Teil 2  

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6.6.  Zur Tabuisierung 

von Selbsttötungen in der NVA 

 

 

 

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Ein schriftliches Zeugnis der außergewöhnlich starken Tabuisierung von Selbsttötungen bei der NVA stellt die im Juni 1978 von dem Militärmediziner Bernd-Joachim Gestewitz an der Universität Greifswald eingereichte Dissertation mit dem Thema »Zur Erkennung, Behandlung und militärmedizinischen Begutachtung selbstmordgefährdeter Armeeangehöriger« dar; das war im Übrigen die einzige wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema in der NVA. 

Um ein Bekanntwerden der Ergebnisse zu verhindern, wurde die Arbeit nicht nur mit dem Geheimhaltungsgrad »Vertrauliche Verschlußsache« versehen. Gestewitz glaubte zudem, selbst gegenüber den wenigen Rezipienten der Arbeit mittels Zahlenverwirrung den Eindruck erwecken zu müssen, »daß die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR wohl eher einen positiven Einfluß auf das Selbstmordgeschehen genommen haben muß«. Unter Heranziehung der exakten Zahlen hätte Gestewitz einen Anstieg der Selbsttötungsrate der DDR von 26,7 im Jahr 1956 auf 32,0 im Jahr 1972 konstatieren müssen. 

Die hier erfolgte Verschleierung der Suizidzahlen verdeutlicht die Tiefenwirkung der SED-Diktatur, die ein kommunikatives Klima schuf, in dem das Benennen unangenehmer Wahrheiten selbst hinter verschlossenen Türen vermieden wurde. Im Kreis führender Militärärzte legitimierte Gestewitz sein Forschungs­thema, indem er auf eine Beratung bei der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED, der höchsten gesundheitspolitischen Institution der DDR, verwies. Wie bedeutsam das war, wurde allein dadurch unterstrichen, dass zwei der drei Gutachten zu der Promotion nochmals darauf eingingen.68)

Eine weitgehende Verinnerlichung des Tabus ist auch hinter der apodiktischen Behauptung von Gestewitz zu vermuten, dass »die physischen, psychischen und sozialen Belastungen des Wehrdienstes nicht als Ursache für Selbstmordhandlungen angesehen werden« könnten,69) zumal die Aussage in Widerspruch zu der Tatsache stand, dass über die Hälfte der von Gestewitz explorierten Suizidpatienten angegeben hatten, ihr Suizidversuch wäre als Reaktion auf Bedingungen in der Armee (dienstliche Konflikte, Anpassungsschwierigkeiten oder Strafen) erfolgt. 

Gestewitz bagatellisierte zudem auch das — ebenfalls in seiner Arbeit dokumentierte — Ergebnis, dass 55 Prozent der Suizidversuche im 1. Diensthalbjahr stattgefunden hatten; die sogenannte »EK-Bewegung« wurde von Gestewitz nicht einmal in verklausulierter Form erwähnt. So ergibt sich die ironische Konstellation, dass Gerstewitz' Schlussfolgerungen zwar im Großen und Ganzen durch die Statistiken gestützt werden (vgl. Abschnitt 2.5 in diesem Buch), seine Aussagen aber dadurch, dass er entscheidenden Problempunkten ausgewichen ist, statt diese eingehend zu diskutieren, nicht als wirkliche Erkenntnisse, sondern als bloße Behauptungen erscheinen.

68)  Vgl. Gutachten von Oberst Bousseljot, Oberst Fanter und Oberstleutnant Schmechta, in: BA-MA Freiburg, VA-01, 39687, Bl. 32-49.  
69)  Gestewitz, Erkennung, S. 135.


Eine absolute Verleugnung dienstlicher Suizidmotive hat zwar bei deutschen Streitkräften eine lange Tradition, erscheint aber vor allem im synchronen Vergleich zum Umgang mit Selbsttötungen in der Bundeswehr als ignorant und rückständig.70)

Die Tabuisierung hatte in der NVA (wie schon bei Selbsttötungen in den Gefängnissen und in der SED-Führung) nicht selten die paradoxe Konsequenz, dass sie die politischen Verdachtsmomente bestärkte, die sie verleugnete. Das zeigte sich zum Beispiel im Jahr 1976 in einer Kleinstadt im Süden der DDR. Dort wurde ein 19-Jähriger beerdigt, der sich während seines Grundwehrdienstes erschossen hatte.71) 

Zwei Offiziere der Grenztruppen, die an der Beisetzung teilnahmen, wurden von ehemaligen Schulfreunden des Toten als »Schweine« beschimpft. Daraufhin verhörte die Kriminalpolizei die Jugendlichen. Es stellte sich heraus, dass diese ihr Wissen »aus den unqualifizierten und entstellenden Gesprächen Erwachsener bezogen hatten«. Der Vorfall, der in einer FDJ-Versammlung »ausgewertet« wurde, war bezeichnend für die kommunikative Zwanghaftigkeit in der SED-Diktatur. Die Staatsmacht behauptete definitiv, die Armee treffe keine Schuld, und setzte jene, die etwas Gegenteiliges behaupteten, unter Druck. Für die Freunde des Verstorbenen hingegen war von vornherein klar, dass nur die Armee an dem Tod schuld sein konnte. Durch repressive Behandlung (Verhör, Auswertung) wurde der Verdacht bei ihnen eher noch bestärkt.

Der junge Mann, der am 20. Oktober 1976 versucht hatte, sich aus einem Fenster zu stürzen, war in das Zentrale Armeelazarett eingeliefert, dort untersucht und wieder entlassen worden, da bei ihm keine Krankheit festgestellt werden konnte. Zwischenzeitlich sprachen ihm die Eltern und seine Freundin in Briefen Mut zu. Dennoch erschoss er sich einen Monat später. Über das Motiv seiner Selbsttötung ist nichts bekannt.72) 

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70)  Vgl. Preuschoff, Suizidales Verhalten, S. 88.  
71)  Vgl. StAC, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Abt. Volksbildung, Nr. 057848, n. pag  
72)  Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 13723, Bl. 153f.

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