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Wo bleibt die Jugendrevolte?

von Peter Grottian 1996  

Der Autor ist Hochschullehrer in Teilzeit für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin
aus: <Der Rabe Ralf> November 1996     detopia-2005: nach einem Hinweis von Matthias Bauer, Berlin

Von wegen Anlaß zur Politikverdrossenheit - die politisch Verantwortlichen kämpfen für die berufliche Zukunft der Jugend. Die junge Generation kann applaudieren. So stark haben sich Politiker, Unternehmer, Gewerkschaftler und Eltern für die jugendlichen Berufsperspektiven selten engagiert. Möglichst alle Jugendlichen sollen trotz sinkenden Angebots eine Lehrstelle bekommen. Von einer nationalen Aufgabe redet der Bundeskanzler, von scharfen Sanktionen reden SPD und Gewerkschaften, wenn viele Betriebe nicht mehr ausbilden wollen. Schließlich setzen sich Unternehmer ins Licht, wenn sie zwar mehr Lehrlinge einstellen möchten, dieses aber von abgesenkten Lehrlingskosten und einer mehr praxisbezogenen Präsenz in den Betrieben abhängig machen wollen. Die Besorgtheit ist insgesamt aufgeregter, kämpferischer und sogar glaubwürdiger als in früheren Jahren.

 

  Symbolische Last-Minute-Initiative  

Aber: Die Last-Minute-Lehrstelleninitiative verdeckt öffentlichkeitswirksam, daß noch niemals in den letzten Jahren eine Jugend so lautlos und schamlos in ihren beruflichen Perspektiven betrogen worden ist - und das öffentlich klaglos hinnimmt. Die Lehrstellenlücke ist zwar wichtig und für den beruflichen Anfang zentral - aber erst das Gesamtbild macht deutlich, in welchem Ausmaß unsere Gesellschaft junge Leute verrotten läßt. Die Zahlen und Fakten sind eindeutig:

 

Solche Zahlen lähmen, zähmen oder rütteln auf. Natürlich gibt es - statistisch gesehen - eine Reihe von Überlappungen, aber insgesamt läßt unsere Gesellschaft 1,2-1,5 Mio. junger Leute verkommen. Damit wird jeder 5. Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren zeitweilig oder länger zum gesellschaftspolitischen Schrott erklärt. Kein Aufschrei, kein Jugendprotest, sondern republikweite Schweigsamkeit, außer jener Lehrstelleninitiative mit dem heimlichen Code: Den Start wollen wir erleichtern, mehr können wir nicht tun.

Das Beunruhigendste an dieser fatalen Situation ist nicht die Sache selbst, sondern daß es hinter der tagespolitischen Aufgeregtheit auf allen Seiten still ist. Ein handfester gesellschaftspolitischer Konflikt ist ausgeblieben. Es gibt ein fast komplizenhaftes Verschweigen und Darumherumreden, das sich wechselseitig durchwirkt, indem die Jugenddebatte nur über Randerscheinungen geführt wird, die junge Generation ihre beruflichen Interessen nicht einfordert, die Elterngeneration den Generationenkonflikt unsolidarisch aussitzt und sich alle für außerstande erklären, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten.

Neue Jugenddebatte

Eine neue Jugenddebatte ist überfällig. Die Modethemen "Jugend und Gewalt", "Jugend und Medien", "Jugend und Drogen" und "Jugend und Rechtsextremismus" lenken nur ab von dem, was zur Diskussion eigentlich ansteht: Wie kann eine zufriedenstellende Arbeits- und Lebenssituation für Jugendliche ermöglicht werden? Die Massenmedien inszenieren und dramatisieren die Musik- und Kleiderstile, Chaostage und Love-Parade - und zeigen, daß das Geld das universelle Zugangsmittel ist, über das man verfügen muß. Die Jugend wird marktwirtschaftlich umschwätzt, und wenn es zu schlimm wird, beugen sich die so verständnisvollen Erwachsenen über sie, ohne über ihre eigene Mittäterschaft zu reden.

Jugendprotest überfällig

Aber das Alarmierendste: Die marktwirtschaftlichen Geschäftsgrundlagen für Lehrstellen und Arbeitsplätze werden von den jungen Leuten noch geschluckt und zumindest nach außen hin akzeptiert. So nachhaltig zu einer guten Ausbildung ermutigt worden zu sein und gleichzeitig so kräftig die Türen vor der Nase zugeschlagen zu bekommen - das könnte erste Nachdenklichkeit, vielleicht sogar einen Hauch von Wut und Aufmüpfigkeit produzieren. Zwar haben Jugendliche - so belegen empirische Studien - ihre Sensibilität für Ökologisches, Gerechtes und politische Glaubwürdigkeit nicht eingebüßt, aber sie empfinden es als Zumutung, noch etwas Perspektivisches zu erwarten: Von der Politik, von Jugendverbänden, neuen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften. Deshalb gilt für die eine pragmatische Überlebensperspektive, in der Geld zum Schmiermittel eigener Wünsche wird. Wer arbeitet, hat’s, wer nicht arbeitet, versucht es, sich zu holen - so oder so. Was fehlt, ist die Einübung in Verweigerung, Provokation und Protest mit der berechtigten Forderung nach Teilhabe in dieser Gesellschaft. Die Jugendverbände müßten zumindest Versuche unternehmen, Jugendpolitik im Interesse von Jugendlichen zu organisieren. Eine Jugendrevolte systematisch schüren, ist Jugend- und BürgerInnenpflicht.

Generationenkonflikt austragen

Außer bei privaten Diskussionen am Sonntagstisch fühlt sich die Elterngeneration für Lehrstellen und Arbeitsplätze nicht zuständig. Daß sie als "Erwachsenengesellschaft" mitverantwortlich ist für den Aussperrungsprozeß, kommt nicht in ihren Blick. Die Elterngeneration der 40-50jährigen hat mit ihrem scheinbar aufgeschlossen-solidarischen Gehabe den vorhandenen Generationenbruch ausgesessen, mit Bargeld gepolstert, aber wenig Orientierendes, Reibendes gestiftet. Aber sie wird auch nicht von den Jugendlichen herausgefordert. Sonst würden die Väter und Mütter ihre Arbeit umverteilen müssen, um für ihre Kinder Platz zu machen. Vollerwerbs-Väter sind nach wie vor weder von Kindern noch von Frauen schmerzhaften Lernprozessen ausgesetzt: Die Männer-Teilzeitquote liegt bei 1,8%, wo mehr möglich sein könnte.

Lehrstellenangebot ausweiten

Wahrheiten sind ganz einfach: Es gibt genügend sinnvolle Ausbildungsplätze mit vertretbaren Berufsperspektiven. Folglich muß man sie auch dann realisieren, wenn die Marktprinzipien sie nicht hergeben. Auf eine Umlagenfinanzierung in unserem System zu hoffen, ist töricht. Deshalb bleibt nichts anderes übrig, als 1-1,3 Mrd. DM für ca. 60.000-80.000 Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Aber man muß die Ausbildungsplätze auch dort anbieten, wo sie entlang unserer Erwerbsstruktur nötig und möglich sind. In unserem marktwirtschaftlichen System Unternehmer zu schelten, daß sie entgegen ihren betriebswirtschaftlichen Überlegungen zu wenig Lehrlinge einstellen, ist, gelinde gesagt, systemfremd. Unternehmer werden das machen, was ihrem unternehmerischen Kalkül entspricht - vielleicht ein Quentchen mehr. Deshalb muß in dieser Republik auch ein geschärfter Blick auf den öffentlichen und halböffentlichen Dienst, die Kirchen und Wohlfahrtsverbände geworfen werden. Hier arbeiten insgesamt 8,5 Mio. Erwerbstätige - doch im engeren öffentlichen Dienst werden insgesamt nur 14.180 Lehrlinge (2,5% aller neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge 1995) zugelassen. Das ist die organisierte Verantwortungslosigkeit der Politiker, die in ihren Arbeitsbereichen fast komplett versagen. Lehrlinge sind für Bürokratien einfach wie Mücken: lästig.

Halbierung der Jugendarbeitslosigkeit von unten

Wenn aber - wie dargelegt - die Jugendarbeitslosigkeit noch brisanter ist als die Lehrstellenlücke, so muß hier dringend etwas passieren. Aber bisher haben sich Politiker mit der spar- und arbeitsmarktpolitischen Ohnmachtsrechtfertigung erstaunlich gut herausreden können. Der wagenburgartige Ausschluß der jungen Generation wird z.B. im öffentlichen Dienst als weitsichtige Einsparpolitik umschrieben - doch fast nichts vom Eingesparten wird für junge LehrerInnen, Jugend-arbeiterInnen oder Jugendliche selbst umverteilt. Öffentliche Arbeitgeber in einer trauten Schwarz-Rot-Gelb-Grün-Koalition und die Gewerkschaften ziehen - wie die letzten Tarifverhandlungen zeigen - alle ritualisierten Register im Sinne der Alt-Beschäftigten. Die Jugend ist nur ein Restposten ihrer Strategie.

Bei der Arbeitslosigkeit liegt es nicht anders. Auch wenn die Rezepturen zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit - Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen, staatliche Investitionsprogramme, Arbeitszeitverkürzung/-flexibilisierung, Senkung der Lohnnebenkosten, ökologische Umbauprogramme u.a. - befolgt werden, so ändert das aktuell wenig und hat erst in Jahren bescheidene Folgewirkungen. Bis dahin sind unsere jungen Leute längst in ihren Identitäten zerstört. Deshalb ist ein radikaler Perspektivwechsel unabweisbar. Es geht nicht mehr um Strategien nach marktwirtschaftlichen Reinheitsgeboten, sondern darum, jungen Leuten berufliche Perspektiven zu geben. Es geht - pathetisch gesprochen - um eine menschenrechtlich-demokratische Teilhabe an Arbeits- und Lebensprozessen.

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Zwei Maßnahmen würden sofort einen "Arbeitsmarkt von unten" schaffen, in dem jugendliche Arbeitslose ernstgenommen und ihre individuellen Arbeitswünsche zu einem größeren Teil realisiert werden könnten. Der Arbeitsbegriff wäre radikal im Sinne gesellschaftlich sinnvoller Arbeit zu erweitern; die Bürger und Bürgerinnen müßten zu Arbeitsplatzstiftern werden; eine Entbürokratisierung wäre absolut zwingend und die Finanzierungssysteme wären unkonventionell zu gestalten.

1. Eine halbe Million Arbeitsplätze auf Kredit

Eine halbe Million Erwerbslose bis zu 25 Jahren, die länger als drei Monate arbeitslos sind, können bei jeder Bank einen Arbeitsplatzkredit über drei Jahre für eine abhängige oder selbständige Beschäftigungsposition erhalten. Sie handeln vorher einen ganz normalen Arbeitsvertrag aus, und die Bank kommt zunächst für die Lohn- und Gehaltszahlung auf. Ein solches Programm ist für ganz unterschiedliche Arbeits-, Qualifikations- und Lebenslagen attraktiv. Es vermittelt den Schub, sich selbst mit seinem Gehalt auf die Socken machen zu können. Sie bieten an, was sie haben und können. Schaffen sich die jungen Leute eine Arbeitsstelle und verdienen gut, müssen sie den Arbeitsplatzkredit in Anlehnung an die Existenzgründungsdarlehen zurückzahlen. Ein Kredit über 100.000 DM könnte mit einer konstanten Tilgung von ca. 400 DM in 240 Monaten zurückgezahlt werden. Bleiben die jungen Leute auch nach drei Jahren ohne feste Stelle, dann muß der Bundesminister für Arbeit die aufgelaufenen Kreditkosten übernehmen.

Die Gesamtkosten ohne Zinsen liegen bei 30 Mrd. DM jährlich. Legt man gesamtstaatliche Berechnungen zugrunde (weniger Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe - mehr Steuern, mehr Sozialabgaben) dann dürfte das Programm ca. 15 Mrd. DM kosten. Wenn 1/3 der Arbeitsplätze sich selbst trägt, fließen 5 Mrd. DM zurück und die echten Kosten betragen 7,5-10 Mrd. jährlich. Zuviel für die Jugend - bei 240 Mrd. DM für die Treuhand? Die Vorteile liegen auf der Hand: das Geld wird geholt, wo es ist: bei den Banken. Jugendliche schaffen selbst ihr Beschäftigungsfeld. Das Risiko ist geteilt, die bürokratischen Prozeduren gering und der Staat in einer moderierenden Funktion.

2. SteuerbürgerInnen schaffen selbst Arbeitsplätze

SteuerzahlerInnen können, statt Lohn- und Einkommenssteuer zu zahlen, dieses Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen für Jugendliche bis zu 25 Jahren einsetzen. SteuerbürgerInnen überlegen, ob in ihrem Arbeits- und Lebensumfeld sinnvolle Arbeit getan werden kann. Ist dies der Fall, wird ein tariflich bezahlter Teil- oder Vollzeitarbeitsplatz eingerichtet. Die SteuerzahlerInnen lassen sich dann beim Finanzamt den Betrag gutschreiben, den sie für den Arbeitsplatz ausgeben. Im Einkommenssteuergesetz wäre zu verankern, daß sich im ersten Jahr die Einkommenssteuer um 100% und im zweiten Jahr um 80% des Bruttolohns für den Arbeitsplatz ermäßigt. Hier würde die arbeitsplatzschaffende Mündigkeit der SteuerbürgerInnen zur Herausforderung und die Jugendlichen hätten ein Angebot, das zwischen Markt und Staat liegt. Der Vorschlag radikalisiert das geplante "Dienstmädchenprivileg" für Privathaushalte, in dem eben nicht nur Haushaltstätigkeiten, sondern auch alle anderen gesellschaftlich sinnvollen Arbeiten mit Steuerverminderung belohnt werden. Die Steuereinnahmen würden zwar sinken, aber die Bundesanstalt für Arbeit müßte auch weniger erhalten. 

Fazit: 

Die Lehrstellen-Lücke könnte geschlossen und die Jugendarbeitslosigkeit jenseits aller schon erfolgten Strategien zumindest unkonventionell halbiert werden. Deshalb ist jetzt die Lehrstellendebatte mit der Frage der Jugendarbeitslosigkeit zu koppeln. Käme ein Jugendprotest zustande, könnten die politisch Verantwortlichen sich nicht mehr entziehen. Auch Banken sollten nicht unbedingt darauf warten, bis ihre Fensterscheiben eingeschlagen werden.

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