2. Mitteleuropa evakuieren?
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Tschernobyl war die bisher größte Katastrophe. Wichtiger aber ist, daß es die erste in einem stark besiedelten Gebiet ist. Wenn man Kiew nicht hinzurechnet, dann mögen innerhalb des 130-km-Radius etwa 1 Million Menschen wohnen. Rechnet man Kiew hinzu, dann sind es gegen 3 Millionen. Daß Kiew von der ersten und größten Strahlenwolke am 26. und 27. April nicht betroffen war, hat die Stadt lediglich der Windrichtung zu verdanken. Der Wind kam von Kiew und ging nach Nordwesten. Diese Windrichtung begünstigte zunächst die Evakuierung der Bevölkerung nach Süden.
Wäre der Wind vom Norden oder Osten gekommen, dann wäre eine Evakuierung der Bevölkerung unmöglich gewesen, weil der Fluchtweg
1. durch den Pripjat (so gut wie keine Brücken),
2. durch den riesigen Stausee und
3. den breiten Dnjepr abgeschnitten gewesen wäre.
Das ist etwa die Situation, in der sich Hamburg befindet: Die Elbmündung mit ihren Nebenarmen engt die Fluchtwege auf wenige Brücken ein. Auch jede planmäßige Evakuierung muß unweigerlich zum Chaos führen. Man braucht sich den Berufsverkehr nur etwa verzehnfacht vorzustellen, denn alle wollen ja dann in eine Richtung.
Rund um Hamburg stehen vier Atomkraftwerke innerhalb eines Radius von 70 km. Das ist ungefähr die Fläche, aus der in der Ukraine rund 100.000 Menschen evakuiert wurden (die letzten 10 Tage nach dem Unfall, was ihnen nur noch wenig helfen wird). Im Großraum Hamburg müßten rund 2 Millionen Menschen evakuiert werden; wenn es ihnen etwas nützen soll, dann innerhalb von Stunden.
Hauptsächlich hängt alles vom Wind ab, der sich auch sehr schnell drehen kann, wie jedermann weiß - nur Herr Riesenhuber nicht! Denn der sagte am 29. April: Zu uns könne die Strahlenwolke aus Tschernobyl nicht kommen, da wir nicht in der Windrichtung lägen! Zwei Tage später lagen wir voll in der Windrichtung - und nur von Riesenhuber kam kein Wind mehr. (Erst am 14. Mai trat er wieder im Bundestag auf, um der SPD zu sagen, daß es doch sehr unfair von ihr sei, das gemeinsam beschlossene, ach so schöne Atomprogramm jetzt im Stich zu lassen.) Das ist der gleiche Mann, den die Zeitschrift natur schon als künftigen Umweltminister vorstellte!
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Satellitenphoto von Tschernobyl.
Die Pfeile markieren die Kernkraftwerksanlage am Nordende des Sees, aus dem das Kühlwasser gewonnen wird.
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Ein ähnliche Situation würde in Hamburg entstehen, wo nur wenige Brücken vorhanden wären.
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Nicht viel besser sind die Fluchtwege, wenn der Katastrophenort an einem Fluß liegt — und fast alle Atomkraftwerke liegen wegen des benötigten Kühlwassers an Flüssen! So müssen z.B. die Bewohner rechts des Rheins bei Westwind — und meist herrscht dort Westwind — den Fluchtweg über den Rhein nehmen. Da steht für Biblis nur eine Brücke bei Worms zur Verfügung, für Mühlheim-Klärlich sind es bestenfalls drei und für Wyhl wäre es weit und breit eine einzige (gewesen).
Selbst wenn wir annehmen, daß die Menschen heil davonkommen, so beginnt dann erst die eigentliche Katastrophe, die jetzt einige hunderttausend Ukrainer am eigenen Leibe erfahren. Doch die Sowjetunion hat wenigstens große Räume, die USA auch. Wohin sollen wir in der dicht besiedelten Bundesrepublik Millionen Menschen umsiedeln? Denn hier würden es bei einem GAU wie in Tschernobyl Millionen sein! Es wird ein Flüchtlingstreck wie am Ende des Zweiten Weltkrieges entstehen, aber diesmal wird er nicht wissen wohin! Denn der wievielte Teil des Bodens der Bundesrepublik wird dann noch so heil geblieben sein, daß wir darauf wohnen und Nahrung ernten können?
Ich darf es Ihnen, liebe Leser, nicht ersparen, auch wenn es Sie ärgern wird: Angesichts einer solchen apokalyptischen Lage werden die kleinen Sorgen des Mai 1986 um Millirem und Becquerel im Rückblick als lächerliche Lappalien erscheinen!
Was helfen in einem solchen Fall alle Haftungsbe
stimmungen und Rechtsansprüche? Die Elektroversorgungsunternehmen haften mit ihrem ganzen Kapital, hieß es am 14. Mai im Deutschen Fernsehen. Doch wenn eines ihrer Atomkraftwerke verlorengeht, haben sie auch kein Kapital mehr.Und was würde es den Evakuierten nützen, wenn man ihnen Geld auszahlt? Nahrung brauchen sie und Trinkwasser, Decken und Kleider, irgendein Dach über dem Kopf. Alles weitere wird durch das Wort eines Indianers verdeutlicht: »Wann werdet ihr endlich merken, daß man Geld nicht essen kann?«
Es ist eine Lüge, die selbst heute, nach dem Ereignis in Tschernobyl, hier und da noch verbreitet wird: Da würden Schäden eingegrenzt, beseitigt, Gebiete entseucht — was alles eben in verstrahlten Gebieten gar nicht durchführbar ist.
Das ist das Bezeichnende an der Atomenergie: Nach der Katastrophe läßt sich gar nichts Wirksames mehr tun!
Es können nur noch die Opfer liebevoll gepflegt werden, bis sie sterben — und das dauert bei einigen Jahrzehnte. Die Japaner haben große Erfahrung darin. Das setzt aber voraus, daß die Verstrahlung des Landes begrenzt bleibt, was dort auf Hiroshima und Nagasaki zutraf.
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Herbert Gruhl Der atomare Selbstmord Mit 10 Abbildungen und Karten