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Der Berg

 

 

 

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Vor dem Aufbruch aus dem Winterlager gab es viel zu tun. Doregak, Eschona, Kukikatugak und Hikiijaut waren schon am frühen Morgen mit den Stangen und Fellen losgezogen, um den dritten, den größten Bären zu bringen. Auch Tore war mitgegangen.

Tore? Aber ich wollte doch mit ihm reden. Warum ist er nicht da?

Und so stand Aiyuk auf, legte Holz nach, räumte das Dornengatter beiseite und trat hinaus vor die Höhle. Hoch oben kreisten zwei Falken. Der warme Wind blies nicht länger. Der Himmel war mit dicken weißen Wolken übersät, die schnell nach Nordosten zogen. Durch sie hindurch sah Aiyuk ein glänzendes Blau. Er beobachtete die Wolken, die der Wind vor sich her trieb. Wie alle Menschen liebte er es, den Wind in den Haaren zu fühlen, wenn die Wolken schnell über den Himmel rannten: so nannten es die Menschen. Auch die Wolken waren wie die Tiere: Sie wollten gerne zusammen bleiben, so sehr sogar, daß sie immer wieder ineinander verschmolzen.

Die Wolken. Die Wolken lieben die Wolken und die Bären lieben die Bären, dachte Aiyuk.

Die Wolken zogen nach Nordosten; Osten nannten die Menschen "jenseits der Sonne", Westen "diesseits der Sonne". Bald würden die Menschen vom Süden, der "Sonne", in die "Nacht" - so hieß der Norden - ziehen. Die Wolken gaben das Zeichen: Zieht mit! Zieht mit! Das

taten sie jedes Jahr. Wenn die graue Wolkendecke aufbrach, kamen die kleinen, dicken weißen Wolken. Sie sprachen zu den Menschen: Kommt mit! Kommt mit, ihr Menschen! Der Wind treibt uns, zieht auch ihr mit dem Wind! Und so gehorchten die Menschen jedes Jahr den Wolken und dem warmen Wind.

Der Wind rauschte in Aiyuks Ohren und rief auch zu ihm, und er hörte den Wind und sah die Wolken und wußte, was für den Menschen zu tun sei. Er schaute hinab in die weite Ebene, aus der hier und da braune Erde hervorkam, und weiter zu den fernen Bergen. Noch waren sie schneebedeckt. Doch in wenigen Tagen würden auch sie rufen, indem sie ihre kahlen Felsen vom Schnee entblößten. Das hieß: Besteigt uns! Es ist soweit! Auf der anderen Seite warten die großen Herden, denn hier gibt es nichts mehr.

Auch die Berge hörte Aiyuk.

Ja, ihr Berge. Wir kommen, ihr Berge. Ja, drüben bei euch sind jetzt Kukikatugak und Tore und bringen die Bären. Tore. Warum weicht er mir nur aus? Tore schaut immer, daß es mir gut geht, aber jetzt will er nicht mit mir sprechen.

Wolken und Wind gaben ihm keine Antwort. Da hatte er eine Idee. Er wunderte sich, noch nicht darauf gekommen zu sein: Wenn Tore heute abend nicht mit mir reden will, werde ich Tunulig fragen. Sie ist noch ein paar Sommer älter als Tore. Sie wird mir sagen, woher ich komme.

Dieser Gedanke beruhigte ihn. Als ob er sie gerufen hätte, trat Tunulig, der Alt-Mensch, zu ihm. "Ja, die Berge. Ich denke, in ein paar Tagen brechen wir auf." Sie legte ihre Hand auf Aiyuks Schulter.

"Ja, du hast recht. Schau, die Wolken rufen", antwortete er. Auch Oschet, Fagayuk, Gukall und die beiden Kinder waren aufgestanden. Zum ersten Mal in diesem Jahr sahen sie die rufenden Wolken, und sie freuten sich.

"Wir brauchen noch zwei Bärenmäntel für die Kinder, bevor wir aufbrechen", meinte Tunulig. "Ich werde nähen. Wir brauchen auch noch Speerspitzen."

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"Ich werde sie jetzt machen", sagte Aiyuk. Gukall, der nur selten sprach, nickte dazu: Wir können sie zusammen machen. Die großen Steine haben wir ja schon gesammelt.

Gukall war kleiner als Aiyuk. Sein langer schwarzer Bart war anders als der kurze rote Bart, den Aiyuk trug. Doch wie Aiyuk trug er ein Hirschfellkleid bis zur Mitte des Oberschenkels. Ein Gürtel aus Hirschleder hielt es an der Hüfte zusammen. Wisentfellschuhe reichten auch ihm bis zu den Knien. Die Sohle war doppelt verstärkt; überkreuz gebundene, schmale Lederriemen reichten von den Knöcheln bis zum Knie, wo sie zusammengeknotet waren. Statt eines Wisentfells wie Aiyuk trug er als Winterschutz ein riesiges Bärenfell und eine Bärenkappe, da ihm immer am Kopf fror und er oft unter Ohrenschmerzen litt. Er hörte nur noch auf einem Ohr. Immer wieder hat er Mammut-, dann Bärenbilder gemalt, um den Tiergeist aus seinem Kopf zu vertreiben, doch immer wieder hatte er Ohrenschmerzen bekommen.

" Soll ich dir zuerst den Bart schneiden?" fragte Aiyuk.

"Wie?"

"Soll ich dir zuerst den Bart schneiden?"

"Ah - ja, danke."

Aiyuk legte einen kleinen Knochenamboß gegen Gu-kalls Brust. Dann nahm er sein Messer aus dem Gürtel, umfaßte den kurzen Holzgriff und schnitt den Bart waagrecht ab, indem er ihn gegen den Amboß drückte. Auf diese Weise schnitt er ihm auch die Haare an der Schulter ab, und Gukall schnitt auch Aiyuks Haare ab. Die Menschen trugen nämlich lange Haare, die sie vor der Kälte schützten. Wenn es Sommer wurde, legten Frauen und Männer ihre Haare in ein geflochtenes Netz. So mußten sie im Sommer nicht schwitzen, und beim ersten Einbruch der Kälte hatten sie wieder ihre warmen Haare. Die Kinder hingegen trugen die Haare immer lang, oft bis zur Hüfte, damit Kopf, Hals und Rücken am besten geschützt wurden. Die Fingernägel wurden nicht geschnitten; sie wurden abgekaut. Gekaut wurden auch die mit Fett eingeriebenen, noch steifen Felle,

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um sie beweglich zu machen: das taten jetzt Tunulig und Fagayuk. Tunulig, die um die fünfzig Sommer zählte und eine sehr alte Frau war, hatte ganz abgebissene Schneidezähne, abgekaut beinahe bis zum Zahnfleisch. Daher bekam sie, zusätzlich zu ihren Rheumatismus- und Arthritisschmerzen, manchmal Zahnschmerzen. Da mußte sie aber kein Bild malen, da war kein Geist in sie gefahren. Denn wenn der Pferdegeist in den Menschen und in die Zähne fährt, tut es furchtbar weh. Geht der Schmerz nach wenigen Stunden wieder weg, wie bei Kopfschmerzen oder dem Ziehen in Tunuligs Vorderzähnen, so hatte der Geist den Weg selbst nach draußen gefunden. Überhaupt glaubten die Mammut-Menschen nur bei einigen Krankheiten, daß der Tiergeist in den Menschen eingedrungen war: bei Ohrenschmerzen, starken Zahnschmerzen, Bauchschmerzen, bei eitrigen Entzündungen und anderen Schmerzen ohne ersichtlichen äußeren Grund. Verletzungen, Wehen, Kopfschmerzen, Rheuma und Arthritis - die so gut wie jeden alten Menschen befielen - hatten die Ursachen, die sie nun einmal besaßen. Sie hatten nichts mit den Tiergeistern zu tun. Das galt auch für andere Krankheiten wie Lungenentzündung: Wer zu lange im Wind umherlief ohne Überfell, der erkältete sich am Wind. Bei anderen häufigen Krankheiten wie Skorbut hingegen waren die Menschen nicht so sicher, ob sie äußere Gründe hatten oder ob vielleicht doch ein Tiergeist am Werk war. In Zweifelsfällen wurde das Bild gemalt.

Gukall und Aiyuk setzten sich Seite an Seite, jeder vor einem Knochenamboß. Aiyuk legte einen flachen, von ihm nur gering behauenen Feuerstein auf den leicht konvexen, breiten Schulterknochen. Mit dem Basalthämmerchen, das auf der anderen Seite abgeflacht war, schlug er auf das breite Ende einer spitzen Geweihsprosse vom Hirsch. Das spitze Ende seines Geweihmeißels drang immer wieder in den Stein. Bei jedem Schlag spritzte ein Splitter beiseite und hinterließ einen Kegel. So flachte Aiyuk den Stein auf beiden Seiten ab und gab ihm eine Spitze. Für die Fein-

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arbeit nahm er eine noch kleinere Geweihsprosse und fuhr mit sachten Schlägen die eine Seite bis zur Spitze, dann die andere Seite entlang. Nun hielt er den Meißel in einem immer flacheren Winkel und brach, eine Reihe hinter der anderen, immer winzigere Splitter aus dem Stein. Am Schluß legte er den Hammer beiseite und hielt den Finger unter der Schneide der Speerspitze. Den Meißel benutzte er nun als Hämmerchen; mit dem Finger fing er den behutsamen Schlag auf. Nun wurden die Kegelränder glatt geschlagen. Auf diese Weise entstand eine auf beiden Seiten behauene, äußerst scharfe Kante, die der Spitze zu immer schärfer wurde. Aiyuk legte die Speerspitze beiseite. Dann griff er zu seinem Messer, um es zu schärfen. Auch Tunulig und Lucuwat brachten ihre Messer zum Schärfen.

"Ich mache dir einen Speer", sagte er zu Lucuwat, die ihren Arm um seine Schulter gelegt hatte.

Aus den Splittern der großen Speerspitze hämmerte er in wenigen Minuten zwei kleine Speerspitzen. Er band sie mit einem Lederriemen an ein Holz, indem er das flache Ende der Speerspitze in eine mit Harz gefüllte Kerbe des Stocks einließ.

"Wir gehen bald zusammen Speerwerfen, ja?" sagte er zu ihr. "Ich will nur noch ein paar Speerspitzen nachschärfen."

Er suchte alle Schlafstätten ab und schärfte Eschonas, Kukikatugaks und Hikiijauts Speerspitzen.

Hand in Hand gingen Aiyuk und Lucuwat den Abhang hinab, zu den drei Hyänenkadavern. Zehn Schritte vor dem ersten Kadaver blieben sie stehen. Aiyuk kniete hinter der kleinen Lucuwat und legte ihr den am hinteren Ende gehakten Speerwerfer in die Handfläche.

"Ich weiß schon", sagte sie verärgert.

Aiyuk nickte und streichelte ihr über den Kopf.

"Ich weiß. Du wirst einmal eine große Jägerin werden."

Stolz nahm Lucuwat den rechten Arm zurück, hakte mit der linken Hand den Speer in den Speerwerfer ein und warf, daneben.

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Schon der zweite Wurf traf die Hyäne am Hinterschenkel. Danach gab es fast immer das hohle "Plock", als der Speer in den harten Leib eindrang. Dann begann Aiyuk zu werfen. Später kamen Oschet und Teschadjuk hinzu.

So verwendeten die Menschen auch das unangenehmste aller Tiere, die Hyäne. Genauso wenig wie den Wolf konnte man sie essen. Das Fell war zu unregelmäßig, als daß man es hätte verwenden können, im Gegensatz zum Wolf und Fuchs. Daher nannten die Menschen die Hyäne auch das "Zielscheiben-Tier-mit-den-Flecken". Der Wolf hieß auch "Grauer Heuler", der Fuchs "Weißpelz", die Eule "Großauge", das Mammut "Langnase", der Bär "Braunpelz" oder "Mensch-im-Pelz", das Pferd "Renn-Bein", der Löwe "Reiß-auf-das-Maul". Der Vielfraß wurde "Stink-Pisser" genannt, da er die Angewohnheit hatte, die menschlichen Lebensmittellager zu plündern und mit seinem scheußlich stinkenden Wasser zu verunreinigen.

All diese Namen wurden jedoch selten gebraucht, meist nur noch von Kindern. Auf diese Weise merkten sich die Kinder alle Namen leichter. Da man die Kinder auf die Jagd mitnahm, sobald sie fünf oder sechs Sommer zählten, lernten sie bald, wie die Tiere mit dem richtigen Namen hießen. Lucuwat kannte längst alle Tiere und fast alle richtigen Tiernamen.

So verging der Tag. Am späten Nachmittag bemerkte Aiyuk schwarze Punkte in der Ferne, die langsam näher kamen. Es waren Kukikatugak und Tore und die anderen. Aiyuk ließ den Arm mit seinem Speer sinken und sagte zu Lucuwat: "Wirf du allein weiter. Die anderen kommen."

Tore kommt, dachte er. Tore, jetzt will ich dich fragen, sobald ihr den Bären gehäutet habt.

Doch die Mammut-Menschen häuteten den Bären nicht. Niedergeschlagen kamen zuerst Eschona und Kukikatugak mit den Stangen auf den Schultern näher, dann die anderen, Tore am Schluß. Es gab keinen Bären.

Aiyuk legte den Arm um Kukikatugak, als sich alle ans Feuer gesetzt hatten. Tunulig machte ein besorgtes Ge-

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sieht; ihre Sorge pflanzte sich in den anderen Menschen fort. Aiyuk wußte schon, was passiert war.

" Es waren zuerst Wölfe", sagte Eschona müde. " Obwohl wir den Bären mit Steinen gut zugedeckt hatten, haben sie ihn ausgegraben. Dann waren die Hyänen da. Am Schluß kam der Vielfraß. Er hat überall sein Stinkwasser gemacht, wir konnten nicht einmal das Gehirn entfernen. Wir haben nur die Krallen mitgebracht."

"Der Weg über den Berg wird noch schwieriger", meinte Tunulig. Dann blickte sie hinaus in die Dämmerung und in das zarte blaue Licht der Schneebene. Nichts bewegte sich, kein einziges Tier regte sich.

"Dann warten wir am besten zwei Tage länger und stellen inzwischen Fallen auf."

Niemand antwortete ihr: das war die einzige Lösung, um zu mehr Proviant für die zehntägige Bergüberquerung zu kommen. Natürlich — in den Bergen jagten die Menschen oft Steinböcke, die gut schmeckten und deren Haut für Säcke und Trinksäcke nützlich war; daher gab es Steinböcke immer nur im Frühjahr und Herbst, wenn man die Berge überquerte. Doch wer konnte mit Bestimmtheit sagen, ob die Menschen das Glück haben würden, die scheuen Steinböcke zu erjagen? Es hatte viele Bergüber-querungen gegeben ohne auch nur einen einzigen Steinbock zu sichten, geschweige denn mit dem Speer zu treffen.

Noch am selben Abend bauten die Menschen Kleintierfallen aus Holzstangen mit einem Fallgitter. Wenn ein Hase die Falle betrat, um die Trockengräser zu essen, oder ein Schneehuhn, um die Körner zu picken, schnappte das Gitter zu. Denn das Gitter wurde von einem kleinen Stöckchen hochgehalten. Wenn das Tier durch die enge Öffnung ins Innere trat — denn die Körner und Gräser wurden genau in die Mitte der Falle gelegt - bog es das obere Gitterende nach außen. Damit brach das Stöckchen entzwei und das Gitter sauste nach unten. Das Tier war gefangen. Da es nicht verletzt war, litt es nicht und war zugleich frisch, wenn die Jäger die Fallen aufsuchten.

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In den nächsten Tagen wurde konzentriert gearbeitet. Ersatzspeerspitzen wurden aus dem Stein gehämmert, besonders dicke Felle und Tragesäcke wurden aus den neuen Bären- und alten Renfellen geschnitten und vernäht. Das gelagerte Bärenfleisch wurde im Bodensilo mit mehreren Steinschichten bedeckt. Und weil der Frühling nahte, hatten die Mammut-Menschen wenigstens im Kleinen Glück, denn viele Tiere kamen aus ihren Verstecken. Die Fallen fingen zehn Hasen, zwölf Schnee- und Rebhühner, drei Krähen und zur großen Freude der Menschen sieben Enten. Die Enten schmeckten nicht nur gut: ihre Anwesenheit bedeutete Frühling.

Vor dem Marsch aßen die Menschen viel und räucherten noch mehr Fleisch als Proviant. Sie aßen sogar das Bärenfett, um sich ein kleines Fettpolster anzulegen; das taten sie vor der Frühjahrswanderung und vor dem Winter.

So bereiteten sich die Mammut-Menschen auf die Frühjahrswanderung vor.

Viele Tage lang hatte Aiyuk nicht mehr an die Frage gedacht, die ihn so beschäftigte. Dann kam die Nacht vor der großen Wanderung. Alle schliefen schon außer Eschona, der oben auf dem Hügel in dieser Nacht Augen-Mensch war. Aiyuk stand auf, das Wisentfell um sich geschlungen, und legte sich zu Tore, der erstaunt den Kopf wandte.

"Ich muß mit dir sprechen. Du bist alt genug, um es zu wissen. Wenn du nichts weißt, werde ich Tunulig fragen."

"Ich werde antworten", sagte Tore nach langem Zögern, und seine Mundwinkel waren in ängstlicher Erwartung leicht nach außen gezogen.

"Ich will wissen, woher ich komme. Ich will wissen, warum Tunulig nichts gesagt hat, als mich Kukikatugak einen Pferde-Menschen nannte."

Tore zuckte zusammen und schwieg. Nach langer Pause sagte er: "So viel will ich dir sagen, so viel darf ich dir sagen: Deine Mutter hieß Igiluk. Sie zählte sechzehn Sommer bei deiner Geburt. Sie war der sanfteste Mensch, den ich je

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gekannt habe. Sie starb bei deiner Geburt. Und nun laß mich."

Tore drehte sich auf die andere Seite. Nach wenigen Augenblicken entfernte sich Aiyuk und ging zurück zu seiner Schlafstätte neben Kukikatugak.

Igiluk, Igiluk, Igiluk also. Ich habe diesen Namen noch nie gehört. Wir reden doch oft über die Toten. Noch nie gehört. Sechzehn Sommer, sanfte Igiluk. Wenn sie sanft war, warum erwähnt man ihren Namen nicht? Ein sanfter Mensch kann nichts Böses tun.

Aiyuk blieb lange wach. Tores Antwort, die ihn hätte zufriedenstellen sollen, berunruhigte ihn noch mehr als vorher.

Wer war Igiluk?

Noch beim Einschlafen dachte er: Warum spricht niemand jemals über Igiluk?

Aiyuk lag im Tiefschlaf, als ihn Kukikatugak wachrüttelte. Es war noch Nacht. Aiyuk schloß die Augen.

Igiluk?

Dann dachte er nicht mehr an den Namen. Er riß die Augen auf, sein Oberkörper schnellte hoch. Alle anderen waren schon wach, aßen und packten die Tragetaschen. Das war Aiyuk noch nie passiert. Wie konnte er nur schlafen, während die anderen die große Wanderung vorbereiteten?

"Das Füchslein will wohl noch im Bau bleiben", sagte Kukikatugak und grinste.

Aiyuk griff unter sein Fell, das ihn rundherum bedeckte, und warf eine Handvoll Trockenfarne in Kukikatugaks Gesicht. Kukikatugak wehrte lachend ab und ließ sich nicht beim Bepacken eines Lebensmittelsacks stören.

"Wenn du so viel Farn übrig hast, kannst du meine Farne auch tragen, weil ich den größten Fleischsack trage."

Aiyuk nickte.

Kukikatugak war der größte der Mammut-Menschen und vermutlich der stärkste. Genau wußte das niemand, da die Menschen ihre Kräfte nie gegeneinander maßen. Sie interessierte nur, wer viel tragen konnte. Doch auch der

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größte Mensch brauchte Farne und Trockengräser zur Unterlage; umso mehr in den Bergen, wo der Boden noch viel kälter war als in der Höhle.

Überall wurde gepackt. Zwischen den x-förmig ausgebreiteten Tragestangen lagen Zeltfelle in mehreren Schichten, und darüber lag Brennholz. Es war mühsam genug gewesen, das Holz von der Sonnenrichtung her zur Höhle zu bringen. Noch mühsamer war es, den Holzvorrat über die Berge zu schleppen: Nahmen die Menschen zu viel mit, vermochten sie das Holz nicht zu tragen; nahmen sie zu wenig mit, mußten sie erfrieren oder waren den Wölfen ohne Schutz des Feuers ausgeliefert. So verstaute Tunulig das Holz langsam und überlegt. In jeden Tragesack - denn jeder außer den Kindern trug einen eigenen Sack mit Farnen, Speerspitzen, Farben, Feuerhölzern, Messern, einige mit Nähnadeln - steckte sie noch ein paar daumendicke Äste. Das war die Notration; in den Bergen war das Holz oft wichtiger als das Fleisch. Auch viel Talg nahmen die Menschen mit und viel Harz für die zahlreichen Fackeln. Die Trinkschläuche wurden geleert, denn in den Bergen gab es genug Schnee, und die Schläuche waren so schwer. Mörser und Mörserkeulen, die größten Schaufeln, einige Felle und viele rohe Steinblöcke wurden in der Höhle zurückgelassen, für den nächsten Winter oder für den Menschen, der sie gerade brauchte.

Auf jeden wurde geräuchertes Fleisch verteilt, in genau gleichen Portionen. Kukikatugak trug den Rest; der Sack erwies sich aber als zu schwer, und so leerte er einen Teil in das Lebensmittelsilo. Über das Fleisch legte er Schieferplatten in mehreren Schichten, dann einen zurückgelassenen Knochenamboß und einen Mörser. Das Loch wurde mit Erde zugeschüttet und festgetreten.

Aiyuk schulterte den schweren Sack über sein Wisentfell, denn jeder trug ein, oft drei schwere Felle übereinander, damit die Felle nicht getragen werden mußten. Tore legte, beinahe entschuldigend, die Hand auf Aiyuks Schulter und fragte: "Ist das nicht zu schwer?"

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"Nein, es geht gut. Kannst du deinen Sack tragen?"

Tore nickte. Er ging zu den Tragestangen am Boden, bückte sich mühsam und sagte: "Ich bin bereit."

Aiyuk griff zu den Stangen, dann Eschona und Hikiijaut. Tore tat, als merkte er nicht, daß Aiyuk hinter ihm stand. Etwas nervös sagte er, und es war nicht seine Art, so viel zu reden: "Vergeßt die Fackel nicht, es ist noch Nacht. Seid ihr bereit? Der Berg ruft. Bald kommen die großen Herden."

Hiküjaut, die neben Aiyuk stand, lächelte. Aber Aiyuk verstand wohl, warum Tore so viel gesprochen hatte. Er hatte Angst - Angst vor Aiyuks Fragen, und Aiyuk wußte nicht warum.

Aiyuk war gezwungen, alle Fragen beiseite zu legen. Die Mammut-Menschen brachen auf.

Niemand sprach. Lucuwat weinte. Der Aufbruch aus dem sicheren Winterlager erzeugte immer Unbehagen und oft Trauer. Die Überquerung der Berge war für alle gefährlich. Die Höhle war gut zu ihnen gewesen. Der Stein, der sonst kalt war, hatte sie warm und sicher gehalten. Die Höhle - das bedeutete Sicherheit und Geborgenheit. Dem Stein der Höhle gebührte Dank, und so mischten sich Unbehagen, Trauer, Dankbarkeit und auch Angst. Nur die Aussicht auf die großen Herden trieb die Menschen an. Außerdem war es Brauch, jedes Frühjahr denselben Weg zu gehen und nie einen anderen. Vor undenklichen Zeiten, so hatte es Aiyuk aus Tunuligs Mund gehört, waren alle Menschen im Sommer zusammengekommen. Sie hatten im Einvernehmen beschlossen, welche Gemeinschaft welchen Weg zu nehmen habe, damit jede Gemeinschaft genug Fleisch und immer eine trockene Unterkunft hatte. Die Wanderwege wurden so vereinbart, daß sie sich mindestens einmal im Jahr kreuzten — die Menschen lieben die Menschen und wollen Menschen sehen und wollen selbst gestreichelt werden.

Die Berge und die große Wanderung: das war die ungewisse Zukunft. Die Menschen lebten jedoch in der Gegen-

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wart. Die Zukunft bedeutete Gefahr. Aber wo die Herden grasten, da waren auch die Menschen.

So zogen die Mammut-Menschen aus ihrem Winterlager. Tunulig und Oschet gingen mit Fackeln voran, Kuki-katugak bildete den Schluß. Die Menschen zogen über die Berge, die man später Pyrenäen nennen würde, durch ein Land, das man später Andorra nennen würde, hinab in die Ebene, vorbei an der Bison-mit-den-zwei-Speeren-Höhle, genau in Richtung der Nacht bis zur Höhle-mit-den-vielen-Stieren.

Am späten Nachmittag waren die Mammut-Menschen am Fuß der großen Berge angekommen. Hier blieben sie für die Nacht.

Zuerst hoben sie eine zehn mal fünf Schritte große Vertiefung mit den Knochenschaufeln aus. In einem flachen Winkel gegeneinander legten sie die Dachstangen, die in der Mitte von einer langen Stange gehalten wurden. Darüber wurden die großen Wisentfelle gelegt, auch über die beiden Enden. Auf diese Weise hatten die Menschen eine warme Unterkunft, deren Dachfirst bis zur Gürtelhöhe eines Menschen reichte. Man schob am Ende ein Fell beiseite und stieg zwei Stufen hinab. Die Felle wurden am äußersten Rand, auf der Erde, mit Schnee und Felsbrocken beschwert. In der Mitte des Langzelts ließen die Menschen die Felle einen Spalt offen. Hier zog der Rauch ab.

Das Feuer machten die Menschen so: Doregak, der sehr geschickt war mit dem Feuer, legte ein flaches Holz auf den Boden. Im rechten Winkel dazu nahm er ein rundes Holz in die Hände; das Holz war zweimal so lang wie eine Menschenhand. Mit den ausgestreckten Fingern und Handflächen fuhr er hin und her von oben nach unten, so daß sich das Rundholz in einer Kerbe im Flachholz rasend schnell drehte. Nach kurzer Zeit rauchte das Flachholz, rauchte immer mehr, und als Doregak schließlich trockenen Farn darauf legte und vorsichtig darauf blies, sah er ein kleines Glimmen. Noch ein Stück Farn, dann Rindenstückchen: und auf dem Flachholz züngelte das erste Flämmchen.

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Doregak, ruhig und geschickt, zündete auf der Wanderung mit seinen Feuerhölzern immer das Nachtfeuer an.

Es wurde Nacht. Vor dem Zelt zündete Aiyuk ein zweites Feuer an. Heute nacht, zumindest für die halbe Nacht, war Aiyuk Augen-Mensch. Er fürchtete sich nicht. Zwei Schritte hinter ihm lagen, dicht nebeneinander, die Mammut-Menschen.

Aiyuk ging um das Feuer herum, Speer und Speerwerfer fest in der rechten Hand, zwei Ersatzspeere in der linken. Nein, es bestand kein Grund, Angst zu haben. In zehn Tagen würden die Menschen die Berge überquert haben. Auch nahte kein Sturm - der Himmel war wolkenlos und glitzerte und blitzte mit tausend Sternen. Aiyuk schaute lange zu den Sternen empor. Tunulig hatte ihm davon erzählt als er ein kleiner Junge war, und er wiederum hatte Lucuwat erzählt, was es mit den Nachtfeuern auf sich hatte. Abends wurde die Sonne nämlich müde vom vielen Leuchten und wollte sich zur Ruhe legen. Aus ihrem Bauch holte sie einen Wisentsack, in dem viele kleine Feuer lagen. Mit der Hand griff die Sonne in den Sack und streute die kleinen Feuer weit über den Himmel. So konnte sich die Sonne am nächsten Morgen nicht verirren, da es nun im Dunkeln leuchtete, doch ohne daß es Tag wurde. Am nächsten Morgen begann die Sonne, ausgeruht zu leuchten, und ihr Leuchten überstrahlte die unendlich vielen kleinen Nachtfeuer. Da kehrten sie in den großen Wisentsack zurück und wurden im Bauch der Sonne verstaut, bis zur nächsten Nacht.

Aiyuk blickte in die Nacht der grauen Berge. Von den Tälern, weit, weit weg, drang das Heulen der Wölfe zu ihm. Es störte ihn nicht. Früher war es ihm immer unheimlich gewesen als Augen-Mensch. Nun aber hatte er sogar gebeten, heute nacht Augen-Mensch zu sein. Kukikatugak hatte sich gewundert. Tunulig schaute ihn scharf an, während sich Tore an den Fellen zu schaffen gemacht hatte. Tunuligs scharfer Blick war Aiyuk entgangen, so sehr hatte sich Aiyuk darauf gefreut, mit den Gedanken allein zu sein.

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Igiluk? Meine Mutter hieß Igiluk. Warum wollte Tore nicht mehr sprechen? Wo war Igiluk? War sie ein Mammut-Mensch?

Am nächsten Morgen nahm Aiyuk zusammen mit Tore die Dachfelle ab, obwohl ihn Tore sanft beiseite geschoben hatte: "Das kann ich allein."

Aiyuk legte seine Hand auf Tores Unterarm und fragte: "War sie ein Mammut-Mensch?"

Mit einem gewaltigen Ruck riß Tore das Fell von den Stangen. "Sie war ein Pferde-Mensch", sagte er hastig. "Wir müssen uns beeilen. Der Weg ist heute weit."

Aiyuk antwortete nicht.

Ein Pferde-Mensch. Ein Pferde-Mensch also. Kukikatugak hatte recht, obwohl er nichts wußte. Sie war kein Mammut-Mensch. Aber das ist doch kein Grund, nicht über sie zu reden. Wir mögen die Pferde-Menschen. Kukikatugak sagt, sie würden nicht so gut jagen wie wir, aber das sagt er nur zum Spaß.

Den ganzen Tag verbrachte Aiyuk mit diesen Gedanken, während die Mammut-Menschen den mühsamen Aufstieg begannen. Am frühen Nachmittag wurde der Schnee immer tiefer. Der feste, tiefe Schnee verscheuchte alle Gedanken, die nicht überlebenswichtig waren. Aiyuk, der wieder an den Stangen zog, sackte bei jedem Schritt bis zu den Knien, dann bis zu den Oberschenkeln ein. Wie alle anderen keuchte und schwitzte er. Immer öfters wurden Pausen eingelegt. Es fing zu regnen an. Der Regen gefror sofort an der Schneeoberfläche. Aiyuk brach bei jedem Schritt in den weichen Schneeuntergrund ein. Bei jedem Schritt schnitt die Eiskante in seine ungeschützten Knie und in die Oberschenkel, die vor Kälte schon ganz rot waren. Die blutigen Kratzspuren an den Knien mehrten sich. Jeder Schritt wurde zur Qual.

"Halt", stöhnte Oschet, "es tut so weh. Wir müssen halten."

"Wir brauchen eine windgeschützte Stelle", sagte Eschona.

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"Er hat recht", sagte Aiyuk. "Im tiefen Schnee können wir kein Feuer anzünden."

Und so zogen die Menschen weiter, immer höher hinauf, mit blutenden, zerschundenen Knien. Eschona hatte die weinende Lucuwat auf den Rücken genommen. Völlig erschöpft stieß er in langen weißen Wolken den Atem in die kalte Luft hinaus. Tore und Tunulig blieben immer weiter zurück; immer verbissener durchbrach Kukikatugak mit seinen großen Füßen die Eisschicht. Er bahnte den Weg für die anderen; wer in seine Fußstapfen trat; riß sich das Knie nicht auf. Auf diese Weise ging es etwas besser. Das Kleinkind, das Fagayuk trug, hatte zu schreien begonnen und war nicht zu beruhigen.

Kukikatugak drehte sich um und rief: "Da vorne!"

Auch die anderen sahen es nun: ein kleiner Felsüberhang, so hoch wie ein Mensch, unter dem nur wenig Schnee lag. Fünf große Schritte lang war der Weg flach, und da konnten die Menschen schlafen.

Kukikatugak warf sich keuchend auf die Erde. Aiyuk riß die Säcke von der Schulter und legte sich kurz neben Kukikatugak.

" Das war schlimm", sagte er. Da erst sah er, warum Kukikatugak stöhnte. Seine Knie waren völlig aufgerissen und bluteten noch immer. Obwohl er sich vor Erschöpfung kaum regen konnte, kroch Aiyuk zu Tunuligs Sack hinüber und schmierte die Bärenfettsalbe auf die Handflächen. Damit rieb er zuerst Kukikatugaks Knie und Oberschenkel ein, dann die eigenen.

Langsam, einer nach dem anderen, erhoben sich die Menschen und begannen, die Stangen schräg gegen den vorkragenden Teil des Felsvorsprungs zu lehnen. Darüber banden sie die Felle. Am Feuer erholten sie sich wieder. Die Erschöpfung wich dem vertrauten Beisammensein, und so fühlten sich die Menschen wieder wohl. Kukikatugak konnte seine Knie wieder bewegen, und als Aiyuk nach außen trat, um Augen-Mensch zu sein, bemerkte er belustigt: "Das Füchslein will denken."

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Aiyuk sagte nichts. Die Nacht war ohne Sterne. Aiyuk starrte lange ins Feuer. Plötzlich schreckte ihn das Heulen der Wölfe auf. Es war nicht mehr so weit entfernt, aber noch nicht nahe.

Lucuwat setzte sich zu ihm. Hatte sie Tunulig geschickt? Aber das glaubte er nicht, denn sofort streichelte sie seinen Bart und flüsterte: "Horch!"

"Ja", sagte er. "Die Wölfe sind weit weg, Kind. Da brauchst du keine Angst zu haben."

"Die Wölfe sind aber doppelt", sagte Lucuwat.

"Doppelt?" Aiyuk überlegte. "Doppelt — ja, du meinst, das hallt in den Bergen. Ja, der Stein ist so hart und will die Stimmen nicht schlucken. Daher nimmt er sie und wirft sie zurück."

Trotzdem schmiegte sie sich an ihn.

"Weißt du", begann er, "vor den Wölfen mußt du keine Angst haben. Sie sind nicht böse, kein Tier ist böse. Die Wölfe waren sogar einmal Menschen. Willst du die Geschichte hören?"

"Ja, aber nur wenn ich keine Angst haben muß."

"Nein, ganz bestimmt nicht. Vor den alten Geschichten muß man sich nicht fürchten, denn sie sind wahr und helfen uns, die Tiere zu verstehen. Es war so. Einst gab es andere Menschen als uns. Sie hatten einen größeren Kopf und waren stärker als wir, aber sie waren nicht klüger. Die Mammut-Menschen und die Pferde-Menschen erzählten sich schreckliche Dinge über sie. Reden konnten wir nicht mit ihnen, weil sie nicht so sprachen wie wir. Sie grunzten viel. Es ging bei uns Menschen das Gerücht, daß wenn bei ihnen jemand starb, die anderen Dickkopf-Menschen das Gehirn des Toten aufaßen. Das ist für uns so böse, daß wir es nicht verstehen. Ja und da aßen diese Dickkopf-Menschen immer mehr Dickkopfgehirn und wurden immer böser, aber weil sie mit dem Gehirn dachten, so wie wir, wurden sie auch klüger. Am Schluß hatten sie so viel Gehirn gegessen, daß es niemanden mehr gab. Und so lebten diese Dickkopf-Menschen nicht mehr. Alle starben. 

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Die, die Gehirne gegessen hatten, verwandelten sich in bissige Tiere. Die Gehirnesser wurden zu Wölfen, und darum lieben wir die Wölfe nicht wie die anderen Tiere. Der Wolf hat die Stärke eines Menschen, aber die Klugheit von fünf Menschen. Er hat ja auch viel Dickkopf gehirn gegessen. Darum ist der Wolf besonders gefährlich. Der Fuchs ist aber nicht gefährlich, weil er zwar die Klugheit von zehn Menschen besitzt, aber nur die Kraft von Fagayuks Kleinkind, deiner Schwester. Wir brauchen den Wolf nicht zu fürchten, denn er kommt selten zu den Menschen. Und wenn sein Geist stirbt, kehrt er zurück zu den anderen Wölfen und tut dem Menschen nicht weh. So gibt es nie zu viele Wölfe, weil die Geister der toten Wölfe oft in die lebenden Wölfinnen eindringen und die Ungeborenen erschrecken.

Siehst du: so ist das mit den Wölfen. Weil es nicht zu viele Wölfe gibt, kommen sie selten zu den Menschen, da sie ihre Beute woanders finden. Und nun geh schlafen, denn du mußt morgen viel laufen."

Lucuwat streichelte seinen Oberarm, zeigte die gerollte Zunge zum Gruß und verschwand.

Lucuwat hatte Aiyuks Nachdenklichkeit vertrieben. Heulen die Wölfe, fragte er sich, weil sie einmal Gehirn gegessen haben, was gegen das Gesetz verstößt?

Noch viele Tage zogen die Menschen über die Berge. Mit jedem Tag kamen sie langsamer voran. Doch die Knie schmerzten nicht mehr, da die Menschen Fellstreifen um die Knie gewickelt hatten. Dafür schmerzten die bloßen Hände und das Gesicht immer mehr: Der Wind blies immer kräftiger. Es schneite oft. Auch dagegen besaßen die Menschen ein Mittel, das "Enten-Mittel". Sie rieben Gesicht, Hände und Arme mit schwerflüssigem Bärenfett ein, das wie eine Schutzschicht vor Sonne, Wind, Mücken und Schnee wirkte. So kamen die Menschen voran, bis sie ein plötzlicher Schneesturm zwang, an einer Felswand zu kampieren. Sie gruben sich ein, legten Felle über die an die Felswand gelehnten Stangen und warteten. Aber anstatt nachzulassen, blies der späte Wintersturm immer

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heftiger; er pfiff durch die Ritzen und stieß die Flamme hin und her.

Schon dauerte der Sturm drei Tage, und am dritten Tag sagte Kukikatugak: "Das Essen reicht nur noch für vier, vielleicht fünf Tage."

Tunulig schaute ihn an und schaute wie durch ihn hindurch. Dann meinte sie: "Der Sturm wird heute nacht zu Ende sein."

Kukikatguk war zuerst ernst, dann aber grinste er und lachte: "Es gibt bald Ren in meinem Magen."

Die angespannte Atmosphäre war mit einem Schlag gewichen. Aiyuk lachte nun auch und sagte: "Dann wird dein Bauch noch dicker." Nun lachte auch Eschona, sogar Tore und Tunulig lachten. Die Menschen freuten sich wieder.

Es kam wie Tunulig vorhergesagt hatte. Noch in derselben Nacht brachen die Menschen auf. Der Schnee war leicht wie Ockerpulver, und die Menschen brauchten keinen Knieschutz mehr. Sie kamen schnell voran.

Ab und zu dachte Aiyuk an Igiluk. Abends war er, wenn er nicht Augen-Mensch war, so erschöpft, daß er wie die anderen sofort einschlief. Am Tag ging Lucuwat meist an seiner Seite, und sie sprachen viel über Wölfe und Füchse und Bilder in den Höhlen. Aiyuk versprach, ihr die Höhle-der-vielen-Mammuts zu zeigen, die nicht weit von ihrem Sommerlager entfernt lag. Auch die Höhle-der-rennen-den-Wisents wollte er ihr zeigen. Vor dem Einschlafen ritzten sie Renbilder in Lucuwats Speerwerfer. Auch Kukikatugak setzte sich dazu und begann zu ritzen. Bald aber warf er ärgerlich den Knochenstift auf den Boden und schaute seine großen, schwieligen Hände an. Aiyuk lachte, und Kukikatugak sagte: "Was soll ich Rene ritzen. Ich esse lieber, das kann ich besser. Vielleicht sehen wir bald Steinböcke."

Aber am nächsten Tag hörten sie nur das Heulen der Wölfe, das immer näher kam. Die Menschen schwiegen und horchten, und horchten den ganzen Tag. 

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Am Abend sagte Kukikatugak: "Es ist besser, heute nacht zwei Augen-Menschen zu haben."

Er und Gukall legten ein besonders großes Feuer vor dem Zelt und nahmen die Langspeere in die Hand, die nur für große Tiere wie Mammut und Wisent und wolliges Nashorn benützt wurden — und für die Wolfsschädel. Neben sich legten sie die kürzeren Speere und den Speerwerfer.

Das Heulen der Wölfe schien einmal näher, dann weiter entfernt. Die Felswände gaben jeden Wolfston mehrfach wieder, und daher vermochten auch die erfahrenen Jäger nicht zu sagen, ob da zehn oder zehn mal zehn Wölfe lauerten. So vertraut wurde das Geheul, daß Aiyuk darüber einschlief. Mit einem Mal wachte er auf. Es war totenstill. Die absolute Stille dauerte nur wenige Augenblicke. Dann kam KukikatugaksRuf: "Wölfe!"

Hikiijaut und Aiyuk waren zuerst vor dem Zelt und schrien und fuchtelten mit den Armen. Zuerst sahen sie nichts, dann das Glitzern der Augen. Kukikatugak stand gebückt, wenige Schritte vor dem Feuer. Mit beiden Händen hielt er den Langspeer. Vor ihm knurrte es, dann sauste sein Speer auf die Schnauze eines Wolfs nieder. Es krachte dumpf, ein Wolf jaulte leise. Dann Stille. Kukikatugak hatte auf die Nasenspitze gezielt und das Nasenbein zerbrochen. Der nächste Schlag saß auf dem Kopf, und Aiyuk sah, wie der Wolf zusammenbrach und Blut spuckte. Er sah einen schwarzen Schatten hinter dem Feuerschein. Da ließ er den Speer vom Speerwerfer schnellen. Das "Plock" des Aufschlags nahm er nicht wahr, schon hatte er den zweiten Speer in den Speerwerfer eingehakt. Hikiijaut nahm einen brennenden Scheit vom Feuer und warf ihn mit Geschrei in das Rudel. Nun konnten sie die Wölfe sehen. Aiyuk, Eschona und Teschadjuk warfen ihre Speere und trafen noch zwei Wölfe. Gukall, auf der anderen Seite des Feuers, nahm seinen Langspeer in die linke Hand und bückte sich, um nach einem Holzscheit zu greifen. Auf diesen Augenblick hatte der Wolfsanführer gewartet.

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Schneller als Gukall es wahrnehmen konnte, war der Wolf gesprungen. Schneller als ein Mensch zu denken vermochte, hatte Gukall seinen linken Arm schützend vor das Gesicht gehalten und den Speer fallengelassen. Der Wolf senkte seine langen gelben Zähne in Gukalls Arm. Von der Wucht des Sprungs fiel Gukall hinten über; der wild knurrende Wolf lag auf ihm und biß sich in seinen Arm fest. Seine Zähne drangen immer tiefer, und im selben Augenblick hatte er zu reißen begonnen. Vor Schreck hatte Gukall nicht einen einzigen Ton von sich gegeben. Aus dem linken Augenwinkel hatte Kukikatugak das Zähnefletschen gesehen. Im nächsten Augenblick nachdem der Wolf die Zähne in Gukalls Arm begraben hatte, sauste sein Speer auf den Nacken des Wolfs nieder. Die Wucht seines Schlags war so enorm, daß der Speer krachend entzwei splitterte. Der Wolf zuckte nur einmal kurz mit zerschmettertem Rückgrat und lockerte die Zähne. Aiyuk war mit einem Riesensatz über das Feuer gesprungen, und sein Messer, das das Herz des Wolfs aufriß, war nicht mehr nötig, um Gukall zu retten. Einen Augenblick lang sah Aiyuk nichts, von einer dicken Blutfontäne bespritzt. Dann packte ihn eine Wut auf die Wölfe, eine Wut, die ihn selten ergriff. Ohne auf die anderen zu achten, ohne auf Gukall zu achten, riß er dessen Speer an sich, sprang ins Halbdunkel und zerschmetterte einem Wolf mit einem im Kreis von oben nach unten geführten Schlag den Unterkiefer. Kukikatugak stand nun neben ihm und gebrauchte den abgebrochenen Speer als Prügel. Bei jedem Schlag krachten die Knochen. Rechts von Kukikatugak sauste Hikiijauts Speer vorbei und traf einen Wolf im Sprung, so daß er einen mannshohen Purzelbaum schlug und tot vor Aiyuks Füßen zu liegen kam. Urplötzlich ließ das Knurren nach; zwei Wölfe hechelten vor Schmerz; zwei Wölfe jaulten kurz. Dann war es still, und man hörte nur die Pfoten im Schnee. Aiyuk starrte in die Dunkelheit, und ein letztes Wimmern hinter ihm brachte ihn wieder zur Besinnung. Er strich das Wolfsblut vom Gesicht und leckte die Handflächen ab.

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"Mein Arm, mein Arm", stöhnte Gukall und verlor das Bewußtsein.

Tunulig und Eschona knieten schon neben Gukall. Der Unterarm war völlig aufgerissen; am Ellbogen blitzte der blutige Knochen im Feuerschein.

"Galle", sagte Tunulig.

Eschona zog Aiyuks Messer aus dem Wolf und schlitzte schnell aber vorsichtig den Wolfsbauch auf. Er zerrte den Pelz zurück, riß das Gedärm hervor und warf es beiseite. Sorgfältig löste er die pralle Galle aus dem Bauch, nahm sie in die Hände und hielt sie über Gukalls Arm. Tunulig ritzte die Galle an und goß den bitteren Saft in die Wunde, so daß Gukall noch in der Bewußtlosigkeit zusammenzuckte. Mit behenden Fingern löste Tunulig die Niere aus dem Wolfsbauch, drückte sie aus und wickelte die Nierenfetthaut um die Wunde.

"Noch eins", sagte sie.

Aiyuk und Eschona öffneten den nächsten Wolfsbauch und schälten die Nierenfetthaut heraus. Auch dieses Heilpflaster band Tunulig um die Wunde. Dann wurde Gukall ins Zelt getragen.

" Diese Wölfe", sagte Aiyuk.

" Sie hatten Hunger", antwortete Eschona. Damit war das Gespräch über die Wölfe beendet. Da die Menschen keine Wölfe aßen und wegen ihrer Bepackung keine Felle mitnehmen konnten, blieben die Wolfskadaver einfach liegen. Niemand kümmerte sich um sie.

"Wenn die Große Hitze kommt", meinte Tunulig, "müssen wir hierbleiben. Draußen in der Kälte wird Gukall sonst sterben."

Da sagte Fagayuk, und auch Eschona staunte: "Und wenn wir hierbleiben, stirbt der Kleine. Wir müssen weiter, wir haben kaum noch zu essen."

"Niemand wird sterben", antwortete Tunulig bestimmt, und ihre Augen blitzten. "Niemand stirbt. Denk an Gukall."

"Ich denke auch an das Kleinkind."

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"Alle werden leben. Wenn Gukalls Große Hitze heute nacht kommt, werden wir sie senken. In zwei Tagen ist er gesund. Dann gehen wir."

Fagayuk drehte sich weg und weinte, und als sie Eschona beruhigen wollte, drehte sie ihm den Rücken zu und ließ sich nicht streicheln.

Stumm hatte Aiyuk dem Wortwechsel zugesehen. So hatte er Fagayuk nie erlebt. Aber er verstand ihre Angst um das Kind, das ihr die Ruhe genommen hatte.

"Morgen jage ich einen Steinbock", sagte Kukikatugak, um sie zu beruhigen. Aber Fagayuks Rücken zitterte noch immer, und sie bewegte sich nicht.

Gukall schlug die Augen auf und sagte sofort: "Mein Arm - ich habe keine Schmerzen."

"Wir haben Galle in deine Wunde getan", beruhigte ihn Oschet, die sein Gesicht streichelte. "Morgen ist es wieder gut."

Am Morgen war es aber nicht gut, denn noch in der Nacht begann das Fieber. Gukall phantasierte und schwitzte unter den dicken Wisentdecken.

Am Morgen sagte Tunulig, die ihn besorgt anschaute: " Fagayuk hat nicht Unrecht. Wir müssen das Fieber schnell senken und dem Wundstarrkrampf vorbeugen, sonst sterben wir alle hier. Gukall muß den Schmerz aushalten."

"Ich werde ihn pflegen", sagte Oschet und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wußte, was jetzt passieren würde.

Eschona legte drei Speerspitzen ins Feuer. Kukikatugak und Aiyuk hielten Gukall fest, während Oschet Gukalls Kopf in den Händen wiegte. Gukall verlor sofort das Bewußtsein, als die erste Speerspitze in seiner offenen Wunde zischte; Tunulig hatte zuvor die harten Blutränder der Wunde ausgeschnitten. Dann wurde Gukalls Wunde zugedeckt. Um seine Unterschenkel und um den gesunden Unterarm legte Oschet kalte Umschläge aus Renfell, die mit Schnee eingerieben worden waren. Gukall zitterte und schwitzte und fror. Das Fieber raste. Unermüdlich strei-

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chelte ihn Oschet, machte ihm Umschläge, legte ihm Schnee an die Stirn, gab ihm zu trinken.

"Er muß leben, er muß leben", flüsterte sie und streichelte Gukalls Wange. Eine Träne tropfte auf Gukalls Stirn und vermischte sich mit seinem Schweiß. Da wußte Aiyuk mit einem Mal, daß er nie wieder mit der scheuen und stillen Oschet liegen würde. Sie hatte für den kranken Gukall das Gefühl bekommen, und Aiyuk war nicht traurig.

Außer Aiyuk hatte Tunulig sofort bemerkt, was geschehen war. Sie schaute zuerst Oschet, dann Aiyuk an. Sie legte ihre knöchrige alte Gichthand auf Aiyuks Unterarm und meinte still, so daß es nur Aiyuk hören konnte: "So ist aus etwas Schlechtem etwas Gutes entstanden."

Aiyuk nickte.

"Gut", stellte Tunulig fest.

Am Nachmittag kamen Hikiijaut und Kukikatugak mit einem riesigen Steinbock zurück. Mit einem Blick auf Fagayuk legten sie das Tier hin und begannen, zusammen mit Aiyuk und Tore, mit dem Ausnehmen. Kukikatugak gab Fagayuk den ersten Fleischstreifen. Aber sie aß nicht, so sehr schämte sie sich.

"Verzeih", bat sie Oschet. Oschet streichelte den Kopf des Kindes, das an Fagayuks Brust trank, und sagte: "Es ist gut."

Da fühlten sich die Menschen wohler. Gukalls Fieber war gesunken. Am nächsten Morgen fühlte er sich nur noch schwach. Sein Fieber war verschwunden. Aber sein linker Arm - blieb für immer steif.

Die Menschen rasteten noch einen Tag am selben Ort. Am nächsten Morgen brachen sie auf. Gukall wurde von Kukikatugak und Doregak gestützt; nun trug Aiyuk drei Säcke. Aber seine Knie waren geheilt, und die Tage, die mit Warten zugebracht worden waren, hatten alle gekräftigt. So stapften die Menschen schnell durch den Schnee, der überall taute. Jetzt ging es bergab.

Obwohl Aiyuk schwer an den Säcken zu tragen hatte, ging Lucuwat noch immer neben ihm. Sie unterhielten sich

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über die kreisenden Adler, über den weißen Bergschnee, über die unsichtbaren Steinböcke. Bei den Menschen gab es nämlich die Sitte, daß das Kleinkind die ersten zwei Jahre fast ganz bei der Mutter verbrachte. Dann aber wurde es zusehends von anderen Personen erzogen, ohne daß es der Mutter weggenommen wurde. Auf diese Weise erreichten die Menschen zweierlei: zum einen lernte das Kind von vielen Personen viele Dinge; zum anderen wurde es nicht ausschließlich an die Mutter gebunden - der Tod war allgegenwärtig, und der frühe Tod der Mutter die Wahrscheinlichkeit. Es war bei den Kindern üblich, einen oder zwei ältere "Freunde" zu besitzen, die das Kind besonders mochte. Sie brachten dem Kind besonders viel bei, indem sie es streichelten und liebten und lobten - aber nicht zuviel, damit es mit sich nicht zufrieden werden würde. Die Kinder durften alles, was ungefährlich war. So entdeckten sie selbst viel. Aiyuk war Lucuwats älterer "Freund", so wie Tore Aiyuks älterer "Freund" gewesen war.

Aiyuk blickte sich um und sah Tore mit Tunulig im Gespräch. Tore machte eine heftige Handbewegung. Als Tunulig aufschaute und Aiyuk sah, schwieg sie. Dann schwieg auch Tore, und ehe Aiyuk nachdenken konnte, sagte Lucuwat: "Komm weiter. Sind dir die Säcke zu schwer?"

"Nein, nein, Kind. Es ist alles gut." Und er erzählte ihr von den Adlern, die Eschona mit Murmeltieren in den Krallen fliegen gesehen hatte.

Aber es war nicht alles gut.

Am Abend gab es nur noch wenig zu essen. Den ganzen Weg war außer dem einen Steinbock kein anderes eßbares Tier zum Vorschein gekommen. Wer würde schon, außer beim Verhungern, einen Wolf verspeisen?

Am nächsten Morgen schien die Sonne ungewöhnlich stark. Gukall ging besser als am Vortag. Nun stützte ihn nur noch Doregak, so daß Kukikatugak wieder seinen Sack tragen konnte. Daher ging auch Aiyuk freier.

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Jetzt ging es immer steiler bergab. Trotz ihres Hungers liefen die Menschen immer schneller: den Hunger waren sie gewohnt, und am folgenden Tag wartete die Ebene, warteten die großen Herden auf sie.

In Aiyuk kam immer wieder das Bild von Tores heftiger Armbewegung auf. Was hatten die beiden nur gesprochen? Aber schon vergaß Aiyuk das seltsame Gespräch: die Knie zitterten, je steiler der Abstieg vonstatten ging. Aiyuk fragte sich, ob der Aufstieg mit dem Klopfen in der Brust nicht doch besser war. Ganz in Gedanken versunken hörte er als letzter das entfernte Grollen. Kukikatugak stieß ihn an: "Da - es kommt!" Die Sonne hatte weit oberhalb den Schnee gelöst. Das tiefe Grollen rollte zu ihnen am Hang, ließ die Luft erzittern. Oschet schmiegte sich an Gu-kall und sagte: "Ich bleibe bei dir."

Tunulig rief: "Niemand stirbt - da vorne hinter der Felskante!"

Sie rannten, rutschten, schlitterten um ihr Leben. Aiyuk keuchte und zitterte vor dem großen Schnee, der so viel gefährlicher war als der große Bär.

Jetzt sterben, jetzt schon? Den Bären kann man töten, aber der rollende Schnee begräbt alles.

Kukikatugak, Hikiijaut und Teschadjuk waren schon um die senkrechte Felswand verschwunden. Aiyuk packte die Stangen und zog mit Doregak, Fagayuk und Eschona. Sie wagten nicht, sich umzusehen. Das Grollen übertönte alle Worte. Eschona brüllte, Fagayuk weinte und schrie, aber Aiyuk verstand nichts. Sie rannten um die Felskante - weiter nach rechts — über ihnen gab es einen kleinen Felsvorsprung. Nun kamen auch Gukall und Oschet, und Tore und Tunulig. Aiyuk hatte die Stangen hingelegt und schob Tore und Tunulig an die Felswand. Die weiße Wolke donnerte schon heran - donnerte und stampfte mit einem Getöse, das Aiyuk noch nie aus der Nähe gehört hatte. Lucuwat war flach an den Felsen gedrückt, davor stand Aiyuk. Nun kniete er und umarmte sie. Da brach die große weiße Wolke über sie herein und ging doch an ihren Köpfen vorüber. Sie

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fühlten von den vielen tausend kleinen Schneespitzen nur ein leichtes Prickeln auf der Haut. Nach kurzer Zeit war alles mit einer feinen, durchsichtigen Schneeschicht bedeckt. Plötzlich entfernte sich das Grollen und zog ab ins Tal. Die Lawine war vorüber.

Aiyuk wischte den feinen Schnee von Lucuwats Gesicht und sagte: "Keine Angst mehr - alles ist gut - nicht mehr weinen - die größten Wolken zogen drüben durch die Schlucht — hier war es nicht so schlimm - alles ist gut."

Fagayuk lachte und streichelte das Kleinkind. Oschet und Gukall rieben ihre Nasenspitzen aneinander. Kukika-tugak legte den Arm um Aiyuk. Obwohl Kukikatugak noch vor Angst leicht zitterte, sagte er zu Aiyuk: "So ein Schnee - das ging noch gut - dagegen kann auch ein schlaues Füchslein nichts machen."

Fröhlich und erleichtert stiegen die Menschen zu Tal, trotz und wegen der Todesgefahr, der sie gerade entronnen waren, trotz des Magenknurrens. Denn jetzt gab es nichts mehr zu essen.

"Mein Magen ist eine laute Lawine", sagte Kukikatugak. Das war das Lied der Ausgelassenheit, der Erleichterung; das Lied von Kukikatugaks hungrigem Magen, der lauter dröhnte als die Lawine. Auch Tunulig stimmte mit ein. An der nächsten Wegbiegung verstummten alle. Vor ihnen, weit im Tal, lag die unendliche Ebene, nur noch hier und da mit Schneeresten übersät, schon mit zartem, glänzendem Grün bedeckt. Die Abenddämmerung leuchtete rot und sanft über die weite Tundra. In der weiten, weiten Ferne hörten die Mammut-Menschen ein anderes Donnern als das der Lawine: das Donnern der großen Renherden. Sie sahen das Rotbraun der Herden, das sich mit dem Orangebraun der untergehenden Sonne vermengte. Die Tundra leuchtete. Grün, weiß, rot, braun, orange — es glitzerte und strahlte. Die Tundra bewegte sich, die Sonne bewegte sich. Sonne und Tundra und Herden riefen den Menschen zu, die ein Teil von ihnen waren: Kommt!

"Wir sind gerettet", sagte Eschona langsam.

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