Teil 1    

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2. Zur Häufigkeit von Selbsttötungen

 

    in der SBZ / DDR

 

 

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2.1 Die hohe Selbsttötungsrate der DDR — Folge vorbildlicher statistischer Erfassung?

Die DDR gehörte zu den Staaten, in denen überdurchschnittlich viele Menschen durch eigene Hand starben. Im weltweiten Vergleich der Selbst­tötungsraten (d.h. der Anzahl von Selbsttötungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr) nahm der »erste sozialistische Staat auf deutschem Boden« seit seinem Bestehen einen Spitzenplatz ein. Jährlich beendeten etwa 5000 bis 6000 DDR-Bürger ihr Leben durch eigene Hand. Zwar waren Selbsttötungen in ganz Deutschland recht häufig, die Statistiken verzeichneten aber in der DDR durchgängig höhere Selbsttötungsraten als in der Bundesrepublik.

 

Abb. 1:  Selbsttötungsraten in den Westzonen/BRD und in der SBZ/DDR 1946-1989. 1)

 

1)  Wenn nicht anders angegeben, entsprechen die in den Diagrammen auf der vertikalen Achse angegebenen Zahlenwerte stets der Anzahl von Selbsttötungen pro 100000 Personen pro Jahr. Zahlen für die DDR aus: Rainer Leonhardt/Rolf Matthesius, Zu suizidalen Handlungen in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, Diss. Berlin 1977, Tabellen-Anhang 4a; Werner Felber/Peter Winiecki, Suizide in der ehemaligen DDR zwischen 1961 und 1989 — bisher unveröffentlichtes Material zur altersbezogenen Suizidalität, in: Suizidprophylaxe 25 (1998) 2, S. 42-49. Zahlen für die Bundesrepublik aus: Armin Schmidtke, Entwicklung der Suizid- und Suizidversuchshäufigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1970-1988, in: Suizidprophylaxe 16 (1989), S. 271-280, hier 277 sowie Statistisches Bundesamt (www.gbe-bund.de).

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Generell wirft das die Frage auf: Kann man den Statistiken glauben? Haben sich Menschen in der DDR tatsächlich häufiger das Leben genommen als in der Bundesrepublik, oder handelte es sich hierbei möglicherweise um eine Folge unterschiedlicher Erfassungsmodi?

Prof. Hans Girod, bis 1994 Dozent für Kriminalistik an der Humboldt-Universität, hat mehrfach die These vertreten, dass der Unterschied zwischen den Selbsttötungsraten von DDR und Bundesrepublik im Wesentlichen auf eine höhere Dunkelziffer in der Bundesrepublik zurückgeführt werden kann:

»Die DDR-Zahlen sind zwangsläufig deshalb höher, weil mehr Selbsttötungen aufgedeckt wurden. Eine vorbildlich geregelte Leichenschauanordnung, die gerichtsmedizinische Leichenöffnungspraxis (im Vergleich zur Bundesrepublik wurden wesentlich mehr Autopsien vorgenommen) und eine hohe Qualität der kriminalistischen Untersuchung gewährleisteten, das Dunkelfeld auf ein sehr geringes Niveau zu begrenzen.«2

Gründlichkeit und Pflichterfüllung im realsozialistischen Osten, Vertuschung und Ungenauigkeit im demokratischen Westen?

Girod begründete seine Skepsis gegenüber den Statistiken der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (SZVS), die auf ärztlichen Angaben der Todesursache basierten, mit eigenen Erfahrungen: In einer von Girod betreuten kriminalistischen Diplomarbeit aus dem Jahr 1981 konstatierten die Autoren eine übertriebene Neigung der Ärzte der Dringlichen Medizinischen Hilfe, einen unnatürlichen Tod zu bescheinigen; bei »23 Prozent aller als nichtnatürlicher Tod angegebenen Sachverhalte« stellte die Obduktion dann aber einen natürlichen Tod fest.3 

Allerdings lieferten die Autoren einer anderen, ebenfalls von Girod betreuten Diplomarbeit auch ein gegensätzliches Beispiel: »Beim Abtransport einer weiblichen Leiche stellte man fest, daß diese Person eines nichtnatürlichen Todes gestorben war. Die Schnüre eines Wäscheständers waren fest um den Hals der Frau geschlungen. Erst jetzt wurde die Kriminalpolizei benachrichtigt.« Im Gegensatz zu der Ärztin, die »die >Leichenschau< von der Zimmertür aus durchgeführt hatte«, ermittelten die Polizisten dann das Vorliegen einer Selbsttötung.4 

Es könnte sein, dass sich die Irrtümer in der großen Menge der Suizidfälle wieder ausgeglichen haben: Berichte der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik und der Volkspolizei, die Mitte 1977 unabhängig voneinander für Staats- und Parteichef Erich Honecker angefertigt wurden, lassen jedenfalls erkennen, dass sich die

 

2)  Hans Girod, Leichensache Kollbeck und andere Selbstmordfälle aus der DDR, Berlin 2000, S.23. 
3)  Gerald Höfer/Wolfgang Opitz, Aktuelle Probleme der Untersuchung nichtnatürlicher Todesfälle, dargestellt am Beispiel der Gruppe >Unnatürliche Todesfälle< (UT) des Modells PdVP Berlin, Diss. Berlin 1981, S. 50. 
4)  Hans-Georg Eichhorn/Jürgen Zech, Zur kriminalistischen Untersuchung von Suiziden unter dem Aspekt der Aufdeckung latenter Tötungsverbrechen, Diplomarbeit Berlin 1977, S. 26, in: BStU, MfS, JHS, MF zu Tbg.Nr. 169/77, Bl. 30.

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durch die Kriminalpolizei ermittelten und die auf ärztlichen Angaben beruhenden Suizidzahlen kaum unterschieden:

 Jahr                             1973   1974   1975    1976 

Zahlen der SZVS             5775   6122   6098   6142

Zahlen der Volkspolizei   5618   6129   6064   6186

Tab. 1: Gegenüberstellung der durch kriminalistische bzw. medizinische Untersuchungen ermittelten absoluten Zahl der Suizide in der DDR in den Jahren 1973-1976.5

 

Diese auch durch andere Quellen bestätigten Zahlen, die in der Größenordnung von 6000 pro Jahr lagen, lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Girods Zahlenmaterial, das nur ca. 3700 Selbsttötungsfälle pro Jahr ausweist, basiert auf unvollständigen Recherchen.6 Damit wird auch die Behauptung, die bessere Todesursachenermittlung in der DDR sei für die Differenz zur bundesdeutschen Selbsttötungsrate verantwortlich, obsolet; dafür war der Unterschied zwischen DDR und Bundesrepublik einfach zu groß.

In einem Punkt ist Girod jedoch zuzustimmen: Im Prinzip war die in der DDR praktizierte Untersuchung der Todesursache auf zwei Wegen, durch medizinische Leichenschau und kriminalpolizeiliche Ermittlung, optimal. Bereits im Jahr 1883, als dieser Erfassungsmodus in Preußen eingeführt wurde, hatte sich gezeigt, dass dadurch die Dunkelziffer reduziert und die Statistik genauer wurde. Das schlug sich in einer höheren Zahl registrierter Selbsttötungen nieder: 1883 wurden in Preußen gegenüber dem Vorjahr immerhin 3,4 Prozent mehr Selbsttötungen registriert.7)

Es stimmt auch, dass die Obduktionsrate in der DDR sehr hoch war. Zwar wurde die von der »Anordnung über die ärztliche Leichenschau«8) erhobene Forderung, Suizide »sollten« obduziert werden, mancherorts nur als Empfehlung interpretiert. So stellte die Bezirksbehörde der Volkspolizei Cottbus fest, dass in den Kreisen Hoyerswerda und Spremberg die Gerichtsmedizin nur selten in die Untersuchung von Selbsttötungen einbezogen wurde.9) 

 

5)  Vgl. Anlage »Entwicklung der Anzeigen zu Selbsttötungen« zum Schreiben von Generalleutnant Riss (Mdl) an Willi Stoph vom 7. Juni 1977 sowie Information des amtierenden Leiters der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Dr. Hartwig, über die Erfassung, Organisation und Aufbereitung der Todesursachenstatistik, in: BArch Berlin, DC 20, 13015, n. pag.  
6)  Die Zahlen sind zu DDR-Zeiten mit Hilfe von Studenten zusammengetragen worden. Telefonische Auskunft von Prof. Hans Girod am 28. Januar 2002.  
7)  Vgl. Ferdinand Tönnies, Der Selbstmord in Schleswig-Holstein, Breslau 1927, S. 40. Vgl. auch Baumann, Vom Recht, S. 202
8)  »Eine Leichenöffnung soll vorgenommen werden«, hieß es zum Vorgehen bei Suiziden gegenüber der auf andere Fälle bezogenen Formulierung »muß«. Vgl. Anordnung über die ärztliche Leichenschau vom 4. Dezember 1978, Gesetzblatt Teil I Nr. 1 — Ausgabetag: 5. Januar 1979, S. 4-8, zit. 5. In: BArch Berlin, DE 2, 60141. 
9)  Vgl. Einschätzung des erreichten Standes bei der Bearbeitung von abgeschlossenen unnatürlichen Todesfällen vom 6.2.1980, in: BLHA, BdVP Cottbus, Rep. 871/17.2, Nr. 276, n. pag-

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Im Bezirk Dresden wurde im Jahr 1975 bei 42,6 Prozent, im Jahr 1976 nur bei 37,6 Prozent aller Suizid­leichen eine Gerichts- bzw. Verwaltungssektion durchgeführt.10 Das war weniger als gefordert. Andererseits lagen diese Obduktionsraten immer noch entschieden höher als in der Bundesrepublik.11 Der Ost-West-Unterschied wurde besonders im Umbruch 1989/90 deutlich: Im Kreis Senftenberg beispielsweise wurden im Jahr 1987 ca. 91 Prozent aller Suizidleichen obduziert, nach der Umstellung auf bundesdeutsche Gepflogenheiten fiel die Rate der Sektionen im Jahr 1991 auf 18 Prozent.12

Schlüsselt man die Selbsttötungsraten nach Geschlechtern auf, dann fällt die Differenz bei den Frauen größer als bei den Männern aus. Während die registrierte Selbsttötungshäufigkeit bei den Männern im Osten Deutschlands 1,5-fach höher war als im Westen, erreichte sie bei den Frauen in der DDR im Durchschnitt 1,7-fach höhere Werte. Möglicherweise ist die hohe Obduktionsrate in der DDR eine Teilerklärung für diese Geschlechterunterschiede. Ursula Baumann hat darauf verwiesen, dass Selbsttötungen von Frauen durch die Präferenz für »weichere« Methoden (wie Tabletten oder Gas) »schon strukturell mehr Möglichkeiten zur Verschleierung« bieten.13 Insofern könnte die, betrachtet man die Relationen, um etwa zehn Prozent größere Differenz der Selbsttötungsraten bei den Frauen eine Folge nicht erkannter Suizide in der Bundesrepublik gewesen sein.

Aus der hohen Obduktionsrate in der DDR kann jedoch nicht gefolgert werden, dass dort nahezu alle Selbsttötungen als solche erkannt und registriert wurden. Bereits zu DDR-Zeiten wiesen stichprobenartige Untersuchungen eine erhebliche Untererfassung durch die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik nach. Rainer Leonhardt und Rolf Matthesius analysierten Mitte der 1970er Jahre in einer Geheimstudie die Selbsttötungshäufigkeit in der DDR-Hauptstadt, wobei ihre eigenen, anhand von Obduktionsprotokollen ermittelten Zahlen 9 bis 29 Prozent über den amtlichen Zahlen lagen.14

Neuere, nach 1989 durchgeführte Untersuchungen ergaben ähnliche Abweichungen. Im Landkreis Sebnitz erwiesen sich die amtlichen Suizidzahlen zwischen 1987 und 1991 um durchschnittlich 24 Prozent, in der Stadt Rostock ebenfalls um 24 Prozent, im Kreis Rostock-Land um 19 Prozent zu niedrig.15 Im Kreis Senftenberg lag die »wahre« Selbsttötungsrate in den Jahren 1987 bis 1989 sogar um 41 Prozent höher als die offiziellen Zahlen.16

 

10)  Vgl. Analyse der im Bezirk Dresden in den Jahren 1975 und 1976 durch die Kriminalpolizei untersuchten Suicide, in: BStU, MfS, BV Dresden, Leiter der BV, Nr. 10260, Bl. 34.
11)  Insgesamt wurden Ende der 1980er Jahre in der BRD etwa acht Prozent der Leichen obduziert. Vgl. Suizidalität in Ost und West: Daten vorschnell interpretiert? Zuschrift von R. Wegener, in: Münchener medizinische Wochenschrift 133 (1991) 13, S. 21 f.
12)  Vgl. Sonja Lippmann, Analytische Betrachtung zum Suizidgeschehen des Kreises Senftenberg in den Jahren 1987-1991, Diss. Dresden 1999, S. 37.
13)  Baumann, Vom Recht, S. 254. Vgl. dazu auch Armin Schmidtke, Probleme der zuverlässigen Erfassung, Reliabilität und Validität von Suizid- und Suizidversuchsraten als Indikatoren »psychischer Gesundheit«, in: Psycho 17 (1991) 4, S. 234-247.
14)  Vgl. Leonhardt/Matthesius, Zu suizidalen Handlungen.

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Wie konnte es in der DDR trotz »vorbildlich geregelter Leichenschauanordnung« und »hoher Qualität der kriminalistischen Untersuchung« zu so beträchtlichen Dunkelziffern kommen?

Eins ist sicher: Es lag nicht daran, dass die Daten im Staatsapparat manipuliert wurden. Absichtliche Verschleierungen hat es nicht gegeben, da sind sich alle Autoren, die sich mit dem Thema befasst haben, einig — es gab angesichts der jahrzehntelangen Geheimhaltung der Statistiken auch keinen Anlass dafür.17

 

Die Ursache war stattdessen ein »hausgemachtes« Problem der DDR, das sich aus dem mangelhaften Zusammenspiel der verschiedenen Instanzen bei der Suiziderfassung ergab: Der Arzt, der die Leichenschau durchführte, musste bei einem unnatürlichen Todesfall die Kriminalpolizei benachrichtigen und den Totenschein an die Polizisten übergeben, die ihrerseits auszuschließen hatten, dass kein Tötungsverbrechen vorlag. Bei unsicheren oder zweifelhaften Fällen wurde eine gerichtsmedizinische Untersuchung durchgeführt, in manchen Regionen wurde nahezu jede Suizidleiche obduziert. 

Innerhalb von einer Woche, in den 1980er Jahren sogar binnen 48 Stunden, musste der ausgefüllte Totenschein an das Standesamt geschickt und von dort an die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (SZVS) weitergeleitet werden. Zumeist aber wurden die Ergebnisse der Obduktionen, weil sie nicht rechtzeitig vorlagen, nachträglich mittels »Sektionskarten« an die SZVS geschickt. Theoretisch hatte bereits der Kreisarzt die Pflicht, die Totenscheine zu korrigieren, praktisch war das jedoch selten der Fall.18 Noch schwieriger war es für die SZVS. Dort konnte »ein großer Teil der Ergebnisse von den Sektionskarten [...] nicht eingearbeitet werden, weil die von den Pathologen oder Gerichtsmedizinern von den Totenscheinen auf die Sektionskarten zu übertragenden PKZ [Personenkennzahlen,19 U.G.] fehlten, unvollständig bzw. fehlerhaft waren«.20

 

15)  Vgl. Steffen Heide, Der Suizid im Landkreis Sebnitz in den Jahren 1987-1991, Diss. Dresden 1997, S. 74; Jana Laskowski, Zum Problem der »wahren« Suizidziffern — Zusammenstellung der im Stadt- und Landkreis Rostock obduzierten Suizide (1980-1990) im Vergleich mit der offiziellen Todesursachenstatistik, Diss. Rostock 1999, S. 81.  
16)   Vgl. Lippmann, Suizidgeschehen des Kreises Senftenberg. 
17)  Vgl. G. Wiesner/W. Casper/K. E. Bergmann, Alterssuizidalität in West und Ost: Trend der Suizidmortalität 1961-1989, in: Bundesgesundheitsblatt 35 (1992) 9, S. 442-447, hier 443; Statistisches Bundesamt (Hg.), Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 27, Gesundheits- und Sozialwesen in Übersichten (Teil IV), Wiesbaden 1995, S. 11-13; Reiner Hans Dinkel/Edmund Görtier, Die Suizidsterblichkeit der Geburtsjahrgänge in beiden Teilen Deutschlands, in: Soziale Präventivmedizin 39 (1994), S. 198-208; Olga Jacobasch, Wissenschaftliche Suizidliteratur der DDR als Verschlußsache, Diss. Dresden 1996, S. 61; Felber/Winiecki, Material. 
18)  Vgl. Axel Wendland, Untersuchungen zu der Validität der amtlichen Mortalitätsstatistik der ehemaligen DDR (Untersuchungsstichprobe: Sterbefälle der Stadt Rostock des Jahres 1988), Diss. Rostock 2001, S. 111.  
19)  In den 1980er Jahren wurde jeder DDR-Bürger über eine 12-stellige Personenkennzahl (PKZ) identifiziert.

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So blieb die Obduktion, die oft wesentlich genauere Kenntnisse über die Todesursache erbrachte, wie auch vieles andere in der DDR eine isolierte »Errungenschaft«, die vielleicht im Einzelfall eine größere Rechtssicherheit bewirken konnte, aber hinsichtlich der Qualität der Statistiken nahezu wirkungslos blieb. Da sich die Obduktionsergebnisse nur in geringem Maße bei der Erstellung der Statistik auswirken konnten, war die Selbsttötungsstatistik der DDR im internationalen Vergleich dann auch nur von durchschnittlicher Genauigkeit.

Dennoch ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Erfassung von Selbsttötungen in der DDR genauer war als in der Bundesrepublik. Eine von westdeutschen Wissenschaftlern durchgeführte nachträgliche Überprüfung der DDR-Todesursachenstatistik von 1989 stellte eine »weit überdurchschnittlich hohe Übereinstimmung von Totenschein und Sektionsergebnis« fest. Die den Totenschein ausstellenden Ärzte in der DDR könnte das Wissen darüber, dass sich in den meisten Fällen eine Obduktion anschloss, davon abgehalten haben, einen »erkannten oder vermuteten Suizidfall nicht als solchen in den Totenschein einzutragen«.21 Vor allem aber dürfte in der DDR mit ihren protestantisch bzw. atheistisch geprägten Milieus seltener ein Interesse von Familienangehörigen an einer Verschleierung von Selbsttötungen aus versicherungsrechtlichen oder religiösen Motiven bestanden haben.

Allgemein gehen Suizidforscher davon aus, dass Verschleierungen dort erheblich intensiver betrieben werden, wo »Suizid als besonders schimpflich gilt«.22 So könnten Mediziner in der Bundesrepublik, wo der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung wesentlich größer war, in einer statistisch relevanten Zahl von Fällen eine andere Todesursache in den Totenschein eingetragen haben, um eine soziale Ächtung der Angehörigen zu vermeiden. Da nur selten eine Obduktion stattfand, war die Aufdeckung eines solchen »Irrtums« wenig wahrscheinlich.

Die bundesdeutsche Polizei, die noch bis 1965 eine eigene Selbsttötungsstatistik erstellte, kam fast durchgängig zu höheren Selbsttötungsziffern als die (auf den Angaben der Totenscheine basierenden) amtlichen Statistiken. Das kann als Indiz für die Bereitschaft der Ärzte in der Bundesrepublik interpretiert werden, Suizide auf dem Totenschein anders zu klassifizieren, und gleichzeitig als Maß für die Dimension dieser Verschleierungen: Die Abweichungen betrugen, wie in Abbildung 2 dargestellt ist, maximal vier Prozent. Jedoch muss auch bei den polizeilichen Ermittlungsergebnissen eine Dunkelziffer angenommen werden, da vor allem in katholisch geprägten Gegenden Angehörige häufig versuchten, Selbsttötungen zu vertuschen, wie aus einem Bericht von Düsseldorfer Polizeibeamten aus dem Jahr 1985 anschaulich hervorgeht:

 

20)  Statistisches Bundesamt (Hg.), Sonderreihe, S. 9. 
21)  Dinkel/Görtler, Suizidsterblichkeit, S. 201. 
22)  Gerhard Simson, Die Suizidtat. Eine vergleichende Untersuchung, München 1976, S. 19. 

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Abb. 2: Selbsttötungsraten der Bundesrepublik 1953-1964 nach den Angaben des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Statistik.23

»Angehörige der Toten tun oft alles, um das scheinbar Schändliche solchen Tuns zu verschleiern, zumal sie sich häufig genug der moralischen Schuld nicht entziehen können, die doch oft deutlichen Signale der bevorstehenden Selbsttötung, die Hilferufe der Betroffenen, nicht ernstgenommen zu haben. So geschieht es immer wieder, daß sie Abschiedsbriefe, Gefäße mit Tablettenresten und andere Auffälligkeiten verschwinden lassen, Erhängte vom Strangulationswerkzeug abnehmen, den Leichenfundort verändern, die Wohnung in einen <unverdächtigen> Zustand bringen und damit die Arbeit der Kriminalpolizei erschweren.«24

Bereits im Jahr 1959 hatte der Dresdner Sozialhygieniker Lengwinat (unter Verwendung bundesdeutscher Publikationen) vermutet, dass »in der BRD aus religiösen oder versicherungsrechtlichen Gründen, infolge gesellschaftlicher Rücksichtnahme u.a. ein stärkeres Bestreben nach Dissimulation eines Selbstmordes besteht als in der DDR«.25 

Als Indiz dafür, dass es sich bei....

 

23)  Zahlen aus: Reinhard Rupprecht, Nimmt die Zahl der Selbsttötungen zu?, in: Kriminalistik 27 (1973) 4, S. 153-155, hier 153.
24)  Rudolf Niederschelp/Jürgen Koch, Wenn Menschen nicht mehr weiter wissen, in: Polizeipräsident Dr. Hans Lisken (Hg.), Polizei in Düsseldorf 1985, Düsseldorf 1985, S. 42-47, zit. 42.
25) Vgl. A. Lengwinat, Vergleichende Untersuchungen über die Selbstmordhäufigkeit in beiden deutschen Staaten, in: Das deutsche Gesundheitswesen 16 (1961) 19, S. 873-878, hier 877. Der Hinweis auf versicherungsrechtliche Motive zur Verschleierung von Suiziden basierte auf der Tatsache, dass in der Bundesrepublik Lebensversicherungen bei Suizid nicht oder nur dann, wenn eine bestimmte Zeit zwischen Vertragsabschluss und Tod vergangen war, ausgezahlt wurden.

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