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1.  Fröhliche Wissenschaft  

Gizicki-1983

Tanzen wir in tausend Weisen, Frei — sei unsre Kunst geheißen,
Fröhlich — unsre Wissenschaft ! 
Friedrich Nietzsche,  Lieder des Prinzen Vogelfrei 

11-31

Antoine de Saint-Exupéry hat einmal in zugespitzter Vereinfachung gesagt, in unserer Gesellschaft werde <in jedem Kinde ein kleiner Mozart erschlagen>. In jedem von uns, meinte Exupery, steckt ursprünglich ein Künstler: wir alle besitzen — neben anderen potentiellen Eigenschaften — die Fähigkeit, schöpferisch zu sein. Die herrschenden Verhältnisse aber, so wie sie geschichtlich entstanden sind, hindern uns daran, unsere verborgenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Einen sehr ähnlichen Gedanken hat bereits vor knapp zweihundert Jahren Friedrich Schiller ausgesprochen:

»Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.«   
F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 1795

Diesen Tatbestand als veränderbar anzusehen und das Interesse, eine solche Veränderung mit herbeizuführen, macht den Hauptunterschied zwischen zwei Formen von Wissenschaftspraxis aus. Grob skizziert, sind sie am ehesten mit Hilfe des Unterschieds zwischen Feststellen und Herstellen von Wirklichkeit zu verdeutlichen.

Am Beispiel meines Fachs: Den empirisch vorfindbaren Erscheinungsformen des Bewußtseins, also etwa den in Umfragen und anderen Untersuchungen ermittelten Wünschen, Interessen oder Denkweisen, wie sie durch die vorherrschende Sozialpsychologie und ihre Theorien festgestellt werden, hält eine innovative Sozialpsychologie die erst noch herzustellenden möglichen Verwirklichungsformen unseres Wesens entgegen. Statt nur den vorgefundenen <Abdruck unseres Geschäfts> oder die behinderte künstlerische Potenz festzustellen, trägt innovative Wissenschaft auf ihre Weise dazu bei, Verhältnisse herzustellen, in denen Kreativität, <Harmonie> oder auch neue Liebesfähigkeit entstehen können.

Die Orientierung am Möglichen soll nicht bedeuten, jederzeit sei alles möglich. Auch unsere Möglichkeiten unterliegen Begrenzungen, über die allerdings nie vollständig im voraus theoretisch verfügt werden kann. Sie lassen sich immer nur im praktischen Handeln erfahren. Und noch etwas: Nicht alles, was möglich ist, verdient allein deswegen schon, auch wirklich zu sein. (Möglich ist auch der Neofaschismus.)

Daß überdies jede Feststellung über unser Verhalten — allerdings meist undurchschaut — Momente des >Herstellens< mitenthält, indem sie nämlich zurückwirkt auf die Vorgänge, über die Feststellungen getroffen werden, dieser Zusammenhang ist jedem aus der Alltagserfahrung vertraut: wenn einem heranwachsenden Jungen immer wieder zu verstehen gegeben wird, daß <ein richtiger Junge nicht weint>, dann bleibt eine solche Feststellung ja nicht folgenlos für den Betreffenden. Sein Verhalten wird dadurch mitbestimmt; er lernt, <ein richtiger Junge> zu werden. Begünstigt wird das noch dadurch, daß diese >Theorie< durch Erfahrung massiv gestützt wird: bei zahlreichen männlichen Angehörigen unserer gegenwärtigen Kultur läßt sich tatsächlich feststellen, daß sie ihre Gefühle meist nicht offen zeigen ...

Ist die Übereinstimmung von Menschenbild (>Theorie<) und empirisch feststellbaren Eigenschaften ein Beweis für die Richtigkeit des Menschenbilds? Nein; sie ist nur ein Beleg für unsere große Lernfähigkeit. Auch Menschenbilder, nach denen zum Beispiel Frauen >von Natur aus weniger begabt< als Männer sein sollen, können, wo sie vorherrschen, nahezu perfekt in >feststellbare< Eigenschaften übergeführt werden — durch soziales Lernen, das schon im frühesten Lebensalter beginnt.

Das jeweils Mögliche offenbart sich immer erst im Prozeß des praktischen Erkundens; sonst wären Erkundungs­versuche überflüssig. Viele Menschen entdecken erst bei solchen Versuchen Möglichkeiten in sich, die niemand ihnen zugetraut hätte, auch sie selbst nicht. Das Mögliche steht also nicht fest wie eine nur versteckte, aber schon in allen Einzelheiten bestimmte Sache, etwa wie ein zuvor hinter einem Busch verstecktes Osterei, das nur noch gefunden werden muß.

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Das Menschen-Mögliche konstituiert sich erst im Verlauf von Geschichte, im Verlauf von kreativen Prozessen also, bei denen qualitativ Neues, grundsätzlich Unvorhersehbares entsteht.

Wie kann aber trotz dieser Offenheit für Unerwartetes eine innovative Wissenschaft noch Aussagen über unsere Möglichkeiten machen, und welche Verfahren gibt es, um die Gültigkeit oder <Wahrheit> solcher Aussagen zu erweisen? Ein Beispiel: Wenn wir dem Menschen eine weit größere und gestaltenreichere Liebesfähigkeit zutrauen, als sie unter den herrschenden Verhältnissen feststellbar ist, dann können wir allen Skeptikern und Anhängern einer pessimistischen Anthropologie nur die Gültigkeit unserer Auffassung demonstrieren, indem wir selbst die behauptete Möglichkeit zu verkörpern versuchen, also herstellen, und indem wir auf andere Verkörperungen unserer Auffassung vom Menschen hinweisen: indem wir etwa zeigen, bezeugen und vorführen, daß herrschaftsfreie Formen des Zusammenlebens eine neue Liebesfähigkeit entstehen lassen und daß deren Verwirklichung zu den Möglichkeiten unserer Selbstgestaltung gehört.

Das Verwirklichen als Gültigkeitsbeweis für die Wahrheit solcher >allgemeinen Interpretationen< (Habermas)3 schließt ein, daß hier kein Allgemeingültigkeits-Anspruch wie bei theoretischen Sätzen von der Art des Fallgesetzes erhoben werden kann: Ob ich als Buddhist, Cheyenne-Indianer, Moslem, Jude, Katholik, Anthroposoph, Marxist oder Wilhelm-Reich-Anhänger lebe — hierin eben besteht >Historizität< und damit der ganze Reichtum der realen und der möglichen, noch nicht verwirklichten Lebensgestaltungen.

Selbstverständlich sind auch diese Überlegungen eine >allgemeine Interpretation<, deren Gültigkeit nur durch Verwirklichung demonstriert werden kann, beispielsweise durch Herstellen praktischer Toleranz. Ob sie einleuchtet, muß der Leser entscheiden: er bestimmt durch Aneignung der hier entwickelten Vorstellungen über deren Gültigkeit mit. Wer bereit ist, sich selbst in dieser Position wiederzuerkennen, indem er sich auf den Lernprozeß einläßt, der ihm hier Angetragen oder neu bekräftigt wird, der bezeugt — und sei es zunächst nur vorübergehend und anmutungsweise — die Gültigkeit der darin deutlich werdenden Auffassung.

 

Erkenntnistheoretische Randnotiz: Was die idealistische Erkenntnistheorie als produktive Leistung unseres Erkenntnis­vermögens auffaßt, das Objektkonstitution in Synthesis-Akten zustande bringen soll, wird hier weiterreichend als nur im Erkenntnissinn verstanden: es geht um den Prozeß der Herstellung noch nicht existierender Wirklichkeit selbst.

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Synthesis wird hier als innovative Praxis interpretiert. Damit hängt noch ein Weiteres zusammen: Fällt es den bloßen Theoretikern unter den Philosophen nicht immer schwerer, sich im gesellschaftlichen Stoffwechsel zur Geltung zu bringen, solange sie ihre Lehren hauptsächlich in Gestalt von Literatur statt in vorgelebten >verallgemeinerungsfähigen< Verhaltensweisen bezeugen? Verallgemeinerungsfähigkeit, die auf allgemein­gültiger rationaler Begründung fußt — setzt sie nicht Vernunftsubjekte voraus, die sich erst noch >herstellen< müßten? >Verallgemeinerungs­fähigkeit< hängt mutmaßlich an Resonanzbedingungen anderer Art; sie können rationale Begründungen einschließen, gehen aber darin nicht auf: die meisten Menschen werden eben nicht durch (rational einsichtige) Argumente überzeugt, sondern durch Personen und durch Lebensformen. Hinter der vollständigen Auflösung der Wirklichkeit in rationale Begriffsraster könnte im übrigen ein weitreichender Herrschaftswunsch von Theoretikern stecken, deren Verfügungsansprüche sich darauf richten, >alles< in den (theoretischen) Griff zu bekommen. Demgegenüber verzichtet innovative Wissenschaftspraxis auf vollständiges theoretisches Verfügen über die Wirklichkeit und hält sich offen auch für das Unerwartet-Neue.

Innovative Wissenschaftspraxis muß deswegen nicht auf >Objektivierungen< verzichten, die ja nur dann zu Verfügungs­manipulationen ausarten, wenn Subjekte dabei gegen ihren Willen zu Gegenständen verkürzt werden. Da ich mich aber auch selbst zum >Objekt< machen kann, ohne deswegen meinen Subjektstatus einzubüßen, ist nicht einzusehen, warum der Prozeß solcher Selbstaufklärung nicht auch gemeinsam mit anderen Menschen möglich sein soll, sofern alle Beteiligten sich darüber frei verständigen und niemand andere zu bloßen Mitteln eigener Zwecke degradiert. Der Wissenschaftler wird dabei freilich sein bisheriges Rollenmonopol als Experte preisgeben. Das Praktisch-Werden innovativer Sozialpsychologie heißt daher auch, daß der Forscher sich bei der Erneuerung unserer Lebensverhältnisse nützlich zu machen sucht und daß dabei alle Beteiligten gleichberechtigt miteinander und voneinander lernen. Gemeinsame Selbsterkenntnis wird so zu einem Teilmoment gemeinsamer Selbstgestaltung.

 

Einer der Ausgangspunkte für innovative Wissenschaftspraxis ist das wachsende Unvermögen der vorherrsch­enden polit-ökonomischen Systeme, die ansteigende Flut der jedermann bekannten weltweiten Katastrophen aufzuhalten.

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 Die vorherrschenden Wissenschaften sind selbst Teil dieser Probleme, denn sie haben Beihilfe dazu geleistet, daß unsere Welt sich selbst zu zerstören droht. Sie erleiden deswegen zur Zeit einen rapiden und verdienten Vertrauens­schwund bei immer mehr Menschen. Müssen wir daher nicht möglichst rasch einen neuartigen Typ von Forschung ausbauen, der kampagnenartig SOS-Programme verwirklichen hilft? Brauchen wir, bildlich gesprochen, nicht etwas wie eine Werft für lebensrettende Archen? Hätten Noahs Leute damals erst langstielige DFG-Projekte zur Meteorologie, zur Geschichte des Schiffbaus, zur Taubenzucht und zur Phänomenologie des Werterlebens abgewickelt, dann wären sie wahrscheinlich bei den Vorarbeiten für ihre Rettung wie die Feldmäuse im Wolkenbruch ertrunken.

Eine solche Forschungspraxis wirft die überlieferten Wissenschaftsrituale ab und nimmt auch Verunreinigungen bewußt in Kauf. Sie bindet die Erkundung von Neuansätzen an die Mitbeteiligung bei ihrer Herstellung und Verbreitung (meine Definition von >Handlungsforschung< auf S. 161). Wir haben nicht mehr die Zeit für jahrelange »EDV-Lochstickereien«, wie sie in vielen Spezial-Forschungsprogrammen pedantisch angefertigt werden. Auch im Wissenschaftsbetrieb brauchen wir eine schöpferische Primitivierung (kreative Regression): zielbewußten Rückschritt als Mittel der Erneuerung.

Dies bedeutet — entgegen einem weitverbreiteten Mißverständnis — nicht etwa Verzicht auf jede Empirie, deren egalitäre Bedeutung im >Positivismus-Streit< oft übersehen wurde: unsere sinnliche Erfahrung muß Kontroll­rechte gegenüber jeder autoritären Theologie behalten, so geschickt diese ihre Götter auch umgetauft haben mag. Kompetenzbewußter Empirismus setzt ja auch nicht, wie manche Positivismus-Kritiker behaupten, >Faktizität< mit >Wahrheit< gleich, sondern will lediglich die dafür geeigneten Aussagen durch Verfahren überprüfbar machen, wie der Ungläubige Thomas sie angewandt hat (Sehen, Hören, Tasten), die im Prinzip also jedem Menschen mit unbeschädigten Sinnen zu Gebote stehen.

Betrachtet man >gelebte<, also nicht nur literarisch konstruierte Utopien unter dem Gesichtspunkt ihrer Erfahrbarkeit, so nehmen sie geradezu den Charakter von Versuchen im Sinne sozialwissenschaftlicher Experimente an. Für innovative Wissenschaftspraxis bedeuten die Erfahrungen, die wir solchen Experimenten verdanken, allerdings mehr als nur die Möglichkeit, diese Neuansätze und ihre veränderten Werthaltungen überprüfbar zu machen. Einer herstellenden Wissenschaft dienen Erfahrungen mit gelebten Utopien gleichzeitig zu deren Verbreitung.

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Die empirischen Befunde und ihre Darstellung übernehmen von hier aus eine zusätzliche Funktion: sie laden ein zur Aneignung dessen, worüber berichtet wird. Solche Erfahrungsberichte, die großenteils aus Selbstzeugnissen von unmittelbar Beteiligten bestehen, machen deren Gemeinschafts­experimente zu Modellen mit Schrittmacher-Funktion. Für innovatives Wissenschafts­verständnis sind solche Modelle Experimente, deren >Theorien< (besser: allgemeine Interpretationen) sich in ihrer Lebenspraxis verkörpern. Sie sind empirisch überprüfbar, und diese Erfahrungen sind gleichzeitig mögliche Ausgangspunkte für weitere, ähnliche Versuche. Empirie, Theorie und Praxis sind hierbei also eng miteinander verbunden.

Ich selbst versuche, diese Forschungspraxis in Zusammenarbeit mit befreundeten Gruppen und Kollegen seit einigen Jahren zu verwirklichen. Mitteilungen von Angehörigen domistischer Neuansätze, Quellenanalysen, Erfahrungsberichte und Literatur­auswertungen sind ebenso in sie eingegangen wie Darstellungen vom allmählichen Entstehen netzartiger Kontakte zwischen herrschaftsfreien Alternativ-Projekten und praktische Mitwirkung bei ihrer Verbreitung.4 Dieses ganzheitliche Vorgehen durchbricht absichtsvoll die Trennwände fachbeschränkten Spezialistentums, dem der >Wald< hinter lauter Bäumen, ja: hinter lauter Chlorophyllmolekülen verschwindet.

Diese Darstellungsverfahren machen demgegenüber bewußt Anleihen auch bei der publizistischen Recherche, bei der Schriftstellerei — überhaupt bei der >Literatur<. Ein besonderer Praxisbezug dieser >narrativen Philosophie< besteht also auch darin, für die erkundeten Neuansätze bei anderen, bisher nicht daran beteiligten Menschen Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken, also günstige Resonanz­bedingungen dafür herzustellen. Die Bedeutung des Neuen artikuliert sich in einer solchen Bericht­erstattung und wird so der öffentlichen Erörterung zugänglich gemacht. In uns selbst verborgene Möglichkeiten können dadurch herausgefordert werden, und die Gärstoffe der Erneuerung können so allmählich immer mehr Lebensbereiche durchdringen.

Dieses ganzheitliche, grenzüberschreitende Verfahren unterwirft sich nicht länger den herrschenden Konventionen der Ressort-Aufteilung zwischen den Disziplinen. Es unterwirft sich allerdings auch nicht dem anderen Ritual, das aus der Binsen­weisheit, nach der >alles mit allem zusammenhängt<, die Forderung ableitet, jedes Problem dürfe nur im Verbund mit einer enzyklopädischen Geschichts­philosophie und flächendeckenden >gesamtgesellschaftlichen< Strategien angepackt werden.

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Könnten nicht, ähnlich wie sich seit einiger Zeit mittlere Technologien in sinnvollen Entwicklungsprojekten bewähren, in den Sozialwissenschaften >meso-soziale< Bezugshorizonte zugrunde gelegt werden, die zwischen mikro- und makrosozialer Wirklichkeit, zwischen Kleingruppen (etwa Familien) und Groß­gesellschaft liegen? Die zugehörige Wirklichkeit existiert ja längst in Gestalt zahlreicher kommunitärer Gemeinwesen und Alternativ-Einrichtungen vieler Länder. Auch die Religionen entdecken seit einiger Zeit die >Gemeinde< wieder. Die Bedeutung des meso-sozialen Bezugsfeldes für die Identitätsgenese oder -rekonstruktion deute ich hier nur an. Sie legt auch die Kooperation mit den noch vorhandenen, teilweise in >Revitalisierungs<-Prozessen begriffenen ethnischen Minderheiten in aller Welt nahe.

Wollte man dem hier skizzierten Verfahren einen Namen geben, der den Verbund von Reise- und Erfahrungsbericht, wissen­schaftlicher Studie und philosophischem Essay angemessen repräsentiert, so würde ich dafür die <Georg-Forster-Methode>* vorschlagen.

Es gibt heute ein weitverbreitetes Unbehagen an >Theorie<. Oft äußert es sich in der Form, daß >nur theoretische< Texte oder Diskussionen als >aufgesetzt< oder mit dem Bewußtsein erlebt werden, daß sie >mit der eigenen Person nichts zu tun haben<. Woher stammt dieses Gefühl, das besonders auch bei Studenten an wissenschaftlichen Hochschulen seit einiger Zeit zuzunehmen scheint? Sicher gibt es vielerlei Gründe dafür, darunter vermutlich vor allem deprimierende Erfahrungen mit schlechter Theorie. Tatsächlich gab es ja in den letzten zehn, fünfzehn Jahren mit ihrer Taschenbuch­überschwemmung eine Inflation theoretischen Geredes.

Nun machen wir alle tagtäglich Gebrauch von >Theorie<, meist ohne uns dessen bewußt zu sein. Praxis ohne Theorie gibt es gar nicht, weil in jedes Handeln Annahmen und Vorentscheidungen über die Zusammenhänge zwischen den Tatsachen eingehen, mit denen wir es jeweils zu tun haben. Nehmen wir als Beispiel die weitverbreitete Ablehnung von >Theorie< selbst. Sobald diese Ablehnung ausgesprochen und begründet wird, enthält sie ja ihrerseits — und sei es noch so unentwickelt — >Theorie<, und zwar meist in der Nachfolge von Positionen des Irrationalismus, oft mit einer Vorliebe für Nietzsche-Formeln zugunsten des <Lebens>.

 

* Georg Forster, 1754-1794, Weltumsegler, Wissenschaftler, Schriftsteller und bürgerlich-demokratischer Revolutionär, Freund und Anreger Goethes, Herders, Alexander und Wilhelm von Humboldts, Lichtenbergs und vieler anderer seiner Zeitgenossen, war einer der bedeutendsten Verfechter des demokratischen Humanismus zwischen Aufklärung und Klassik. Er hat in Deutschland als erster das Spezialistenunwesen angeprangert. Georg Forster war Kosmopolit und Republikaner und hat vielleicht mit aus diesem Grunde in deutschen Schul- und Lehrbüchern nie den ihm gebührenden Platz gefunden. 

wikipedia  Georg_Forster

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Problematisch daran ist, daß jede reflexionsfeindliche Praxis die ihr selbst nicht bewußte Theorie in undurchschauter Form zu konservieren hilft. Von einem solchen blinden Irrationalismus müssen wir den berechtigten Widerwillen gegenüber der schon erwähnten >schlechten< Theorie wohl unterscheiden, die unsere Spontaneität lahmt oder zu gängeln versucht. In solchem Widerwillen wird vermutlich sehr richtig gefühlt, daß bestimmte Theoriesysteme, genauer betrachtet: ihre Autoren und Verwalter Herrschaftsansprüche geltend machen, indem sie unser Leben zu verplanen, zu kontrollieren und maßregelnd festzulegen versuchen.

Gegenüber allen Ordnungsversuchen theoretischen Denkens empfiehlt sich vielleicht ein Stück von der Haltung, die Goethe einmal zum >kategorischen Imperativ< Kants eingenommen hat: er, Goethe, respektiere diesen Imperativ selbstverständlich, hat er gesagt; nur solle man es nicht damit übertreiben! Das ist, auf dem Boden des theoretischen Denkens gesagt, der bare Unsinn, denn >kategorische< Forderungen gelten nun einmal >unbedingt<. Goethe aber pocht auf Bedingungen, will offensichtlich nur von Fall zu Fall gelten lassen und jedenfalls >nicht übertreiben< Ist das nicht ein sehr lebensfreundlicher Realismus, der wohl weiß, daß sich theoretische Lehrsätze in leuchtender Reinheit konstruieren lassen, daß aber die Wirklichkeit nie in ihnen aufgeht? Diese Wirklichkeit, und mit ihr die Praxis, behält bei Goethe ihr Recht: es wird ihr gewissermaßen Mitbestimmung eingeräumt — eine wahrhaft republikanische Position!

Vielleicht ist auch mit den sehr unvollständigen Bemerkungen zu diesem Problem schon deutlich geworden: Hinter dem Gegensatz von Theorie und Praxis verbirgt sich bei näherem Hinsehen eigentlich der Gegensatz von verschiedenen Positionen, und was so aussieht wie eine Entscheidung für die Praxis, ist in der Regel nur eine Option für die unreflektiert in ihr steckende andere Theorie. Das zeigt sich beim Vergleich von Praxisformen: der Bau von Kernkraftwerken oder Büro-Kasernen und die darin sich abspielenden Verwaltungs-Rituale sind ja ebenso >Praxis< wie der biologisch-dynamische Anbau von Kohlrabi, die Betreuung von Vorschulkindern oder eine Hilfsaktion für Chile-Flüchtlinge. Praxis gegen Theorie auszuspielen, wie es heute so beliebt ist, macht also wenig Sinn; beide können zu lebensfeindlichen Positionen ausarten, und der begeisterte Praxiskult enthält ebensooft ein Stück schlechter Theorie wie die gedankenlose Theorieabwehr ein Stück schlechter Praxis. Manche Praxis ist eben bloßes Getue, manche Theorie bloßes Gerede.

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Sozialpsychologisch argumentiert, könnte die zur Zeit wieder grassierende Theorie-Feindschaft auch noch einen weiteren Grund haben, und diese Hypothese möchte ich abschließend zu diesem Teilproblem noch zu bedenken geben, ohne sie hier zu vertiefen: Theorien, die ja oft durch ihre Selbstbezeichnung oder den Namen ihres Urhebers leicht zu identifizieren und bequem zu benennen sind (>Marxismus<), eignen sich gut als Sündenböcke. Vor allem kritische, die bestehenden Verhältnisse in Frage stellende Theorien und ihre Vertreter werden seit jeher gern zur Zielscheibe diffuser Aggressionen gemacht. Kommt dann noch hinzu, daß die Theorien selbst >schwierig< sind und mit den eingeschliffenen Konsum­gewohnheiten nicht mühelos geschluckt und verdaut werden können, sondern Anstrengung verlangen, dann bildet sich um solche Theorien ein Bedeutungshof mit Abscheu erregenden Tönungen. Umgekehrt wird vermutlich der >Praxis< dann in diffuser Weise oft alles Positive zugetraut: sie wird zum Projektionsschirm von unerledigten Wünschen und Hoffnungen.

Theorie und Praxis zu verbinden, statt sie getrennt gegeneinander auszuspielen; einen Verbund von Analyse und Aktion im gemeinsamen Handeln herzustellen: darin besteht innovative Wissenschaftspraxis. Bei ihrer schöpferischen Primitivierung verwendet eine solche Wissenschaft auch ungeniert den Mythos als Vehikel von Aufklärung. Sie läßt sich tragen von einer Geschichte wie der Noah-Legende und läßt sich davon überraschen, wohin sie damit gelangt. Jeder Künstler kennt dies aus seiner Praxis: er sucht den Seeweg nach Indien, und er entdeckt Amerika.

Als innovativer oder kreativer Prozeß wendet diese schöpferische Primitivierung ein Grundgesetz aller kreativen Vorgänge an. Jede wirkliche Erneuerung in Kunst, Wissenschaft, Gesellschaft oder individueller Entwicklung durchläuft Stadien eines vorübergehenden Rückschritts, in denen die bis dahin entstandenen Strukturen aufgelöst und verflüssigt werden. Die hierbei voneinander sich trennenden Teile der bisherigen Ordnung gehen dann neue Verbindungen ein, in der Regel zunächst unter Preisgabe ihres zuvor schon erreichten (Differenzierungs-)Niveaus. Jede gelingende Neuintegration, sagen wir als Ergebnis einer Psychotherapie, jede Renaissance oder Revolution hat etwas von dieser schöpferischen Primitivierung: sie ist eine dialektische Einheit von Progression und Regression. Der zielbewußte, zeitweilige Rückschritt kann also ein Mittel des >Fortschritts<, der Erneuerung sein.

Den Ausdruck <Innovation> verwende ich hier, um anzudeuten, daß die überlieferten Bezugsrahmen für historisch-gesell­schaftliche Veränderungen mit diesem Ansatz überschritten werden. Auch ist nicht das >Ganze< von Gesellschaft dabei vorerst im Blick, sondern bewußt nur eine Teilwirklichkeit.

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 Die Neuansätze entstehen zwar innerhalb der alten Gesellschaft, folgen aber einer Funktionslogik, die wir in der Redeweise einer fröhlichen Wissenschaft vielleicht >Dialektik von Schwängerungsprozessen< nennen könnten. Die Entstehung des Neuen im Alten, im >Schoß der alten Gesellschaft< hängt von einem Vereinigungsprozeß ab, von Verbindungen des bis dahin Getrennten, von einer Fusion, die Grenzen überschreitet und überlieferte Schranken aufhebt. Bei den Vereinigungsprozessen verbinden sich Menschen, die bis dahin in getrennten Teilbereichen der bestehenden Gesellschaft, in verschiedenen Familien, Berufswelten, politisch-sozialen und kulturell-religiösen Gruppen oder Einrichtungen gelebt und gewirkt haben. Es verbinden sich, es fusionieren Regelungen für dieses Leben und Wirken, die bisher nur in vereinzelten Modellversuchen oder auch nur in utopischen Projekten vorkamen, zum Beispiel herrschaftsfreies Zusammenleben und -arbeiten, Gemeinschaftsbesitz an Produktionsmitteln, egalitäre, libertäre und fraternitäre Verkehrsformen und Vereinbarungen.

 

Ich schlage den Ausdruck <Innovation> statt <Revolution> oder <Evolution> für den Prozeß vor, der als Vereinigung des bis dahin Getrennten das Neue hervorbringt. Am bisher vorherrschenden Verständnis von >Revolution< erscheint mir problematisch das gewalttätige Destruktionsmoment, die Lust am Zerschlagen des Bestehenden. Doch domistische Innovationen sind nicht kampflos zu verwirklichen, sie müssen sehr phantasiereich operieren, um sich mit gewaltfreien Mitteln Respekt zu verschaffen — davon wird noch zu reden sein.

Am bisher vorherrschenden Verständnis von >Evolution< erscheint mir das Entwicklungsdenken als säkularisierte Verlängerung von Heilsgeschichte und Überprivilegierung von Zukunft problematisch (ich komme auch darauf noch zurück).

An beiden Begriffen scheint mir außerdem die Bezugnahme auf ein undeutliches Ganzes fragwürdig zu sein; denn wer ist die Makrogesellschaft, um deren Revolution oder Evolution es geht? Die Weltgesellschaft der ganzen Menschheit? Die NATO? Europa? Die BRD oder die DDR? Hessen oder Bayern? Die >westliche Industriegesellschaft<? Das >christliche Abendland<? >Der Kapitalismus<? Die Bank für Gemeinwirtschaft? Der internationale Energiekonzern Exxon oder wer?

Innovations­versuche betonen im hier zugrunde gelegten Verständnis die Herstellbarkeit von meso-sozialen Alternativen durch Gruppen, die nicht erst >die Macht< erobern wollen oder müssen, um menschenwürdige Daseinsbedingungen in ihrer eigenen Lebens­geschichte zu verwirklichen. Diese Art von Innovation operiert zunächst mit der bewußten Begrenzung auf Modelle. Sie setzt Beispiele als Demonstration des Möglichen.

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Skizziert habe ich hier die >kreative< Form der Regression, bei der wirklich Weiterführend-Neues entsteht, und von der ich die >atavistische< Regression zu unterscheiden vorschlage. Die atavistische Regression (atavus = Urahne) könnte man auch die >Oblomov<-Regression nennen: sie besteht im Zurückfallen und Liegenbleiben. Oblomov, Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Iwan Gontscharow, verbringt sein Leben hauptsächlich im Bett, wo er sich schwelgerischen und folgenlosen Tagträumen hingibt. Die kreative Form der Regression könnte man auch >Kékulé<-Regression nennen: sie besteht darin, sich zeitweilig bewußt zurückfallen zu lassen und dabei etwas Lebensfähig-Neues zu entdecken. Der Chemiker Kékulé fand so im Halbschlaf den Benzolring, die bis dahin unbekannte Sechseckstruktur der Kohlenstoff- und Wasserstoffmoleküle.

Die bloß abschlaffende atavistische Regression und die kreative Regression sind also zwei grundverschiedene Spielarten der >Primitivierung<, des Zurückgehens auf archaische, ursprüngliche oder wie immer bezeichnete Bewußtseins- und Verhaltens­formen. Die atavistische Regression bedeutet immer auch, worauf Sigmund Freud schon hingewiesen hat, eine Verminderung der Fähigkeit zum kritisch prüfenden Denken. Die kreative Regression als Teilvorgang innovativer Prozesse verzichtet dagegen keineswegs auf Denken und Kenntnisse, verflüssigt aber die Trennwände der Spezialisierung, läßt ungewohnte Verbindungen zwischen entlegenen Sachverhalten entstehen und macht die zu Anfang dieses Kapitels zitierten schillerschen >Bruchstücke< in eingeschmolzener Form zu einem neuen Ganzen.

Poetische und wissenschaftliche Erfindungen sind gute Beispiele für das hier Gemeinte. Im Bereich sozialer Erfindungen gehören domistische Modellversuche zu den Innovationen, die in kreativer Regression entstehen. Ihnen gegenüber sehe ich in bloßen Rückzugs­alternativen, zu denen ich die meisten Landkommunen zähle, Beispiele für atavistische Regression. Oft versuchen solche Rückzugsgruppen die Probleme der modernen Industrie­gesellschaft durch ein unvermitteltes >Zurück zur Natur< auszublenden.*

 

* Geistesgeschichtliche Randnotiz: Voltaires Mißverständnis von Rousseau, der die Formel >Zurück zur Natur< bekanntlich zuerst geprägt hat, könnte mit darauf zurückzuführen sein, daß atavistische und kreative Regressionsvarianten damals nicht unterschieden wurden. Voltaire hatte sich über Rousseaus Ideen, die wir heute als Vorschläge für kreative Regression betrachten können, lustig gemacht, indem er sie als atavistische behandelte und Rousseau unterstellte, er habe propagiert, wieder auf allen vieren zu laufen.

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Worin besteht die Hauptbedeutung der kreativen Regression? Ihre Neuanfänge flüchten nicht aus der Geschichte, indem sie historisch Entstandenes einfach vergessen, ausblenden oder leugnen, wie die atavistische Regression dies liebt. Sie verschwenden auch keine Energien damit, den Umgang mit dem Feuer, das Rad, die Mutter­sprache oder die Tiefenpsychologie noch einmal zu erfinden. Sie behandeln aber überlieferte Errungenschaften innovativ in dem Sinne, daß die Abgrenzungen zwischen ihnen durchlässig gemacht werden; dadurch verlieren sie unter Umständen ihre bisherige Identität und lösen sich in ihre Bestandteile auf. Einige dieser Bestandteile gehen dann neue Verbindungen ein und lassen so neue Identitäten entstehen. Das Durchlässigwerden der Grenzen wird manchmal dadurch erleichtert, daß auf frühere Zusammen­hänge, in denen das heute Getrennte noch >eins< war, zurückgegriffen wird.

Ein Beispiel:

Die humanistische Sozialpsychologie, die dem hier skizzierten Wissenschaftsverständnis mit zugrunde liegt, kehrt in gewissem Sinne >zurück< zur Psychologie des 18. Jahrhunderts, als es >Psychologie< in abgetrennter Identität noch gar nicht gab, sondern als sie mit Moralphilosophie (und überhaupt: mit der Philosophie) noch >eins< war. Anders gesagt: unter >moralischen Untersuchungen< verstand man damals einen Verbund von Hinsichten, die wir heute auseinandergerissen haben und getrennt >Psychologie< (als Erfahrungswissenschaft) und >Moraltheorie< oder >Ethik< nennen. Innovative Sozialpsychologie greift nun einerseits in kreativer Regression zurück auf diesen früheren, ursprünglichen Zusammenhang, stellt aber auch neue Zusammenhänge her, indem sie die Arbeitsteilung in empirische, theoretische und praktische Teilprogramme re-fusioniert. Mit dieser >Re-Fusion< stellt sie Widerstandspotentiale bereit, die uns beim produktiven Verweigern des Spezialisten­unwesens helfen können. Indem diese fröhliche Wissenschaft bisher Getrenntes zu verbinden hilft, praktiziert sie eine erotische Logik, deren Kardinalfrage an Wissenschaft und Philosophie daher auch folgerichtig lautet, ob sie uns eigentlich liebesfähiger machen oder nicht.

Innovative Sozialpsychologie beteiligt sich bei der Erkundung von Neuansätzen auch praktisch an deren Herstellung und Verbreitung. Das Praktischwerden innovativer Wissenschaft ist im Grunde nur ein besonderer Aspekt ihrer kreativen Regression: Das Denken findet >zurück< zum Sein, die Abstraktion zur sinnlichen Konkretion, das Wort wird Fleisch. Die neuen domistischen Gemeinschaftsformen sind auf ihre Weise, im Medium des >Fleisches<, ebenfalls Versuche, gegenüber der lautlosen Gewalt der Abstraktion vorzustoßen zu einer neuen Konkretion, die auf eine neue Versinnlichung unserer durch Entfremdungs­prozesse immer abstrakter gewordenen Beziehungen zueinander zielt.

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Wie jeder innovative Prozeß hat dieser Vorstoß gleichzeitig etwas von Rückkehr, genauer: von bewußter Mit-Orientierung an geschichtlich zurückliegenden Organisationsformen; denn wirklich >zurückkehren< kann niemand. Die atavistische Regression auf die vor-urbane Ebene des Dorflebens ist Nostalgie und keine Lösung für die Probleme der Massengesellschaft. Trotzdem geht es bei den neuen domistischen Gemeinschaftsformen auch um eine Art Zurücknahme oder Entsublimierung der sozialen Makro­gestalten, die sich in ihren jedes menschliche Maß überwuchernden Strukturen als immer weniger steuerbar und als zunehmend lebensfeindlich erweisen.

Domistische Schrittmachereinrichtungen entstehen also in kreativer Regression, und Modelle sozialer oder kultureller Erneuerung können sie auch nur dann sein, wenn sie den zeitgenössischen Stand der Wissenschaften neu integriert einbeziehen in ihre Neuansätze. Erkenntnis bleibt dann nicht länger das Reservat von akademischen Spezialisten. Zu ihrer Quelle wird vielmehr eine Handlungsforschung, die nicht nur in abstrakter Begrifflichkeit, sondern auch im sinnlichen Medium vielgestaltiger Praxisformen die Wirklichkeit bewußt macht. Wenn die Cheyenne-Indianer in ihrem Sun Dance das Universum festlich-religiös erneuern, dann kommt dieses getanzte, welterhaltende Gemeinschaftsgebet dem, was ich hier meine, weit näher als jede systemtheoretische Globalanalyse aus unseren Universitätsinstituten. In diesen Instituten werden dem unterdrückten >Erfahrungsmodus der Phantasie< (Ronald D. Laing) und überhaupt dem poetischen Erkennen neuerdings zwar wieder modische Lippenbekenntnisse gezollt. In Wirklichkeit, das heißt im Berufsalltag des Zusammenschau-Geschäfts, kommen aber in der Regel weder die Beine der Theoretiker noch die versteinerten Verhältnisse, denen sie nach einen bekannten Wort von Karl Marx aufspielen sollten, tatsächlich zum Tanzen.

Kreative Regression führt also auch zu einer Re-Ästhetisierung von Wissenschaft — bis hin zu ihrer Sprache. Ich halte es von hier aus für keinen Zufall, daß entscheidende Innovationen in den Sozialwissenschaften, beispielsweise die von Karl Marx und von Sigmund Freud eingeleiteten (beide waren nicht nur Wissenschaftler, sondern auch große Schriftsteller) in prägnanten sprachlich-literarischen Formen Gestalt annahmen. Außerdem spielten für beide in ihren Neuansätzen Praxisformen eine konstitutive Rolle: bei Marx die politisch-ökonomische, bei Freud die klinische Praxis des Therapeuten.

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Daß Marx eine auf Praxis und Veränderung drängende Wissenschaft mit einer Aufforderung zum Tanz verglichen hat, trifft genau den Kern der Sache: diese Wissenschaft muß verführerisch sein, das Leben steigern helfen und befreien, statt es totzuschlagen und in die staubigen Museumsschränke bloßer Theorie zu sperren. Bei der Einladung zu Neuansätzen sind also ästhetische Mittel eine wichtige Hilfe.

Sie können psychische Energien für die Veränderung mobilisieren und auch beim Abbau von Ängsten behilflich sein. Sie stellen Bilder gelungenen Lebens vor Augen, die den weitverbreiteten Mutlosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen entgegen­wirken können. Die erzählende Berichterstattung, die den Zuhörer einlädt, sich im Erzählten wiederzuerkennen und damit dessen Wahrheit gültig machen zu helfen, diese >narrative< Philosophie gehört also wesentlich zur innovativen Wissenschafts­praxis. Dem tödlichen Zauber von Irre-Führern, wie ihn beispielsweise der Faschismus virtuos zu handhaben verstand, dürfen wir nicht nur leidenschaftslose und ausdrucksarme Vernünftigkeit entgegensetzen.

Wir brauchen auch kräftige Mittel des >Gegenzaubers<, um uns gegen die Verführungskräfte des falschen Irratio­nalismus immun zu machen. Unser neuer praktischer Humanismus darf daher seine umfassend-erotische Qualität nicht verstecken. Er beteiligt sich in seiner Handlungsforschung an der Herstellung des Neuen, indem er auch mit ästhetischen Mitteln dazu beiträgt, dieses Neue zu artikulieren, ihm Form und damit eine Bedeutungs-Gestalt zu geben, die verbreitungsgeeignet ist und den Neuansatz öffentlich erfahrbar macht. Paul Klee: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« Das gesellschaftlich >Unbewußte< als das Mögliche, Potentielle, bisher nur in utopischen Träumen Umspielte wird auf diesem Wege bewußt und damit öffentlich erörterbar gemacht, also: zur Verwirklichung vorbereitet. Bei dieser Annäherung innovativer Wissenschaft an künstlerische Praxisformen wird der Wirklichkeit ihr >eigener Wille< belassen, sie wird nicht unterworfen unter das Diktat einer abstrakten System­philosophie. Ein dialogisch-erotisches Weltverhältnis liegt hier vielmehr zugrunde, das auch dem Irrationalen mit einer neuen Gelassenheit begegnet.

Ein Problem der Innovation möchte ich hier noch kurz berühren: Sprechen die Stirb-und-Werde-Prozesse, die sich gegen Verfestigungen und erstarrte Strukturen richten, nicht hauptsächlich die Bedürfnisse von sehr jungen Menschen und allenfalls die Interessen privilegierter Minderheiten an, die sich das Unterwegssein und diese Art von Wanderlust eben leisten können?

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Angesichts der legitimen Bedürfnisse einer großen Zahl von Menschen nach verläßlicher, also stabiler Existenzsicherung kann rastloser Erneuerungsdrang auch einen bloß verspielten oder luxuriösen Charakter annehmen. Über Richtung, Umfang und Geschwindigkeit des Veränderns wäre also ebenfalls noch zu reden, und wohl nur ein von allen guten Geistern verlassener Mensch würde die bestehenden Verhältnisse in sämtlichen Hinsichten fortwährend um- und umzuwenden versuchen. Auch der Widerstand gegen Erneuerung hat also sein Wahrheits­moment, wenn er sich gegen verantwortungslose Experimentierwut zur Wehr setzt. Manches >Neue< will ja auch gar nicht wirklich die befreiende Veränderung, sondern es will nur an die Macht.

Schwieriger steht es mit einem anderen, tief in unserem psychischen Haushalt verwurzelten Widerstand gegen Neues, wie er deutlich wird in der viel Herzenskenntnis verratenden Bitte >Fürchtet euch nicht!<, mit der vor zweitausend Jahren einer Gruppe von einfachen Leuten etwas sehr Neues angekündigt wurde: Furcht und Ängste sind bei den meisten Menschen tief eingefleischte Reaktionen auf Neues und auf Veränderungen.

Warum? Das Vertraute, und mag es auch ungerecht und fehlerhaft sein, gibt auf die Dauer ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, wie alle Gewohnheiten es bieten. Das Sicherheitsbedürfnis vieler Menschen und die Angst bei seiner Bedrohung sind mit die stärksten Widerstandskräfte gegen das Neue. Wahrscheinlich sind viele Innovationsversuche in der Geschichte, darunter gerade auch die für mehr Solidarität und Menschenliebe optierenden, bisher unter anderem deswegen gescheitert, weil sie im Grunde lieblos unternommen wurden: weil sie für die Ängste und Vorbehalte derjenigen, die für den Neuansatz gewonnen werden sollten, nicht genügend Aufmerksamkeit und Geduld aufbrachten.

Die kreative Regression mutet uns immer zu, Teile unserer Grenzbefestigungen und seelischen Schutzvorrichtungen preiszugeben. Das Neue muß daher in glaubwürdig Vertrauen stiftender Verkörperung auftreten, wenn es diese Ängste zu überwinden helfen soll. Vielleicht ist dabei auch manchmal freundliche Kühnheit hilfreich, mit der Überängstliche vor >vollendete< (also: möglichst wenig mangelhafte!) neue Tatsachen gestellt werden. Soviel erinnerlich ist, sind wohl damals in Palästina nicht erst Meinungs­umfragen bei Hirten, Königen und römischen Besatzungssoldaten gemacht worden, bevor das Neue, das von der Gegend um Nazareth seinen Ausgang nahm, in die Welt kam ...

 

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Die Universität als Spezialität

 

Die Forschungs- und Bildungsstätte, die wir als >Universität< kennen, trägt eigentlich einen irreführenden Namen, denn sie war nie >universitas< (lateinisch = Gesamtheit, Weltall) im Sinne einer alle Lebensbereiche umfassenden Einrichtung. Von Anfang an beherbergte sie nur >Bruchstücke< des Ganzen: eben die Wissenschaften und damit eine Spezialistengruppe, deren Gewerbe in der arbeitsteiligen Gesellschaft das Erkenntnisgeschält ist. Selbst die Philosophen, die sich zwar in ihren gelehrten Unterhaltungen mit dem >Ganzen< befassen, haben bekanntlich als Eheleute, Väter, Hausbesitzer oder Bundeswehr-Reservisten jeweils noch in völlig anderen Wirklichkeitsbereichen zu tun (und dort auf andere Weise) als beim Erkennen.

Gegenüber den Universitäten und Akademien, die man vielleicht besser (europäische) <Spezialitäten> nennen sollte, gibt es Einrichtungen, die sich mit sehr viel mehr Recht >Universität< nennen dürften, weil sie alle Teilbereiche der Existenz bei den in ihnen lebenden Menschen umfassen können: die Gemeinwesen der gelebten Utopien. Die verschiedenen Rollensysteme (zum Beispiel das ökonomische der Arbeitsteilung und der Berufe, das politische der Willensbildung, das soziale der solidarischen Beziehungen und so weiter) zerfallen bei ihnen nicht in die schillerschen Bruchstücke, sondern bilden ein sinnvolles Ganzes. In die traditionelle Universität, auch wenn sie über das ganze Weltall nachdenkt und redet, geht immer nur ein Teil menschlicher Existenz ein: eben der nachdenkende und redende. Jedermann weiß, daß dies nicht der ganze Mensch ist, und >Nicht­akademiker< haben auch immer ein sehr präzises Gefühl dafür gehabt, wie vergleichsweise beschränkt, einseitig und lebensdumm die >Universität< ist. Ihre Mitglieder haben denn auch beispielsweise in Deutschland zu Beginn des >Dritten Reichs< in ihrer überwiegenden Mehrheit politisch-moralisch aufs kläglichste versagt. Sie haben viel über Humanität und Aufklärung nachgedacht und geredet; mit wenigen Ausnahmen5 haben sie ihr humanistisch-aufklärerisches Erbe aber nicht praktisch gelebt.

Wir verdanken dieser Tradition tiefsinnige und anspruchsvolle Begründungen für ein wahrhaft menschenwürdiges Zusammenleben: unser modernes Demokratieverständnis und die berühmte Trikolore von liberté, égalité und fraternité, auch das Grundgesetz der Bundesrepublik sind inspiriert von dieser Tradition. Nur: wenn wir uns umsehen (hier und anderswo), dann bemerken wir rasch, daß von wirklicher Freiheit, Gleichberechtigung und Brüderlichkeit nur sehr bedingt die Rede sein kann.

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Warum ist das humanistisch-aufklärerische Erbe weithin bloßes Lippenbekenntnis und akademische Bücherweisheit geblieben — weitgehend folgenlos für das wirkliche Zusammenleben? Dabei soll zugestanden sein, daß wir heute in der Bundesrepublik eine so noch nie dagewesene <Freiheit> genießen, die wir übrigens nicht selbst erkämpft haben, sondern als Lebensordnung der Sieger, nach 1945, in unsere rückständige Gesellschaft eingepflanzt bekamen.

Daß es hierzulande vor 1945 noch weit unmenschlicher zuging als in der übrigen westlichen Welt, ändert allerdings nichts daran, daß dieser Westen selbst mit seinen freiheitlichen Ideen bei genauerem Hinsehen große Illusionen enthält, die seine Raubbau-Praxis, seine Armut und Unterdrückung, seine Minderheitenverfolgung, Gewalttätigkeit und Rüstungs-Manie, seine Herrschafts­strukturen, seine Lieblosigkeit und Dummheit überdecken.

Diese Zustände lassen sich auch nicht mit dem beliebten Hinweis auf noch weit unzumutbarere Verhältnisse rechtfertigen: würde man eine Körperverletzung gutheißen, nur weil sie kein Mord ist? Die parteidespotischen Verhältnisse vieler sogenannter sozialistischer Länder sind gewiß mörderisch; die wirklichen Zustände des >freien< Westens bleiben deswegen trotzdem eine dauernde Verletzung von Körper, Seele und Geist der Mehrzahl der in ihnen lebenden Menschen und sind ein Hohn auf das humanistisch-aufklärerische Erbe, als dessen Hauptverweser (im wahrsten Sinne des Wortes) die Universitäten gelten dürfen. Eine ihrer Funktionen ist es, Tarnfarben für den verborgenen, jedenfalls vielen Menschen nicht auf den ersten Blick deutlich werdenden Zustand unserer Lebensverhältnisse zu liefern, der ein pathologischer Zustand ist (Erich Fromm): befallen von einem Leiden mit mehrtausendjähriger Geschichte, das man >Pyramidenkrankheit< nennen kann, denn unsere Lebensverhältnisse sind bestimmt und verdorben durch Herrschaft.

Ein gelebter, praktischer Humanismus, für den ich in diesem Buch plädiere, kann zur Überwindung dieses Leidens beitragen; er führt zum Abbau von Herrschaft und bezieht alle ihre Erscheinungsformen mit ein. Praktischer Humanismus, wie er sich in domistischen Neuansätzen verkörpert, unterscheidet sich von den beiden theoretischen Spielarten, dem naiven und dem kritischen Humanismus der Universitätstradition, nicht in erster Linie inhaltlich, sondern im Lebensbezug, also auch danach, ob er illusionär oder existenziell-wirklich ist, und welches ideologiekritische Bewußtsein ihn begleitet.

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Naiver (vorkritischer) Humanismus ist sich seines ideologischen Charakters als Tarnanstrich und professorales Wort zum Sonntag gar nicht bewußt, bleibt mit aus diesem Grund weithin bloßes Wortgeklingel und damit folgenlos für die Praxis. Um nur an ein beliebiges Beispiel zu erinnern: Das Grundgesetz unserer Republik spricht in den Artikeln 1, 2 und 3 jedem Deutschen, gleichgültig ob männlich oder weiblich, bestimmte Grundrechte zu. Deren rechtsphilosophische Ableitung aus dem Geist des Humanismus und der Aufklärung kann an Universitäts-Instituten in ganzen Bibliotheken von Fachliteratur nachgelesen werden.

Obwohl es aber in Artikel 3 (3) heißt: »Niemand darf wegen seines Geschlechts... benachteiligt oder bevorzugt werden«, ist die Universität selbst, wie jeder weiß, bis heute vorwiegend >Männersache< geblieben.6 Schon der flüchtigste Blick in das Vorlesungs- und Personalverzeichnis irgendeiner Universität zeigt, daß der Anteil der Frauen unter den Hochschullehrern verschwindend winzig ist, verglichen mit dem Anteil der Frauen, die heute an Hochschulen studieren. Wie steht es also mit der Bevorzugung und Benachteiligung der Geschlechter im Konkurrenzkampf um Positionen in Forschung und Lehre an den Universitäten? Wo Deklarationen von Rechten und ihre von Wissenschaftlern gelieferten Begründungen dermaßen folgenlos für die alltägliche Praxis bleiben, dort eben liegt die Vermutung nahe, daß »Tarnfarben­herstellung« im Spiel ist.

Der kritische Humanismus (etwa von Marx) unternimmt es nun zwar, den ideologischen Charakter des naiven Humanismus aufzudecken. In seinem analytisch-kritischen Geschäft bleibt aber auch der Professorenmarxismus meist sehr praxisfern. Seine bisherigen <Praktiker> dagegen pflegen die wirklich kritischen Köpfe ihres eigenen Lagers bevorzugt ins Gefängnis zu stecken oder außer Landes zu jagen — wahrlich Ruhmestaten im Geist des Humanismus und der Aufklärung! Wo eine kritische Position wie die marxistische nicht praktisch wird (zum Beispiel in vorgelebten Alternativen), und wo die politisch-ökonomische Praxis, die sich auf Marx beruft, diese Position wiederum nur als Tarnanstrich für neue Despotien mißbraucht, da werden wir auch diese Spielart des Humanismus als bloße Vernebelung ansehen müssen.

Beim Professorenmarxismus sehe ich noch ein weiteres, die Brauchbarkeit seiner Theorien betrenendes Problem darin, daß seine Vertreter in aller Regel keine Verfügungsmacht über die Verhältnisse haben, die sie auf den Begriff zu bringen versuchen. Erfahrung, als korrigierende Rückmeldung aus der Praxis, trifft daher meist nur mit erheblicher Verspätung bei den Universitäts­instituten ein, in denen der Praxis ihre theoretischen Kostüme geschneidert werden.

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Das liegt unter anderem wohl daran, daß alle wirklich wissens­werten Dinge aus den politischen und ökonomischen Regiezentralen geheimgehalten und oft genug betrügerisch verfälscht werden, so daß sie meist erst lange nach dem Tode der beteiligten Akteure mühsam rekonstruiert werden können. Zu diesem Zeitpunkt ist die reale Geschichte aber längst auf neuen Bahnen unterwegs, deren eigentliche Kursbestimmung wiederum erst sehr viel später zugänglich wird. Solches Professoren­bewußtsein als >bewußt werdendes Sein< hastet auf diese Weise im Grunde immer hinter der Entwicklung her und ist folglich vor allem das Bewußtwerden von zurückliegendem, längst abgetanen Sein.

Fröhliche Wissenschaft handelt vom praktischen Humanismus gelebter Utopien und hilft selbst mit, sie zu verbreiten. Fröhliche Wissenschaft bemüht sich dabei auch (kurz war davon schon die Rede), ihren Neuansatz so darzustellen, daß die Vorbehalte, auf die er bei vielen Menschen trifft, ernstgenommen und behutsam ausgeräumt werden. Der praktische Humanismus hat allzu lange keine überzeugenden Darsteller seiner Utopien mehr gefunden. Im Bewußtsein der meisten Zeitgenossen schleppt er bis heute an dem Ballast der in seinem Namen unternommenen und gründlich fehlgeschlagenen Großversuche. Ausdrücke wie >Sozialismus< oder >Kommunismus< sind daher für viele Menschen dermaßen negativ besetzt, daß sie außerhalb der linken Subkulturen zu kaum noch benutzbaren Reizwörtern geworden sind.

Um es am persönlichen Beispiel zu verdeutlichen: selbst bei langjährigen alten Bekannten, die mir im Grunde Vertrauen entgegen­bringen, stoße ich immer wieder auf die verheerenden Wirkungen eines überstarken »Störsenders«, der jedes vernünftige Gespräch mit lautem Kreischen zerreißt, sobald einer dieser Ausdrücke auftaucht. Spätestens seit der Russischen Oktober­revolution arbeitet dieser »Störsender« im Bewußtsein vieler Zeitgenossen. Zu seinen ersten Ingenieuren gehörten Lenin und Stalin; sie und ihre Funktionärsdespotien haben gründlich dafür gesorgt, daß alle freundlichen und verheißungsvollen Töne, die einmal mit diesen Ausdrücken verbunden waren, zu etwas Angstmachendem und Beklemmendem verwandelt wurden.

Wir wissen natürlich alle: Lernprozesse, die mit so tiefreichenden Ängsten über Generationen weg zusammen­hängen, lassen sich nicht allein durch Gespräche, auch nicht durch Bücher, wieder löschen. Es ist hier ähnlich wie mit dem Christentum: sehr viele Menschen denken an dessen zu Amtskirchen ausgeartete Ungestalt, sobald die Rede darauf kommt.

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Dieser »Störsender« und seine Funktionäre haben fast zweitausend Jahre lang ebenso gründlich dafür gesorgt, daß die freundlichen und verheißungsvollen Nebentöne, die einmal mit dem Christentum verbunden waren, in leeres oder ärgerliches Geräusch verwandelt wurden, das bei der Mehrzahl der Menschen bestenfalls Achselzucken auslöst.

 

Für die Darstellung ihres praktischen Humanismus braucht fröhliche Wissenschaft also auch eine neue Sprache. Ihre wichtigsten Argumente sind natürlich die domistischen Neuansätze selbst. Doch viele Äußerungsformen des praktischen Humanismus werden in den Augen und Ohren der bestehenden, pyramidenkranken Gesellschaft leicht in dem Sinne mißverstanden, in dem Dostojewskis >Idiot< bei vielen seiner Romangenossen verkannt wurde: als Blödigkeit und verächtliche Schwäche. 

Fröhliche Wissenschaft geht jedoch davon aus, daß gerade auch pyramidenkranken Augen und Ohren Achtung bezeugt wird, wenn ihnen in ihrer eigenen Sprache (oft der einzigen, die sie zunächst überhaupt verstehen) ermöglicht wird, die Neuansätze des praktischen Humanismus als achtenswert zu erfahren. Es verlangt große Selbstdisziplin, die Pyramidensprache in diesem Sinne nur rollenweise zu sprechen, ohne ihren Verführungen mit ganzer Person zu erliegen. Viele Menschen sind dieser Versuchung immer wieder erlegen und haben wirkliche Freude am Achtunggebieten, Respekteinflößen und Herrschen gefunden, wie zum Beispiel große Teile des Klerus aller Kirchen (einschließlich der parteikommunistischen).

Was ich hier meine, ist mit einigen im Neuen Testament dargestellten Verhaltensweisen von Jesus zu veranschaulichen: so hat er offenten* im Tempel das Gespräch suchte. Er muß bei ihnen durch Sachverstand und Klugheit Eindruck gemacht haben; sie hätten sich sonst nicht <verwundert>. Es kam aber Jesus sicher nicht darauf an, <Eindruck> zu machen; die Freude am Imponieren gehört zur Welt der Pyramiden­krankheit. Er hat auf diese Weise seiner neuen Lehre jedoch Achtung verschafft. Er hat ferner Kranke geheilt — ebenfalls etwas, was außer der unmittelbaren Hilfe für die Betroffenen in den Augen der Welt Achtung verlangt. Er hat sich sogar in besonderen Fällen nicht gescheut, >Gewalt< anzuwenden (Luk. 19, 45-46): sicher nicht aus Lust am Krawall, sondern um den Händlern, die ihr Geldgeschäft im Tempelbezirk zu verrichten pflegten, die Achtung vor anderen als nur ökonomischen Werten in Erinnerung zu rufen.

Fröhliche Wissenschaft macht also ihre Neuansätze erkennbar, gibt sich deutlich zu erkennen und redet mit möglichst verständlicher Sprache, gelegentlich verwendet sie dabei auch Kraftausdrücke. Vor allem aber überläßt sie das Erkenntnisgeschäft nicht länger den Spezialisten. Der praktische Humanismus ist zu lebenswichtig, als daß wir ihn von den Universitäten verwesen lassen dürften.

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*detopia-2008: So in meinem Original. Er meint sicherlich etwas wie offenbar.

 

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