeit am Buchmanuskript wurde zu einer mutigen Erinnerungsarbeit, die nicht nur die kleinen Fiesheiten und die großen Verbrechen einzelner “operativer Kombinationen” und einzelner Zersetzungsmaßnahmen aus den Aktenbergen befreite, sondern zusätzlich seine Sinne für das Alte in den Tönen der neuen Behörde schärfte und ihn letztlich wohl auch mit seinen eigenen Sicherheiten konfrontierte. Es ist daher verständlich, daß das seit langem angekündigte Buch durch den “Wechsel der Zeiten” — nach einem ersten “Enthüllungsenthusiasmus” in den frühen neunziger Jahren stellte sich bei vielen Gleichgültigkeit ein und bei anderen galten auf einmal “Erinnerung als Krankheit und Empfindsamkeit als Pathologie” — durch innere Widerstände und dann durch schwere Krankheit unterbrochen, so lange gebraucht hat, bis es in diesem Frühjahr bei Rowohlt erschienen ist.
Um es vorweg zu sagen: Ich halte es für ein notwendiges und gelungenes Buch. Es ist eine leidenschaftliche Ergänzung zu Joachim Walthers verdienstvollem Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik.(1996).
Jürgen Fuchs’ Magdalena ist kein Roman, wie der Titel wohl eher ironisch ankündigt, sondern ein fünfhundert Seiten langer subjektiver Bericht über die verschiedenen Kapitel des Widerstandes und der Repression in der DDR Honeckers. Die Emotionalität des Stils, der große Anteil an Reflexion über die eigene Geschichte und die Geschichte der Freunde und Feinde, die teilweise direkt angesprochen werden, und das genaue Benennen von Orten und Personen machen dieses Buch spannend und in Teilen sogar ergreifend.
Auch wenn einige Rezensenten das anders sehen, es ist wichtig und richtig, daß jemand öffentlich und mit emotionalem Engagement die Ungeheuerlichkeiten des Stasi-Regimes benennt. Wie soll man denn sonst reagieren, wenn man, wie Jürgen Fuchs, in der Zelle und beim Verhör im Hauptquartier der Stasi in der Berliner Magdalenenstraße — daher der Titel Magdalena— psychologischer Folter ausgesetzt war, wenn man vom “Selbstmord” eines Freundes nach einem Stasiverhör erfährt, wenn in Westberlin “rein zufällig”, die Tochter ist gerade auf dem Weg zur Schule, in der Nähe des Hauseingangs eine Werfergranate oder ein Autotank explodieren oder wenn Bremsen an seinem Auto beschädigt werden?
Jürgen Fuchs’ Buch handelt auch von der Behörde, der es laut Bundestagsbeschluß obliegt, die Akten des Staatssicherheitsdienstes zu bewahren sowie Betroffenen und Forschern zugänglich zu machen. Sie, einschließlich ihres Bundesbeauftragten, kommt dabei nicht gut weg. Fuchs merkt halb resigniert an, daß DDR Bürgerrechtlicher immer davon ausgingen, daß es sich bei den Stasiakten um das Eigentum der Betroffenen handelte, während sich nun eine Attitüde durchgesetzt hätte, nach der die Akten Eigentum der Behörde wären, was die ehemaligen Opfer zu Bittstellern mache — eine Feststellung, die sich ihm aus der Behandlung seines Vaters durch Angestellte der Behörde, aus deren Sprache und aus der Durchsetzung der Gauckbehörde mit ehemaligen IMs und hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi aufdrängt.
Letzter Punkt ist ihm von besonderer Wichtigkeit, weil es für ehemalige Opfer einfach nicht zumutbar sei, daß sie ihre Anträge auf Einsicht in "ihre" Akten bei Leuten stellen, die zu Stasizeiten direkt oder indirekt mit dem Anlegen genau dieser Akten befaßt waren. Außerdem sei es schwer verständlich, daß ehemalige Mitarbeiter der Stasi unkontrolliert an die noch nicht erfaßten Stasimaterialien herankämen. Daß es sich bei diesem Anliegen von Fuchs um keine Marotte eines Hypersensiblen oder um Auswüchse einer paranoiden Phantasie handelt, zeigt die von ihm miterlebte Entlassung eines ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiters der Stasi, der zu seinem unmittelbaren Kollegenkreis in der Gauckbehörde gehört hat.
Natürlich weiß auch der Psychologe Fuchs, daß sich Menschen wandeln und hat sich deshalb dafür eingesetzt, daß gewandelte Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes durch die Gesellschaft nicht ausgegrenzt werden. Doch heißt das nicht, daß man es für richtig halten sollte, daß Leute an den gleichen Akten und in den gleichen Gebäuden arbeiten wollen, in denen sie bis 1989 einem repressiven Regime gedient haben. Selbst wenn es keine Gesetze dagegen gäbe, sollten es das Schamgefühl der gewandelten Stasimitarbeiter und der demokratische Anspruch gerade dieser Behörde verbieten, daß die ehemaligen Hauptberuflichen und Inoffiziellen in ihren alten Diensträumen weitermachen.
Bei allem Mißtrauen gegenüber einigen ihrer Mitarbeiter und bei aller Schärfe der Kritik an der Gauckbehörde insgesamt, geht es in Fuchs’ Bericht jedoch nicht darum, ihre Existenzberechtigung in Frage zu stellen, sondern um die konstruktive Kritik an einer Institution, in der der Autor gearbeitet und zu dessen Beirat er gehört hat. .
Einiges hätte ich mir anders gewünscht: ein Index hätte bei der großen Anzahl von Personen geholfen, die Übersicht zu bewahren. Auch fehlen mir an einigen Stellen die Erklärungen für Zusammenhänge. Fuchs scheint sich verschiedentlich in einem exklusiven Dialog mit den alten Insidern zu befinden. Zum Beispiel schreibt er auf S. 503 über Schädlichs Trivialroman: “...Es ist diskret genug, operative Erkenntnisse daraus sind eigentlich nur Mitgliedern des engsten Korona-Kreises möglich, anderen nicht....” — Vielleicht habe ich ja was übersehen, aber wer oder was ist der Korona-Kreis? Gibt es so etwas wirklich? Bei seinem umfangreichen Wissen scheint Fuchs ab und an zu vergessen, daß Leser mehr Erklärungen brauchen. Ein Bericht für die Öffentlichkeit, sollte weder Freund noch Feind zu privilegierten Lesern machen.
Weiterhin scheint mir an einigen Stellen die Proportionalität nicht gewahrt. Obwohl mir die Gefahr und teilweise Realität einer sehr alten deutschen Behördenmentalität auch in der Gauckbehörde vorhanden zu sein scheint, halte ich die Implikation einer institutionellen Kontinuität auf Grund der von Fuchs ausgemachten (Victor Klemperers LTI hin und her) Traditionslinie: Nazisprache, Stasisprache, Gaucksprache (-bürokratie) für überzogen. Allerdings sei angemerkt, daß es sicher nicht einfach ist, die Proportionen zu wahren, wenn man sich, wie Fuchs, in der Öffentlichkeit wegen eines berechtigten Anliegens oft angefeindet, allein gelassen oder bestenfalls von Wohlmeinenden mitleidig auf die Schulter geklopft fühlt.
Man sollte daher das Wortspiel “VEB Horch & Gauck” im Untertitel, das wie ein Echo durch das gesamte Buch klingt und die Kontinuität deutscher “Ministerien für Staatssicherheit” und des Ministeriums für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zu behaupten scheint, als eine auf Nachdenken und Veränderung drängende Provokation nehmen, “maliziös” wie Richard Herzinger in seiner Rezension des Buches meint (Die Zeit, 19. 3. 1998) ist es sicher nicht!
Fuchs’ Gedächtnis, sein intuitives Verständnis von Situationen und Menschen, seine Fähigkeit, eine große Anzahl von Ereignissen der Gegenwart und Vergangenheit, Personen und Gesprächen als einen homogenen Text lebendig, ja “wortgewaltig” zu gestalten, sind beeindruckend. Hat man das Buch erst einmal in die Hand genommen, ist es schwer, es vor der letzten Seite wegzulegen. Ob es sich jedoch über den Kreis jener hinaus, die auf die eine oder andere Weise in der DDR “dabei gewesen” sind und noch nicht vergessen wollen, durchsetzen wird? Der Leser merkt, in diesem Buch steckt eine enorme erzählerische Kraft und wünschte, der Autor hätte nach diesem “heißen” Bericht die Zeit und Ruhe einen “kalten” Roman zu schreiben, den Roman seiner Generation. #