Fuller-1994
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Während die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts von einer subjektiven Melancholie geprägt war, drückt sich die gemütsbewegte Kunst seit Munch, Kollwitz und Beckmann unmittelbar menschzentriert aus. Die Kunst des 19. Jahrhunderts läßt Stimmungen fühlen; die Kunst des 20. schreit, tobt und flucht. Zwischen Bildern etwa von Philipp Otto Runge und Ludwig Meidner klaffen Welten. Die Kunst des 19. Jahrhunderts wird beseelt von Idealen, die Kunst des 20. ist vom meist geschundenen Körper des Menschen nicht zu trennen. Giacomettis Taumelnder (Abb. 13) und Picassos Guernica versinnbildlichen die Hilflosigkeit und den Opferstatus des Menschen. Während die Moderne ab 1905 zu neuen Ufern aufbricht, vertieft sich die Krise des Vertrauens in den Menschen und dessen Fähigkeit zur Humanität. Dieser Mangel an Vertrauen erreicht in den neunziger Jahren einen Höhepunkt.
wikipedia Ecce_homo wikipedia Guernica_(Bild) goog Giacometti+Taumelnder+Mann wikipedia Philipp_Otto_Runge 1777-1810
Der Körperbezug bei Lehmbruck, Giacometti, Beckmann, Barlach, Kollwitz, Schad, Dix und Henry Moore steigert sich zur absoluten Körperlichkeit in der Body-art der neunziger Jahre. Der Körper als reine Physis ist in den Arbeiten von Sue Williams, Bettina Rheims, Marc Quinn, Sally Mann, Kiki Smith und Charles Ray zum Thema der Kunst geworden. Die Body-art der neunziger Jahre stellt die Verletzbarkeit des menschlichen Leibes in den Mittelpunkt. Diese neue Körperkunst zeigt das gewandelte Menschenbild in einer zugespitzten Form — vom existentiellen Zugang eines Jürgen Brodwolf bis zu den Frauenkörpern in den Plastiken von Kiki Smith. Gemeinsam bleibt allen Body-art-Künstlern das Bekenntnis zur Humanität, zur Auffassung des Menschen als körperliches Wesen, das sich von Elektronik, Folterregimen und genetischen Verwandlungen nicht vereinnahmen läßt.
18 Kiki Smith, Blood Pool (Blutlache), 1992 19 Kiki Smith, ohne Titel, 1992
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Das neue Menschenbild kreist um Themen, die man als existentiell bezeichnen kann: Christa Nähers und Jürgen Brodwolfs Sein-zum-Tode, Steven Hudsons und Shozo Naganos Verlorenheit des Menschen, der Mensch als Verschwindender bei Laszlo Feher, schließlich der Mensch als Geworfener und zugleich als Zerstörer beim späten Beuys. Im Werk einer einzigen Künstlerin jedoch verkörpert sich auf paradigmatische Weise sowohl das neue Verständnis der Condition humaine als auch die neue Body-art.
wikipedia Christa_Näher *1947 wikipedia Jürgen_Brodwolf *1932
20 Kiki Smith, Tale (Erzählung/Schwanz), 1992
Die Wachsfiguren der 1954 in Nürnberg geborenen, in New York lebenden Amerikanerin Kiki Smith bitten um Gnade und erzwingen in einer Zeit zunehmender Gewalt die Aufmerksamkeit des Betrachters. Auch weist Smith' Behandlung des menschlichen Körpers auf dessen unendliche Komplexität hin; ihre ästhetische Zurückhaltung läßt all die verschiedenen Aspekte der Körperlichkeit zur Geltung kommen.
Smith macht aufmerksam auf die Verletzbarkeit des Menschen und insbesondere der Frau. Ein zusammengekrümmtes Wesen trägt — Zeichen seiner Verwundbarkeit — das Rückgrat außen (Abb. 18).
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Eine Frau, die mit gebeugtem Haupt dasitzt, weist tiefe Kratzspuren auf dem Rücken auf (Abb. 19). Schutzlos hat sie den Rücken dargeboten. Sie wurde dafür bestraft. Der Weg von der weiblichen Schönheit etwa in Ingres' Badender von Valpencon (1808, Louvre), an die Smith' Figur ein wenig erinnert, zur Mutilierten ist weit. Ingres zeigt das Ideal, Smith die Wirklichkeit.
21 Kiki Smith, ohne Titel, 1992
Damit zusammenhängend ein zweiter Aspekt: die Bedeutung von Herrschaft und Unterwerfung. Mit der Plastik Tale (= Erzählung, gleichlautend mit tau, Schwanz) zeigt Smith, wie tief ein gedemütigter Mensch sinken kann (Abb. 20). Mit ihrer Kotspur hat diese Frau tierhafte Züge angenommen. Sie hat sich verwandelt; dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist sie auf das Tierniveau hinabgesunken. Zum anderen bestätigt die Länge ihrer Kotspur ironischerweise gerade ihre Menschlichkeit: Allen widrigen Umständen zum Trotz kriecht die Frau unbeirrt weiter. Smith weist mit dieser Plastik und mit anderen Arbeiten auf den eminent politischen Aspekt des Körpers hin, insofern, als sie uns mit Bildern der Erniedrigung konfrontiert. Oder wie die Künstlerin in einem Interview vieldeutig sagte: »Im Grunde werden uns unsere Körper gestohlen.«
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22 Kiki Smith, ohne Titel, 1990 (Detail)
Der Aspekt der Unterwerfung hängt eng mit dem feministischen Aspekt von Smith' Arbeiten zusammen. Der Geschlechterkrieg geht keineswegs zu Ende. Geschundene, oft von der Wand herabhängende weibliche Gestalten bevölkern Smith' Welt. Ihre Rücken sind gebeugt, ihre Positionen oft fötal, nie beherrschend. Sie sind die, Opfer, wobei der Opferstatus jedoch nicht allein auf die Frau beschränkt wird. Allzu oberflächlich wäre es, Smith in die Phalanx militanter Feministinnen einzureihen.
In ihrer Interpretation der Körperlichkeit wird ferner — ein vierter Aspekt — der Gedanke des Mitleids spürbar. Die überlangen Arme der Bittenden drücken Geduld und Demut aus (Abb. 21). Ein zusammengekauerter Mensch bittet um Verständnis, Liebe, Humanität; worum genau, das läßt die Künstlerin offen.
Ein weiterer Aspekt der neuen Körperbetonung stellt die Körperflüssigkeiten ins Zentrum. Im Aidszeitalter deutet Sperma weniger auf Fruchtbarkeit und Verjüngung denn auf Gefahr (Abb. 22). Die beiden lebensgroßen Wachsfiguren aus dem Whitney Museum (Farbtafel 2) scheinen, in einem Vakuum hängend, auszulaufen. Es ist, als ob ihre Sexualflüssigkeiten auf den Boden tropften. Sie sterben qualvoll.
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Nimmt man schließlich, über die genannten Einzelaspekte hinaus, das Phänomen der Körperbetonung schlechthin in den Blick, so läßt es sich als Abkehr vom cartesischen Geist deuten, der sich vom Körper oder der Res extensa lossagt. Wer den eigenen Körper betont, setzt sich mit seinem Leib gegen den des anderen ab und bestätigt seine eigene Subjektivität. Weiterhin fragt die Herausstellung des Körpers nach der Spiritualität. Ist sie nur noch durch den Körper zu gewinnen? Smith hat den Körper wiederentdeckt. Sie unterstreicht seine Natürlichkeit gegenüber der Mode, der Schminke und der genetischen Manipulation. Schließlich wirft die Künstlerin die Frage nach der Sterblichkeit auf, denn jeder Leib muß sterben.
All diese in sich wiederum vielschichtigen Aspekte münden bei Smith in ein einheitliches Plädoyer. »Wir sind körperlich wirklich segmentiert und fragmentiert«, meinte sie 1993 in einem Interview. Es gilt, diesen Humpty-Dumpty-Körper wieder zusammenzufügen. Daß die Künstlerin niemals den moralischen Zeigefinger erhebt, macht ihre Botschaft besonders beeindruckend. Per implicationem bittet jeder unterworfene, verletzte Körper darum, ihn in Frieden zu lassen und zu respektieren. Zurückhaltend und doch mit großer Eindringlichkeit spricht sich die Künstlerin so für die Achtung vor allen Menschen aus.
Stellt Smith noch lebende Menschen dar, so ist aus den Plastiken Jürgen Brodwolfs jedes Leben gewichen. Der Künstler wurde 1932 bei Zürich geboren, er lebt und arbeitet im Südschwarzwald. Bekannt wurde er mit seinen seit 1959 geschaffenen Tubenfiguren (Abb. 23), die man als »eindrucksvolle Chiffren für die geschrumpfte menschliche Figur« bezeichnet hat. Die Kopflosigkeit der Figur, die Mumienähnlichkeit, die sargartige Wanne, die Insekten als Vanitassymbol par excellence machen die Objektplastik zu einer Todesallegorie, wie sie für Brodwolfs Werk typisch ist. Ab Mitte der sechziger Jahre wandte sich Brodwolf mehr und mehr den Leinwandfiguren in immer neuen Variationen zu (Abb. 24-26).
Während bei Smith ein sozialer Kontext zu erahnen ist, abstrahiert Brodwolf vom gesellschaftlichen Umfeld, und er gibt seinen Figuren kein Gesicht. Die Arbeiten des Künstlers erreichen dadurch ein hohes Symbolniveau, das man nur mit Archetypischem in Verbindung bringen kann und das eine Vielzahl von Assoziationen erlaubt: vor allem altägyptische Mumien, Hockergräber, griechisch-römische Grabreliefs, Verbrannte, Ertrunkene, von Lava in Pompeji und Herculaneum Ubergossene, Versteinerungen, Lazarus. Die Figuren wirken über zeitlich und verweigern sich der interpretatorischen Festlegung. Smith ist ganz Künstlerin der neunziger Jahre, Brodwolf erinnert an archaische Totenbräuche, ja an Archaik überhaupt.
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23 Jürgen Brodwolf, Die Wanne, 1972
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24 Jürgen Brodwolf, Verhüllte Figur I, II, III, 1989
Bei aller Vieldeutigkeit weisen die Figuren Brodwolfs jedoch eine Übereinstimmung auf: Stets haben wir es mit Toten zu tun. Sie sind eingewickelt, eingeklebt, in isolierenden Kästchen untergebracht. Eine lebendige Kommunikation findet nicht statt. Die Figuren krümmen sich qualvoll, schreien in stummer Klage ihr Schattendasein hinaus. Brodwolf betont die — um einen Heideggerschen Terminus zu verwenden — Geworfenheit des Menschen. Man kann die Implikationen dieser bandagierten Mumienwesen noch zugespitzter fassen: Brodwolf sieht den Menschen als Prä-Leiche, deren Dasein nichts anderes ausdrückt als Sein-zum-Tode.
Hier schließt sich der Kreis von Archaik zum Jahr 2000, denn nichts könnte in einer Gesellschaft des Todestabus und des Jugendkults zeitgemäßer sein, als den Menschen an die eigene Endlichkeit zu erinnern. Smith unterstreicht die Verletzbarkeit der Lebenden, Brodwolf stellt die Endlichkeit des Lebens im allgegenwärtigen Tod heraus.
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25 Jürgen Brodwolf, Sitzende zwischen zwei Stehenden, 1989
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26 Jürgen Brodwolf, Stehender Torso, 1982
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27 László Fehér, Ballspieler, 1991
Folgt man der christlichen Überlieferung, so findet man nicht einmal im Jenseits Ruhe. Wie Zombies scheinen manche der toten Wesen Brodwolfs zu agieren. Aus ihren Bandagen werden sie sich nimmermehr befreien. Auch im Tod sind sie gefangen, ganz und gar festgezurrt und zu Stein geworden. Positiv gewendet, kann man Brodwolfs Aussage als eine Affirmation des gemeinsamen Menschseins von altägyptischen Mumien und verstorbenen postmodernen Zeitgenossen interpretieren. Insofern entwirft der Künstler das zutiefst humane, zutiefst humanistische Bild einer zu allen Zeiten gleichbleibenden Menschheit, deren gemeinsames Schicksal, den Tod, es zu akzeptieren gilt.
Ein düstereres Gesamtbild der Condition humaine entwirft der 1953 in Székesfehérvár/Ungarn geborene, heute in Budapest lebende László Fehér. Nach einer fotorealistischen Phase in den siebziger Jahren und einer darauffolgenden expressiven Zeit hat er seine Bilder ab Mitte der achtziger Jahre auf immer weniger Farben und meist monochrome Flächen reduziert. Die Schlichtheit der Kompositionen, oft mit Motivzentrierung, trägt zur Bildaussage bei.
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28 László Fehér, Am Becken, 1990
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29 Lászlo Feher, Steinvase, 1990
Vor einer grandiosen Naturkulisse spielen Menschen ihre kleinen Spiele (Abb. 27). Nur in Umrissen erkennbar, scheinen sie sich vor dem Wolkenhimmel und in der unwirtlichen gelben Ebene zu verflüchtigen. Sie haben weniger Bestand als der Ball, mit dem sie werfen. Trotz ihrer Präsenz scheint ihre Endlichkeit hindurch. Der Vater mit dem Sohn, der Spaziergänger (Abb. 28, 29), das Liebespaar, die Badenden — alle werden vergehen. Noch pointierter: Sie sind bereits vergangen. Tragisch wird diese Weltsicht, wenn sich Geschichtliches andeutet, wie im großartigen Bild Vor dem Denkmal (Farbtafel 1). In den Kleidern der vierziger Jahre auf alle Zeit gefangen, posiert die Familie wie für ein Erinnerungsfoto, das der Vater knipst.
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Die Erinnerung — sind sie selbst. Das Denkmal scheint für sie errichtet; ein Denkmal für die im Krieg oder im Konzentrationslager Ermordeten? Feher läßt die Interpretation offen. Insgesamt vermittelt er jedoch ein ganz anderes Vanitasbild als Brodwolf. Alle Bilder Fehers schöpfen ihre Kraft aus der melancholischen Stimmung, die ihnen innewohnt. Den Untergang dieser Schattenmenschen kennzeichnet eine merkwürdige, stille Wehmut, die die Überzeugungskraft der Bilder ausmacht. Kontrapunktiv zu den Menschen sind die schweren Gegenstände gesetzt, gelegentlich sogar die Kleider der Umrißmenschen, die mehr Materialität aufweisen als ihre Träger.
Die vage Melancholie der Bilder Fehers evoziert beim Betrachter eine Vielzahl von Assoziationen: Einsamkeit, Ohnmacht, Warten, Stille, Vergänglichkeit des Menschen und seiner Werke. Ganz gleich, wie die Menschen agieren, ihre zukünftige Nichtigkeit begleitet sie bereits. Sie sind lebende Tote. Sie besitzen, und dies faßt ihre fatale Conditio humana zusammen, keine Zukunft. Je deutlicher sie winken oder rennen oder sich emotional ausdrücken, desto klarer und schmerzhafter wird dem Betrachter die Vergeblichkeit ihrer Handlungen. Wie Loränd Hegyi über Fehers Bilder schrieb: »Jenseits von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit: dies ist bereits das kühle Anvisieren des Nichts.«
Ebenso verloren erscheinen die Menschen in den Bildern des 1966 in New Bedford/Massachusetts geborenen Steven Hudson. Sie erinnern an Masaccios aus dem Paradies Vertriebene. Wie Feher vermittelt Hudson jedoch überaus zeitgemäße und existentielle Stimmungen. Einsame, zarte, verletzliche Menschen stehen vor einem weglosen Hintergrund. Teils drängen sie sich zusammen, wie um sich zu wärmen (Abb. 30), teils stehen sie voneinander isoliert im Nichts (Abb. 31). Sie sind entblößt und schämen sich ihrer Nacktheit, wie Adam und Eva nach dem Sündenfall. Notdürftig bedecken sie ihre Geschlechtsteile (Abb. 32). Wie das erste Menschenpaar in der biblischen Erzählung, die den Künstler seinen Angaben zufolge zu der Serie Vertreibung anregte, werden die verlorenen Zeitgenossen sich plötzlich ihrer selbst bewußt. Eingedenk dieses Bezugs auf den Sündenfall wird der Betrachter des beinahe spirituellen Charakters der Bilder inne. Ebenso wie die Figuren Fehers scheinen Hudsons nackte Sünder vergebens auf Erlösung zu warten, ein Warten auf Godot.
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30 Steven Hudson, Expulsion II (Vertreibung II), 1992
Die alttestamentarischen und die modernen Menschen warten umsonst, in die Unwirtlichkeit entlassen. Hudsons verletzte Menschen akzeptieren ihr Los. Sie begehren nicht auf. Der Künstler erweckt Emotionen im Betrachter, weil er überflüssiges Beiwerk aus seinen Gemälden verbannt. Die Vorstellung der Condition humaine, die Hudson mit der Nacktheit seiner Figuren, mit der farblichen und kompositorischen Reduzierung überzeugend entwirft, konzentriert sich aufs Wesentliche: absolute Verlorenheit.
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31 Steven Hudson, Expulsion 14 (Vertreibung 14), 1990
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32 Steven Hudson, Expulsion I (Vertreibung I), 1992
Während in Hudsons Bildern alttestamentarische Anklänge spürbar werden, sind es im Werk der 1947 in Lindau geborenen Christa Näher mythologische. So will es jedenfalls scheinen, denkt man an all die Minotauroi, Zentauren und Hadeswesen, die ihren Bildern eine solch urtümliche Kraft schenken (Abb. 33). Die Dichtung der Kritiker scheint jedoch die Kreativität der Künstlerin übertreffen zu wollen. Den Bildern Nähers wurde die »Erkenntnis des Urgrunds« und eine mythologische Orientierung zugeschrieben — eine Ansicht, die die Künstlerin ebenso zurückweist wie die These, sie male Träume, die wild und ungezügelt aus ihrem Es aufsteigen. Ebenso ablehnend steht sie dem Gedanken an eine Erkenntnisabsicht ihrer Werke gegenüber. Dem Autor dieser Zeilen gestand sie lachend, die Zentauren und Minotauroi, die sie beeindruckten und die sie in der Folge immer wieder zeichnete und malte, im Fernsehen gesehen zu haben.
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33 Christa Näher, ohne Titel, 1992
Dies soll umgekehrt den Gehalt der Bilder Nähers nicht trivialisieren, sondern zur Warnung vor einer leichtfertigen Kritik dienen, die Vergangenes zu sehen meint, wo Gegenwart beabsichtigt ist, die mit großzügiger Geste verschleiert, wo Klarheit gefragt ist. Freilich liegt die Gefahr der Über-, gar Fehlinterpretation von Nähers Werk wegen der Vieldeutigkeit ihres düsteren Kosmos nahe. Übereifrige Kritiker glauben das Raunen des Kollektiv-Unbewußten und des Archetypischen zu vernehmen, die angeblich in selbstverständlicher Nachbarschaft zur Einheit von Eros und Thanatos wirken. Das Problem liegt darin, daß die Präsenz des Kollektiv-Unbewußten und Archetypischen in Nähers Werk weder zu beweisen noch zu widerlegen ist; und Eros und Thanatos werden auf jeden Fall von der Künstlerin thematisiert, so etwa im berühmten Tänzer paar von 1984.
Ein weiterer Grund für die Fehlinterpretation von Nähers Werk liegt in der unheimlichen Art, wie die Künstlerin Tiere und monströse Kreaturen abbildet. Wölfe und Hunde fletschen die Zähne, beißen und jagen Menschen und andere Wesen (Abb. 35). Stiere drohen, Pferde, wie etwa im Gemälde Tod von 1987 (Abb. 34), erinnern an die apokalyptischen Reiter. Die aus dem Dunkeln auftauchende Tierwelt macht angst; ganz im Gegensatz zur Beteuerung der Künstlerin, sie fürchte sich nicht vor Tieren, habe sich schon als Kind zu ihnen hingezogen gefühlt, ohne Sattel sei sie auf Pferden geritten. Ihr furchtloser Umgang mit Tieren habe Freunde und Familie immer erstaunt. Wenn also die Gefahr, die Nähers Tierbilder signalisieren, nicht durch traumatische Erlebnisse mit Tieren bedingt ist, muß man tiefer dringen.
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34 Christa Näher, Tod, 1987
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35 Christa Näher, ohne Titel, 1985
36 Christa Näher, ohne Titel, 1987
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37 Christa Näher, Narrenturm, 1987
Nähers unmittelbarer, unentfremdeter Umgang mit den Tieren liefert den Schlüssel. Stuart Morgan schrieb, die Künstlerin unterscheide nie klar zwischen Mensch und Tier. Die Eigenschaften des Tieres sieht Näher ebenso beim Menschen. Tiere sind stark, gefährlich, triebhaft und zugleich sensibel; eine Ambivalenz, die dem Menschen gleichermaßen innewohnt. Wenn die Tiere der Künstlerin angreifen, beißen, töten, sind im Grunde ebenso Menschen gemeint, und auch die Interaktion von menschenartigen Wesen und Tierwesen in Nähers Bildern kann nicht von dieser Implikation ablenken. Die häufige Darstellung von Mino-tauroi und Zentauren, beide weder Mensch noch Tier und doch beides, stützt diese Deutung.
Näher akzentuiert das Triebhafte, Gefährliche, Beängstigende am Menschen. Er will Geist sein, wird aber nur zum rohen Täter. In Nähers Bildern gewinnt nur der die Oberhand, der schneller und bösartiger sticht, beißt und mordet. Nähers Bilder vermitteln keine rationale Erkenntnis. Man muß sie als ungeheuer suggestive Stimmungsbilder auf sich wirken lassen. Bei der Betrachtung der visionären Räume (Abb. 36) steigen Gefühle von Beengung, Gefangensein und Isolierung auf.
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38 Christa Näher, Grünes Bild, 1992
Bis 1992 sind Nähers Räume stets düster und scheinbar ausweglos, gefährliche Räume, die an Piranesis Carceri erinnern. Selbst Panoramen eröffnen den Blick nicht. Den Narrenturm (Abb. 37), mit jenem Koloß im Marienhospital zu Wien, der früher Geistesgestörte beherbergte, nennt die Künstlerin ein »Hadesbild«.
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Nicht zufällig sieht dieser Turm wie die Gedenkstätte in Treblinka aus. Die Schwarzdominanz des Gemäldes und fast aller anderen Arbeiten Nähers weist — wie das so häufig wiederkehrende unschmeichelhafte Bild der Tier-Menschheit — auf den Horror hin, den Menschen erschaffen. Bei Näher waltet kein böser, rächender Gott, kein Zeus schleudert seine Blitze, es gibt keinen Sensenmann, der durch die Menschenmenge schreitet. Nähers düstere Welt ist in erster Linie der Gegenwartskosmos, die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts, das Jammertal des mordenden Menschen. Die Künstlerin malt — auch ohne den Menschen darzustellen — Menschenlandschaften.
Es sind Seelenlandschaften, gewiß, jedoch Landschaften, die von der Todesgefahr, die vom Menschen ausgeht, ihren Ursprung nehmen. Auch wenn die Künstlerin beteuert: »Ich bin nie im Pessimismus verschwunden, nie!«, kann man nicht leugnen, daß allein die malerische Schwarzdominanz und die Menagerie der Ungeheuer eine Thanatosübermacht in Nähers Bildern hervorbringt. Die Condition humaine, die die Künstlerin vor Augen führt, wird durch das Grauen definiert. Ihm hat sie sich über zwanzig Jahre lang mutig gestellt. »Man muß mit dem Grauen umgehen, um es zu kennen«, sagte sie Anfang 1993. Nicht die mythologische Ferne evoziert derartige Bilder. Die Künstlerin spielt nicht mit mythologischen Themen. Sie erfühlt sie als gegenwärtig.
Doch hat sich ihre Wahrnehmung gewandelt — daher der Sprung von 1992 in Nähers Werk. Die zwanzig Jahre davor waren »abarbeiten«, sagte sie 1993. »Ich habe das Gefühl, ich fange jetzt richtig an.« Ihre Farbvaleurs ändern sich, die Räume werden heller, sie sind nun in ein jeweils monochromes sanftes Grün, Rot oder Gelb getaucht (Abb. 38). Der einst so unberechenbare Zentaur trägt ein gigantisches rotes Herz: Liebesbild (Farbtafel 4). Christa Näher hat das Grauen durchschritten, um am Ende eine innere Wandlung zu erleben. Freilich bleiben die Bilder einer Menschheit, die im Narrenturm wohnt, die Bilder einer trieb- und aggressionserfüllten Bestie.
Der Mensch als Sterbender, als Toter oder als lebender Toter: ein Thema, das Eingang fand in die Arbeiten von Näher, Feher, Brodwolf, Robert Longo, Robert Morris, Cindy Sherman, Jeffrey Silver-thorne, Andres Serrano, Gerhard Richter, Anselm Kiefer, Christian Boltanski, um nur einige zu nennen.
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39 Shozo Nagano, Pietà: Homage to Those Who Have Died of AIDS (Pietà: Hommage an die Aidstoten), 1989
40 Shozo Nagano, Falling (Fallend), 1991
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41 Shozo Nagano, Caged Figure no. 5 (Eingezwängte Figur Nr. 5), 1991
Den Tod durch Aids vergegenwärtigt der 1923 in Kanazawa City/Japan geborene Shozo Nagano, der heute in den USA lebt. Die bewegende, wenn auch vielleicht zu dramatische Pieta: Hommage an die Aidstoten (Abb. 39) bettet diesen allzu zeitgemäßen Tod in die Condition-humaine-Idee des Künstlers ein. Die Gesichter sind verdeckt: Nicht Individuen, vielmehr der von Aids bedrohten Menschheit wird ein Denkmal gesetzt. Andere Arbeiten Naganos konzentrieren sich auf die menschliche Form. Menschen fallen ins Bodenlose (Abb. 40) oder bieten alle Kräfte auf, steinernen Gefängnissen zu entkommen; vergebens (Abb. 41). Seit vielen Jahren interessiert sich Nagano für die menschliche Figur, die er oft schlafend darstellt.
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Seine Themen finden ihre Zuspitzung in den Bildern, deren überindividueller Charakter allgemeine Aussagen andeutet. Wo die menschliche Form von Einengungen frei ist, dort fällt sie, dort stirbt sie. Wo Stein sie umgibt, da mühen sich die Menschen zwar, aber ihre Muskelkraftakte führen zu nichts. Von riesigen Felsblöcken gefangen, findet selbst der Stärkste keinen Ausweg. Auch Nagano zeichnet ein überzeugendes und bedrückendes Bild des Menschen am Jahrtausendende. Die Dramatik der Pieta ist dem Wahrheitsgehalt des Gemäldes nicht abträglich: Denn in Künstlerkreisen ist das Aidssterben tatsächlich dramatisch.
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Das Werk des vielleicht letzten großen Modernisten Joseph Beuys (Krefeld 1921- Düsseldorf 1986) scheint sich gegen die Einordnung in den Kontext der Endzeitstimmung zu sträuben. Wie kaum ein anderer verstand es Beuys, einen positiven Erwartungshorizont zu vermitteln, verkörpert im sozialtherapeutischen Auftrag der Kunst, wie er ihn sah. Beuys glaubte bis zu seinem allzu frühen Tod stets an die Schöpferkraft des Menschen. Jeder Mensch sei ein Gestalter, ein Plastiker. Der bedeutendste Aspekt der Kunst liege, so heißt es bei Beuys, im therapeutischen Charakter der Kunstschöpfung.
Nur aus der Kreativität des Menschen könne der gesellschaftliche Umbau hin zur direkten, freien Demokratie geschehen. Daher sei die Kunst wesentlich für den Wandel zur Freiheit. Heute habe der Mensch die Möglichkeit, die Verhältnisse entscheidend zu verändern, und zwar mit dem Einsatz seiner ganzen Kreativität. Beuys gelangte zur bekannten Gleichung: Kunst = Mensch = Kreativität = Freiheit.
Therapeutische Elemente, die in Beuys' Werk in immer neuer Bedeutung wiederkehren, zeugen von seiner Hoffnung: das Kreuz, der Hirtenstab, Filz, Honig, Fett, überhaupt alle organischen Substanzen, die schützen, bergen und Energie durch Umwandlung ins Konstruktive kanalisieren. Im Rudel (1969) schwärmen Schlitten mit Filzrolle und Stablampe zur Rettungsaktion aus. Beuys faßte die Kunst als »soziale Plastik« mit Heilungsauftrag auf. »Ich war nie der Meinung«, sagte der Künstler 1971, »unser zivilisatorischer Stand sei negativ zu beurteilen.«
Beuys war sich der Krisis des Menschen im späten 20. Jahrhundert bewußt, der Krisis der verlorenen Einheit von Geist, Leib und Seele. Die Aktion I like America and America likes me (1974), bei der Beuys in einer New Yorker Galerie drei Tage zusammen mit einem Kojoten verbrachte, sollte an die entschwundene Einheit Mensch—Natur erinnern.
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42 Joseph Beuys, Hirschdenkmal, 1958-82
Im Jahr 1978 faßte Beuys die Gründe zusammen, die eine Abkehr vom Bestehenden erzwingen: die ökologische Krise, die Wirtschaftskrise, die militärische Bedrohung, die Bewußtseins- und Sinnkrise. Das Gefühl, den Verhältnissen ausgeliefert zu sein, führe zur Vernichtung der menschlichen Innerlichkeit.
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43 Joseph Beuys, Das Ende des 20. Jahrhunderts, 1983
Mit den Jahren sah Beuys die ökologische und seelische Bedrohung zunehmend schärfer. Der Tod spielte seit seinen künstlerischen Anfängen eine nicht zu unterschätzende Rolle im Werk, so etwa in der Plastik Torso (1949-51) — ein skelettierter, fragmentierter Körper, der sich auflöst, ein — in den Worten Heiner Bastians — »zusammenfassendes, transzendentes Bild elenden Daseins«. Man denkt auch an das Hirschdenkmal für George Maciunas (1964-82), das ein mit Filz ummanteltes, stummes Klavier vorstellt. Oder an Werke wie Plight oder Dernier espace — last room — letzter Raum.
Von der Radierung Tote Hirsche (1948) führt ein Kontinuum zum Hirschdenkmal (1958-82; Abb. 42). Der Hirsch besaß eine besondere Bedeutung für Beuys, sind diese stolzen und eleganten Tiere doch in den Mythen vieler Völker Lieblinge der Götter und symbolisieren stets Positives.
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Im Spätwerk von Beuys sind diese edlen Tiere toter als tot; man setzt ihnen nur mehr Denkmäler. Der Tierkörper ist verschwunden, vernichtet vom Menschen und seinem Maschinenwerk. Übrig bleibt das metallene Gerüst. Diese Plastik, schreibt Bastian, »nimmt das endgültige Scheitern vorweg«.
Noch prononcierter verkündet Das Ende des 20. Jahrhunderts (Abb. 43) das Gefühl des Scheiterns. Die Steine — sind wir, am Ende des Jahrtausends, dahingeworfen, tot. Beuys legte solch großen Wert auf Therapie, weil ihm der Tod und die Fragilität des Lebens bewußt waren. In diesem späten Werk endet der Heilungsprozeß vorzeitig. Er kann, insofern als das Werk menschliche Selbstvernichtung spiegelt, als mißlungen gelten. Der Schamane kommt nirgends in Sicht. Auch der Hubwagen, der hin und her transportiert, ist zum Stillstand gekommen.
Dieses Spätwerk kann den positiv-utopischen Gehalt von Beuys' Schaffen nicht zurücknehmen; Das Ende des 20. Jahrhunderts und einige wenige andere Werke weisen jedoch auf eine zunehmend kritische, zunehmend skeptische Haltung des Künstlers gegenüber der Wandlungsfähigkeit der zeitgenössischen Welt hin. Diese innere Haltung ist um so bemerkenswerter, als gerade ein lebens- und zukunftsbejahender Avantgardist zu ihr gelangt. Keineswegs schlug Beuys' positive Grundeinstellung in Negation um. Aber Straucheln und Fall der Menschheit deuteten sich verstärkt an.
Die Interpretationen der Conditio humana, wie sie in Beuys' Gesamtwerk — bei aller skizzierten Relativierung — und in Christa Nähers Arbeiten nach 1992 erkennbar sind, bilden innerhalb der in den achtziger und neunziger Jahren aufscheinenden künstlerischen Entwürfe eines Menschenbildes eine Ausnahme. Hudson und Feher sprechen dem Menschen die Zukunftsperspektive ab. Smith, Brodwolf und Nagano betonen die Entsubjektivierung des Subjekts. Der Mensch — ein geschundenes, verlorenes Wesen. Eine beinahe neo-existentialistische Weltsicht, die an Giacometti anknüpft.
Die erschreckendste Botschaft lautet: Jegliches Aufbegehren verbietet sich. Der Mensch hat das Fatum still anzunehmen.
Dieses Menschenbild wird im Folgekapitel bestätigt werden. Bei den Künstlern, die das Gewaltpotential des Menschen thematisieren, erfährt der Betrachter die aktive Seite der Krone der Schöpfung. Wo der Mensch passiv bleibt, da erleidet er nur. Wo der Mensch aktiv wird, richtet er nur Unheil an. Die aktive Seite des Menschen stellt ihn als aggressives Wesen heraus, als potentiellen und tatsächlichen Mörder.
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Gregory Fuller 1994 Endzeitstimmung