11 Hüten, weben, handeln: Schäfereigenossenschaft Finkhof
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Am Morgen holen die beiden Schäfer die Hütehunde aus dem Zwinger, die sich auf der Ladefläche des Mazda-Kombi niederlassen. Langsam rollt der Wagen vom Hof, an dem gelben Schild "Finkhof — Produkte rund ums Schaf" vorbei auf die Dorfstraße von Arnach. Ein Arbeitstag der Finkhof-Schäfer hat begonnen. Ein Tag im April, kurz nach Ostern. Das Wetter ist über Nacht umgeschlagen. Die Bläue des Himmels und die kräftigen Sonnenstrahlen der letzten Tage sind wie weggeblasen.
Die zerklüftete Silhouette der Allgäuer Alpen, die vom Föhnlicht in Reichweite gerückt schien, ist wieder unsichtbar. Ein eisiger Wind weht von Norden über die Hügel. Barny und Günther nehmen den Kälteeinbruch gelassen hin. Günther ist mit Schaftstiefeln und brauner Cordhose wetterfest gekleidet, hat Hemd, blaue Baumwoll-Arbeitsjacke, gefütterte Lederweste und robuste Regenjacke übereinandergezogen. Den Kopf wärmt ein schwarzes Barett. Die Herde, zu der wir unterwegs sind, hat diese Nacht unbehütet im Pferch verbracht. Erst später, auf der Sommerweide, bleibt der Schäfer nachts im Wohnwagen bei ihr. Noch aber sind die Schafe auf der Frühjahrswanderung.
Der April ist in Schwaben traditionell die Zeit, in der die Wanderschäfer mit ihren Herden "auf die Reis' gehen", also die Winterweide verlassen und den langen Marsch zur Sommerweide antreten. Die Finkhof-Herde hat bei Königseggwald überwintert, im Pfrunger Ried, einem ausgetorften Moorgebiet, wo der Wärmespeicher Bodensee schon zu fühlen ist. Dort haben die Mutterschafe abgelammt. Jetzt ziehen die Lämmer schon mit der Herde, langsam, in kurzen Etappen, nach Nordosten. Etwa 100 Kilometer weit, über die Donau, auf die Schwäbische Alb bei Blaubeuren. Dort, in der Regel an einem Tag im Mai, wenn die Eisheiligen vorüber sind, ist die Schafschur.
Den Sommer über wird die Herde die Wacholderheiden abgrasen und dann bei Wintereinbruch, im November, über oft schon hartgefrorene Wege und verschneite Wiesen auf derselben Route zurück auf die tiefergelegenen Weiden "marschieren".
Das Jahr des Wanderschäfers spielt sich — im Prinzip seit der Jungsteinzeit — nach immergleichem Rhythmus ab: unterwegssein im Wechsel der Jahreszeiten, von Weide zu Weide, von Lagerplatz zu Lagerplatz, um keine Futterquelle zu übernutzen. Nomadenleben ist alte nachhaltige Ökonomie.
Durch die Windschutzscheibe mustern Barny und Günther jedes Fleckchen Boden draußen, als wir uns den Rändern von Bad Waldsee nähern. Sie suchen ihre Route für die nächsten Tage. "Schwemm-Mist! Alles zugeschissen", schimpft Barny. Kein Schaf, es sei denn, es stehe kurz vorm Verhungern, fresse Gras von einer mit Gülle berieselten Wiese. Intensivlandwirtschaft und Schafhaltung sind alte Feinde.
Wir fahren langsam weiter. Barny zeigt auf eine Neubausiedlung, schmucke, weißverputzte Eigenheime, verschachtelt gebaut, mit Anbindung ans Straßennetz. Nicht weit ein Supermarkt mit großflächigen Parkplätzen, die sich jetzt am Samstagvormittag rasch füllen. "Vor fünf Jahren war das noch bestes Weideland." In langen Reihen stehen neue Wohnmobile vor einer Fabrikhalle. Die Umgehungsstraße ist kreuzungsfrei ausgebaut und nur auf Fußgängerbrücken zu überqueren. Jenseits der Stadt, die mir tags zuvor beim Flanieren in der mittelalterlichen Altstadt wie ein beschauliches schwäbisches Städtele vorgekommen war, passieren wir ein riesiges, hügeliges Gelände. Kein Baum, kein Strauch, nur von Planierraupen umgebrochene, nackte, braune Erde. Der Rasen des Golfplatzes wird gerade für die neue Saison eingesät. Was die Wanderschäferei an Lebensraum braucht, wird zur Zeit radikal eingeengt. Der alte Flickenteppich der Landschaft reißt ein. Wiesen, Wegraine, Ödländereien — ein wertvoller Flicken nach dem anderen wird geteert, zubetoniert, versiegelt und für die Schafe unbrauchbar gemacht.
Gegen elf Uhr sind wir bei der Herde: 600 Muttertiere, dazu noch etwa 120 Lämmer. Es sind Merino-Schafe und eine Kreuzung aus Bergschafen und Merinos. Sie liefern dem Finkhof Fleisch, Felle und Wolle für seine Produkte rund ums Schaf.
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Die Rohstoffe mit der eigenen Herde selbst erzeugen, sie selbst verarbeiten und vermarkten — ohne bezahlte Lohnarbeit — und davon leben. Das ist die ursprüngliche Idee der Finkhof-Kommune. Heute ist die eigene Herde längst nicht mehr die alleinige ökonomische Basis, aber doch noch mehr als ein gutpoliertes Aushängeschild.
Der Pferch steht windgeschützt am Waldrand. Ein Geviert von etwa 50 Metern Seitenlänge. Steckstangen aus Metall im Abstand von zehn Metern halten das Knotengitter. Der Zaun ist an einen Batteriekasten angeschlossen. Zehn Meter wiegen ein Kilo. So ein moderner Elektropferch ist handlich, paßt in jeden Kofferraum, eine Handkarre würde auch genügen. Die Herde grast ruhig. Keine besonderen Vorkommnisse in der Nacht. Ein paar Mutterschafe suchen noch nach ihren Lämmern, die ihnen gestern zum Schlachten weggenommen wurden. Günther beobachtet zwei, drei lahmende Tiere und merkt sich die Nummern der Ohrenmarken. Wir bauen in zehn Minuten den Pferch ab und packen ihn auf den Anhänger. Barny bringt ihn ein paar Kilometer weiter zu der Stelle, wo abends gepfercht werden soll. Dort läßt er den Anhänger stehen und fährt zurück zum Finkhof.
Die Schafe grasen noch eine Stunde in der Umgebung der Koppel. Dann gibt Günther das Signal zum Aufbruch: ein Lockruf "hollahopp" und ein paar langgezogene Pfiffe. Die Herde strömt zusammen, von den Hunden umkreist, und setzt sich in Bewegung. Sie marschiert zügig, drängt ungestüm vorwärts. Ich muß mich sputen, um Schritt zu halten. Die Hunde flankieren jetzt links und rechts, schirmen die neuen Saaten auf den Äckern ab. Die Kulturen der Bauern nicht zu beschädigen ist oberstes Gebot. Bald ist der neue Weideplatz, den die beiden Schäfer für heute ausgesucht haben, erreicht. Eine große Fläche Grünland zwischen Waldrand, Ackerrain und der Rasen-Landebahn eines kleinen Sportflugplatzes. In der Ferne sind die barocken Anlagen des Klosters von Reute zu sehen. Der Wind bläst kalt über das freie Gelände, auf dem die Herde nur wenig auseinandergezogen grast und sich allmählich auf die Landebahn zu bewegt. Die Zeit verrinnt jetzt langsam.
Die Kunst des Hütens?
"Streß vermeiden, die Schafe in Ruhe fressen lassen, sie satt und zufrieden machen", sagt Günther, der sein Handwerk bei einer LPG im Thüringer Wald gelernt hat und seit zwei Jahren auf dem Finkhof ist.
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Die Weide so einteilen, daß die Qualität des Futters von einer Fläche zur nächsten besser wird, damit die Schafe auch noch Anreiz zum Fressen haben, wenn der Hunger eigentlich gestillt ist. Die Hunde so abrichten, daß sie die Herde als Ganzes ansehen und zusammenhalten und jedem Schaf die Grenzen der Hüteflächen zeigen, ohne es zu verletzen. Ein Auge für kranke Schafe haben, die Mittel, sie zu heilen, kennen und anwenden können. Die Finkhof-Schäfer experimentieren mit homöopathischen Heilmitteln.
Die beiden lahmenden Lämmer, die Günther zu Beginn bemerkt hatte, werden jetzt gesucht. Er läßt die Herde langsam im Kreis laufen und beobachtet sie konzentriert, wobei er sich auf seine Schippe stützt, das von alters her wichtigste Werkzeug, sozusagen der verlängerte Arm des Schäfers. Die Schippe besteht aus einem beinahe mannshohen Schwarzdornstock, an dem eine kleine eiserne Schaufel und ein Fanghaken befestigt sind. Der Schäfer braucht sie zum Ausgraben von Giftpflanzen und Disteln und, wie jetzt, zum Einfangen eines Tieres. Als Günther eins seiner lahmenden Schafe entdeckt, stürmt er los, klinkt den Haken der Schippe am Hinterbein des Schafes ein und hebelt es aus. Ein Dorn steckt in der Klaue. Der Schäfer wetzt sein Taschenmesser, schneidet in das Hufgewebe hinein und entfernt den Dorn. Etwas Desinfektionsspray auf die behandelte Stelle, und das Schaf ist verarztet.
Schafe gelten als die genügsamsten Haustiere. Ihr Futter braucht nicht angebaut zu werden. Im Sommer weiden sie auf Wacholderheiden, Steilflächen oder Ödland, das kein Bauer nutzen kann. Und im Winter verwerten sie überwiegend Reste, vor allem das Gras, das noch auf den Wiesen steht, und machen auch daraus noch Eiweiß und Wolle. Schafwolle ist ein nachwachsender Rohstoff par excellence. In einer nachhaltigen Ökonomie, die ja auf nachwachsenden Rohstoffen basiert, würde die Wanderschäferei ihre Bedeutung behalten und erhöhen. Wir haben minimale Produktionskosten, sagen die Finkhof-Schäfer, und dadurch sind wir rentabel. Diese Art der Schafhaltung wäre also — ökologisch und ökonomisch gesehen — zukunftsfähig. Es sei denn, die Gentechniker, die "Dolly" in ihren Retorten geklont haben, bekommen die Zukunft in ihren Griff. Das Foto ihres Produkts geht in den Tagen, die ich in der Schäfereigenossenschaft verbringe, durch die Zeitungen.
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Die Kunst des Hütens nach alter Tradition - die Finkhof-Schäfer beherrschen sie noch.
Der Tag auf der Weide verläuft ruhig. Spät am Nachmittag gehen wir hinüber zu der für die Nacht vorgesehenen Koppel und stellen den Elektropferch auf. Dann holt der Schäfer die Herde nach und pfercht sie ein. Als es dunkel wird, kommt Barny, um uns abzuholen. Der Gemeinschaftsraum im Finkhof, der mit der niedrigen, von schweren Balken gestützten Decke und den blankgescheuerten Holztischen an die Gaststube eines alten Wirtshauses erinnert, ist um diese Zeit längst verlassen. Aber für die späten Heimkehrer ist der Tisch gedeckt. Das Essen - es gibt Hammelfleisch mit Curryreis - steht warm. Man bespricht kurz den nächsten Tag. Der morgige Sonntag, relativ verkehrsarm, soll für eine längere Wanderung mit der Herde genutzt werden: zehn, zwölf Kilometer hinüber ins Wurzacher Ried.
Exe wird dann das Hüten übernehmen. Er ist ein Veteran des Finkhofs. Fast von den Anfängen 1971 an dabei, als Schäfer und im Laufe der Jahre immer stärker als Manager. Zusammen mit Mike ist er für das Finanzwesen der Kommune zuständig, also für die Bilanzbuchhaltung, Vorbereitung von Investitionsentscheidungen, Anträge auf landwirtschaftliche Prämien.
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Büroarbeit ohne Ende. Ja klar, sagt er, als ich ihn frage, ob er trotzdem noch manchmal so etwas wie eine Romantik des Hütens spüre.
"Weischt, so am Abend, wenn die Sonne am Untergehen ist, und die Schafe stehen da und fressen, oder du kommst nachts an den Pferch, die liegen alle da, und du hörst dieses mahlende Geräusch, wie die da wiederkäuen, das strahlt einfach so eine Ruhe aus. Da bist du selber zufrieden, weil du hast das ja soweit gebracht, daß sie so zufrieden sind. Und Geburt und Tod und die ganzen Geschichten, die da dranhängen. Wenn so eine Schwergeburt ist, und du bleibst drei Stunden und holst dann zwei oder drei lebendige Lämmer raus, Lämmer, die hundertprozentig tot wären, wenn man nix macht, das ist einfach gewaltig. Da krieg' ich jetzt noch 'ne Gänsehaut." Aber: Wer 360 Sonnenaufgänge im Jahr sehe, der schaue beim 361. halt nur noch mit einem halben Auge hin.
Exe hat vor einiger Zeit ein Sabbatjahr gemacht. Zusammen mit Barbara, der Weberin, ist er ein Jahr lang auf einem Segelboot durchs Mittelmeer gepflügt. Jetzt planen die beiden eine Weltumsegelung. Die soll fünf Jahre dauern. Ausstieg aus dem Ausstieg? Oder danach wieder in die Schäfereigenossenschaft einsteigen? Das stehe noch in den Sternen.
"Da geht grad' der Alfonso, da möcht' ich mich verabschieden." An dieser Stelle unterbricht Exe unser Gespräch und geht auf den Hof hinaus.
Alfonso, ein Genosse aus Teneriffa, der zu Besuch gewesen war, lädt gerade sein Gepäck in das Auto, das ihn zum Flughafen bringen soll. Ein paar Finkhöfler umringen ihn. Lachen, Tränen, Umarmungen. Grüße werden ihm mitgegeben, auf spanisch und deutsch. Bis bald.
Viele der Finkhöfler kennen die Dritte Welt. Mehrere von ihnen waren als Brigadisten im revolutionären Nikaragua. Die ganze Kommune engagierte sich in der damals so genannten Solibewegung. Kaffee aus Nikaragua, Waffen für El Salvador. Die Revolution ist Schnee von gestern, die Bewegung fast am Ende. Der Finkhof macht weiter Solidaritätsarbeit, nur ohne pathetische Parolen. Mit ihrem Know-how und mit ihren Schafsböcken unterstützt die Kommune genossenschaftliche Kaffee-Fincas, die durch Schafzucht ihre Monokultur überwinden wollen.
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Oder sie organisiert in ihrem Tagungshaus Fachkonferenzen mit Teilnehmern aus Mexiko, Bolivien, Cuba, Vietnam und anderen Ländern. Dann stehen Probleme der Subsistenzwirtschaft auf der Tagesordnung oder die Zertifizierung von Produkten aus ökologischem Anbau oder neue Strategien für fair trade.
Der Finkhof liegt mitten im Dorf, an der Biegung der Dorfstraße, schräg gegenüber der ländlich barocken Baugruppe aus Kirche und Pfarrhaus. Arnach ist ein Bauern- und Pendlerdorf in der hügeligen Moränenlandschaft des oberschwäbischen Voralpenlandes, zwischen Donau und Bodensee, 70 Kilometer südlich von Ulm. Bad Wurzach ist die zuständige Gemeinde.
Seit 1971 existiert die Kommune. So einen langen Atem hatte kaum ein anderes Projekt. 1979 hat sie sich mit ihrer Schafherde in Arnach angesiedelt. Arbeiten ohne Chef und Hierarchie. Kollektives Eigentum an den Produktionsmitteln. Wirtschaftsbetrieb und Lebensgemeinschaft zugleich.
Haschkommune, sagten anfangs die Leute im Dorf. Ob die wohl wüßten, wer die Väter von den Kindern wären? "Die interessierte nur, ob wir nackt übern Hof tanzen", sagt Exe, "alles andere war denen Wurscht." Die Akzeptanz kam erst, als die Dörfler merkten, daß die neuen Nachbarn hart und kompetent arbeiteten, damit Geld verdienten und daß die meisten in festen Beziehungen lebten. Es gab eine hohe Fluktuation. Zur Zeit besteht die Gruppe nur aus 13 Erwachsenen und sechs Kindern. Ein Tiefstand. Noch 1995 lebten hier 26 Erwachsene und acht Kinder. Der Kommune gehört ein ganzer Komplex von alten Häusern im Dorfkern, die im Laufe der Jahre nach und nach erworben und renoviert wurden.
Caroline ist seit sieben Jahren Kommunardin. Die gelernte Bibliothekarin kam aus Köln, wo sie seit der 68er Zeit in feministischen Projekten aktiv gewesen war, unterbrochen von einem Jahr in Mexiko. Heute macht sie die Führung für eine kleine Gruppe von sechs oder sieben Leuten, die im Tagungshaus des Finkhofes ein Wochenende verbringen. Es sind junge Leute aus München und Umgebung, die in der Ausbildung sind oder studieren. Bei der BUND-Jugend haben sie sich kennengelernt.
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Hier wollen sie ein Wochenende lang unter sich sein, um ungestört Brainstorming für ein eigenes Projekt zu betreiben. Vom Tagungsort erhoffen sie sich Anregungen. Ich schließe mich an. Mit Caroline gehen wir zunächst durch das "Zentrum".
Der "Adler" ist ein ehemaliges, typisch oberschwäbisches Wirtshaus. Früher war es einmal die Poststation des Ortes, wo stiernackige Viehhändler und fluchende Fuhrleute ausspannten. Von außen ist der "Adler" ein behäbiger Bau mit hellgrün getünchten Wänden und bunt angemalten Fensterläden. Innen ist er zum Wohnbereich der Kommune umgebaut. Verwirrend, beinahe labyrinthisch, die Vielzahl von Fluren, Dielen, Türen, Treppenaufgängen. Unten Küche und Eßraum sowie die Vorratsräume und die anderen Gemeinschaftsräume: ein Fernsehzimmer, ein Raucherzimmer, Sitzecken. Zwei Treppen führen hinauf. Im ersten Stock ist die Näherei untergebracht, wo an mehreren Nähmaschinen Schlupfpullover oder Schaffelle zusammengenäht werden. Frühmorgens, bevor die Arbeit beginnt, muß erst der Ofen geschürt werden. Im "Adler" wird mit Holz geheizt. Neben der Näherei liegen das Gästezimmer und Wohnräume für die Finkhof-Familien und ihre Kinder. Ein langer Gang führt zu einem Gemeinschaftswaschraum. Eine Treppe höher, unter dem Dach, gibt es weitere kleinere Wohnräume.
Alle Genossenschaftsmitglieder leben in einem Haushalt zusammen. Die Unterteilung in Familien und Einzellebende fällt somit weg.
Wir gehen um den "Adler" herum. Nach Süden hinaus liegt der Selbstversorgungsbereich der Kommune. Ein großer Garten mit vielen Beeten. Bei Fleisch, in einem hohen Grade auch bei Gemüse, Obst und Getreide, ist der Finkhof Selbstversorger. Das Winterfutter für die Herde und die anderen Haustiere wird ebenfalls zum großen Teil auf eigenen oder gepachteten Feldern in der Umgebung selbst angebaut. Im Stall stehen zur Zeit nur ein paar Tiere: Milchschafe, ein Rind, zwei Schweine, ein Esel und zwei Pferde. Das Stallgebäude ist ganz aus Holz gezimmert. Aus schweren Eichenbalken und Bohlen, die mit Leisten verstärkt sind, damit Wind und Wetter nicht durch die Fugen dringen. Alte bäuerliche Architektur? Es sieht so aus, aber nur zwei Wände sind vom alten Stall stehengeblieben.
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Ein Zimmermannskollektiv hat die anderen Teile von Grund auf neu gebaut, als die Kommune vor 20 Jahren das Anwesen übernahm. Der Stall hat zur Heizung und Wasserversorgung des Wohnhauses Solarzellen auf dem Dach. Über dem Tor aber prangt der uralte, trotzig-trutzige Balkenspruch: "Das Land denen, die es bearbeiten."
Im Freien stehen unter einem Plastikdach ein paar mit Schläuchen und Leitungen verbundene Kessel, Fässer und Flaschenzüge. Ein Regenwasserspeicher gehört dazu und eine Pflanzenkläranlage. Was wie eine alte Waschküche aussieht, ist die Wollfärberei, Carolines Arbeitsbereich. Hier färbt sie den Sommer über Wolle mit Pflanzenfarben. Aus einer Palette von Stoffen mischt sie die verschiedenen Farbtöne: Cochinelle für rot. Birkenblätter für gelb, Indigo für blau, und so weiter. Mit den Substanzen zu experimentieren und Neues zu entdecken macht Caroline Spaß. Mit Walnußschalen und Indigo, so erzählt sie stolz, sei es ihr im vorigen Jahr endlich geglückt, einen schönen Schwarzton zu kreieren.
Wir gehen über den Hof zurück zur Vorderfront und kommen an einer kleinen Backstube vorbei. Hier wird jeden Freitag für den Eigenbedarf, aber auch zum Verkauf, aus selbst angebautem Korn Brot gebacken. Geplant war einmal eine voll arbeitende Bäckerei. Das hat man aufgegeben. Auch die Spinnerei, die es einmal gab, steht still. Ebenso die Schreinerei und eine Autowerkstatt und ein Kneipenbetrieb. Die Räume sind verwaist, die Werkzeuge eingemottet.
Die Leute, die diese Arbeitsbereiche unter unendlichen Strapazen aufgebaut haben, sind weg. Neue sind nicht gekommen, obwohl man offensiv gesucht hat und immer noch sucht. "Wir sind stark geschrumpft", sagt Caroline. Die jungen Leute aus München, die dabei sind, etwas Neues anzufangen, blicken sich überrascht an.
Der Hofladen liegt zur Straße hin. Alle Produkte, die vom Finkhof hergestellt oder vertrieben werden, sind hier in den verschiedenen Größen und Farben ausgestellt. Etwa 100 Produkte enthält das Sortiment: Fettwolle, Merinowolle, Wollfett. Felldecken, Regenbogen-Wolldecken, Schlafsäcke, Naturmatratzen. Stirnbänder, Wollmützen, Schals, Troyer, Schaffellwesten, Windelhosen, Wollsocken, Filzschuhe. Heilwolle, Märchenwolle und anderes, was von Kopf bis Fuß kleidet und wärmt. Es macht Spaß, im Laden herumzugehen, zu schauen, die Wolle und die Gewebe anzufassen.
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Wir überqueren die Dorfstraße und stehen vor dem Versand, der im sogenannten Spinnerstall untergebracht ist, einem langgestreckten umgebauten Scheunengebäude, mit einer zwei Meter großen Anti-AKW-Sonne bemalt. Von hier aus betreibt der Finkhof mit seinen eigenen und mit zugekauften Produkten ein kleines, aber feines und gutgehendes Versandhaus. Es ist die eigentliche Existenzgrundlage der kleinen Genossenschaft, auch wenn sie durch die Landschaftspflege, die Schafe, den Direktverkauf und - nicht zu vergessen - durch die Selbstversorgung noch andere ökonomische Standbeine hat. Das Büro ist mit Computern, Faxgeräten und Kopierern modern ausgerüstet. Dahinter liegt das Warenlager. Draußen betritt man eine Laderampe für LKWs. Hinten im Hof aber steht, wie immer schon in jeder Schäferei, der Zwinger für die Hütehunde.
Das Tagungshaus liegt 100 Meter die Dorfstraße hinunter gegenüber der Kirche. Dieser Bau ist ein ehemaliges Dorfwirtshaus, das heute der Kommune gehört. Das "Bildungswerk Finkhof" ist Carolines zweiter Arbeitsbereich. Bei Nikaragua-Kaffee und Plätzchen erklärt sie uns die innere, die soziale Struktur dieser Gemeinschaft und deren Fundamente: Bedürfniskasse, Konsensprinzip, rotierender Zentrumsdienst.
"Wir sind angestellt bei der Genossenschaft, kriegen Lohn, und der wandert auf das Wohngemeinschaftskonto. Dieses Wohngemeinschaftskonto ist dazu da, unseren Lebensunterhalt abzusichern. Das passiert nicht so, daß jeder von uns 500 Mark kriegt oder so, sondern alle festen Kosten: Miete, Telefon, Licht, Haushalt, all das bezahlt man aus der gemeinsamen Kasse. Und wenn ich jetzt für mich persönlich was brauche, dann geh' ich zur Uli oder zur Gerda, das sind die beiden Kassiererinnen, und sag', ich hätte gerne 200 Mark für was auch immer, und das krieg' ich dann. Sachen über 300 Mark muß man anmelden. Wir haben einmal in der Woche eine Versammlung, die heißt Plenum, da mußt du dann sagen, ich hätte gern 300 Mark für dieses und jenes. Und das kriegst du auch immer. Das ist eigentlich kein Diskussionsthema. Nicht mehr."
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Auf dem wöchentlichen Plenum werden alle wichtigen, die Gemeinschaft und ihren Betrieb betreffenden Fragen besprochen. Es gibt keine Abstimmungen. Hier gilt das Konsensprinzip. Caroline weiß, wie kräftezehrend das oft ist:
"Konsensbildung heißt, wir diskutieren so lange, bis der letzte entnervt aufgibt und sagt, ja, dann machen wir es eben. Es gibt ganz wenige Sachen, bei denen wir wirklich diskutieren und zu einem Beschluß kommen, den wir alle von A bis Z tragen. Für eine richtige Konsensbildung fehlt uns im Augenblick so was wie eine Meßlatte, woran wir unsere Beschlüsse messen können."
Der Zentrumsdienst ist das dritte Element dieser sozialen Struktur. Je zwei Finkhöfler kochen und putzen an einem Tag in der Woche für alle, egal was für andere, scheinbar wichtigere Aufgaben sie haben. Caroline:
"Das hat bei uns ein sehr hohes Niveau. Wir sind weit davon entfernt, so eine klassische Wohngemeinschaft zu sein, wo der eine dem andern das Geschirr hinterherspülen muß. So was gibt's bei uns nicht. Das ist wie in allen Arbeitsbereichen hier: Die Arbeit ist gut strukturiert."
Abends nach dem gemeinsamen Abendbrot sitzen wir auf der Bank hinter dem Haus. Der Blick geht am Stall vorbei nach Süden. Eine Doppelreihe hochragender Pappeln säumt den Feldweg, der hügelan führt. Von da oben sieht man bei klarer Sicht die Alpenkette. Am Gartenzaun entlang fließt ein kleiner Bach. Der Gesang der Amseln mischt sich mit dem Rauschen des Windes in den Pappeln und dem Glockenschlag vom Kirchturm. Der Finkhof liegt mitten im Dorf und trotzdem sehr nahe an freier Natur.
Der Esel steht in der Ecke des Stalles. Auf ihm hatte ich den fünfjährigen Remo am Morgen zum Kindergarten reiten sehen. Er sträube sich immer gegen den Kindergarten, meinte Gerda, seine Mutter, und der Ritt auf dem Esel sei ein schöner Anreiz. In der Mitte vom Stall liegen die fünf, sechs Schafe, die heute geschoren werden sollen. Mike schließt die elektrische Schermaschine an. Sie ähnelt dem Apparat, mit dem beim Friseur die Nackenhaare ausrasiert werden.
"So, wer ist die erste? Du, komm!" Gerda redet auf das Schaf ein, das sie aus dem Gatter holt. Ihr sanftes Schwäbisch geht fast unter in dem Surren des Schermessers, dem Glöckle und dem Mäh und Möh des Schafes, als sie es zusammen mit Mike auf die Scherbank hebt. 75 bis 80 Kilo Lebendgewicht.
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Mike nimmt es zwischen seinem linken Arm und Oberschenkel in die Zange. "Wenn du das Schaf hochsetzt, kann's nix mehr machen, weil halt die Füße in der Luft sind. Es gibt schon Schafe, die dann panisch werden und mit aller Kraft versuchen, sich in die eine oder andere Richtung zu schmeißen. Und manchmal kannst es nicht mehr halten, dann mußt du es einfach fallenlassen, oder es zieht dich übern Tisch. Ist immer eine Frage des Schwerpunkts."
Mike setzt die Schermaschine an und beginnt, das zusammenhängende Vlies vom Rücken mit einem langen Schnitt loszutrennen. "Es ist wie beim Rasieren. Du mußt halt den Körper so hinbiegen, daß die Haut sich spannt." Was auf den Boden fällt, stopft Gerda in einen Plastiksack. Die braune, minderwertige Wolle von Bauch und Beinen kommt in einen anderen Beutel.
Nach etwa fünf Minuten springt das Schaf nackt und frierend zu den anderen zurück. Erlöst von etwa drei Kilo Wolle. In ein paar Tagen wird das Fell schon zwei, drei Zentimeter nachgewachsen sein. Kreislauf und Stoffwechsel des Tieres werden sich umgestellt haben.
Zur großen Schafschur im Mai auf der Sommerweide kommt eine Kolonne von sechs oder sieben Scherern. Sie sind Lohnarbeiter, die im Akkord malochen. Bis zu 150 Schafe schert jeder. In dem Lärm und Staub und der Hitze eines Frühsommertages. Der Finkhof stellt dann nur die Helfer: zehn Aufträger, drei Leute für die Wolle, zwei für die Küche. Dieser Tag ist ein Großereignis im Jahreslauf. Eine der wenigen Gelegenheiten, sagt Mike, wo noch alle Finkhöfler zusammen Hand in Hand bis zum Umfallen schuften. "Das muß an einem Tag fertig werden, weil du am nächsten Tag die 20 Leute nicht mehr hast. Und das ist dann immer so'n Streßtag. Manchmal haben wir von morgens um siebene bis nachts um zehn geschoren, einfach, damit wir fertig waren."
Mike sei ein eingefleischter Regionalist, hatte mir Caroline gesagt. In dieser Landschaft habe er sein ganzes Leben verbracht. Hier kenne er sich aus. Hier fühle er sich sicher. Der brauche keine Fernreisen.
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Der bärenhaft-stämmige Mittvierziger mit den Händen eines Arbeiters und den blitzenden Augen eines Intellektuellen hinter den runden Brillengläsern gehört zu den Gründern des Finkhofs. Er ist gelernter Werkzeugmacher, hat im Sägewerk und in der Wohnwagenfabrik geschafft. Irgendwann später hat er auf der Abendschule seinen Meister als Handelsfachwirt gemacht. Auf dem Finkhof kann man Mike oben auf dem Dach beim Ausbessern der Pfannen antreffen. Oder ölverschmiert unter einem kaputten Fahrzeug. Oder im Büro über den Bilanzen.
Ich schildere ihm ein paar Beobachtungen, die ich auf meiner 30-Kilometer-Wanderung von Aulendorf, der Interregio-Station, herüber nach Arnach gemacht hatte: ein alter Mann, der mit einer Forke Steine vom Acker auflas und in ruhigen Schwüngen auf einen Wagen warf, eine alte Frau mit Kopftuch und Gummistiefeln, die das tote Holz von den Obstbäumen absägte und es sorgsam im Straßengraben als Brennholz für den nächsten Winter stapelte. In den Dörfern des Allgäus und Oberschwabens sei, so hatte ich in dem schönen Buch "Lebenslandschaft" von Katharina Adler gelesen, noch in den 70er Jahren der Mondrhythmus beachtet worden, wenn Quellen zu fassen oder Bäume zu fällen waren.
Haben in dieser alten regionalen Kultur vielleicht auch Impulse für den alternativen Weg des Finkhofs gelegen?
Die ländliche Kultur, sagt Mike, ist ausgestorben. "Ich hab' mir erzählen lassen, daß nach dem Krieg Höfe, die abseits lagen, wirklich so gut wie kein Geld hatten - aber auch keins brauchten. Die hatten ihren Hafer. Die hatten Pferde zum Einspannen. Sie hatten Holz aus dem Wald, Wasser aus dem Brunnen. Die haben noch Dinkel angebaut. Und Geld hat man eventuell gebraucht für'n Arzt, für'n Hufeisen oder für Petroleum. Heute läuft alles über Geld."
Die Gruppe von Jugendlichen, mit der Mike 1971 in Isny, 25 Kilometer von hier, die Finkhof-Kommune gründete, war antiautoritär und proletarisch, rebellisch und aggressiv wie ein hungriges Wolfsrudel. Persönliche Freundschaften, gemeinsame Erlebnisse hielten sie zusammen.
Den politischen Überbau holte man sich aus den Raubdrucken von Wilhelm Reichs Sexpol-Schriften, aus dem roten Buch des Vorsitzenden Mao und aus all den alternativen Zeitschriften und Broschüren, die damals zu kursieren begannen.
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Als die Gruppe von den ersten Landkommunen hörte, fuhr man über die Alpen, besuchte die französischen und italienischen Genossen der Longo-Mai-Kommune, die vom Land und von der Schafzucht lebten. Im Schoß der alten Gesellschaft die neue formieren.
"Aber bei aller Kapitalismuskritik", sagt Mike,
"waren wir einfach eine Gruppe von jungen Menschen, die kein Geld hatten. Wir haben mit total wenig angefangen, eigentlich mit nix. Aber dadurch, daß wir uns organisiert haben, kam was zusammen. Hier waren Menschen, die selber was in Gang gebracht haben, die sich abends zusammengesetzt und gefragt haben, wie machen wir's morgen, wer macht des, wer macht des, wer macht des, und jeder hatte die Chance, sich einzubringen. Klar ging's auch darum, immer genug Geld zu haben zum Überleben. Nur damals hatten wir einen Tagessatz von einer Mark fünfzig pro Person und hausten mit 16 Leuten auf zwei Zimmern mit Küche. Das würde heut' wohl niemand mehr reizen. Dieses arme Leben war völlig normal. Und es gab eben nicht die Möglichkeit zu sagen, ich geh' in 'nen Laden und kauf mir was, sondern ich mußte mir überlegen, wie krieg' ich's irgendwie anders hin. Und das hat, glaub' ich, ganz vielen Leuten gefallen. Heute, wenn ich das so seh', ist das ganz anders geworden."
Die Weberei liegt am Dorfrand. Eine angepachtete Werkstatt, früher ein Zimmereibetrieb. Christine, Barbara und Eva, die drei Weberinnen, fahren morgens mit dem Fahrrad hinüber. Der niedrige Raum ist mit acht Webstühlen verschiedener Bauart völlig zugestellt. Alles Handwebstühle, mit Muskelkraft angetrieben, uralte, sanfte, weltweit verbreitete Technik. Ein Stromausfall würde uns nichts ausmachen, sagt Barbara. Die körperliche Belastung? Nicht so schlimm. Nur wenn man ein paar Tage ausgesetzt hat, spüre man Muskelkater. Ein Teil der Wolle kommt von den eigenen Schafen, wird von Fremdfirmen gewaschen und gesponnen, kommt zum Finkhof zurück, wird gefärbt und hier zu Wolldecken und Schals verarbeitet. Für reinwollene Teppiche, das wichtigste Produkt der Weberei, ist die eigene Wolle nicht geeignet. Da kauft man zu, auch im Ausland, in Neuseeland und Australien. Aber die Zulieferer müssen schadstoffarme Rohstoffe garantieren. Und das wird auch penibel kontrolliert.
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Bilder und Ideen werden am Handwebstuhl zu farbenfrohen und kunstfertigen Produkten. Die drei Frauen nehmen sich Zeit, um die Spulen mit den Garnen in die Kästen zu stecken. Die Farben sind so angeordnet, wie sie in dem Gewebe erscheinen sollen. Die Kettfäden werden aufgespannt. Wer soweit ist, setzt sich an den Webstuhl und beginnt das Tagwerk. Die Arbeitszeit teilt sich jede selbst ein. Sechs bis sieben Stunden kommen pro Tag zusammen. Der Raum füllt sich mit dem Klappern der hin- und herfliegenden Weberschiffchen, die den Schuß durch die Kettfäden eintragen, der Weblade, mit der jeder Schuß gegen den vorhergehenden gedrückt wird, und der Zahnräder, die den Warenbaum mit dem fertigen Gewebe weitertransportieren. Kein monotoner, ohrenbetäubender Krach von Webautomaten. Das Geräusch des Aufprallens von Holz auf Holz, wenn das Weberschiffchen über die Holzbahn läuft und die Weblade auf den Rahmen des Webstuhls schlägt. Durch die Art, den Schuß einzubringen und die Bewegungen von Händen und Füßen zu koordinieren, ergibt sich ein stetiger Arbeitsrhythmus. Die Regelmäßigkeit der Bewegungen wird später in der Regelmäßigkeit der Gewebe erscheinen.
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Der Reiz des Handwebens?
Christine überlegt einen Moment: Bilder und Ideen, die man im Kopf hat, umsetzen. Mit den vorhandenen alten Webstühlen und der Wolle, die wir zur Verfügung haben, zurechtkommen. Muskeln und Phantasie spielen lassen. Aus dem, was man hat, etwas Schönes machen.
"Ich muß das, was ich mache, abends als etwas Fertiges in die Hand nehmen und anschauen können", sagt Barbara, Aussteigerin aus einer Existenz als gelernte Buchhändlerin in Bremen. Von dort ging sie auf einen alternativen Bauernhof in Norddeutschland. "Das Leben auf dem Land war für mich eine Offenbarung." Auf dem Finkhof wollte sie erst nur ein Praktikum machen. Dann ist sie geblieben.
Christine, gebürtig aus Mannheim, hat ein Biologiestudium in Tübingen abgebrochen und eine Lehre an der Textil-Fachschule in Sindelfingen absolviert. Als fertige Webgesellin hörte sie, daß der Finkhof, den sie aus der Tübinger Szene vom Hörensagen kannte, jemanden suche. Das war vor sechs Jahren. Seitdem ist sie hier. Der besondere Reiz: die Freiheit haben, etwas Neues auszuprobieren. "Die Leute, die in einem Arbeitsbereich zusammenarbeiten, die haben eben alle das gleiche Recht, Vorschläge einzubringen, und es gibt niemanden, der nachher sagt, ja schön, was ihr da alles wollt, aber ich will's net und deshalb läuft's net."
Diese Gestaltungsfreiheit ist mit Eigenverantwortung verknüpft: "Die Leute, die in einem Arbeitsbereich zusammenarbeiten, die sind halt dafür verantwortlich, daß der Bereich läuft. Wie sie das auch immer gestalten. Das funktioniert, denk' ich, unterschiedlich gut. Aber für uns hier in der Weberei ist es was total Angenehmes, die Sachen gemeinsam zu entscheiden. Weil Leute da sind, die das Ganze mit einem tragen, mit entscheiden, Ideen mit einbringen. Wie mühsam das manchmal auch ist, sich zu einigen, aber insgesamt find' ich das viel angenehmer."
Als ich am späten Nachmittag wieder an der Weberei vorbeikomme, steht noch ein Fahrrad am Eingang. Christine sitzt am Schreibtisch und blättert in einem Aktenordner. Sie arbeitet an einem Gewebe ganz anderer Art: Die ersten Entwürfe für den Versandhauskatalog 97/98 sind fertig. Christine entwirft in Zusammenarbeit mit den Leuten aus den anderen Arbeitsbereichen die Texte. Diese enthalten ungewöhnlich viel an Information über das Produkt und, ganz und gar unüblich, über die Produzentinnen und Produzenten.
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Barbara, die andere Weberin, gestaltet mit Fotos von Uli das Layout, bis es druckreif ist. Wie in jedem Jahr wird der Katalog im Frühherbst erscheinen. Auflage: ca. 45.000 Stück. Das Medium der Selbstdarstellung, Visitenkarte, Werbeträger des Finkhofs.
"Produkte rund ums Schaf", das Schild am Eingang ist mir schon geläufig, als ich an einem Nachmittag noch einmal den Spinnerstall betrete. Im Versand herrscht jetzt, kurz nach Ostern, Ebbe. Kaum Bestellungen. Nur Babsi sitzt ein paar Stunden pro Tag an einem der Computer. Im Spätherbst aber wird der Versand wieder beinahe rund um die Uhr arbeiten. Dann beginnt die Spitzenzeit. Die Kälte draußen, der Gedanke an Weihnachten und an wärmespendende Wolle bringt das Geschäft in Gang. Auf den Weihnachtsmärkten in München und Stuttgart, vor allem aber im vorweihnachtlichen Versandhandel macht der Finkhof seine Geschäfte. Die Waren stammen nur noch zum Teil aus eigener Produktion. Überwiegend kommen sie inzwischen von anderen Firmen. Der Finkhof wählt aus, was ins Sortiment kommt, kontrolliert nach seinen eigenen strengen Maßstäben, vermarktet, versendet und verdient Geld. Viel Geld. Der Finkhof ist eine der wohlhabenderen Kommunen.
Die Philosophie, die hinter dem Sortiment steht, wird an vielen Stellen in den Katalogen erläutert. Die wichtigsten Stichworte: Die Schafe - auch bei den Zulieferbetrieben - werden artgerecht gehalten. Die Schäferei in Australien zum Beispiel ist ein Demeter-Betrieb. Der Finkhof verwendet fast ausschließlich Naturfarben. Zugekaufte Produkte sind auf Schadstoffrückstände kontrolliert. Die Verarbeitung erfolgt so, daß die Produkte langlebig sind. Auch das Design ist wenig von aktuellen Moden abhängig. Wolle ist etwas Warmes, sagen die Finkhöfler, etwas Natürliches. Wir sehen die Wolle wachsen. Wir wissen, wo sie herkommt und wo sie hingeht.
Wir machen das, was uns selbst gefällt, was wir selber tragen, was wir unseren eigenen Kindern als Kleidung und Spielzeug geben. Wir haben nur Produkte, die wir für rundum sinnvoll ansehen.
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Was die Ästhetik der Finkhof-Produkte angeht, erinnert mich beim Gang durch den Laden und beim Blättern im Katalog einiges an die Mode von '68. Der Pullover-, Parka- und Jeans-Look von damals war eine bewußte Abkehr vom Luxus der Reichen und Schönen und eine Hinwendung zur Kleidung der Arbeiter, Bauern und (nicht zu leugnen) Soldaten. Robuste Kleidung für das einfache, naturnahe Leben. Mir scheint, der Finkhof hat das Konzept verfeinert und buntere Farben hineingebracht.
Ideen schaffen Märkte. Der Markt für die Finkhof-Podukte ist da - nicht zuletzt durch die alternden 68er und deren Kinder. Er wird sorgfältig gepflegt. Die Schäfereigenossenschaft ist ein florierendes mittelständisches Unternehmen geworden.
Ich frage Günter, einen Finkhof-Veteranen, der im Vertrieb seinen Arbeitsschwerpunkt hat, nach seinem Rat für Leute, die ein Projekt anfangen wollen.
"Das Wesentliche ist einfach das Zwischenmenschliche", sagt er nach kurzem Überlegen. "Du brauchst einen bestimmten Stamm an Freunden, Freundinnen, zu denen du Vertrauen entwickelst. Und mit denen kannst dann auch was aufbauen. Erst mal sagen, wir vier, fünf haben Vertrauen zueinander, wir können uns vorstellen, daß wir in irgendeiner Art und Weise was zusammen machen. Und dann überlegen, was haben wir für Fähigkeiten, in welche Richtung wollen wir gehen, mit welchen Sachen deckt sich das. Und inwieweit kann man die Ideen von den vier, fünf Leuten koordinieren. Und dann kann man schauen, wie man das verwirklichen kann. Das ist nachher, glaub' ich, der geringere Teil."
Die fachliche Qualifizierung sei dann ein zweitrangiges Problem. Viele der Finkhöfler haben sich ihre hohe Qualifikation und Professionalität erst bei der Arbeit und parallel zur Arbeit erworben. Es gehe inzwischen derartig viele Möglichkeiten, an Wissen und berufliches Know-how zu kommen, daß man sich in kürzester Zeit qualifizieren könne, wenn man eine Richtung gefunden habe.
Günter kommt noch mal auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zu sprechen: "Es ist klar, daß sich ein Verhältnis zwischen Leuten ändert. Vertrauen innerhalb einer Gruppe entwickelt sich, baut sich auch wieder ab. Da ist es ist ganz wichtig, daß eine Gruppe einfach in Bewegung bleibt. Daß heißt, daß die Gruppe offen ist, daß Leute dazukommen können, die dann Vertrauensverluste zu bestimmten Personen wieder auffangen."
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"Unsere Spuren werden zu Pfaden. Die Bewegung wächst weltweit, und wir erkennen immer mehr, daß wir ein Teil davon sind ... Die Idee Ökotopia bleibt bestehen ... Unsere kollektive Erfahrung geht immer mehr weg von festen Mauern und Banken, Steuern und Zinsen, Rentenversicherung und Konsum. Unsere Perspektive muß die Mobilität sein, das verstärkte Eingehen in eine Bewegung, die radikal mit dem Gegebenen bricht."
So lese ich im Schlußwort eines Buches, das Winnie, der Aussteiger, Wanderschäfer und Mitgründer des Finkhofs, Anfang der 80er Jahre geschrieben hat. <Der lange Marsch zum kollektiven Leben> wurde 1983 in einem regionalen Kleinverlag veröffentlicht. Im Hofladen und per Katalog ist es immer noch zu haben.
"Eine Lebensform wie unsere wird dieses System nicht ändern. Aber persönlich lebt's sich sehr gut darin."
Fast 15 Jahre später. Ich sitze im Gemeinschaftsraum des Finkhofs dem heute 43jährigen Autor gegenüber. Er ist inzwischen promovierter Betriebswirtschaftler, betreibt unter dem Dach des Finkhofs das BUUB, Büro für Umwelt- und Unternehmensberatung. Die Geschäftsbereiche: Beratung von ökologischen Landbauprojekten, Landschaftsplanung, Entwicklungshilfe. Was hält er heute von der alten Idee der Geburt einer neuen Gesellschaft im Schoß der alten?
"Ob Genossenschaften diese Gesellschaft verändern können? Ich würde sagen: nein. Einen Commonwealth of coopcratives, wie man sich das mal vorgestellt hat, das wird's sicherlich nicht geben. Diese Gesellschaft absorbiert und gliedert Genossenschaften sehr wohl ein. Die sind auch, glaub' ich, ganz wichtig für die Funktionsfähigkeit dieses Systems. Um unzufriedenes Potential zu binden. Das ist völlig klar, da muß man sich keine Illusionen machen."
Ich gehe noch einmal zu Exe, dem Schäfer, um ihn über die Häutungen der Finkhof-Idee zu befragen. Auch Exe nennt zunächst die modellhaften Seiten des Lehens in dieser Gemeinschaft:
"Ich habe hier eine fast grenzenlose Sicherheit gegen alle Fährnisse des Lebens. Ich habe hier eine Freiheit, die ich sonst nirgendwo habe. Ich kann mit einer Idee aufs Plenum gehen und kann sagen, ich möchte das und das machen. Und wenn ich Zustimmung finde, dann kann ich hier alles verwirklichen, was ich mir in den Kopf setze. Und wenn alles stimmt, dann richten sich die großen Energien und Gestaltungsmöglichkeiten der ganzen Gruppe darauf."
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Aber dann verweist Exe auf den Niedergang der Selbstverwaltungsbewegung, zu deren Speerspitze man sich einmal zählte, und kommt auf die eigene Krise zu sprechen: "Wir haben Probleme, Leute zu finden, die hier einsteigen." Aus diesem Grund ist die Schäfereigenossenschaft vor einiger Zeit dazu übergegangen, Lohnarbeit einzuführen, und beschäftigt seitdem eine Handvoll Angestellte. Mit ihnen hatte Exe unzählige Gespräche über Modelle von Partizipation, Investivlohn etc. Sein Fazit:
"Kein Mensch will das. Die wollen ihren Stundenlohn verdienen und am Abend heimgehen. Die wollen die Tür zumachen und sagen: So, jetzt haben wir Feierabend. - Das ist das Problem. Sie arbeiten bei uns, übernehmen ihren Teil von Verantwortung in ihrem Arbeitsbereich. Aber sie würden niemals an einem selbstverwalteten Kollektivbetrieb teilnehmen. Und da seh' ich die Grenzen von unserem Modell."
Mike hat auf die Frage nach den Veränderungen eine andere Antwort:
"Viele Leute, die wertvolle Prinzipien hatten, sind einfach gegangen. Weil sie gesagt haben, das wird mir hier zu stark verwässert. Da sind zu viele, die mitreden, die ihren Senf dazugeben wollen. Ist schon klar: So ein Kollektiv lebt vom Kompromiß. Und da wir ja keine geschriebene Ideologie haben, das rote Büchchen oder das grüne oder das lilane, wo wir nachgucken können, und auch keinen Guru, prägen die Leute, die da sind, das Niveau. Und wenn eben sehr viele Menschen da sind, denen es erst mal darum geht, zu leben und auch das mitzunehmen, was die Restwelt bietet, dann prägt das halt mit."
Wir sind ein gutfunktionierender mittelständischer Betrieb, hatte Caroline gesagt. Ist das alles, was übriggeblieben ist von den hochfliegenden Visionen? Der Finkhof arbeitet kompetent. Er produziert nach strengen ökologischen Richtlinien. Er stellt sinnvolle und qualitativ hochwertige Produkte her - modellhaft auch im Hinblick auf eine nachhaltige Ökonomie. Er praktiziert einen fairen Handel mit seinen Kunden und auch mit Partnern in der Dritten Welt. Er bildet ein fest geknüpftes Netzwerk für alle, die hier leben. Trotz aller Momente der Frustration und Resignation und Aggression und auch der Einsamkeit im Kollektiv - im Grunde möchte niemand mehr mit dem Leben "draußen" tauschen.
Was ist das Verbindende, das diese Gemeinschaft über die lange Zeit und trotz aller Häutungen zusammengehalten hat?
"Diese Lust, was anders zu machen", sagt Mike, "einfach was Neues zu machen. Nicht so zu werden wie unsere Eltern. Sondern was Neues anzufangen. Das anders zu machen. Gemeinsam was zu machen."
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