Der Mammut-Mensch
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Als Aiyuk aufwachte, erinnerte er sich sofort: Nur noch ein einziger Tag und eine einzige Nacht. Er zitterte und fuhr sich durch den roten Vollbart. Die große Angst, die jeder Jäger kannte, stieg in ihm auf. Er fühlte das Angststechen in der Brust und dann im Hals. Die Finger krallten sich im Bart fest. Da Aiyuk noch in seinem Wisentfell lag, sah niemand seine Bewegungen und seine vor Angst weit aufgerissenen Augen.
Die Anspannung ließ allmählich nach: Immer stärker drangen die vertrauten Laute des frühen Morgens zu ihm. Er hörte das Zischen der Renfilets auf den heißen Steinen am Feuer, er hörte das Knistern des Feuers, das Weinen von Fagayuks Kleinkind. Allmählich wich Aiyuks Beklemmung.
Als Junge hatte er der Bärenjagd oft zugesehen. Damals war er weder schnell noch stark genug gewesen, um daran teilzunehmen. Doch gestern hatte er sich bereit erklärt, allein zu gehen. Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden gehabt. Der kluge Eschona war einer der erfahrensten und vorsichtigsten Jäger, und er hatte nur zustimmend genickt. Alle hatten gefühlt, daß dies der richtige Zeitpunkt sein würde. Also war morgen die Reihe an Aiyuk. Meistens war es so: Wenn alle dasselbe fühlten und von der Richtigkeit der Handlung oder der Worte überzeugt waren, wurde nichts mehr besprochen.
Aiyuk warf sein Wisentfell beiseite und band sich seine kniehohen Fellschuhe um. Weil ihn fröstelte, legte er das Wisentfell um die Schultern, ohne es zuzuknöpfen. Dann stand er schnell auf, ging einige dutzend Schritte vor den Höhleneingang und urinierte. Aus dem prallen Waschsack ließ er Wasser ins Gesicht spritzen und wusch sich kurz. Direkt hinter dem großen gemeinschaftlichen Feuer am Höhleneingang lagen die Reste des letzten vorrätigen Renkadavers. Aiyuk wischte sein Faustkeilmesser im frischen, knöcheltiefen Schnee ab und schnitt sich ein hartes Fleischstückchen ab, um es zu rösten.
"Du mußt mehr essen", sagte der alte Tore. "Sonst bist du morgen nicht schnell genug."
Aiyuk zählte achtzehn Sommer, und Tore war mehr als doppelt so alt und noch zehn Sommer dazu. Genau wußte er es nicht. Von Rheuma gequält, wie fast alle alten Menschen, ging Tore halb gebückt. Seine Finger waren von der Arthritis gekrümmt. Obwohl seine Hüftgelenke immerzu schmerzten, obwohl er den kurzen Wurfspeer nicht mehr so geschickt handhabte wie noch vor ein paar Sommern — Tore hatte überlebt und war uralt geworden, beinahe fünfzig Sommer.
Aiyuk lächelte und nahm das saftige Stückchen Fleisch, das ihm Tore anbot. Lange schaute ihn Tore besorgt an und drehte sich unsicher weg. Aiyuk setzte sich ans Feuer.
Er aß langsam, denn während er still vor sich hinkaute, stieg die große Angst wieder in ihm auf. Um sich nicht zu verraten, blickte er lange ins Freie, in die große weite Schneebene. Die grauen Schneewolken des langen Winters waren verschwunden. Die Sonne schien, aber sie wärmte noch nicht. Aiyuk zog sein Wisentfell enger an den Körper. Unter dem dicken Fell, nur im dünnen Hirschrock, fröstelte ihn - obwohl der Atem nicht so voll und weiß war wie in den letzten Tagen. Niemand sprach. Plötzlich wurde Aiyuk aufgeschreckt durch das Zischen von Renfleisch auf dem heißen Stein neben sich. Er schaute auf.
"Jetzt ist es nicht mehr so kalt. Es ist Zeit", sagte Kukikatugak und hockte sich neben seinen Freund Aiyuk.
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Wieder fühlte Aiyuk die Angst in der Brust; denn Kukikatugak meinte: Es ist Zeit, den Bären aus der Höhle zu holen, bevor er vom langen Schlaf erwacht.
Kukikatugak, der Aiyuks Angst spürte, lachte und sagte: "Es ist Zeit, wieder Bärenschinken in meinen Magen zu bekommen."
Aiyuk und die anderen lachten. Die Angst verschwand. Aiyuk wußte, auf den starken Arm seines großen Freundes Kukikatugak konnte er vertrauen, wenn der riesige Höhlenbär hinter ihm herrannte. Kukikatugak war stark wie der Bär. Er sah auch aus wie ein Bär mit seinem zottigen schwarzen Bart und seinem ausufernden Haarbusch. Mit seinem mächtigen Oberkörper und den buschigen Haaren überragte er Aiyuk um einen ganzen Kopf. Aiyuk nannte Kukikatugak manchmal "Bär", oft auch im Spaß "wolliges Nashorn" oder "kleines Mammut". Gleichgültig, wie sehr er sich über den Riesen Kukikatugak lustig machte, nie wurde Kukikatugak ernsthaft böse. Über die Dinge ärgerte er sich, nicht aber über die Menschen. Überhaupt war es ungewöhnlich, daß sich ein Mensch über einen Menschen ärgerte; das galt als schlechte Sitte.
Nein, dachte Aiyuk. Ich brauche keine Angst zu haben. Die anderen werden mich beschützen. Kukikatugak wird mich beschützen.
Und da war noch Eschona, der mit über fünfunddreißig Sommern zu den besten Jägern zählte, und der von allen hochgeachtet wurde. Das galt auch für Fagayuk, die Frau, bei der Eschona lag. Fagayuk, die fruchtbare Fagayuk, und Eschona lagen schon viele Sommer zusammen und bildeten auch meist ein Jagdgespann, wenn sich die Großgruppe zur Jagd aufspaltete. Ganz allein hatten die beiden eine große Bärin getötet. Wer Fagayuk und Eschona und Kukikatugak hinter sich wußte, der mußte keine Furcht haben.
Mit dem stillen Gukall, der so viele Sommer zählte wie Aiyuk, kam noch die kleine Lucuwat, die Tochter von Fagayuk und Eschona. Alle setzten sich ans Feuer und aßen. Fagayuk nahm das Kleinkind an ihre große, pralle Brust.
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Dann kam der außer Tore älteste Mammut-Mensch und setzte sich mühsam. Es war die alte und geduldige Tunulig, die wie der weißhaarige Tore vom Rheumatismus geplagt war. Nun waren fast alle Mammut-Menschen am Feuer.
Sie nannten sich Mammut-Menschen: Es war nicht so, daß sie das Mammut vor allen anderen Tieren achteten. Es war nicht so, daß sie es besonders gefürchtet hätten, denn Mammuts wurden nicht allzu oft gejagt. Es war auch nicht so, daß sie es besonders oft jagten oder auch nicht; nein, das war nicht der Grund, daß sie sich Mammut-Menschen nannten. Irgendwann, vor langer Zeit, hatte die Gemeinschaft ein besonders großes Mammut erjagt, und so nannten sie sich Mammut-Menschen, um das Ereignis zu feiern. Früher hieß die kleine Gemeinschaft "Hasen-Menschen"; warum, das wußte auch die kluge Tunulig nicht. Wenn sie sich "Mammut-Menschen" nannten, wußte jeder, wer sie, im Unterschied zu den anderen Gemeinschaften, waren. Daher gab sich jede Gemeinschaft einen Namen, von denen die meisten Ursprünge unbekannt waren. Die Mammut-Menschen trafen jeden Sommer mit den Pferde-Menschen zusammen. Alle paar Sommer sahen sie auf der großen Wanderung die Wisent-Menschen. Nur gelegentlich traf man die Fuchs- und die Hirsch-Menschen.
Einer nach dem anderen bemerkte, daß die alte Tunulig ins Leere gestarrt hatte.
"Wir können alles aufessen", sagte sie plötzlich. "Morgen werden wir einen großen Bären töten."
Alle blickten Tunulig an. Tunulig war Alt-Mensch. Wenn der Alt-Mensch etwas sagte, nachdem er ins Leere geschaut hatte oder die Augen geschlossen hielt, dann geschah das Vorhergesagte.
Kukikatugak stieß seinen Freund Aiyuk an; beide nickten, und Kukikatugak verzog die Mundwinkel zu einem Lachen.
"Bärenschinken", sagte er.
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Tunulig war Alt-Mensch. Alt-Mensch wurde die Frau oder der Mann, der das Große Gefühl bekam. Tunulig wußte nicht mehr als die anderen. Ebenfalls spielte das Alter keine Rolle, obwohl meist die Älteren Alt-Menschen wurden. Bei den Wisent-Menschen war ein unscheinbares Mädchen Alt-Mensch, die noch keine zwölf Sommer zählte. Alt-Menschen bekamen einfach das von den Menschen so genannte "Große Gefühl" für die Dinge, die kein Mensch sehen konnte. Meistens jedoch besaß Tunulig kein Gefühl für die Dinge hinter den Dingen. Bekam sie es jedoch, irrte sie nie.
"Nur ein einziger Bär?" fragte Kukikatugak zaghaft.
"Ich sehe es nicht", antwortete Tunulig langsam."Ich sehe nur einen gefährlichen, großen Bären, der schnell rennt. Ich sehe nicht wieviele."
Kukikatugak schwieg. Tunulig begann wieder zu essen. Das Große Gefühl war vorüber.Aufgeregt stand Aiyuk auf. Er konnte nicht länger ruhig am Feuer sitzen. Er ging zu seiner Schlafstätte und legte seine Muschelhalskette um. Am Kopfende seiner Schlafstätte, die mit trockenen Farnen und Gräsern gepolstert war, lag sein Speerwerfer, in dessen gehaktem Ende man den kurzen Wurfspeer einlegte. Aiyuk nahm Speerwerfer und Wurfspeere in die Hand und trat ans Feuer.
"Oschet soll nicht zu lange Augen-Mensch sein. Sie hat Zahnschmerzen. Ich werde sie jetzt schon ablösen."
Niemand antwortete. Natürlich war es richtig, sie früher als es ihr zustand abzulösen. Es war aber auch richtig, daß Oschet trotz ihrer Zahnschmerzen Wache hielt, denn alle Aufgaben mußten erfüllt werden. Und ein wenig krank war immer jemand.
In der frischen Morgenluft bestieg Aiyuk den Felsen, der über der Höhle vorkragte. Es ging immer höher und steiler bergauf. Dann, nach kurzer Zeit, war Aiyuk auf der Hochebene angelangt, hundert Schritte über der Höhlenöffnung.
Auf ihren Langspeer gelehnt wartete Oschet auf Aiyuk. Keuchend kam er ihr entgegen; er hatte sich beeilt.
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Oschet lächelte trotz ihrer geschwollenen Wange, zeigte aber ihre Zunge nicht. Es war nämlich Sitte, daß ein Mensch dem anderen Menschen die nach unten gerollte Zunge - so daß die Zungenspitze im Mund blieb - zum Gruß zeigte. War die Zunge rosig, wußte jeder: Du bist gesund. War die Zunge aber dunkel oder streckte man sie nicht heraus, so war klar: Weil der Geist eines Tieres in dir ist, bist du krank. Darum werden wir dir helfen, dich vom Geist zu befreien.
Oschet und Aiyuk streichelten einander kurz am Oberarm entlang. Auch dieser Gruß war Sitte: Ich bin dir gut, mein Arm soll deinen Arm schützen und dein Arm soll meinen Arm schützen.
Oschet hatte ihr Wisentfell dicht ans Gesicht gedrückt. Aiyuk streichelte Oschets Haare und sagte: "Bald werden wir das Pferd malen, dessen Geist in dir wohnt. Dann vergeht der Schmerz."
Oschet nickte und kletterte zur Höhle hinab.
Das Wachfeuer, das Wölfe, Löwen und unruhige Geister fernhielt, war ausgegangen. Da aber die Sonne immer stärker zwischen den hohen, dünnen Wolken hindurch schien, brauchte Aiyuk kein Wachfeuer. Schließlich hatte er seine Muschelkette übergezogen; sie hielt die Tiergeister fern, das wußte jeder.
Oschet war nun nicht mehr zu sehen. Ab und zu hörte Aiyuk die Rufe der spielenden Kinder und das Hämmern des Faustkeils. Aiyuk war allein. Er ging auf und ab und blickte in alle Richtungen. Er konnte die ganze Hochebene übersehen; dann blickte er weit hinab ins breite Tal bis hin zu den großen Bergen. Nichts regte sich; nun waren Oschets Schritte nicht mehr zu hören. Das Klopfen des Faustkeils hatte aufgehört. Niemand war zu sehen, kein einziges Tier. Diesen Augenblick hatte Aiyuk am meisten gefürchtet: er war allein. Er konnte nicht einmal auf den Wind horchen. Allein sein hieß: in Gefahr sein, vom Geist eines nichtgemalten Tieres gepackt zu werden, der den Menschen krank machen könnte. Er zupfte an seinem
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Muschelhalsband, das die Geister fernhalten sollte. Es klirrte leise. Allein zu sein: das war der Tod.
Lange Zeit verging. Nichts regte sich. Wieder hatte das Klopfen der Faustkeile eingesetzt, neue Messer und Speerspitzen wurden für die Bärenjagd vorbereitet. Mit Langspeeren, Kurzspeeren und Speerwerfern bewaffnet sah er den jagderfahrenen Doregak, die schnelle und gewandte Hikiijaut und Gukall, den Stillen, über die Ebene gehen, um die Hasenfallen zu prüfen. Schließlich wurden sie ganz klein, dann verschwanden sie in der großen, weiten, weißen Tundra. Bis auf die Faustkeile war es still.
Jetzt bin ich allein, ich bin Augen-Mensch, dachte er. Morgen aber habe ich viele Arme. Kann ein Bär gegen viele Arme kämpfen? Viele Arme sind das Leben, viele Arme schützen mich. Zwei Arme sind allein. Deswegen mußt du sterben, Bär. Aber du brauchst keine Angst um deinen Geist zu haben: Wir werden dir ein großes Bild malen, du wirst zufrieden sein und Ruhe finden. Bär: Wenn wir dich töten, wirst du ruhig sein. Dein Tod ist unser Leben, also bist du ein Bär für den Menschen. Nie würden wir dich töten, wenn wir dich nicht brauchen würden, Bär. Wenn du leben willst, tötest du nicht das Ren und den Hirsch? Und dabei kannst du ihr Bild nicht malen. Aber wir werden dein Bild malen. Fürchte dich nicht, wenn dein Geist entschwebt. Höre mich, Bär, in den Bergen über dem Tal: Wir bitten dich um dein Leben, das du liebst und das wir achten. Wir sind dir dankbar.
Aiyuk hatte keine Angst mehr. Der Bär, der doch selbst einmal ein Mensch gewesen war, verstand ihn. Der Bär würde ihm sein Leben geben und Aiyuks Leben schonen. In diesem Augenblick war es vollkommen still, vollkommen windstill. Das bedeutete: In der Stille konnte ihn der Bärengeist hören, und wer gehört wurde, war verstanden worden. Für Aiyuk gab es keine Gefahr.
Noch viele Stunden ging Aiyuk auf und ab. Gukall, Hikiijaut und Doregak waren längst zurückgekehrt.
Schritte wurden lauter. Die Wachablösung kam. Es war
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Eschona, der bei allen Mammut-Menschen hoch in Ansehen stand.
Aiyuk und Eschona begrüßten einander mit Zungengruß und Streicheln.
"Bist du auch schnell genug für den Bären?" fragte Eschona lächelnd.
"Ich werde noch den Hasensprung üben", sagte Aiyuk im Gehen.
Eschona nickte und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aiyuk kletterte schnell und behend zur Höhle hinab. Immer wieder, jedes Mal, nachdem er Augen-Mensch gewesen war, durchströmte ihn das Glücksgefühl, das jeder kannte. Er war wieder unter Menschen.
Unten, in der Ebene vor der Höhle, wartete sein Freund Kukikatugak schon auf ihn. Er hielt ihm gebratenes Hasenfleisch hin. Aiyuk aß im Stehen, während er und Kukikatugak die Spiele besprachen. So war das bei den Mammut-Menschen: Immer einigten sie sich, bevor sie etwas unternahmen. Ohne Einigkeit gab es keine Wanderung, kein Essen, keine Jagdspiele und auch keine Jagd. Und so war es auch bei Aiyuk und seinem Freund Kukikatugak, denn sie waren immer zusammen. Meistens aßen sie zusammen, immer übten und jagten sie nebeneinander. Morgen würden sie sich zum ersten Mal trennen, da Aiyuk kleiner, flinker und schneller war als der große, schwere Kukikatugak. Aiyuk war der Bärenköder.
"Werfen wir zuerst, dann rennen", schlug Kukikatugak zuletzt vor.
"Wo ist die arme Oschet mit ihrem Zahnschmerz? Sollen wir den Geist des Tieres, der in ihr war, nicht malen?"
"Tunulig hat den Abszeß aufgeschnitten. Eschona und ich mußten sie halten. Jetzt schläft sie."
Aiyuk und Kukikatugak legten einige alte Felle auf den Schneewehen aus. Lange warfen sie mit den kurzen Wurfspeeren auf die Felle. Später kamen Teschadjuk und Hikii-jaut hinzu.
Teschadjuk und Hikiijaut nannte man "die Unzertrenn-
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liehen". Sie waren zwar nicht Schwestern, waren aber zusammen aufgewachsen. Beide hatten sogar äußerliche Ähnlichkeit miteinander: sie waren schlank, sehnig, brünett, beide zählten sechzehn Sommer, beide waren gesprächig, immer zu Scherzen bereit, und beide waren außerordentlich gute Jägerinnen. Nur in einem hatte Hikiijaut es der Teschadjuk voraus: mit ihren langen Fingern vermochte Hikiijaut den Speerwerfer besonders geschickt zu halten und den Speer viel später loszulassen als Kukikatu-gak mit seinen dicken Fingern. Hikiijauts Speer flog in einem hohen Bogen und mit einer Eleganz, die selbst alte Jäger wie Tore erstaunte. Alle lachten und freuten sich, wenn Hikiijauts Speer das Ziel in einem besonders hohen Bogen traf.
Dann stellten Aiyuk und Kukikatugak alle hundert Schritt einen Speer auf. Morgen war für Aiyuk der Tag der Beine, nicht der Tag des Speeres.
Das Hindernisrennen, das die Mammut-Menschen den Hasensprung nannten, wurde von Aiyuk begonnen. Als ob ihn der Bär verfolgte, so mußte er von Speer zu Speer rennen und um jeden Speer einen Haken schlagen. Dann wurde nur noch der letzte Speer stehengelassen. Nun kam der Alt-Mensch, die weit in die Zukunft sehende Tunulig, langsam herbei. Den täglichen Spaß des Wettrennens ließ sie sich nicht entgehen; es war aber kein Spiel. Von Aiyuks Schnelligkeit hing morgen sein Leben ab.
Schweratmend kamen Aiyuk und Hikiijaut, dicht gefolgt von Teschadjuk, am Ziel an.
"Komm Mammut, komm Nashorn", riefen alle, als Kukikatugak keuchend ankam.
"Hasen, Hasen", schnaufte Kukikatugak müde. "Pferde, Pferde, du Pferde-Mensch", sagte er zu Aiyuk.
Aiyuk lachte nicht mehr und versetzte Kukikatugak einen Stoß gegen die Schulter. Erstaunt wich Kukikatugak einen Schritt zurück. Alle schwiegen betreten.
"Ich bin ein Mammut-Mensch", sagte Aiyuk ruhig. Er fühlte Tunuligs Blick. Sie sagte nichts. Aiyuk errötete und
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drehte den Kopf zur Seite. Ein Mensch schlägt den anderen Menschen nicht, hatte Tunulig gesagt. Ein Mensch beschützt den anderen Menschen.
Tunulig wandte sich ab und ging in die Höhle zurück. Niemand sagte etwas. Das Spiel war zu Ende. Aiyuk ging zu Kukikatugak und legte den Kopf an seine Schulter. Kukikatugak umarmte ihn. Sie gingen zur Höhle zurück. Aiyuk mußte sich nicht mehr schämen; Kukikatugak hatte ihm verziehen. Nie würde jemand den Vorfall erwähnen.
Als sich Aiyuk in sein Wisentfell legte, hatte er plötzlich einen Gedanken: Aber Tunulig hat Kukikatugak nicht korrigiert. Er hat also recht. Ich bin ein Pferde-Mensch und kein Mammut-Mensch wie alle anderen. Aber warum bin ich ein Pferde-Mensch?
Aiyuk schlief darüber ein, und als er aufwachte, war es schon Nacht. Das Feuer knackte laut.
"Wir haben dich schlafen lassen", sagte Kukikatugak, der neben ihm schlief und sich nun zu ihm herüberbeugte. "Morgen mußt du schnell sein. Aber habe keine Angst. Ich bin da mit meinem Speer."
Aiyuk legte vor Scham seinen Kopf auf Kukikatugaks Arm. Wer für einen solchen Menschen wie Kukikatugak das kleine Gefühl hatte, so daß er ihn ganz besonders beschützte, brauchte keine Angst zu haben. "Das kleine Gefühl": so nannten die Mammut-Menschen die Freundschaft.
Immer heller loderte das Feuer. Alle Mammut-Menschen, außer Aiyuk und der schlafenden Oschet, saßen am Feuer. Aiyuk dachte aber nicht nur an die Bärenjagd. Immer wieder sagte er zu sich: Es ist also wahr, worüber niemand mit mir sprechen wollte: Ich komme von den Pferde-Menschen.
Am Feuer aber sprach man nur über den Bären. Die Bedrückung der letzten Tage, als es immer weniger zu essen gab, war gewichen. Von seiner Schlafstätte aus hörte Aiyuk die Worte " - Bär - gefährlich - Bärin - Hunger -
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Bärenjunges —", und immer mehr vergaß er seine Zweifel, immer mehr dachte er an den Bären und an seine besonders gefährliche Aufgabe morgen. Die Stimmen am Feuer wurden lauter. Eschona und Fagayuk, bei der er lag, hatten begonnen, Bärenlieder zu singen. Die eigentümliche Hochstimmung vor einer gefährlichen Jagd, die Aiyuk so gut kannte, breitete sich immer mehr aus. Sie fand ihr Ende in der Bärengeschichte, die Tunulig, der Alt-Mensch, erzählte.
"In einer Zeit vor unserer Zeit, die niemand mehr kennt, war alles warm. Es gab kein Mammut und es gab keinen Bären, aber es gab den Menschen. Und der Mensch fror nicht, denn immer gab es Sonne und Früchte an den Bäumen, und alle Menschen aßen, ohne daß sie gezwungen waren, große Tiere zu töten. In den Flüssen gab es immer Fische, die sich für die Menschen von den Harpunen aufspießen ließen.
Und da sagte die Sonne zum Menschen, daß sie nicht mehr mit dem Wind und den schweren Wolken kämpfen wollte. Die Sonne sagte: Ich bin müde, laßt mich lange schlafen. Also ging die Sonne schlafen, und alles wurde kalt und immer kälter. Um warm zu bleiben, mußte der Mensch die Tiere töten. Um warm zu bleiben, mußte der Mensch in Höhlen wohnen. Weil die Menschen aber noch nie in Höhlen gewohnt hatten, verirrten sich ein paar Menschen tief in den Höhlen, anstatt am Höhleneingang zu schlafen. Weil sie müde wurden, schliefen sie ein. Sie wären gestorben, wenn ihnen nicht während des Winters ein Fell gewachsen wäre. Als sie nach dem langen Winter aufwachten, wollten sie sprechen; doch Sprache hatten sie keine. Und als sie nach dem langen Winter ihre Harpunen ergreifen wollten, hatten sie keine Hände, sondern Tatzen. Und statt Haut hatten die Menschen ein Fell bekommen. So wurde der Mensch zum Bären. Darum achten wir den Bären besonders, denn der Bär, den wir morgen töten, war einst ein mächtiger Mensch. Wir geloben dir, Bär: Wir werden dir ein schönes Bild malen und deinen Geist zufriedenstellen. Wir achten dein Fleisch und bitten dich, uns dein Leben zu geben, denn dein Tod ist unser Leben. Freund: du gibst uns das Leben."
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