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2.  Im Dritten Reich

Gruhl 1987

 

    Jahre der Ungewißheit  

50-119

Meine weit älteren Brüder lernten nicht nur Latein, Mathematik und dergleichen, sie gerieten in Bautzen auch in die Politik. Ab und zu schnappte ich Äußerungen auf, wonach sich da etwas Neues entwickelte: eine Bewegung mit der Bezeichnung <Nationalsozialisten>, an ihrer Spitze ein Mann namens Adolf Hitler, der in einer ganz großen Stadt »zwanzigmal größer als Bautzen« — München genannt — wohnen sollte. 

Von den Kommunisten hatte ich schon früher gehört, denn die gab es im Nachbarort Doberschau, wo man durchkam, wenn man nach Bautzen fuhr. Das war im Gegensatz zu unserem Bauerndorf ein von Arbeitern bewohnter Ort. Eine Familie von dort holte allwöchentlich bei uns Butter, der Mann war Arbeiter und die beiden Söhne auch — und das waren Kommunisten. Wir wußten das so genau, weil ihre Mutter fast ihr ganzes Leben lang zu uns arbeiten kam, wann immer Zusätzliches geschafft werden mußte. Sie war eine redselige freundliche Frau, die das Leben praktisch auffaßte. Ich wußte auch schon, daß die Kommunisten in Rußland ihr großes Vorbild sahen, ja ihr Gruß lautete sogar <Heil Moskau!>. (Die Nazis sagten in jenen Jahren zunächst nur <Heil!>)

Vieles davon erfuhr ich aus den <Bautzener Nachrichten>, unserer Tageszeitung, aus der mein Vater ab und zu eine Stelle vorlas, mehr an die Mutter als an mich gewendet. Da war oft die Rede von Beschimpfungen, ja Prügeleien im Deutschen Reichstag, worüber mein Vater den Kopf schüttelte. Die <Bautzener Nachrichten> galt als die Zeitung der Bürgerlichen und der Landwirte. Dagegen war das <Bautzener Tageblatt> eher das Organ der Arbeiter und Sozial­demokraten. 

Seit dem zehnten Lebensjahr etwa gewöhnte ich mir an, die Zeitung täglich selbst zu lesen. In dieser Zeit verschärften sich die politischen Kämpfe, es gab Straßen­schlachten mit Toten, vor allem in Berlin. 

Die großen Parteien hatten ihre eigenen paramilitärischen Organisationen, die nicht besonders heimlich mit Waffen versehen waren: Die <National­sozialistische Deutsche Arbeiter Partei> (NSDAP) verfügte über die <Sturm-Abteilungen> (SA), später auch über die <Schutz-Staffeln> (SS); die <Kommunistische Partei Deutschlands> (KPD) über die <Rote Front>, die <Sozialdemokratische Partei Deutschlands> (SPD) über das <Reichsbanner>; der <Stahlhelm>, aus ehemaligen Kriegsteilnehmern entstanden, war den Rechtsparteien innerlich verbunden. Die Reichsbanner-Männer aus Doberschau marschierten eines schönen Sommerabends durch unser Dorf und sangen schallend:

Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. 
Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!

Schließlich hatten ja auch viele Männer reichlich Zeit. Die Arbeitslosenzahl stieg immer höher, das Geld wurde immer knapper, Regierungen vermochten keine Mehrheiten hinter sich zu bringen, um Gesetze verabschieden zu können. Überall hörte man die Leute lauter oder leiser reden: <So kann es nicht weitergehen! Es muß wieder Ordnung im Lande geschaffen werden>. 

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Es gab aber auch Erheiterndes. So kursierte eine Postkarte mit den Portraits der Herren Papen, Schleicher und Hitler. Unter jedem Kopf stand ein für ihn charakteristischer Ausspruch. 

Papen: »Ich halt's mit den Pfaffen!« 
Schleicher: »Ich halt's mit den Waffen!« 
Hitler: »Wir werden es schaffen!« 

Und über die ganze Breite der Karte stand groß: »Wir bleiben Affen!«

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Eines Sonntags sprach mein Vater: »Wir fahren mit dem Bus nach Bautzen, den SA-Aufmarsch ansehen.« Ich wunderte mich ein wenig darüber, war aber gespannt. Am Kornmarkt standen die Menschen dicht gedrängt an der Straße, eine mir endlos dünkende Kolonne von Braunhemden zog in Dreierreihen vorbei, es waren an die 2000. Plötzlich sah ich: Da marschiert Gerhart! Und da marschierte Walter! Mich überraschte das zwar nicht zu sehr, ich hätte aber gern gewußt, ob es meinem Vater schon bekannt gewesen war, daß sie Mitglieder des <NS-Schülerbundes>, beziehungsweise der <Hitlerjugend> (HJ) geworden waren. 

Ich fragte nicht danach, wunderte mich jedoch etwas darüber, wie sie das Geld hatten aufbringen können, um die braunen Uniformen zu kaufen. Von da an tauchten sie auch zu Hause ab und zu in Uniform auf, wenn sie sich zu ihrem »Dienst« trafen, wie die wöchentlichen Zusammenkünfte damals genannt wurden; denn Walter war bald Scharführer der <HJ> geworden, die sich gelegentlich auf unserem Hofe zu einem »Heimabend« traf. 

Da meine Brüder — immerhin schon mit einem Stück höherer Schulbildung versehen — das für richtig hielten, und mein Vater es wohlwollend geschehen ließ, rechnete ich mich — damals ein zehnjähriger Knabe — auch zu den Nationalsozialisten. So kam es vor der »Machtergreifung« Hitlers — so lautete die wohl von ihm selbst geprägte Formel — zu einem Ereignis, das bei meinen Verwandten nachhaltigeren Eindruck hinterließ als bei mir selbst.

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Zur Kirmes des Jahres 1931 in Göbeln hatte ich nach einigen Gläsern des bekannt guten Apfelweines darauflos phantasiert, wie Hitler die benachbarten Länder besetzen würde, wenn er erst einmal Reichskanzler wäre. Zuerst würden die im Weltkrieg verlorenen deutschen Gebiete zurückgeholt, dann Österreich, das Sudetenland — alles ziemlich problemlos. Eine umfassende Strategie wurde von mir lang und breit entrollt, wobei ich mich infolge der Aufmerk­samkeit der Kirmesgäste zu immer gewagteren Feldzügen hinreißen ließ. 

Als sich die Dinge dann von 1937 bis 1940 tatsächlich so anließen, lebte die Erinnerung der Verwandten an meine damaligen Voraussagen mit beträchtlichem Respekt wieder auf. Ich selbst war mir dagegen meiner Flunkerei durchaus bewußt geblieben. Man kann es auch so wenden: Hitler hat später eine derart leichtfertige Politik treiben können, wie sie der Phantasie eines übermütigen, vom Weine berauschten Knaben entsprach.

Die Politik der letzten Jahre der Weimarer Republik hatte ich bereits mit großer Neugier verfolgt, vor allem die vielen Wahlen. Im Dezember 1929 erfolgte die Abstimmung über den Young-Plan, 1930 eine Reichstagswahl, 1932 bereits die nächste und zwei Wahlgänge um den Reichspräsidenten, wobei schließlich Hindenburg wiedergewählt wurde. In unseren Dörfern sah das so aus: Gnaschwitz wurde bald eine nationalsozialistische »Hochburg«, und Doberschau blieb Domäne der Sozialdemokraten und Kommunisten wie — etwas schwächer — auch Grubschütz. 

Letzteres war wichtig, weil »die Grubschützer« in unsere Schule gingen und dort unter uns Kindern die Spaltung in <Nazis> und <Sozis> ebenfalls aufbrach. Das hielt aber nicht lange an, denn wir schrieben schon 1932, und spätestens am 1. Mai 1933 wurden fast alle Nazis. Das weiß ich so genau, weil an diesem Tag ein großer Umzug durch die Dörfer stattfand, worüber wir einen Aufsatz schreiben mußten. 

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Ich beschrieb meine überraschenden Beobachtungen mit folgenden Worten: »In den ehemaligen kommunistischen Hochburgen Doberschau und Grubschütz waren die Häuser am schönsten geschmückt.«

Ab diesem Maifeiertag begannen die Jahre der Fahnen und Parolen, die bis 1945 anhielten und die in der sowjetisch besetzten Zone ihre fast nahtlose Fortsetzung fanden. 

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Es scheint mir angebracht, über das Dritte Reich etwas Grundsätzliches zu sagen.

Seit 1945 gibt es eine an- und abschwellende Diskussion darüber, wie es eigentlich zu dieser Hitler-Herrschaft in Deutschland kommen konnte. Ich befürchte, je weniger Augen- und Ohrenzeugen jener Zeit übrigbleiben, um so mehr Phantasien werden darüber verbreitet werden, um so weniger wird man sich in die konkrete Situation hineindenken können. 

Die Späteren sind immer geneigt, die Vorgänge aus der überlegenen Position des Zurückblickenden zu beurteilen, der alle Ergebnisse einbeziehen kann, die damals niemand kennen konnte und die auch nur ganz wenige im voraus geahnt haben. 

Die grundlegende Voraussetzung für den Aufstieg Hitlers war, daß sich das deutsche Volk 1918 tief erniedrigt fühlte. Die Demütigung wirkte fort, zumal Jahr für Jahr Reparationen zu zahlen waren, in denen man — allerdings in einem viel zu hohen Maße — die Ursache der wirtschaftlichen Depression zu erkennen meinte. Die Menschen konnten auch nicht begreifen, warum es nicht gelang, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, wo doch der hohe technische Standard der Deutschen und ihre Organisationstalente weltweit bekannt, ja sogar gefürchtet blieben. 

Wirtschaftliche Not und gestörtes Selbstwertgefühl erfüllten den Alltag mit einer gereizten Stimmung, die jederzeit in Schlägereien ausarten konnte. Man wartete allgemein auf den großen Helden, der den gordischen Knoten durchschlagen würde. Hitler begann jede Rede mit der Beschreibung der »Schmach«, die dem deutschen Volk 1918 angetan worden sei, und mit der offenkundigen Unfähigkeit der parlamentarischen Demokratie, gegen die wirtschaftliche Misere etwas auszurichten.

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Die Tatsachen bewiesen: in den letzten Jahren war die Lage immer schlechter geworden, ein Ausweg nicht sichtbar. Das deutsche Volk war schließlich bereit, jedes Wagnis einzugehen. Man muß schließlich auch bedenken, daß 1932 immerhin fünf Millionen Wähler bereit gewesen waren, sich auf das kommunistische Wagnis einzulassen, obwohl alle Nachrichten aus der Sowjetunion seit langem eher dazu angetan waren, Furcht einzuflößen.

 

Hitler war es mit seinen Anhängern gelungen, eine Woge der Hoffnung zu entfesseln, welche 1930 zu 107 Mandaten im Deutschen Reichstag und 1932 zu 234 Mandaten und damit zur stärksten Fraktion führte. Daß seine Parteimitglieder und gerade die »alten Kämpfer« in den Sturmabteilungen zum großen Teil Idealisten gewesen sind, ist später verdrängt worden — vielleicht auch in Vergessenheit geraten, zumal ein großer Teil von ihnen aus dem Krieg nicht mehr heimkehrte. 

Den Gewinn der ganzen Macht verdankte Hitler letzten Endes den opportunistischen Bürgern, die ihr Fähnchen in den neuen Wind hängten, darunter den Beamten. Aber auch das ist letzteren nur begrenzt vorzuwerfen, denn sie waren darauf vereidigt, der staatlichen Obrigkeit zu dienen, und das war seit dem 30. Januar 1933 eine nationalsozialistisch geführte Reichsregierung.

Endgültig gesiegt und nahezu das ganze deutsche Volk für sich gewonnen hatte Hitler dann, als er den »Feindmächten« zeigte, daß man mit Deutschland nicht mehr so umspringen konnte wie mit einer eroberten Provinz. Das Zerreißen des Versailler Vertrages mit all seinen Beschränkungen der deutschen Staatshoheit löste echte Begeisterungsstürme aus.

Und ein großes Versprechen wurde eingelöst: Alle bekamen Arbeit, ja, bald mangelte es sogar an Arbeitskräften, in der Landwirtschaft besonders. 

Daraufhin kamen polnische Landarbeiter schon vor dem Krieg im Sommerhalbjahr zur Arbeit nach Deutschland. Auch wir hatten eine Polin auf dem Hof, die behandelt wurde wie die deutschen Arbeitskräfte auch.

Bis zum Kriegsausbruch waren nach meiner Einschätzung über 90% der deutschen Staatsbürger überzeugt, daß die neue Politik richtig sei.

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In Gnaschwitz hatte es bis 1933 keine politische Jugendorganisation für Schulkinder gegeben. Das Jungvolk entstand dann für mehrere Dörfer gemeinsam, bei Übergewicht des ehemals roten Doberschau. Mein Beitritt lag in der Tendenz unserer Familie, und nach einigen Monaten war ich auch Jungscharführer (für eine Gruppe von zirka zehn Jungen). Ich wollte nun möglichst viel Eigenes tun und einen phantasievollen »Dienst« aufziehen. 

Doch die Erfahrung ließ nicht lange auf sich warten, daß die Vorschriften »von oben« ziemlich streng waren, was von uns allerdings mehr als Unzulänglichkeit oder auch Willkür der betreffenden Funktionäre gedeutet wurde. So kam es aufgrund beträchtlicher Mentalitäts­unterschiede und meiner Überzeugung, ungerecht behandelt worden zu sein, zu Auseinandersetzungen, die ich schon im Sommer 1934 kurz entschlossen mit dem Austritt aus dem Jungvolk beendete. Ja, so was war damals immerhin auch noch möglich!

Etwa zur gleichen Zeit war für Schüler die sogenannte Staatsjugend deklariert worden, und der Sonnabend wurde für die Mitglieder der Hitlerjugend und des Jungvolks zum Staatsjugendtag erklärt. Sie hatten damit zwar schulfrei, aber ganztägigen Dienst in ihren Organisationen zu leisten. Die Nichtmitglieder dagegen, zu denen ich nun zählte, hatten weiterhin die Schule aufzusuchen. Doch auch für uns wurde der Unterricht mit Basteln, Sport und Wandern ganz angenehm gestaltet. So organisierten zum Beispiel die Lehrer für die Schüler des Kreises Bautzen an einem Sonnabend eine Fahrt mit vielen Bussen ins Zittauer Gebirge.

 wikipedia  Reichsjugendführung  

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Auf der Freilichtbühne in Johnsdorf wurde uns ein historisches Drama über die Türkenkriege vorgeführt. Auch in diesem war es ein berittenes Volk aus dem Osten gewesen, welches das christliche Abendland mit Krieg überzogen hatte, wie schon früher die Hunnen, die Ungarn und in unserer Heimat die Hussiten. — Bei der Wanderung durch die dortigen Berge hatte ich ein nachhaltiges Erlebnis. Ein zartgliedriges Mädchen mit blonden Zöpfen, zwei Jahre jünger als ich, lachte mir des öfteren zu, wenn ich spaßige Bemerkungen zum besten gab. Diese Blicke prägten sich tief in mein Gedächtnis ein, obschon ich dieses blauäugige Mädchen von unserer Schule her kannte.

Unser Schulleiter Voigt hat seine Freude darüber, daß nach Einführung des Staatsjugendtages so viele Schüler »lieber zu ihren alten Lehrern« kamen, kaum verborgen. Die Lehrer hatten natürlich Spitznamen. Ihn nannten wir wegen seines watschelnden Ganges, der durch seinen Schmerbauch bedingt war, Ente. Paulchen und Schnucki hießen die beiden anderen, da sie auch von ihren Frauen so gerufen wurden. 

Der Schulleiter wagte in jener Zeit sogar, den Grundsatz der HJ, »Jugend kann nur von Jugend geführt werden«, mit dem Satz zu karikieren: »Schafe können nicht von Schafen geführt werden!« Möglicherweise sah er sich gerade wegen solcher Äußerungen später genötigt, doch in die Partei einzutreten. Während des Krieges trat er dann sogar aus der Kirche aus, welche er, solange ich zur Schule ging, stets mit warmen Worten verteidigt hatte. 

Aber auch den zweiten Lehrer, Paulchen, sah ich etwa um die gleiche Zeit, es mag 1938 gewesen sein, zu meiner Überraschung plötzlich in brauner Uniform zu Veranstaltungen der NSDAP gehen. Das brachte beiden 1945 die automatische Entlassung ein. Den »dicken Voigt« sah ich dann 1947 mitleiderregend dünn beim Straßenbau wieder — von einem Schmerbauch keine Spur. Allerdings, abgemagert waren zu der Zeit alle. Viele Jahre später besuchte ich ihn noch einmal, als er von einer kümmerlichen Rente auf einem Bauernhof in Gnaschwitz lebte. Inzwischen war er wieder zum Kirchgänger geworden. So bot er eines der unzähligen Beispiele, wie sich Menschen verkalkulieren können, die dem jeweiligen Zeitgeist huldigen.

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Bis 1934 hatten mich nur Tageswanderungen der Schule über den Umkreis des Dorfes hinausgeführt, wobei allerdings ein Ausflug in die Sächsische Schweiz hervorzuheben ist. Meine erste größere Fahrt unternahm mein Bruder Gerhart mit mir. Zögernd hatten meine Eltern die ungewöhnliche Idee einer Fahrradtour ins Riesengebirge gebilligt, obwohl infolge der schlechten Ernte im Jahre 1934 gerade die Pfennige knapp zu werden drohten. So fuhren wir also am 6. August über Görlitz und Lauban bis Schreiberhau, wo wir die Fahrräder stehenließen. 

Am nächsten Tag begann unsere unvergeßliche Wanderung zunächst zum Zackelfall und zur Schlesischen Baude. Dort war gerade die Rundfunkübertragung von der Bestattung des Reichspräsidenten Hindenburg in Tannenberg zu Ende gegangen. Mitten auf dem Riesengebirgskamm übernachteten wir im Rübezahlhaus, damals eine der größten und schönsten Jugendherbergen. Der zweite Wandertag brachte den Höhepunkt mit der Besteigung der Schneekoppe, von der wir eine prächtige Fernsicht genossen; dann ging es wieder hinab nach Krummhübel, dem Ort mit der schwedischen Holzkirche Wang. Am dritten Tag gelangten wir so zeitig nach Schreiberhau zurück, daß wir noch bis Lauban radelten, um am nächsten Mittag wieder heimzukehren. Ich hatte nicht einmal zehn Reichsmark verbraucht, so daß ich meinem Vater noch zehn Zigarren zum Geburtstag mitbringen konnte. 

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Die einmalige Fahrt ins Riesengebirge hatte mein Fernweh erst richtig geweckt. Exakt ausgearbeitete Reisepläne mit dem Fahrrad bis hin zum Harz, ja bis zu den Alpen waren die Folge. Doch Gerhart war für weitere Fahrten nicht zu gewinnen, und auf die Zustimmung der Eltern konnten wir ohnehin nicht hoffen. So blieb es bei meinen Reisen auf den Landkarten. Doch einmal lud mich mein späterer Schwager Max ein, für zwei Tage auf seinem Motorrad mit nach Berlin zu fahren. Ein Motorrad war damals das höchste, wovon Jugendliche träumen konnten. Max war Geselle in einer der beiden Bäckereien, die unser Dorf und die Umgebung versorgten. 

In Berlin fand im Juni 1936 die Funkausstellung und gleichzeitig ein Avusrennen statt. Die riesige Stadt wirkte mit den vielen neuen Eindrücken ziemlich verwirrend auf mich. Von größeren Städten kannte ich bis dahin nur Dresden. Als wir spätabends aus Berlin zurückkehrten, kamen gerade Meldungen aus dem spanischen Bürgerkrieg über das Radio. Wir besaßen inzwischen einen Rundfunkempfänger, an dem mir viel lag, um die Ereignisse in der Welt verfolgen zu können.

Die sorglose Kindheit war dahin, als ich Ostern 1936 die Volksschule verließ und konfirmiert wurde. Von da an hatte ich eine volle Arbeitskraft auf dem Bauernhof zu stellen. Unser Kutscher Willi hatte nach zehnjährigem Dienst auf unserem Hof die Lust nach Veränderung verspürt, so daß ich die Pferde übernahm. Meine Lesefreuden blieben nun begrenzt auf die Abende und auf die Sonntage, im Winter auch schon mal auf halbe Wochentage, wenn alle Arbeit getan war, wozu natürlich das dreimalige Viehfüttern Tag für Tag gehörte. 

Manche der eintönigen Arbeiten habe ich ganz gern getan, weil ich dabei so schön nachdenken und träumen konnte: über ferne Länder, über eine große Zukunft und über die Liebe natürlich. Mir schwebte ein sehr bestimmtes Idealbild von dem Mädchen vor, das einmal meine Frau werden sollte. Im übrigen galt es immerzu, freie Minuten zum Lesen zu ergaunern, gelegentlich auch während der kurzen Mittagspausen. 

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Da für meine geistigen Liebhabereien bedauernswert wenig Zeit blieb, konnte mich die Dorfjugend in keiner Weise reizen. Ich hatte auch große Mühe, die Fahrten zur Stadtbücherei in Bautzen zu deren Öffnungszeiten irgendwie herauszuschlagen, um stets den nötigen Lesestoff herbeizuschaffen. Da an Jugendliche nicht alles ausgeliehen wurde, mußte das Leseheft meines Bruders Walter herhalten. 

Von den Romanen verlagerte sich mein Interesse immer stärker auf historische Bücher von der Neuzeit bis weit in die Vorgeschichte und hin zur Archäologie. Die Bandkeramiker und die Schnurkeramiker waren mir zum Beispiel geläufige Begriffe. Andererseits reichte meine Lektüre bis in die Gegenwart. Ich erinnere mich an ein dickes Buch über den Ersten Weltkrieg.

Seit meiner Volksschulzeit besitze ich ein plastisches geographisches Vorstellungsvermögen. Bei Nennung eines Ortsnamens blitzt die Karte des betreffenden Gebiets in meinem Kopf auf, je nach Bedarf mit mehr oder weniger Umland. Entsprechend bin ich auch auf Reisen, besonders in Gebirgen, bestrebt, mich rundum über den ganzen Horizont zu orientieren. Demgemäß war ich auch im geistigen Bereich stets bemüht, eine umfassende Übersicht zu gewinnen und Einzelheiten nicht überzubewerten. Es hat mich schon in jungen Jahren häufig in Erstaunen versetzt, wie schnell die meisten Menschen aufgrund mangelhafter Informationen oder sogar nur einer einzigen sofort ihr Urteil fertig hatten. 

In diesen Zusammenhang ist wohl eine meiner Eigenarten einzuordnen: Immer wenn ich ein unangenehmes Erlebnis oder eine enttäuschende Erfahrung zu verkraften hatte, habe ich mich nie lange dabei aufgehalten; sobald die Sache hinter mir lag, war sie bald abgetan. So konnte ich mich unbelastet mit der neuen Situation abfinden, statt unnütz über erlittenes Mißgeschick zu klagen. 

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Meine »Lesewut« entsprang wohl einem angeborenen Trieb, viel über diese Welt wissen zu wollen. Dabei kümmerte mich wenig, wie dieses Wissen mit einem Beruf zu verbinden sei, zumal mir die Voraussetzung für eine akademische Laufbahn, die Oberschule, fehlte. Und es sah ja auch ganz danach aus, als würde ich doch den väterlichen Hof übernehmen. Folglich bestand ich darauf, die landwirtschaftliche Schule in Bautzen zu besuchen. Dort hatte man zunächst für anderthalb Jahre nur einen Unterrichtstag im Monat, dann ein Jahr lang täglichen Unterricht. Dorthin fuhr ich mit dem mir untrennbar verbundenen Fahrrad.

Nach der Rückkehr am Nachmittag ging die gewohnte Arbeit auf dem Hof weiter. Nur einen Vorteil hatte mir vermutlich meine Mutter verschafft, denn plötzlich wurde ich nicht mehr zum Füttern geweckt, sondern erst zum Frühstück, um für die Schule ausgeruht zu sein. Diese durchlief ich leicht, obwohl mein Interesse anderen Büchern und dem großen Gang der Welt gehörte. 

Mein Vater sprach einmal in vorwurfsvollem Ton: »Du bist ganz aus der Art geschlagen. Ich könnte immerzu durch die Felder gehen, und du sitzt dauernd hinter deinen Büchern!« Mein Bruder Gerhart hänselte mich folgender Weise: »Später wird geschrieben stehen: <Zwischen ungewaschenen Tellern, Bestecken und anderen Utensilien sitzend, betrieb er seine Studien.>« 

Für meinen Vater hatten der Boden, das Saatgut und die Ähre noch eine Art von kultischer Bedeutung — für mich nicht. Erst heute, nach Jahrzehnten, habe ich den hohen Wert dieser Dinge schätzen gelernt, so daß ich meinen Vater jetzt besser verstehe.

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Im Jahre 1938 kam es zu einer dramatischen Auseinandersetzung in unserer Familie. Der nun fünfundzwanzig­jährige Walter, der die Oberschule 1931 abgebrochen hatte und seitdem zu Hause arbeitete, konnte einerseits keinen erlernten Beruf für sein weiteres Leben vorweisen, mußte aber andererseits damit rechnen, daß der Hof nach dem Erbhofgesetz eines Tages an mich ging, obwohl ich noch ein halbes Jahr Arbeitsdienst und zwei Jahre Wehrdienst vor mir hatte. 

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Er forderte die Eltern ultimativ auf, ihm den Hof sofort zu übergeben, andernfalls werde er diesen verlassen. Diese Drohung verwirklichte er auch und ging als Verwalter auf ein Rittergut bei Pirna. Dort gefiel es ihm einerseits gar nicht gut, andererseits vermochten meine Eltern die Arbeit mit mir und einer weiblichen Hilfskraft nicht zu bewältigen. 

Meine Mutter war nie wieder voll arbeitsfähig geworden, und mein Vater hatte im Jahr zuvor an einer schweren Rippen­fellentzündung gelitten, die ihn sein nahes Ende fürchten ließMeine Schwester, die Seele des Hauses, hatte indessen ihren Anspruch angemeldet, mit siebenundzwanzig Jahren heiraten und ihrem Mann folgen zu dürfen. 

Mein Bruder Walter war in unserer Familie vielleicht der Unzufriedenste. Jedenfalls weiß ich, daß seine oft betont mürrische Miene zuweilen auch mich angesteckt hat. Obwohl oder gerade weil ich mir meine beiden Brüder zum Vorbild nahm, habe ich doch die Kälte gelinde mißbilligt, mit der Walter meinen Eltern die Pistole auf die Brust setzte. Andererseits kaufte er sich hin und wieder einen Band mit Gedichten, so daß ich zum Beispiel auf den Wiener Dichter Josef Weinheber, dessen große Bedeutung ich erst heute ermesse, durch ihn aufmerksam geworden bin. 

Schließlich kam es eines Tages zu einem entscheidenden Familienrat, obwohl derartiges meinem Vater höchst zuwider war. Mir fiel dabei die Schlüsselrolle zu, weil ich mit einem Verzicht auf die Erbfolge mit einem Schlage alle Probleme lösen konnte. Das tat ich dann auch, trotz höchst vager Vorstellungen über meine Zukunft, doch insgeheim wohl mit vielen Illusionen über diese.

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Solche Entscheidungen ins Ungewisse wiederholten sich noch manchmal in meinem Leben, doch sie haben sich später in der Regel als richtig erwiesen. Ich darf wohl sagen, daß mir mein Stern bis heute immer treu geblieben ist. Vor allem, wenn ich an all die früheren Gefährten denke, die teils unter weit günstigeren Voraussetzungen als ich angetreten und trotzdem von den Ereignissen hinweggespült oder vom Tod frühzeitig dahin­gerafft worden sind. 

Am 27. Januar 1939 wurde auf dem Amtsgericht in Bautzen der Vertrag unterzeichnet. Walter übernahm den Hof. Er hatte auch kurzfristig ein nicht nur zur Ehe, sondern auch zur Bäuerin gewilltes Mädchen gefunden, was damals schon schwer war. Meine Schwägerin Marianne erwies sich als außerordentlich tüchtig. Aus ihrer kurzen Ehe gingen die Söhne Gunter und Erdmann hervor. 

Walters Leben ist schnell erzählt. Er wurde bei Kriegsausbruch einberufen und machte den Frankreichfeldzug mit, durfte aber darauf ein knappes Jahr zu Hause arbeiten. Ab Frühjahr 1942 wurde er in Rußland eingesetzt und gelangte mit der pferdebespannten Artillerie bis nahe Stalingrad. Im Spätherbst 1942 erreichte mich Walters letzter Brief, der mir berichtete, daß er als vorgeschobener Artillerie­beobachter schwer gefordert sei. Die Russen arbeiteten sich jede Nacht so dicht an die deutschen Stellungen heran, daß sie am Morgen erst einmal durch Handgranatenwürfe vertrieben werden mußten. 

Als die Nachricht vom Fall Stalingrads über die Sender verbreitet wurde, war mir klar, daß damit auch sein Schicksalsweg beendet war. Obwohl er offenkundig schon am 16. Dezember 1942 gefallen war, wurde er offiziell als vermißt gemeldet. Erst viel später wurde seiner Frau die Todesnachricht zugestellt.

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   Im geschichtsträchtigen Österreich   

 

Mit meinen siebzehn Jahren wollte ich nicht mehr nur von der Ferne träumen, sondern sie auch erleben. So meldete ich mich im Rahmen des damals eingerichteten Landjugendaustausches nach Österreich. In die Alpen, die mich seit jeher faszinierten, konnte ich nicht vermittelt werden, aber immerhin auf einen Bauernhof in Niederösterreich, in der Nähe von Tulln an der Donau.

Ende Februar 1939 verabschiedete ich mich von meiner Mutter, die seit vier Monaten an einer neuen unbestimmten Krankheit litt, vom Vater und von der Schwester, um die erste große Reise meines Lebens anzutreten. In der Dunkelheit des frühen Morgens schritt ich unter Tränen den Hohlweg zum Dorf hinaus.  

Eine Stunde brauchte man bis Seitschen, unserer nächsten Bahnstation. Die erste Unterbrechung der Reise galt der Besichtigung von Regensburg. Der zweite Tag führte ins Salzkammergut. Aus der geplanten Wanderung auf den Feuerkogel wurde nichts, da man auf den Höhen noch im Schnee versank; doch bei Bad Aussee und auch in Hallstatt konnte ich herumspazieren. Alle anderen Gipfel überragend glänzte der Firn des Hohen Dachsteins in den Strahlen der Frühlingssonne. Eines der Volkslieder, denen ich gern gelauscht hatte, fiel mir ein: »Hoch vom Dachstein her, wo der Aar noch haust...« 

Doch seltsam, bei dieser wie auch bei späteren Reisen erfaßte mich oft eine innere Unruhe und Wehmut, wohl auch von Gefühlen der Enttäuschung begleitet — trotz all der Schönheiten, die vor den Augen lagen. Die Ursache könnte sein, daß in solchen Stunden das äußere Bewußtsein nicht mit dem inneren übereinstimmt. Die Seele weilt dann in anderen Zeiten und Räumen als denen, in welchen sich der Körper gerade aufhält. 

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So erinnere ich mich an einen späteren, strahlenden Sommersonntag im kaiserlichen Schloßpark von Schönbrunn, wo mich ein tieftrauriges Gefühl überwältigte. Unbestimmte Sehnsüchte erfüllten mich urplötzlich wie einen heimatlos Umhergetriebenen. Ich brauche wohl gerade auf Reisen fest eingeplante Ziele. Es ist mir jedenfalls noch nie gelungen, nur so aufs Geratewohl in die Welt hinauszufahren, ohne dabei von Gefühlen der Enttäuschung heimgesucht zu werden.

So brach ich meinen Umweg ab, um auf dem Bauernhof in Absdorf, meiner einstweiligen Heimstatt, früher als vorgesehen anzukommen. Der Hof war nicht viel kleiner als unserer, dennoch lebte man dort noch ein gutes Stück bescheidener. Neben den Äckern besaß die Familie einige Weingärten nebst Weinkeller am Wagram, einem Hang, wohin die kleinen Pferdchen lange Wege zurückzulegen hatten. Diese Fahrten boten mir Gelegenheit, englische Vokabeln zu lernen. Denn soviel war mir inzwischen klargeworden, daß ich mein künftiges Leben kaum in der Landwirtschaft verbringen würde.

Im Donautal befand ich mich in einer der traditionsreichsten Kulturlandschaften Europas. Nach Wien war es nur eine Zugstunde. Schon im März erlebte ich meine erste große Opernaufführung mit Carmen, was mir dann einen nächtlichen Fußmarsch von zwei Stunden im Schneetreiben einbrachte, weil der letzte Zug unerwartet in Tulln endete. Doch bald kam der Frühling. Da erschloß ich mir mit sonntäglichen Fahrradtouren die Wachau, das Kamptal und den Wiener Wald. Ich besichtigte die berühmten Stifte Göttweig, Melk und Zwettl sowie diese und jene Burg. Die barocke Kunst und die freundliche Landschaft rund um Wien erweiterten mein jugendfrisches Weltbild. Die großen Museen der Kaiserstadt besuchte ich wiederholt, bestieg den Kahlenberg wie den Kobenzl mit ihren Ausblicken über die Stadt und das weite Land. 

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An klaren Tagen sah man von unseren Weinbergen aus die weißen Höhen der Rax und des Schneeberges leuchten, und ein unvergleichliches Panorama bot sich bis hin zum Ötscher. Meine Geschichtskenntnisse waren gut genug, um über eine Vorstellung vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu verfügen, welches zuletzt seinen Sitz in Wien gehabt hatte. Das Kaiserreich Österreich-Ungarn hatte noch bis 1918 viele Völker zusammengehalten. Großartige Bauten, gefüllt mit Kunstschätzen aus aller Welt, bezeugten die imperiale Vergangenheit Wiens. Seit einem Jahr war nun das nach dem Ersten Weltkrieg übriggebliebene Deutsch-Österreich zur Ostmark, also zu einem Randgebiet des Dritten Reiches, welches sein Zentrum in Berlin hatte, degradiert. Das wurde von der Bevölkerung als leichte Kränkung mit der dort üblichen resignativen Wehleidigkeit aufgenommen.

 

Die zweite prunkvolle Tradition bot die Katholische Kirche allfällig dem Auge dar. Daß die Religion in Form von Kunst erscheint, die auch den teuersten Aufwand nicht scheut, war meiner nördlich-protestantischen Auffassung, die Religion in Form des Wortes und allenfalls des Kirchenliedes begriff, neu. Hier konnte man auch noch auf Schritt und Tritt spüren, daß die Kirche eine zweite weltliche Macht gewesen war, die mit Hilfe der Mönche in Jahrhunderten Reichtümer angesammelt hatte, die den Kontrast zur Armut der Bevölkerung überdeutlich hervortreten ließen. 

Dieser Kontrast beherrschte zu jener Zeit auch mein eigenes Leben: Die Wochentage verbrachte ich im Schmutz der Felder und Ställe, die Sonntage aber in Klöstern und Schlössern oder im feinen Anzug in der Wiener Staatsoper. So lebte ich in zwei Welten, und meine ohnehin starke Leidenschaft für die Historie vertiefte sich, ohne daß ich einen praktischen Weg vor mir sah, von Beruf Historiker zu werden. Obwohl die Zeugen der festen alten Ordnung noch überall ins Auge sprangen, so war diese innerhalb der Bevölkerung doch in Auflösung begriffen. 

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Ich hatte schon 1934 den Aufstand der Wiener Arbeiter und dessen Niederschlagung in der Zeitung verfolgt. Wie der Marxismus, so war auch der National­sozialismus für die hiesige Mentalität etwas Fremdes, obschon der Anschluß an Deutschland mit Begeisterung aufgenommen worden war. Soweit das Dritte Reich eine Tradition gepflegt hat, war es die preußische, nicht die österreichische — und zur Katholischen Kirche stand es in einem tiefen Widerspruch, der an der Oberfläche kaschiert wurde. Ich berichtete am 16. Juli 1939 folgendes Ereignis nach Hause: 

»Die Hauptsensation der letzten vierzehn Tage war schon geschehen, als ich Euch meinen letzten Brief schrieb. Der Erzbischof von Wien, Innitzer, der zur Zeit der Selbständigkeit Österreichs bekanntlich einer der Hauptregierenden war, besuchte in jenen Tagen alle Kirchen und Kapellen der Umgebung. Sonntag vor vierzehn Tagen weihte er die Kirche von Königsbrunn, einer Nachbarortschaft; beim Verlassen der Kirche wurde er von Absdorfer und anderen SA-Leuten in Zivil mit faulen Eiern beworfen und derart verprügelt, daß ihm das Blut vom Gesicht lief. Auch die anderen Pfarrer sollen auf der Erde herumgekugelt sein. Einige Leute, die zur Vernunft ermahnten, erhielten auch sofort ihren Teil ab. Sein Auto wurde so demoliert, daß er mit der Bahn nach Wien zurückfahren mußte. Montag sollte er nach Absdorf kommen, er kam aber nicht, die Leute erzählten, daß er im Spital liege. Die Aufnahme der Nachricht war geteilt, die Kirchgänger (meist Bauern) waren entrüstet und sagten, daß das bestimmt nicht im Sinne des Führers wäre, vielen gab es aber auch Spaß.« 

Die Zeitungen hatten kein Wort darüber verlauten lassen. Um die politischen Ereignisse überhaupt verfolgen zu können, mußte ich die Tageszeitung »Volksblattl« selbst abonnieren, denn das wurde von den dortigen Bauern im Sommerhalbjahr »wegen der vielen Arbeit« abbestellt. 

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Über die »Plage der Arbeit« wurde überhaupt alle Tage so ausgiebig gestöhnt, wie mir das in meiner Heimat nie vorgekommen war. Die Menschen dort, und besonders die Bauern, steckten zu tief in ihren Alltagssorgen, als daß sie sich viele Gedanken über die Ereignisse gemacht hätten. Ich schrieb allerdings auch nach Hause: »Viele Leute schimpfen, ihnen wäre es lieber, wenn sie selbständig geblieben wären.« 

Im dortigen Alltag gab es auch skurrile Vorkommnisse. Mein Bauer stellte zum Sommer einen älteren Knecht ein, der »Schannerl« genannt wurde. Dieser war einer unbändigen Leidenschaft verfallen. Er ging auf Hasenjagd, was er mir auch beizubringen versuchte. Während ich meinte, daß alle Hasen schon sehr früh Reißaus nehmen, belehrte er mich eines Besseren: Schannerl schlich barfüßig und leise über die Felder, nur mit einer Gabel bewaffnet, also einem unauffälligen Arbeitsgerät; er wußte, daß kauernde oder schlafende Hasen nicht mehr flüchten, wenn eine Gestalt unmittelbar vor ihnen auftaucht — sie bleiben vielmehr unbeweglich sitzen. Mit einem wuchtigen Schlag seiner Gabel erlegte er jeweils einen solchen Hasen und verbarg ihn unter der Schürze, die dort auch die Männer bei der Arbeit trugen. Einige Male gab es dann zu Hause Hasenbraten. Doch bald weigerte sich die Bäuerin, ihm weitere »von einem Unfall getroffene« Hasen zum Braten abzunehmen. Später hörte ich, daß sie dem Schannerl kündigen mußten, da seine Sucht, Hasen zu erlegen, immer schlimmer und offensichtlich noch erfolgreicher geworden war. 

Die große Politik blieb im Jahre 1939 in ständiger Unruhe. Bereits zu Anfang meines Aufenthalts war die Tschechoslowakei besetzt und das Protektorat Böhmen und Mähren erzwungen worden. Damals schrieb ich nach Hause, daß ich von diesem »Anschluß« nichts hielt, worauf mich mein Bruder Gerhart über die Vorteile aufzuklären versuchte. 

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Bereits am 15. April formulierte ich: »Daß mit Polen etwas nicht in Ordnung ist, liegt auf der Hand. Hier haben schon viele Stammtischpolitiker die Ansicht vertreten, daß Polen diese Woche drankommen sollte, nachdem es den Vertrag mit England geschlossen hat. So schnell geht's aber nun gerade nicht.« Ich meinte damals, noch mit einer längeren Ruhepause rechnen zu können. Doch der Sommer war noch nicht vergangen, als am Sonntag, den 20. August, Lebensmittelkarten ausgegeben wurden, was die Einheimischen als Kriegssignal auffaßten. Sie standen in einer mir damals nicht ganz verständlichen Aufregung diskutierend auf der Dorfstraße. Und der Schwiegersohn unseres Hauses ließ die Bemerkung fallen, daß wohl nun »Millionen ins Gras beißen« müßten. 

Hier schwang wohl noch des Älteren unmittelbarere Erfahrung mit, wie sich aus dem zunächst für harmlos gehaltenen Ersten Weltkrieg ein vierjähriges Blutvergießen entwickelt hatte. Dennoch wird wohl niemand in jenen Tagen vermutet haben, daß der Zweite Weltkrieg in der Dauer den ersten noch um eineinhalb Jahre übertreffen werde. Am ersten September hörten wir es dann alle aus den Lautsprechern: »Seit heute morgen fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen!«  

Eine Jahrhunderte alte Übung, »den Krieg zu erklären«, schien ausgedient zu haben; doch nicht ganz, denn nach zwei Tagen der Ungewißheit erklärten Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg, womit besiegelt war, daß es wieder ein Weltkrieg werden würde. Dennoch war die Hoffnung allgemein — und ich schloß mich da nicht aus —, daß er nach dem Polenfeldzug bald beendet werden könnte.

Mit meinem Austauschpartner kamen wir überein, den Aufenthalt abzubrechen, sobald der fast eingestellte zivile Zugverkehr das zuließe.  

Kurz vor meiner Abfahrt brachten mir Plakate in Wien eine wegweisende Erleuchtung. Darauf stand: Matura ohne Oberschule. Also war es doch möglich, diese nachzuholen! Und was es in Wien gab, mußte es auch woanders geben. 

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Folglich wandte ich mich an meinen Berliner Onkel Gustav. Er, der jüngere Bruder meiner Mutter, hatte Kaufmann gelernt und war in der Reichshauptstadt Versicherungs­vertreter geworden. Während meiner Kindertage kam er jeden Sommer wie aus einer anderen Welt auf einige Tage zu Besuch. Jetzt sandte er mir sogleich eine Menge Zeitungsinserate, denen zu entnehmen war, daß es auch Fernlehrgänge mit sogenannten Unterrichtsbriefen gab.

Wenige Tage nach meiner Heimkehr war der Polenfeldzug zu Ende. Ganz Deutschland befand sich in euphorischer Stimmung. Mit Frankreich würde man auch noch fertig werden, und was wollte dann das britische Inselreich noch gegen uns ausrichten? Die Sowjetunion hatte sich an die vertraglichen Abmachungen gehalten und die vereinbarte Grenze quer durch Polen nicht überschritten. Am sogenannten Westwall, wo inzwischen mein Bruder Walter lag, blieb alles ruhig.

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Zunächst hatte ich persönliches Leid zu verwinden — das Sterben meiner Mutter. Aus Briefen wußte ich, daß sie sich im Sommer leicht erholt hatte und hin und wieder ein bißchen im Haushalt half. Davon konnte bei meiner Rückkehr keine Rede mehr sein. Sie lag fest, und der Vertreter unseres Hausarztes, der sie bisher nicht kannte, hatte ihr eine Operation angeraten, der sie sich heftigst widersetzte. Und das wohl zu Recht, denn ihr geschwächtes Herz hätte einen solchen Eingriff nie überstanden. 

Sie aß nun bereits weniger und weniger. Es gab keinen Zweifel mehr, sie hatte Krebs. Als mir ihr baldiges Hinscheiden unausweichlich schien, fielen tagelang Tränen hinter dem Pflug in die frische Furche, die ich mit den Pferden zog. Tage zuvor hatte mir die Mutter froh erzählt, daß sie einen schönen Traum gehabt habe: Ein Chor von Engeln war ihr erschienen und hatte den Choral <Sorget doch für meine Kinder> gesungen. 

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Ich verstand, daß ihre letzte Sorge hauptsächlich mir galt, denn ich hatte für meine Zukunft keinen festen Boden unter den Füßen. Schon als ich aus Österreich zurückkehrend an ihr Bett getreten war, schien sie etwas enttäuscht. Die Erklärung entnahm ich ihren Worten: »Ich habe gedacht, du würdest dir dort eine Stellung suchen.« Sie hielt es für ungut, beim Bruder zu arbeiten, der ja nun Hofherr war, wenn auch zur Zeit Soldat am Westwall. Sie sah jetzt mich in die Situation des Dienenden geraten, die Walter zuvor schroff abgelehnt hatte. Daß letzte quälende Gedanken meiner Mutter mir galten, habe ich viel später auch von meinem ältesten Bruder Gerhart und vom Berliner Onkel erfahren. Beiden hatte sie das Versprechen abgenommen, mir zu helfen, der ich gerade achtzehn geworden war.

Mit meinen Tränen hatte ich im voraus Abschied von ihr genommen. Die letzten fünf Tage ihres Lebens kam sie nicht mehr zu Bewußtsein. Gerhart hatte noch einen Tag Urlaub erwirkt, doch sie nahm ihn nicht mehr wahr. Am Montag, dem 20. November 1939, als schon die Dunkelheit erkennen ließ, daß in der Nacht der erste Schnee gefallen war, bemerkte ich von draußen, daß im ersten Stock das Licht nicht mehr brannte. Der Vater, der sie pflegte, hatte es doch die letzten Nächte nie mehr ausgeschaltet! Als wir dann am Frühstückstisch saßen, kam er ohne Hast in die Stube. Indem er sich wie üblich an seinem Handtuch abtrocknete, sagte er lediglich leise: »Unsere Mutter ist heute nacht gestorben.« Mir rannen ein paar weitere Tränen auf das Brot, das ich gerade zum Munde führte. Es wurde kein weiteres Wort gesprochen.

Wir bereiteten mit meiner Schwägerin die Beerdigung vor. In unserer Scheune wurde die Mutter aufgebahrt. Noch einmal kamen alle Verwandten so vollzählig wie nie wieder zusammen, teils reisten sie mit ihren Kutschen an. Nur Walter hatte das Telegramm über die Feldpost zu spät erhalten. 

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So konnte er dem Sarge nicht folgen, der nur zweihundert Meter getragen werden mußte. Nach der Bestattung sagte Onkel Gustav, auf die besonnten Berge weisend: »Das ist ein schöner Friedhof.« Im Frühjahr 1941 starb er selbst an Magenkrebs, trotz Operation bei Professor Sauerbruch. Er hinterließ mir, den Wunsch meiner Mutter erfüllend, einige tausend Reichsmark, die dann nach dem Krieg leider wertlos geworden sind — wie so vieles andere auch.

 

   Der neue Anfang  

 

Ich aber kaufte Anfang 1940 beim Fernunterrichtsinstitut <Rustin> in Potsdam den ganzen Lehrgang Die Oberschule — Sprachlicher Zweig auf einen Schlag. Zu Hause auf einem Bauernhof von der Arbeit unbehelligt zu lernen wäre unmöglich gewesen. Als ich meiner Schwester den Plan eröffnete, in Dresden ein Zimmer zu mieten, bot sie spontan an, bei ihr zu wohnen, und ihr Mann stimmte zu. So habe ich ihnen für die Folgezeit das meiste zu verdanken. 

Damit war der Schritt aus der begrenzten Landwirtschaft in die unbegrenzte geistige Welt getan.  

In ihrer kleinen Wohnung in Nimschütz habe ich dann das vielleicht glücklichste Jahr meines Lebens verbracht. Was bisher Feiertagsbeschäftigung gewesen war, durfte ich nun alle Tage tun. Wie mir nun jeder Tag zum Sonntag wurde, so blieb auch in meinem weiteren Leben der Sonntag ein geistiger Arbeitstag, zumal sich dessen Ruhe dafür besonders eignet. Ich stellte mir anhand der Fächer einen Tagesstundenplan von morgens acht bis abends zehn Uhr auf. Nur einen Spaziergang oder eine Fahrradtour mußte ich nachmittags einschieben, um nachts schlafen zu können. In den Haupterntezeiten half ich übrigens stets mehrere Tage auf dem Hof meines Bruders, wo unser Vater weiter voll arbeitete. 

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Mein damaliger vertrauter Wohnort Nimschütz, wo meine Schwester die obere Etage eines Zweifamilienhäuschens bewohnte, existiert heute nicht mehr. Dieses Dörfchen mit wenigen Häusern, drei Kilometer nördlich von Bautzen gelegen, ist nach dem Krieg im Wasser der großflächig angestauten Spree versunken.

Das Jahr 1940 war im übrigen gespickt mit »Sondermeldungen«, vor allem über den Westfeldzug, aber auch über die Besetzung Dänemarks und Norwegens bis Narvik sowie der Eroberung des Balkans bis Kreta. Wie stets bei derartigen Siegeszügen in der Geschichte der Völker befand sich auch das deutsche Volk in einem Siegesrausch. Die »Schmach« des Ersten Weltkrieges schien getilgt. Was immer militärisch geschah, es ging erfolgreich aus. Damit wurden die Zweifel, welche seit Kriegsbeginn hier und da aufgekommen sein mochten, immer wieder hinweggeschwemmt. 

Nichts hat doch der Mensch so gern, als zu den Siegern zu gehören! Unsere Nachbarin, die Lehrersfrau, hatte vor 1933 kategorisch befunden: Hitler bedeutet Krieg! Und ihr Mann wird nicht anders gedacht haben. Im Juni 1940 kam er ganz begeistert an den Gartenzaun und rief: »Unsere Truppen marschieren in Paris ein! Uns ist das damals nicht vergönnt gewesen!« Mein Vater antwortete ziemlich trocken: »Es kann nicht jedem alles vergönnt sein.« 

Die wenigen Gegner des Nationalsozialismus mußten still sein — nicht nur wegen der Gestapo, sondern weil sie auf absolutes Unverständnis ihrer Mitbürger gestoßen wären, die man damals »Volksgenossen und Volksgenossinnen« nannte. 

Die wenigen, welche das Verhängnis früh erkannten, verdienen Hochachtung. Doch wie viele waren das damals wirklich? Selten haben mich Leute so angewidert wie die Allzuvielen nach dem Krieg, die es »immer schon gewußt« hatten und die angeblich »immer schon dagegen« gewesen waren. 

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Auf der anderen Seite besitzen die inzwischen herangewachsenen Jahrgänge, die keinen blassen Schimmer vom konkreten Leben der damaligen Zeit mitbekommen konnten, wenig Kompetenz, über das damalige Verhalten ihrer Eltern und Großeltern zu urteilen — zumal der größte Teil von ihnen heute derart törichten Lehren anhängt, die sich langfristig als noch verhängnisvoller erweisen werden als die damaligen vom »Tausendjährigen Reich«, welches schließlich eine Episode von zwölf Jahren blieb. 

Gerade viele von denen, die heute gern jene dunkle Vergangenheit wie den Teufel aus dem Kasten springen lassen, wann immer sie ein Feindbild benötigen — ohne das offensichtlich keine politische Ideologie auskommen kann —, tun das oft nur, weil sie blind und unfähig sind, die Konsequenzen ihrer eigenen Lehre zu übersehen.

Obwohl ich selbst keiner der vielen nationalsozialistischen Organisationen angehörte, bin ich freimütig genug zu erklären, daß ich damals kein Feind des <Dritten Reiches> gewesen bin und es bis Ende 1943 noch für möglich hielt, den Krieg zu gewinnen. Inzwischen war ja auch Japan in den Krieg eingetreten und hatte die gesamte Inselwelt bis nahe Australien erobert. Wenn ich — das war allerdings nur zu Hause möglich — regelmäßig <Radio London> hörte, dann hatte das den Zweck, besser informiert zu sein: denn daß die deutsche Propaganda vieles verschwieg, schien mir offenkundig. 

Von einer Verwandten meiner Schwägerin wurde mir auf dem väterlichen Hof einmal ernstlich gedroht, sie würde mein Abhören ausländischer Sender nicht mehr dulden; darauf stand damals immerhin die Todesstrafe. Als ich ihr nach dem Krieg wieder begegnete, war ihr Mann dort unter sowjetischer Besatzung bereits als Lehrer angestellt worden. So schnell wandeln sich mit den Ereignissen die Bekenntnisse der Menschen!

In meinem Selbstunterrichtsjahr schien also die Welt noch einigermaßen verläßlich zu sein. Obwohl ich das Oberschulwissen geradezu in mich hineinpumpte, hatte ich Freude daran und hoffte, nach eineinhalb Jahren die Reifeprüfung als Schulfremder zu bestehen. Da kam jedoch — ein halbes Jahr zu früh — die Einberufung zur Wehrmacht, und ein Gesuch um Aufschub blieb erfolglos. 

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   Kleiner Mann im großen Krieg  

 

So rückte ich denn am 4. März 1941 zu einer Nachrichtenabteilung des Heeres nach Dresden-Übigau ein. Ich hatte mich bei der Musterung zur Nachrichten­truppe gemeldet, weil ich mir sagte, daß man dort noch am besten über die jeweilige Lage informiert sein würde, worauf ich in meinem Leben immer größten Wert gelegt habe. Schon nach vierzehn Tagen wurde eine Gruppe zur Heeresnachrichtenschule in Halle an der Saale versetzt. Dort begann der wohl ödeste Teil meines Daseins im sturen Exerzierbetrieb: marschieren, Griffe kloppen, auf dem Boden robben. Immer wieder der gleiche Trott, durchsetzt von kleinen Schikanen der Unteroffiziere und anderer Ausbilder, die manchmal nicht mit besonderer Intelligenz gesegnet waren.

Uns umgab das öde Barackengelände und ein Stück entfernt die eintönige Stadt, obwohl »an der Saale hellem Strande« gelegen; das ergab einen Zustand, wie er grauer nicht sein konnte — und er dauerte ein ganzes Jahr lang. In meinen Lebenserinnerungen hat diese triste Zeit jedoch nur geringe Spuren hinterlassen. Wie sehr mich der »Kommiß-Betrieb« damals deprimierte, ist daran zu ermessen, daß ich schließlich der Anregung eines schleswig-holsteinischen Kameraden folgte, welcher meinte, wir sollten uns freiwillig zu einer nach dem Osten ausrückenden Divisionsnachrichten-Abteilung melden. 

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Der Krieg im Osten tobte zu dieser Zeit schon fast ein Jahr. Und einige Heimkehrer hatten von ihrem Einsatz bei Moskau im Winter 1941/42 nichts Erbauliches zu berichten gehabt; denn erstmalig in diesem Krieg war es zu fluchtartigen Rückzügen gekommen, einige hatten Erfrierungen erlitten. Selbst das hatte nicht vermocht, uns den jugendlichen Leichtsinn zu rauben. So wurden wir denn mit der pferdebespannten Telefonkompanie am 10. Mai 1942 verladen und in die Weite der Ukraine transportiert. Ein erstes Feldlager befand sich für einige Tage in einem kleinen Wäldchen. Während der Nachtwachen hörte ich erstmalig in meinem Leben eine Nachtigall. Sie erfüllte stundenlang in unermüdlichen Variationen die Stille der Nacht mit ihrem Jubel, wie ich es nie wieder erlebte, obwohl ich hin und wieder eine Nachtigall gehört habe. 

Als wir unseren Einsatzort bei Taganrog am Asowschen Meer erreicht hatten, schlugen wir unsere Zelte wieder in einem Wäldchen von riesigen Eichen auf. Wir wurden der südlichsten Infanteriedivision zugeteilt, die aus Oberschlesiern bestand, deren stehende Redensarten »Peronnie« und »Lerge« (Lerche) lauteten. Unsere Nachrichtenabteilung war dagegen ein bunt zusammengewürfelter Haufen, in dem sich so ziemlich alle deutschen Dialekte mischten. Der Frontabschnitt blieb einige Wochen so ruhig, daß man den Krieg geradezu vergessen konnte. Doch der Fronteinsatz sollte mich noch lehren: Die meiste Zeit geschieht wenig, nicht einmal Schüsse fallen; es kann so langweilig werden wie in der Kaserne. Doch dann bricht urplötzlich die Hölle los, und in wenigen Tagen werden ganze Divisionen aufgerieben, so daß nur noch versprengte Reste der anfangs stolzen Streitmacht übrigbleiben.

Das Schlimmste an diesem Sommer und Herbst in der Ukraine war meine Gastritis, die ich einfach nicht loswurde. Ich vertrug weder unsere Feldverpflegung noch die dort reifenden Früchte wie Melonen und Tomaten. 

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Meine Schwester schickte mir in rührender Weise selbstgebackene Kekse, die meinen geschwächten Körper notdürftig über Wasser hielten; aber es waren nur Päckchen zu einhundert Gramm erlaubt, die noch dazu sehr unregelmäßig eintrafen. Im Herbst konnte ich mir einige Zeit von den neben uns liegenden Italienern Weißbrot gegen meine Zigaretten eintauschen, die ich meiner Lebtage nicht angerührt habe.

Zunächst begann im Sommer der weiteste Vorstoß des Krieges gegen Osten und Süden. Am Morgen des 20. Juli 1942 bombardierten deutsche Sturzkampf­bomber die russischen Gräben; später stellte sich heraus, daß diese zu der Zeit schon verlassen waren. Am Nachmittag fuhr in der flachen Steppe eine deutsche Panzerdivision auf, ein Anblick, der uns sehr beeindruckte. Die Panzer rollten dann schnell davon, während wir mit unseren Pferden langsam nachtrotteten. Unsere einzige Feindberührung an den folgenden Tagen bestand aus einer sowjetischen Artilleriegranate, die im wahrsten Sinne des Worten aus dem blauen Himmel fünfzehn Meter hinter meinem Pferdegefährt mitten auf der Straße einschlug. Niemand wurde verletzt, aber eines unserer Pferde riß sich los, galoppierte in einen Wald und wurde nicht mehr gefunden. Es blieb bei drei Einschlägen. 

Es soll ein Küstengeschütz bei Asow gewesen sein, das uns beschoß; seine Präzision war bemerkenswert. Hinter Rostow hieß es plötzlich »Kehrt!«, und ab dem 18. August marschierte die Division drei Wochen lang in sommerlicher Hitze nach Norden. Über der weiten ukrainischen Steppe lag allezeit ein eigenartig süßlicher Geruch, der nur mit dem von Pferdekadavern zu vergleichen war, ohne so penetrant zu sein; da er uns selten verließ, mußte er wohl von bestimmten Gräsern herrühren. Die eintönige Steppe wurde nur von kilometerlangen Akazienstreifen durchschnitten, und ab und zu erhoben sich Hügel wenige Meter über die Ebene. Das waren sogenannte Mohili, Grabstätten vorgeschichtlicher Fürsten. 

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Die Dörfer lagen in flachen Mulden, wo das Land der schwarzen Lößerde am fruchtbarsten war. Richtige Wälder gab es höchst selten. — Mein Bruder Walter hatte mir das Zeichen seiner Division mitgeteilt. Ich sah es ein einziges Mal: auf einem zerschossenen kleinen Lastwagenwrack, das am Straßenrand lag. Ich faßte das insgeheim als übles Omen auf. Ferner erinnere ich mich noch an einen Lagerplatz in einem der kleinen Gebüsche; denn an einem Sonntagnachmittag spielte dort ausnahmsweise die Divisionskapelle. Von ihren Weisen blieb mir das damals sehr bekannte, wehmütige Lied im Ohr: »Im Leben geht alles vorüber, auch das Glück und zum Glück auch das Leid.« Wie bald sollte sich das im nahenden Winter bewahrheiten !

Wir übernahmen im Großen Donbogen einen Flußabschnitt mit Frontstellung gen Norden. Unsere 298. Infanterie­division war dort die einzige deutsche Einheit inmitten der 8. italienischen Armee — was uns zum Verhängnis geraten sollte. Doch zunächst gab es wiederum ein ruhiges Leben. Unser Trupp hatte um die zwanzig Kilometer hinter der Front eine Telefonvermittlung zu betreiben, welche die Verbindung zum Leitungsnetz der Italiener unterhielt. Das war in Djatschenkowa, einer der mittelgroßen Ortschaften, beherrscht von einer riesigen Kirche. Dort bezogen wir ein Haus, in dem wir auch selber kochen mußten, da die nächste deutsche Feldküche um die zwanzig Kilometer entfernt war. 

Auf Grund einiger gelungener Gerichte behielt ich das Amt des Kochs für uns acht. Die Wochen vergingen, und Weihnachten stand vor der Tür. Dafür hatten wir eine Gans eingetauscht, die wir noch fütterten. Auch ein stolzer Holzvorrat für den Winter war vorsorglich angelegt worden. Eines Morgens, wir schrieben den 16. Dezember 1942, erfüllte ein Donnergrollen die sonnenklare, aber eisige Winterluft, welches den ganzen Tag und auch den nächsten anhielt. 

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Es kam von den unzähligen Abschüssen und Einschlägen der Granaten in der Ferne. Ganz unverkennbar, die russische Offensive hatte begonnen — nicht gegen unsere Division, sondern gegen die italienischen Nachbardivisionen rechts und links von uns. Am Abend tauchte ein Wachtmeister bei uns auf, an den wir von Halle her keine gute Erinnerung hatten, da wir von ihm gar manchen Tag getriezt worden waren. Mit der ihm eigenen steinernen Miene begann er wortlos, unseren schönen Holzvorrat im großen Backofen zu verfeuern — und schien dabei immer noch zu frieren. Wir ärgerten uns, daß er trotz der Hitze ständig weitere Scheite auflegte. Allmählich dämmerte mir, daß er wohl überzeugt war, dieses Holz brauche für niemand mehr aufgespart zu werden. Am nächsten Morgen, als das Rumoren noch stärker durch den sonnigen und doch kälteklirrenden Wintertag dröhnte, liefen plötzlich Scharen italienischer Soldaten samt ihren Offizieren durch das Dorf — und schließlich wurde eine ununterbrochene Kolonne daraus. 

Fast alle hatten bereits ihre Waffen im Stich gelassen, und nicht wenige warfen nun auch noch ihre Verpflegungsbeutel und Decken weg oder gaben sie den Frauen des Dorfes in die Hand, die damit in ihren Häusern verschwanden. Dieses Verhalten der Italiener schien uns nicht nur entwürdigend, sondern auch höchst töricht. Kurzum, wir sahen eine Armee in schrecklicher Panik davonlaufen. Wir machten uns schließlich auch zum Abmarsch bereit, schlachteten die Gans und verstauten die gesamte Verpflegung in unserem motorisierten Fahrzeug sowie auf einem zweispännigen Panjewagen. Doch in der Kälte sprang der Dieselmotor nicht an, und der Wagen war durch keine Bemühung aus dem Loch zu bekommen, das wir befehlsgemäß für ihn gebuddelt hatten. Die Italiener waren über alle Berge, nur einige vereinzelte Gruppen deutscher Soldaten kamen noch durch den Ort. 

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Da wurde es uns doch mulmig, bis nach einigen Stunden der Fahrer irgendeines großen deutschen Fahrzeugs, was es auch immer war, unseren Lastwagen aus dem Loch zog und anschleppte. Wir fuhren nun im Schrittempo mit einer kleinen deutschen Kolonne viele Kilometer nach rückwärts in die eisige Nacht. Nur jener Wachtmeister wurde nie wieder gesehen.

Ich weiß den Grund nicht mehr, aber irgendwo mußten sich die bespannten Teile, wozu unser Panjewagen gehörte, samt den Landsern, die zu Fuß unterwegs waren, von den motorisierten Gruppen trennen. Unser Unteroffizier, ein gutmütiger Ostpreuße, befand: »Zwei müssen mit dem Wagen gehen.« Wir acht, die eine gute Kameradschaft verband, saßen in der Dunkelheit unseres Lastwagens, und ich wagte den Einwurf: »Genügt nicht auch einer?«»Nein, zwei müssen es schon sein.« 

Darauf gab es eine kurze Totenstille, denn es war klar, daß jetzt für zwei von uns ein Befehl kommen müsse, der einem Todesurteil fast gleichkäme. Nach kurzem Nachdenken nannte unser Unteroffizier zwei Namen — meiner war nicht dabei. Ich dachte dabei viel über die Situation des Unteroffiziers nach — daß es ihm gewiß unmöglich gewesen sei, bei seiner Entscheidung Sympathien und Antipathien auszuschließen. Er mußte und wollte sicherlich auch alle gleich behandeln und dennoch zwei von uns einem so gut wie sicheren Schicksal ausliefern. Ich konnte während dieser Sekunden nur auf seine Sympathie hoffen — und hatte Glück! Die beiden nahmen still ihr Gepäck und verließen uns auf Nimmerwiedersehen.

 

Wir Motorisierten legten in der eisigen Winternacht, die nur durch den Schnee ein wenig erhellt wurde, viele Kilometer zurück. An der Spitze fuhr ein Sturmgeschütz, dessen Kanone zwar defekt war, das aber immerhin denen noch Respekt einflößen konnte, die das nicht wußten. Einmal mußten wir halten, weil vor uns menschliche Gestalten im Dunkel auftauchten. 

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Ein minutenlanges gespanntes Abtasten, dann merkten wir, daß es Italiener waren. Nachdem sie uns als Deutsche erkannt hatten, stürzten sie zu Hunderten jubelnd auf uns zu; doch sie konnten uns ohne Waffen keine Hilfe sein. Wir folgten dann den Masten einer Telefonleitung, bis ich schließlich einen davon erstieg um zu probieren, ob über die Drähte eine deutsche Stelle zu erreichen sei. Wir hatten Glück! Der Oberleutnant, der unser Kolonnenführer geworden war, sprach mit irgendeinem Offizier, der uns leider über so gut wie alle Wege nur zu sagen wußte, daß dort schon die russischen Panzer stünden. Er empfahl uns jedoch zu versuchen, die Stadt Millerowo zu erreichen. 

Als wir irgendwo einen tiefen Graben zu überwinden hatten, brach die Spurstange unseres Fahrzeugs, so daß es sich nicht mehr steuern ließ. Freundlicherweise nahm uns das Sturmgeschütz ans Schleppseil. Es fuhr dann ab wie die Feuerwehr, unseren Lastwagen nachschleifend, der über das holprige Schneegelände schwankte, stets in Gefahr umzustürzen. Ob die anderen Insassen meine Ängste teilten, weiß ich nicht, denn jeder hütete sich, ein Wort zu äußern. Irgendwann ging auch dieses Mitschleppen nicht mehr, und wir mußten unser schönes Fahrzeug im Stich lassen, samt der aufgesparten Verpflegung, der Weihnachtsgans und der meisten persönlichen Habe. Ich verlor dort mein Tagebuch, das wir eigentlich nicht führen durften, und mein Päckchen Unterrichtsbriefe, deren Mitnahme mir bis dahin geglückt war. 

Wie wir die folgenden Tage weiterkamen, habe ich vergessen. Wir müssen aber einen motorisierten Trupp unserer Divisionsnachrichten-Abteilung getroffen haben, mit dem es weiterging, während wir von der übrigen Division nichts wußten. Sie war in ihrer Isolation inmitten der kopflos fliehenden italienischen Armee völlig auf sich allein gestellt. Im Kriegstagebuch der Division steht unter dem 23. Dezember 1942: 

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»298. Infanteriedivision ist restlos versprengt. Teile befinden sich in Gegend Tscherkowo, Kijewskoje und sind dort eingeschlossen, andere Teile haben sich durchgeschlagen bis Millerowo und Kamensk bzw. nach Südwesten bis Belowodsk.« 

Wir wenigen Versprengten erreichten jedenfalls am 23. Dezember die überfüllte Stadt Millerowo und konnten uns in einem der vielen einzelstehenden Häuser einige Stunden der Ruhe gönnen. Da ich nach Mitternacht Wache zu halten hatte, prägte sich mir ein, daß ununterbrochenes Motorengedröhn die Nacht über angehalten hatte. Nicht abreißende Kolonnen deutscher und wahrscheinlich auch italienischer und rumänischer Kraftfahrzeuge rollten durch die Stadt nach rückwärts. 

Unvorstellbar erschien mir, woher so viele Kraftfahrzeuge zusammenkommen konnten. Es mag gegen Morgen gewesen sein, als auch unser Zugführer den Befehl zum Aufbruch gab, denn feindliche Panzer hatten, wie es hieß, schon die weit ausgedehnte Stadt gestreift. So fuhren wir die etwa siebzig Kilometer nach Kamensk am Donez, wo wir den Heiligen Abend zu feiern gedachten. Dort wurde reichlich Verpflegung verteilt, sogar Wein; die rückwärtigen Lager waren wohl alle noch prall gefüllt. Wir hatten schon begonnen, es uns gemütlich zu machen und waren nicht mehr ganz nüchtern, als uns der Befehl erreichte, nach Millerowo zurück­zukehren; diese Stadt sollte verteidigt werden. 

Wir gehörten dann zu den Letzten, die nach Millerowo gelangten, denn hinter uns schloß sich der Kessel. Am äußeren Rand der Stadt bezog unser Trupp eine für dortige Verhältnisse schöne Villa, die nur noch von einer Frau bewohnt wurde, die wir wie üblich Madga nannten. Einen Christbaum samt Schmuck hatten wir mitgebracht, er zierte nun unser Quartier. Mit dem Legen von Leitungen gab es nicht viel Arbeit. Es war aber befohlen worden, in allen Gärten Bunker mit Schießscharten zu bauen, um im bevorstehenden Verteidigungskampf bis zum letzten Mann Widerstand zu leisten. 

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Vorläufig hielt allerdings die Linie im weiten Rund um die Stadt. Ein mehr oder weniger starkes Rumoren, einschließlich des Hämmerns der Maschinen­gewehrsalven hielt alle Tage und viele Stunden der Nächte an. Am dritten Weihnachtsfeiertag erschütterte eine gewaltige Explosion die Luft, so daß auch bei uns einige Fensterscheiben zersprangen: Das große deutsche Munitionslager am Stadtrand war explodiert, und kleinere Kettenexplosionen verstummten bis zum nächsten Tagnicht. In den folgenden Nächten kreuzte jeweils die "Nähmaschine" auf, ein russisches einmotoriges Flugzeug, das hauptsächlich psychologische Wirkungen erzielen sollte. Es kreiste jeweils mit seinem nicht allzu laut knatternden Motor lange und geduldig, bis es die eine mitgeführte große Bombe fallen ließ. Da sie in der Dunkelheit fast immer ins Leere fiel, machten wir uns über dieses Flugzeug lustig, es lief unter vielen Spitznamen. 

Auch als in der Silvesternacht die Bombe sehr nahe explodierte, berührte uns das nicht weiter. Doch plötzlich stürzte unser ostpreußischer Unteroffizier zur Tür herein und rief: »Die Wache wurde getroffen, zwei Mann sind tot!« Ein Haus, achtzig Meter von unserem entfernt, beherbergte die Wachmannschaft, an der auch wir im Wechsel beteiligt waren. Wir fanden anstelle des Hauses, in dem die beiden geschlafen hatten, einen tiefen Krater. Die Bombe war eingeschlagen, während sich die anderen draußen aufhielten und unser Unteroffizier das Haus gerade verlassen hatte. Der eine Tote war ein uns zugehöriger junger Berliner; er hatte für einen anderen Kameraden die Wache in dieser Nacht freiwillig übernommen. Wir begruben die beiden am Neujahrsmorgen bei strahlendem Sonnenschein und beißender Kälte. Ich war etwas enttäuscht, daß der anwesende Feldgeistliche nichts weiter sprach als den Segen, obwohl ich wußte, daß an der Front selbstverständlich selbst auf diese Förmlichkeit verzichtet werden mußte.

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Die Tage gingen ohne Hoffnung dahin. Ich wundere mich bis heute, wie stoisch wir alles hinnahmen. Denn wer glaubte noch daran, die Heimat je wiederzusehen? Es mochten etwa 15.000 Mann in dem Kessel sein. Den Kern stellte die 3. Gebirgsjäger-Division, die sich schon in Richtung Kaukasus auf dem Marsch befunden hatte, dazu kamen die Reste vieler Einheiten. Nach dem Kommandeur der genannten Division, die sich aus Steiermärkern und Kärntnern rekrutierte, hatte die Besatzung den Namen <Gruppe Kreysing> erhalten. Schließlich wurde doch eines Tages, es war der 15. Januar 1943, der kaum mehr erhoffte Befehl verkündet: In der kommenden Nacht sollte der Durchbruch nach dem Westen versucht werden.

Ein perfekter Plan war erarbeitet worden. Nach heftiger, aber kurzer Artillerievorbereitung sollte die Umklammerung durch ein Pionierbataillon durchbrochen werden, dem sollte eine erprobt zuverlässige italienische Abteilung folgen, dann der ganze Troß, zu dem wir gehörten, und die Nachhut sollten die Gebirgsjäger bilden. Verwundete würden unter allen Umständen mitgenommen werden. Wir waren noch nie so gut instruiert worden wie diesmal. Die Botschaft klang wie eine Erlösung. Die letzten Reste der Hoffnung, mit Hilfe des Glücks aus diesem Kessel herauszukommen, wurden immens belebt. Da war uns egal, welche Gefahren noch immer zu bestehen sein mochten. 

Der Abschied von unserer Madga war rührend. Sie wünschte uns allen unter Tränen viel Glück und küßte mich und einen Berliner Kameraden — wir waren die beiden Jüngsten — auf die Wangen. Dann begann die Fahrt in die Nacht. Nach wenigen Kilometern außerhalb der Stadt stockte die Kolonne. Es begann ein stundenlanges Warten, ohne daß viel Gefechtslärm zu hören gewesen wäre. Dann ging es ruckweise einige Kilometer weiter. Die grelle Morgensonne sah unsere riesige Fahrzeugkolonne auf der kahlen, schneebedeckten Ebene. 

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Vereinzelt griffen uns sowjetische Flugzeuge an, die wir mit allen Gewehren beschossen, eines stürzte brennend aus großer Höhe ab. Zweimal überflog uns ein deutscher Doppelrumpf-Aufklärer, den wir jubelnd begrüßten. Wir mußten noch eine zweite Nacht wartend verbringen, während der Gefechtslärm ständig zunahm. Es war bereits wieder Nachmittag, als sich plötzlich die ganze unübersehbare Kolonne immer schneller vorwärts bewegte und dann die Hölle losbrach. Granaten aller Kaliber schlugen rundum ein, Stalinorgeln setzten ihre geometrischen Muster von Einschlagtrichtern zum Glück meist neben die Rollbahn. Kein Zweifel, die Durchbruchstelle war hier äußerst schmal. Ein Fahrzeug neben uns erhielt einen Volltreffer. Unser LKW-Fahrer fuhr wie der Teufel durch den Schnee und durch die Fahrzeuge rechts und links, die gelegentlich kollidierten, aber dennoch weiterfuhren. 

Wir wußten nicht, was uns noch erwartete. Doch nach einigen Kilometern ebbte der Beschuß ab, und wir befanden uns in gefahrloser Landschaft an der Bahnlinie nach Woroschilowgrad. Von dort war auch ein Gegenstoß vermutlich nur schwacher deutscher Kräfte geführt worden. Wir erreichten todmüde ein alleinstehendes großes Haus, es mochte eine Schule oder eine Bahnstation gewesen sein. Der ganze Fußboden wurde dicht mit Soldatenkörpern aus verschiedensten Einheiten belegt. Des Nachts hörte ich als einziger ein langandauerndes Poltern gegen die Tür, war aber zunächst auch unfähig, darauf zu reagieren. Während ich noch überlegte, ob es wohl Deutsche oder Russen wären, vernahm ich den Ruf: »Macht doch auf, wir sind Kameraden!« Noch immer war keiner der vielen Landser wach geworden, da schloß ich auf, und die müden Ankömmlinge fanden immer noch Lücken, wo sie sich niederfallen lassen konnten. Der Durchbruch von etwa 15.000 Mann war jedenfalls gelungen. 

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Ob unser Trupp bereits am nächsten Tag die große Stadt Woroschilowgrad erreichte, weiß ich nicht mehr. Die Front hatte sich jedenfalls östlich der Stadt stabilisiert, und wir fanden in gutbürgerlichen Häusern für einige Tage angenehme Quartiere. Schließlich wurden wir nach Krementschug kommandiert, wo sich die übriggebliebenen Reste der 298. Infanterie-Division sammelten — es kamen nur noch wenige... Dort unterhielt unser Trupp eine Fernsprech­vermittlung. Da wir sogar ein Radio hatten, hörten wir aus Berlin die Verlautbarungen über das Ende der Tragödie von Stalingrad, aber auch, daß noch viele Verwundete ausgeflogen worden seien, was mir eine zaghafte Hoffnung ließ, mein Bruder Walter könnte unter jenen sein. 

Das Schicksal der deutschen Armee in Stalingrad war endgültig schon Mitte Dezember besiegelt, als die ganze lange Nordflanke am Don, die von den Italienern und weiter östlich von den Rumänen gehalten werden sollte, innerhalb weniger Tage zusammenbrach. Hätte jedoch die deutsche Armee in Stalingrad früher kapituliert, dann wäre es auch um uns geschehen gewesen, denn beträchtliche sowjetische Kräfte wären dann frei und gegen uns eingesetzt worden. 

Einigen unserer Resteinheit wurde nach Wochen das damals begehrte Privileg zuteil, nach Frankreich versetzt zu werden. Andere, zu denen ich gehörte, wurden in die 387. Infanterie-Division eingegliedert, deren Schicksal wir nun teilten. Sie hatte den warmen Sommer über die Stellung am Donez zu halten. Dort war es lange Zeit so ruhig, daß uns sogar eine »Fronttheatergruppe« für einen Tag besuchte. Ihre Darbietung, die aus einigen Operetten-Auszügen bestand, wurde als Abwechslung dankbar hingenommen. Zur gleichen Zeit tobten nördlich von uns die größten Panzerschlachten des Zweiten Weltkriegs, ohne eine Entscheidung zu bringen. — Schließlich begann dann bei uns, was die Wehrmachtsberichte »geplanten Rückzug« nannten. 

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Die in unserem Abschnitt tatsächlich planmäßig verlaufenden Absetzbewegungen sahen so aus, daß wir Nacht für Nacht zwischen dreißig und fünfzig Kilometer marschierten und tagsüber wieder in Stellung gingen. Die Russen rückten jeweils nach, griffen aber bei uns selten an. Ich war dabei gut in Form, doch nach einigen Nachtmärschen ließen meine Kräfte unerklärlich nach. Eines Abends ging ich endlich zum Regimentsarzt, der mich wegen Fiebers und Malariaverdachts ins Feldlazarett überwies, wo tatsächlich malaria tertiana festgestellt wurde. Diese hat mir dann ein Jahr später wahrscheinlich das Leben gerettet — natürlich abgesehen davon, daß eines Soldaten Leben immerzu in Gefahr schwebt. Zunächst bescherte mir die nicht sehr schwere Krankheit drei erholsame Wochen im Feldlazarett der Stadt Kirowograd.

Inzwischen hatte die Division erneut feste Stellung bezogen, aber ein anderes Schicksal nahte. Eines Tages wurden alle Studenten, Abiturienten und Schüler unserer Nachrichtenabteilung zusammengerufen, um sie zu einer freiwilligen Meldung für die Offizierslaufbahn bei der Infanterie zu bewegen. Die Gründe brauchte man uns nicht zu erklären. Die Infanterieoffiziere hatten im Laufe der Kriegsjahre so große Verluste erlitten, daß neues »Kanonenfutter« dringend vonnöten war. Wir wußten sehr gut, was uns da in Aussicht stand. Die Infanteristen lagen immer im Dreck. 

Während der letzten Rückzüge begegnete ich einer solchen Gruppe von »Frontschweinen«. Sie waren so übermüdet und völlig apathisch, daß sie der Befehl unseres Oberleutnants, gegen angreifende Russen in Stellung zu gehen, völlig gleichgültig ließ — sie stapften einfach weiter. Der Oberleutnant zog seine Pistole, was sie nicht im geringsten beeindruckte. Mir wurde die absurde Situation sofort deutlich: Wollte er diese Männer, die mit ihrer Erfahrung und mit ihrem MG unsere einzige Stütze waren, erschießen? Er begriff sehr schnell, daß er machtlos war, und wir trotteten ihnen nach. 

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In einer zu durchquerenden Schlucht lagen verstreut tote Turkmenen in großer Zahl. Nun war mir klar, warum unsere MG's in der Nacht soviel gehämmert hatten. Die Toten waren durchweg wohlgenährte, ja, beinahe feiste Gestalten mit typisch mongolischen Gesichtern. Ich dachte darüber nach, was in ihren Köpfen vorgegangen sein mochte, falls sie über den Sinn ihres Sterbens überhaupt einen Gedanken verschwendet haben sollten. Mir aber brachte die Verweigerung der »freiwilligen« Offizierslaufbahn Minuspunkte ein wie den meisten von den etwa dreißig Aufgeforderten; denn nur drei hatten sich dazu überreden lassen. 

Als einige Wochen später Nachrichtenmänner zur Infanterie abgestellt werden mußten, war ich dabei. Nach wenigen Tagen der Ausbildung, besonders am neuen MG 42, direkt hinter der Front, steigerten sich die gegnerischen Angriffe, und unser Einsatz stand bevor — zu dem es dann doch nicht kam. Denn irgendeine Kommandostelle hatte entdeckt, daß auch die Infanterie ausgebildete Nachrichtenleute gebrauchen konnte, so daß wir den Regiments­nachrichten­zügen zugeteilt wurden. 

Über alledem war es erneut Winter geworden, und die Front hatte sich stabilisiert.

Unsere Winterausrüstung war gut wie schon im vergangenen Jahr. Wir kampierten in den Dezemberwochen in einem Häuschen am Rand eines typischen ukrainischen Dorfes, das weit auseinandergezogen am sanften Hang einer Mulde lag. Es war nach meiner Erinnerung ausgerechnet der Neujahrsmorgen des Jahres 1944, als uns einige Salven aus »Stalinorgeln« unsanft weckten. Es wurde wieder einmal höchst ungemütlich, denn die Leitungen wurden oft von Granaten zerschossen, so daß wir viel auf Störungssuche gehen mußten. An einem der folgenden Tage brachte mir eine Grippe ärztlich verordnete Bettruhe ein. Doch just am gleichen Abend kam der Befehl zum Rückzug. Statt im Bett zu liegen, galt es nun, die folgenden Nächte hindurch zu marschieren; ein Wunder geschah, die Krankheit verflog gerade während dieser anstrengenden Tage.

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Eines Nachts bot mir der Unteroffizier an, für einige Zeit sein Pferd zu reiten, das ihm als Truppführer zustand, weil er ein Stück zu Fuß gehen wolle. Das Pferd, ein guter Brauner, hatte einen solch zügigen Gang, daß ich in der Kolonne immer weiter nach vorn geriet — bis mir schließlich die Idee kam, für unseren Zug Quartier zu machen. In einem Dorf fand ich die Häuser bereits belegt, und in einem anderen wurde ich aus der Dunkelheit angeschrien: »Hier liegt der Stab des Generals Schörner! Machen Sie, daß Sie fortkommen! Sie sind wohl noch nie geschörnert worden?« Erst Wochen später erfuhr ich, daß dem General Schörner, der vor kurzem Befehlshaber der Südfront geworden war, der Ruf eines besonders rücksichtslosen Kommandeurs vorauseilte.   wikipedia  Ferdinand_Schörner  (1892-1972)

Indessen konnte ich meine Marschkolonne nicht mehr auffinden. Ich stieß vielmehr im Morgengrauen auf eine endlose Kolonne von Kraftfahrzeugen aller Art, die auf einer Rollbahn verlassen standen. Weit und breit kein einziger Soldat zu erblicken! Ich wunderte mich sehr, warum man an die tausend unbeschädigter Kraftfahrzeuge, vorwiegend Lastwagen, einfach so stehenließ. So weit der Horizont reichte: kein Dorf, kein lebendiges Wesen. Ich versuchte in den Fahrzeugen etwas Eßbares zu finden, was ein Landser nie versäumt; doch kein Krümelchen war zurückgelassen worden. Es wurde mir langsam unheimlich in dieser gespenstischen Situation. Wie sollte ich wohl in dieser absoluten Einsamkeit meine Kameraden wiederfinden? Und welche Folgen würde mein eigenmächtiger Ausritt zu Pferde wohl nach sich ziehen? Daß der Unteroffizier, ein Bayer aus Eichstätt, gräßlich fluchen würde, weil er nun die ganze Strecke zu Fuß hatte zurücklegen müssen, war noch das wenigste. 

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Mit ihm hatte ich ohnehin schon einmal einen heftigen Zusammenprall gehabt, als er mich eines Nachts beim Kabelabbau aufgefordert hatte, etwa einhundert Meter zurückzukommen, um eine Rolle Kabel zu holen, bei der er stand. Weil er ohnehin den Weg zu mir gehen mußte, hatte ich ihm zugerufen: »Die hättest du doch selbst mitbringen können, du fauler Hund!« — Schließlich erreichte ich irgendein Dorf, und nach wenigen Häusern — oh, Wunder! — entdeckte ich meinen Trupp, wie er friedlich in der Vormittagssonne kampierte. Die Beschimpfung konnte meine Erleichterung nicht überbieten.

 

In jenen Wochen geschah es auch, daß ich in die gefährlichste Situation meiner Kriegszeit geriet. An einem Winternachmittag hatte eine starke russische Panzer­formation die Front durchstoßen. Es handelte sich wie meist um den robusten sowjetischen Standardpanzer mit der Kurzbezeichnung T34. Doch die wenigen deutschen Panzerabwehrgeschütze, die man <Hornissen> nannte, und drei <Tigerpanzer> schossen T34 nach T34 ab, bis es dunkel wurde. Wir gerieten in eine Diskussion darüber: entweder im nächsten Dörfchen übernachten oder im Freien bleiben. Besonders ein Unteroffizier warnte dringend vor dem Dorf. Ich meine fast, wir haben abgestimmt; die todmüde Mehrheit wollte im Dorf schlafen. 

Als ich gegen Morgen die Wache vor dem Haus antrat, sagte der Vorgänger etwas Unglaubliches: »Im Nachbarhaus befinden sich russische Soldaten.« Wo es doch nur zehn Meter entfernt stand! Es geschah jedoch nichts, bis es dämmerte. Wenn sie wirklich da drin waren, dann müssen sie ebenso müde gewesen sein wie wir. Jedenfalls sammelten sich die etwa sechzig deutschen Soldaten erst im Morgengrauen, wonach alsbald die ersten russischen Panzer aus einer sanften Schlucht gegen den Ort anrollten. An einer Hausecke stand unsere einzige kleine Panzerabwehrkanone unter Kommando eines Majors und Ritterkreuzträgers. Wir schleppten ihr die Granaten zu. 

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Der dritte Schuß traf den ersten T34, der mit einer dreißig Meter hohen Stichflamme explodierte. Doch bald traf eine Granate der folgenden Panzer den Dachstuhl des Hauses so, daß die Trümmer auf die Kanone herunterprasselten. Fast gleichzeitig hatte jemand gerufen »Russen hinter uns!« Als wir zu etwa zehn Mann nach rückwärts stürmten, liefen einige russische Soldaten wenige Meter vor uns davon. Wir schossen ihnen nach; doch seltsam, keiner fiel um.

Indessen rollten bereits zwei Panzer vierzig Meter parallel zu uns hinter den Häusern durch die Gärten der Dorfmitte. In dieser aussichtslosen Lage sah ich, wie einzelne und Gruppen von uns über die kahle weite Fläche flohen, um nach 300 Metern einen Baumstreifen zu erreichen — schließlich auch der Major und Ritterkreuzträger. Das war für mich das Signal, auch zu laufen, obwohl die Fläche unter Feuer lag. Ich lief, so schnell ich es mit der ganzen Ausrüstung konnte. Vor mir wurde ein Soldat im Schneeanzug durch die Luft gewirbelt, er schien einen Augenblick waagerecht in der Luft zu schweben. Ich nahm das nur mechanisch wahr und habe keine andere Erklärung, als daß er von einer Panzergranate getroffen wurde, die ihn in die Höhe schleuderte. Ich rannte ohne eigentliche Angst mit äußerster Anstrengung, um aus der Gefahrenzone zu kommen, doch die Puste ging mir aus. Oh, wie gerne hätte ich jetzt eine bessere Kondition gehabt! 

Ich weiß nicht, ob ich schon während des Laufs um mein Leben zu der Erkenntnis kam, wie sinnvoll letzten Endes doch das sture Training im Kasernenhof mit »Sprung auf, marsch, marsch!«, bis zum Umfallen, sein konnte. Immerhin reichten Kraft und Glück, um den Schutz der Baumreihe zu gewinnen. Diejenigen, die nicht oder zu spät gelaufen waren, haben wir nie wieder gesehen, darunter den Unteroffizier, der uns vergeblich davor gewarnt hatte, das Dorf aufzusuchen. Ab und zu hielt die Front wieder für einige Zeit. 

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Eines Tages wurde von der Armeeführung befohlen, eine kleine Erhöhung, die in der Steppe kaum als solche erkennbar war, dem Gegner wieder zu entreißen, da sie ein Stachel in unserer Hauptkampflinie sei. Ein Oberleutnant mit Namen Lessing erhielt den Auftrag. Er suchte Freiwillige unter den Infanteristen mit den Worten: »Mit mir sind noch alle Unternehmungen gelungen!« Ich erhielt den Befehl, in der Dunkelheit mit einem Kameraden eine Leitung zu legen, um eine vorgeschobene Fernsprechstelle zu errichten. Wir gruben uns dann sechzig Meter vor den Russen eine flache Mulde, in die sich auch der später eintreffende Oberleutnant legte. Nach dem Einschlag von zirka dreißig Artilleriegranaten erhoben sich die Stoßtruppmänner mit »Hurra!« und stürmten nach vorn. 

Sofort peitschte das russische Maschinengewehr- und Gewehrfeuer durch die Nacht, durchsetzt von Handgranatendetonationen, Leuchtkugeln stiegen auf. Ein MG-Trupp stürzte zurück in unser Loch, da das MG Ladehemmung habe. Nach wenigen Minuten wurde es still. Aus der Dunkelheit erscholl wiederholt der Ruf »Oberleutnant Lessing!« von ratlosen Infanteristen ausgestoßen, die umherirrten und nach und nach zurückeilten. Doch der Oberleutnant Lessing kam nicht wieder.

Ich war in die Lage versetzt, das Unternehmen direkt der Armeeleitung schildern zu können, bis der Fehlschlag offenkundig war und wir die Leitung abbauen durften. Drei Tage später räumten die Russen den Stützpunkt aus freien Stücken. Der Oberleutnant wurde mit Herzschuß gefunden.

Dann ging es ab und zu wieder ein Stück zurück. Schneematsch und Schlamm zeigten an, daß wiederum der Frühling nahte. In einem Quartier, es war ein großes Gebäude, hatte ein Kamerad leichtsinnigerweise einen kleinen Brand verursacht, der für ihn und für mich ungeahnte Folgen brachte. 

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Er sollte nämlich am nächsten Tag in Heimaturlaub fahren, was er nun verwirkt hatte — und ich war der nächste Anwärter auf der Liste! Mit zwei weiteren Kameraden fuhren wir viele, viele Kilometer zur nächsten Bahnstation. Trotz Vierradantriebs blieb unser Geländewagen mehrmals im Schlamm stecken, und wir mußten ihn hinausschieben. Mit Mühe erwischten wir noch den abfahrenden Zug. Am nächsten Tag wäre es zu spät gewesen, denn an diesem wurde eine Urlaubssperre verhängt.

 

   Heimat!  

 

So froh ich den zweiten Heimaturlaub aus dem Osten angetreten hatte, so schwierig wurden diese drei Wochen. Denn mir war klargeworden, daß dieser Krieg nicht zu gewinnen sei. Soweit man überhaupt darüber Erwägungen laut anstellen durfte, wurde das in der Heimat weit weniger gebilligt als an der Front. In unserer Kompanie hatten wir einen, der gern Hitlers Redeweise imitierte oder auch die von Goebbels; ich erinnere mich an seine oft wiederholte Persiflage: »Und am Schluß gedenken wir des Mannes, dem wir all dies zu verdanken haben!« 

Zu Hause aber glaubte, mit Ausnahme einer schwachen Minderheit, die sich ducken mußte, das deutsche Volk an den »Endsieg«. Die Tage auf dem väterlichen Hof waren wie immer mit Arbeit verbunden. Aber meine Schwägerin verfügte außer dem Polen Kasimir, den ich noch 1939 eingearbeitet hatte, über ein polnisches Mädchen. Zwischen den beiden hatte sich ein Liebesverhältnis entwickelt. Sie aßen all die Jahre mit unserer Familie an einem Tisch, wie bei den meisten Bauern, obwohl das eigentlich verboten war. Als ich dem Kasimir bei meiner Ankunft die Hand geben wollte, übersah er das vermutlich ohne Absicht, oder sollte es doch eine Demonstration gegen den deutschen Soldaten sein? 

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Jedenfalls wurde er von seiner Anna barsch zurechtgewiesen: Er hätte doch wohl bemerkt, daß ich ihm die Hand geben wollte, und es wäre unanständig von ihm, den Händedruck nicht anzunehmen. Soviel konnte ich auf Grund meiner Kenntnisse des Wendischen immerhin verstehen. Einige schöne Tage verbrachte ich wieder bei meiner Schwester. Den Höhepunkt des Urlaubs aber bildeten zwei Aufführungen in der Dresdner Staatsoper, darunter Parsifal, denn es war Ostern. Ich traf auch Helmut nach langer Zeit wieder — es sollte das letzte Mal sein. Er renommierte etwas mit den Mädchen, die er hier und da gehabt habe, und arrangierte auch einen Abend mit erreichbaren Gleichaltrigen, worunter die Mädchen weit überwogen, was mir aber dennoch keine Freundin einbrachte.

Der Urlaub ging zur Neige, und ich stellte mich darauf ein, daß es wohl das letzte Wiedersehen mit meinen Lieben und meiner Heimat gewesen sein würde. Als ich mit dem Fahrrad Bautzen passierte, um zu meiner Schwester, der letzten Station des Abschieds zu gelangen, blühten die ersten Krokusse in den Anlagen, wodurch meine Traurigkeit unsäglich gesteigert wurde. Ich hatte keine Hoffnung mehr, diese Stadt und meine Heimat jemals wiederzusehen. Eigentlich hätte ich mich an diesem Tage schon in Brest-Litowsk zurückmelden müssen; aber es war unter den Landsern allgemein üblich geworden, dort einen Tag später einzutreffen, und ich hatte das schon im Vorjahr unbeanstandet so gehandhabt.

Noch am Abend überfiel mich bei meiner Schwester ganz plötzlich ein heftiges Fieber, das sich gegen Morgen weiter verschlimmerte. Frieda rief die Garnison in Bautzen an, ein Sanitätswagen holte mich ins Lazarett, ein Malariarückfall wurde diagnostiziert. Noch am gleichen Tag wurden wir Kranken per Personenzug nach Pirna geschickt, da sich dort auf dem Sonnenstein die Station für die Malariakranken befand. 

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Drei Tage lang ging es mir sehr übel, mit hohem Fieber und wiederholtem Schüttelfrost, dann genas ich langsam. Alles erschien mir wie ein Wunder. Weitgehend wiederhergestellt, bin ich dann manchen Nachmittag uner­laubter­weise nach Dresden gefahren. Die Bahnfahrten durch das grünende, über und über in Weiß und Rot blühende Elbtal gehören sowohl zu den glücklichsten Höhepunkten meines Lebens als auch zu den wehmütigsten. Denn für mich stand nun absolut fest, daß der Zweite Weltkrieg bitterer enden werde als der Erste und daß noch viele ihr Leben lassen müßten. Und welchem Schicksal würden die Überlebenden entgegengehen?

Und nochmals erwies mir das Schicksal seine Gunst. Der Oberarzt befand, daß ich noch eine Nachkur brauchen könne, wofür dem Lazarett in der Sächsischen Schweiz die Gaststätte Schweizermühle im Bielatal zur Verfügung stand. Dort konnten wir Genesenden herrliche Wanderungen bis hin zum Großen Zschirnstein unternehmen. Und mit diesen zusätzlichen vierzehn Tagen war die Frist überschritten, innerhalb deren man noch zur früheren Feldeinheit in Marsch gesetzt werden mußte. Jetzt war sicher, daß ich erst einmal zur Ersatzeinheit kommen würde, und die lag in Füssen im Allgäu!

Das Glück der folgenden Sommermonate in Füssen kann nur ermessen, wer die großartigen Landschaften so geliebt hat wie ich von Jugend auf. Nach fünf Jahren sah ich nun die Alpen wieder! Hier war die Welt noch heil, während die Bomben immer dichter auf die Städte fielen. Schon München wurde wiederholt heimgesucht. Auf Posten vor dem Kasernentor erreichte uns eines Tages die Nachricht von der Kapitulation Rumäniens. Nirgends anders als dorthin konnte meine Feldeinheit zurückgewichen sein! Später wurde bekannt, daß all die südlichen Truppenteile auf fast rätselhafte Weise verschwunden sind. 

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Mein lieber Schwager Max, dort Kraftfahrer im Stab des 29. Armeekorps, hat sich allein mit einem jungen Kameraden vier Wochen lang durch die Wälder der Karpaten nach Ungarn durchgeschlagen, wobei sie sich von Beeren und gelegentlichen Mahlzeiten auf einsamen Bauernhöfen ernährten. Von dieser Flucht wußte er später Unglaubliches zu berichten: Inmitten eines heckenartigen Gebüsches stießen sie auf eine Schar rumänischer Soldaten, die dort ihre Speisen zubereiteten und auch ihnen davon anboten. Später erschien ganz allein ein russischer Unteroffizier, auch er bekam etwas von der Mahlzeit ab. Dann erhob sich dieser, verabschiedete sich von allen durch Handschlag und bedeutete den beiden Deutschen, daß es für sie Zeit sei zu verschwinden, denn seine russischen Kameraden würden nun bald erscheinen. Unter vielen Mühen erreichten sie Ungarn. Da meine Schwester zu der Zeit ihren Sohn Frank zur Welt gebracht hatte, wurde Max sogar noch von dem Glück überrascht, Heimaturlaub zu bekommen. Das war gerade an den Tagen, als Dresden in Schutt und Asche fiel.

Ich aber genoß einen Sommer in Füssen, so gut das damals ging. Am schönsten waren die Wochenend­wanderungen in den Bergen. Aber auch kein Film wurde damals ausgelassen, was in meinem Leben ganz unge­wöhnlich geblieben ist. Das Cafe wurde häufig aufgesucht, obwohl es nur »Muckefuck«, Faßbrause und bestenfalls ein dünnes Bier gab. Einige Marken für Kuchen hatten wir erstaunlicherweise immer mal wieder aufzubieten. In diesem Cafe hörten wir am 20. Juli gegen Abend — es war ein herrlicher Sommertag — die Nachricht vom Attentat auf Hitler und zugleich die Erläuterung, daß der Putsch mißlungen sei. Kaum jemand hatte mit einem solchen Attentat und noch weniger mit seinem Gelingen gerechnet. Zu tief beherrschten noch phantastische Hoffnungen und Ängste vor der totalen Niederlage die Massen. Hatten doch die Alliierten mit ihrer Forderung nach »bedingungsloser Kapitulation« Wasser auf die deutschen Propagandamühlen geleitet — weil sie eben damit den Menschen keinen Hoffnungsschimmer ließen.  

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Meiner eigenen Überzeugung nach konnte das Ende in jedem denkbaren Fall nur furchtbar werden. Selbst ein gelungenes Attentat auf Hitler hätte zur Spaltung der deutschen Truppen und zu blutigen Kämpfen zwischen Anhängern und Gegnern geführt, damit vielleicht auch zur schnelleren Beendigung des Krieges.

Als in jenen Wochen ein Trupp von uns mit der Bahn nach Kempten zu einem Lehrgang fuhr, deutete ein Zivilist nach draußen, wo über ein weites Gelände verstreut Männer in gestreifter Sträflingskleidung Erdarbeiten verrichteten. Er sagte uns, daß diese bei schlechter Kost arbeiten müßten, bis sie umfielen. Auf unsere Frage, was das denn für Gefangene seien, sprach er sehr bestimmt von »verschiedenen Nationalitäten, wohl auch deutsche Gegner des National­sozialismus darunter«, und schloß die kurze Unterhaltung mit den leisen Worten: »Wenn sich das einmal rächt!« 

Er hatte wohl das Gefühl, sich damit bis an die Grenze des Erlaubten vorgewagt zu haben — und wir konnten damit nicht viel anfangen. Strafgefangene hat es zu allen Zeiten gegeben, wir wußten auch von Strafbataillonen an der Front. Und schließlich waren wir selbst zu sehr Todeskandidaten auf Abruf, als daß wir lange über dieses Gespräch nachgedacht hätten.

Wir begannen uns bereits zu wundern, daß bei den großen Verlusten an der Front die monatelange Ausbildung in der Nachrichtentechnik, bei der es für uns kaum Neues zu lernen gab, noch möglich war. Einer äußerte sogar die Vermutung, hier könnten sabotierende Kräfte in der Führung verborgen wirken. Weniger ungewöhnlich war es, daß ich im Sommer 1944 noch in den Genuß eines Ernteurlaubs auf den heimatlichen Hof kam: denn die Landwirtschaft wurde bevorzugt, da nur sie die kümmerliche Ernährung aufrechterhalten konnte.

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Schließlich erwischte es doch einige Kameraden unserer Ersatzeinheit und auch mich; wir wurden nach dem Truppenübungsplatz Döllersheim in Niederösterreich in Marsch gesetzt. Eine ödere Gegend als diese hatte ich selbst in der weiten Ukraine nicht erlebt. Zudem fegten die rauhen Winde des Herbstes über die wüstenähnlichen Flächen. Diese unwirtliche Station war von kurzer Dauer, da wir der neu aufgestellten 167. Grenadier­division in Trencin nördlich Preßburg zugeteilt wurden. Nicht weit davon machten bereits Partisanen von sich reden; doch eine Suchaktion unserer Einheit in den Bergen stieß auf keinen einzigen.

Aus der Slowakei schrieb ich meiner Schwägerin Marianne einen Weihnachtsbrief, der erhalten blieb: 

»Liebe Marianne! Wenn ich Dir heute während des Nachtdienstes einen Weihnachtsbrief schreibe, dann tue ich das schweren Herzens, denn kann ich Dir etwas Trostvolles sagen, wo ich mit mir selbst kaum noch zurechtkomme? Aber in wenigen Tagen werde ich wieder an der Front sein und wahrscheinlich an einer Stelle, wo dieser Krieg einen Höhepunkt erreicht hat, und so wird auch die Verbindung durch die Post sehr spärlich werden. Das langweilige Leben ist es, was meinen Geist so bedrückt und mich so schwermütig macht. Die Hoffnung, daß wenigstens der Krieg seinem Ende zugeht und die geringe Aussicht, dann doch noch einen Teil meiner Ziele verwirklichen zu können, hält mich allein noch aufrecht. Wohl, mir ist es bis jetzt immer noch verhältnismäßig gut gegangen, aber das ist es auch nicht. Es könnte mir ruhig etwas schlecht gehen, wenn ich nur eine Aufgabe, eine Arbeit hätte. Was ich hier bei der Wehrmacht treibe, kann man im Schlaf tun, und etwas zu werden, hat für mich jetzt keinen Zweck und keinen Reiz. Ich bin überhaupt alle Erfahrungen und Erkenntnisse dieser Welt durch, wo gibt es noch eine Aufgabe, ein Ziel, das sich lohnt?

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Ich bin eben über meine Verhältnisse hinausgewachsen gerade in einer Zeit, wo sowieso alle Hoffnungen zerstört werden. Zu beneiden sind die Menschen, die ohne viel Nachdenken in den Tag hineinleben und nur genießen, was ihnen geboten wird, die sich über die kleinen Dinge freuen können und sich sonst nicht den Kopf zerbrechen. Ich aber kann nicht mehr zurück, und daß mich die heutige Zeit auch nicht vorwärts läßt, bringt mich zur größten Krise meines Lebens. Darum wünsche ich heute täglich die Entscheidung herbei, um der Ungewißheit ein Ende zu machen. 

— Du hast in Deiner Jugend schon Schweres erlebt, diesen ganzen Krieg und das Bleiben Walters. Aber die Arbeit, die Kinder, die vielen Pflichten des täglichen Lebens lassen Dir keine Zeit zum Grübeln. So kannst Du doch Gott danken, daß er Dich dadurch das Leid dieser Zeit vergessen ließ, daß Du die Jungen hast, mit denen Du auch dieses Jahr das Weihnachtsfest feiern kannst. Wenn auch der Gabentisch nicht sehr voll sein wird, so denke daran, daß Du noch in Frieden feiern kannst und alles hast, was man zum täglichen Leben braucht, während nun schon in großen Teilen unseres Landes die Menschen in notdürftigen Wohnungen, die Eltern von den Kindern getrennt leben müssen. In vielen Grenzgebieten ist der Feind eingedrungen, und die Leute haben mit ihrer Heimat auch ihr ganzes Hab und Gut verloren, da hast Du doch noch ein gütiges Schicksal...

Nun ist es schon das vierte Mal, daß ich Weihnachten nicht zu Hause sein kann. Hoffentlich können wir das nächste Weihnachtsfest in Frieden zusammen feiern. Von einer besseren Zukunft zu träumen und sich schönerer vergangener Zeiten zu erinnern, ist das Einzige, was uns in dieser schweren Zeit noch übrigbleibt. Was uns wirklich bestimmt ist, wird die Zukunft zeigen. Wenn mir auch heute die Tatsachen lieblos entgegenstarren, so hebt das meinen Glauben nicht auf.

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Wenn die Welt ihr Weihnachtskleid angelegt hat, der Schnee sich auf den Tannenzweigen wiegt und leise die lieben alten Melodien erklingen, der Wind über die schneebedeckten Felder streicht, dann werdet Ihr in der warmen Stube um den Christbaum sitzen. Ich werde in Gedanken bei Euch sein, wohin mich das Schicksal auch verweht hat. Das Bild der sanften winterlichen Berge der Heimat wird in mir erscheinen, der Blick wird weiterwandern zu dem stillen kleinen Friedhof mit dem schneebedeckten Grab meiner Mutter. Dann schweifen meine Gedanken weit, weit über endlose Ebenen, über die ein eisiger Schneesturm die Eiskristalle jagt. Dann und wann unterbricht ein Schuß das eintönige Sausen des Windes. Über endlose Schneefelder geht es weiter und weiter über die winterlichen russischen Steppen bis zur Wolga, bis zu einem einsamen Grab, wo unser Walter für uns und seine Idee den bitteren Tod gestorben ist. Dort verweile ich, um mich die tiefe Einsamkeit, wo der Schnee über all den grauen Haß und Streit dieser Welt eine blendend weiße Decke der Versöhnung gelegt hat. Ich spüre den Atem Gottes, der zu groß ist, als daß wir ihn fassen können, und kehre getröstet in die Gegenwart zurück. Den zweiten Trost suche ich bei den großen Dichtern... Dein Herbert.«

*

Es muß am 15. oder 16. Dezember 1944 gewesen sein, als wir wieder in Güterwagen verladen wurden. Jedenfalls hörten wir von der deutschen Ardennen­offensive, als der Zug durch Böhmen zuckelte. Es durfte noch geraten werden: Geht es an die Ost- oder an die Westfront? Ich stellte meine heimlichen Erwägungen an: An der Ostfront würde der unangenehmere Feind warten; in Gefangenschaft durfte man dort nicht geraten, wenn einem das Überleben am Herzen lag. Im Westen stand dagegen ein dichterer Granatenhagel in Aussicht; ich hatte nicht umsonst in früher Jugend Ernst Jüngers »In Stahlgewittern« gelesen und zwei oder drei Filme über den Ersten Weltkrieg gesehen. Schließlich schwenkte unser Zug in die westliche Richtung, so daß sich weitere Mutmaßungen erübrigten.

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  An der Westfront  

 

Die Reise endete im Ahrtal, nahe Ahrweiler, weil westwärts die Schienen bereits durch Luftangriffe zerstört waren, woran auch ein Tag des Wartens im Güterzug nichts ändern konnte. Als wir bei Tag in die Weinberge ausschwärmten, konnten wir von der gegnerischen Luftherrschaft einen Geschmack gewinnen, als ein deutsches Jagdflugzeug von einem amerikanischen verfolgt wurde und alsbald wie eine Fackel brennend abstürzte. Darauf hieß es jede Nacht marschieren. Ich erinnere mich, daß wir am Heiligen Abend bedrückt durch Adenau zogen, während die Kerzen der Christbäume hin und wieder trotz verdunkelter Fenster durch die Ritzen schimmerten. 

Nach einigen Tagen erreichten wir das nördliche Luxemburg und damit die Ardennenfront, wo die letzte deutsche Offensive dieses Krieges bereits in amerikanische Gegenangriffe umgeschlagen war. In einem riesigen Waldgebiet gruben wir uns einen Unterstand, der uns etwas Sicherheit vor den Granaten bot, solange wir nicht Kabel verlegen oder Störungen suchen mußten. Dabei geriet ich in eine grauenerregende Waldschneise: Leichen deutscher Soldaten lagen dort verstreut; manche Körperteile von Panzerketten völlig platt gewalzt, von einem Schädel war die eine Hälfte noch ganz, die andere dem gefrorenen Waldboden gleich. Meine Vermutungen gingen dahin, daß die bereits toten Körper von deutschen Panzern überrollt worden waren. Wer hätte aber den Fahrern, falls sie die Leichen überhaupt sehen konnten, darüber Vorwürfe machen dürfen? Denn immer wieder hagelten Granaten der amerikanischen Artillerie und Raketensalven hernieder.

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Wer konnte da wohl in ständiger Todesgefahr auf Tote achtgeben, die ohnehin nichts mehr spürten? Einige weitere Tage lagen wir mit unserer Telefon­vermittlung im Keller eines Hauses, mitten in einem kleinen Dörfchen namens Weiswampach in Luxemburg. Die Kellerdecken waren bogenförmig gemauert, wie ich es vom heimatlichen Hof her kannte. Als einige Flugzeuge den Ort bombardierten, erhielt die Kellerdecke an einer Stelle eine Wölbung nach unten, aber sie stürzte nicht ein. Natürlich waren alle Leitungen unterbrochen. Auf Störungssuche fünfhundert Meter vom Ortsrand überraschte mich ein Jagdbomber im Tiefflug, er schwebte über der geraden Straße direkt auf mich zu. 

Ich konnte mich knapp hinter einen Straßenbaum hocken, denn ich rechnete mit Bordwaffenbeschuß. Statt dessen fiel am gegenüberliegenden Straßenrand eine Bombe nieder; es war zu sehen, wie sie schräg durch die Luft flog. Blitzschnell versetzte ich meine Lage um 90 Grad hinter dem gleichen Baum, und schon prasselte eine Woge von Erde über mich nieder. Diese Wahrnehmung war ein untrügliches Zeichen dafür, daß ich noch lebte. Da leistete auch der Stahlhelm gute Dienste, über dessen Mitschleppen wir uns manches Mal geärgert hatten. Ein drei Meter tiefer Krater war aufgerissen worden, der verzögerte Zünder hatte auch zu meiner Rettung beigetragen. Zwanzig Meter hinter mir erhob sich auch ein einheimischer Zivilist, dem die Bombe wohl ebenso gegolten hatte wie mir. Er war so zufrieden über den Ausgang wie ich, aber daß er auch noch lachte, ärgerte mich. Schließlich hatte diesem Dummkopf niemand befohlen, im offenen Gelände herumzuturnen und amerikanische Jagdbomber auf sich zu lenken. 

An die folgenden Tage erinnere ich mich ebenfalls genau. Wir hatten mit anderen Truppenteilen ein sicheres Quartier in einem der Eisenbahntunnel bezogen, die sich am Flüßchen Our entlangwinden.

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Irgendwo hatte ich Apfelmuspulver organisiert, das ich in der Nacht während des langweiligen Vermittlungs­dienstes mittels Wasser in Mus verwandelte. Dabei geriet mir einiges davon auf verschiedene Papiere, die klebrig wurden. Als unser Leutnant das am nächsten Morgen entdeckte, wurde ich als Übeltäter ermittelt. Die Strafe bestand in meiner Abstellung zu einer Fernsprech-Außenstelle bei einer Artillerieabteilung in etwa drei Kilometer Entfernung, einschließlich Störungsdienst für die Leitung dorthin. Der Kommandostand lag im geräumigen Keller eines Gutshofes in Weppeler, direkt an dem Flüßchen Our, das die belgisch-deutsche Grenze markiert. 

Am Fernsprecher bekam ich dort bald mit, daß es irgendwelche Spannungen zwischen dem Artillerie-Hauptmann und einem Oberleutnant am anderen Leitungs­ende gab. Sonst ereignete sich derart wenig, daß mir unklar blieb, ob die Abteilung überhaupt noch Geschütze im Einsatz hatte. Der ständige Kanonendonner rührte ohnehin weit überwiegend von den Amerikanern her, deren Infanterie unablässig, wenngleich langsam vorwärts­drängte. Wir erfuhren also wenig über die Gefechtslage in unserem eigentlich ganz gemütlichen Kellerloch, das ich nur einige Male zu Behebung von Leitungsstörungen verlassen mußte. Den alten Hauptmann mit seinen Männern schienen die Ereignisse merkwürdig wenig zu interessieren.

Es mag schon am dritten Abend gewesen sein, als es hieß: »Die Amis stehen vor dem Hof!« Jetzt geriet ich in einen schweren Gewissenskonflikt. Es dämmerte mir, daß der Hauptmann sich und seinen kleinen Stab durch bewußte Untätigkeit in eine Situation hineinmanövriert hatte, die in die Gefangenschaft führen sollte. Ich war ihm jedoch nicht unterstellt und fühlte mich frei in meinen Entscheidungen. Wenn ich mich auf eigene Faust abgesetzt hätte, so wäre ich von niemandem daran gehindert worden. 

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Die uns wohlgesinnten deutschsprachigen Gutsbewohner, die ebenfalls in den Kellerräumen hockten, befragte ich über die örtliche Situation. Sie beschrieben mir einen möglichen Fluchtweg: »Hinter dem Haus durch den Obstgarten, über eine kleine Brücke der Our und dann...« 

Wie sollte ich mich entscheiden? Ich befand mich genau in der Lage, welche die Philosophen nach dem Krieg als »Grenzsituation« bezeichneten. Ich malte mir aus, was bei Gelingen der Flucht unausweichlich folgen würde: erneute Einsätze, weitere Rückzüge, bis es schließlich auch mich erwischte, bestenfalls Verwundung oder eben — eine spätere Gefangenschaft. Daß der Krieg mit der totalen Niederlage enden würde, war die einzig verläßliche Grundlage der Kalkulation. Andererseits ging die bewußte Ergebung ohne zwingende Not gegen meine Ehrauffassung. Während ich noch um die Entscheidung rang, hieß es bereits: »Die Amis stehen vor dem Kellereingang!«

Damit war mir der Entschluß abgenommen. Somit ging der Krieg für mich am 16. Januar 1945 zu Ende, während die Kriegsgefangenschaft allerdings erst begann. 

Von den etwa zehn Männern im Keller schien sonst keiner an ein Entkommen gedacht zu haben. Der Hauptmann hatte uns auch beruhigt, daß wir von den Amerikanern nichts zu befürchten brauchten. Wir versäumten nicht, uns noch alle Taschen und Beutel mit Konserven der Wehrmacht vollzustopfen, die in dem Keller reichlich lagerten. Dann hieß es: einzeln, ohne Waffen, die Treppe hoch! Am Ausgang standen nur zwei Amerikaner, soweit das in der Dunkelheit des Abends zu sehen war, sie wiesen uns lediglich die Richtung, in die wir gehen sollten.

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   Kriegsgefangenschaft und Flucht  

 

Das Wort, welches wir nun am häufigsten zu hören bekamen, klang so ähnlich wie »Lesko«. Ich war nicht wenig stolz, als ich durch Nachdenken schließlich richtig herausbekommen hatte, daß es wohl Let us go (Laßt uns gehen) heißen solle. Wörtlich genommen ein ziemlich höflicher Befehl für Gefangene. Die kleinen Schikanen begannen erst später. Die erste Nacht verbrachten wir zu beinahe einhundert Mann in einem Raum, dem Klassenzimmer einer Dorfschule ähnelnd, wo wir fast übereinander liegen mußten. 

Deutsche Artilleriegranaten schlugen ab und zu heulend in der Umgebung ein. Es war schon ein eigenartiger Gedanke, zu guter Letzt noch durch deutsche Waffen umzukommen. Morgens mußte ich dann feststellen, daß mein wertvoller Konservenvorrat, der bei der Leibesvisitation unbeanstandet geblieben war, wie von Zauberhand weggeräumt schien; nicht eine Dose war zu finden, auch keine leere. An den folgenden Tagen taten überhaupt einige Gefangene so, als müßten sie schon verhungern. Beim Abtransport im Tageslicht konnte man sehen, daß die Straßen hinter der Front mit vorrückenden amerikanischen Fahrzeugen, Kriegsgeräten und Soldaten geradezu vollgestopft waren, so daß die Mitgefangenen aus dem Staunen nicht herauskamen. 

Nach spätestens drei Tagen landeten wir in einem riesigen Zeltlager nahe der Marne mit Tausenden von Gefangenen. Dort wurde Tag und Nacht ununterbrochen gekocht, so daß es im Turnus manchmal mitten in der Nacht zum Essenfassen ging. Da gab es eine Kelle voll Grießbrei mit viel Rosinen drin und im Laufe des Tages noch einmal das gleiche. Wir waren in Kompanien zu je einhundert Personen eingeteilt, die zweimal täglich zum Zählappell antreten mußten. 

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Wie es kam, daran kann ich mich nicht erinnern, jedenfalls war ich, der es in der Deutschen Wehrmacht nur zum Obergefreiten gebracht hatte, plötzlich »Kompaniechef«. Die Offiziere waren zwar von uns getrennt worden, aber es gab ausreichend Feldwebel und Unteroffiziere, die nun hier die übrigen Kompanien »kommandierten«, was wenig zu besagen hatte.

Das Schlimmste im Camp war die Kälte, unter der besonders diejenigen litten, die ohne Mantel in Gefangenschaft geraten waren und auch keine Decke bei sich hatten. Vom Kameradendiebstahl bis zum Erschleichen der Gunst der Bewacher offenbarten sich hier alle negativen Charakterzüge der Menschen. Und eine mir widerliche Wehleidigkeit über jede Unbill beherrschte die Gespräche.

Den würdelosesten Eindruck hinterließen einige von den Rauchern, die sich auf jede weggeworfene Zigarettenkippe stürzten.

Ich habe in der Gefangenschaft gelernt, was der Mensch wirklich zum Leben braucht, nämlich sehr wenig: warme Kleidung und ein Dach gegen den Regen, um darunter schlafen zu können, sowie natürlich etwas zum Essen und Trinken. Um letzteres entgegennehmen zu können, ist ein Napf vonnöten, den sich die meisten aus Konservendosen zurechtbogen, ja sogar den Löffel, wenn dieser abhanden gekommen war.

Es scheint, daß alle Armeen der Welt vor einem unlösbaren Problem stehen, wenn sie plötzlich viele Gefangene machen. Diese sind offensichtlich im Versorgungsplan nicht vorgesehen. Für deren Ernährung und Unter­bringung werden zunächst keine Vorkehrungen getroffen, denn man hat mit der eigenen Truppe vollauf zu tun — Genfer Konvention hin oder her.

Nach etwa vierzehn Tagen wurden von einem Arzt ganz flüchtig die Gesündesten aussortiert, um bald abtransportiert zu werden. Zu je fünfzig wurden wir in einen Güterwagen gepackt, so daß wir uns zwei Tage lang fast nicht bewegen konnten. 

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Aber sadistisch erschien es, daß ohne jeden Hinweis in der dunkelsten Ecke des Wagens einige 4,5-KiIo-Dosen mit Corned Beef, einige Brote und für jeden eine 50-Gramm-Tafel Schokolade deponiert worden waren. Die Schokoladenriegel waren verschwunden, ehe die meisten die Situation begriffen hatten. Indem ich an die letzten Reste von Gemeinschaftsgeist appellierte, konnte ich die gleichmäßige Verteilung im Waggon doch noch erreichen; denn fast alle rückten die weggesteckten Schokoladentafeln wieder heraus. 

Und obwohl uns alle scharfen Gegenstände weggenommen worden waren, fanden sich doch Werkzeuge zum Öffnen der Dosen und zum Teilen der Brote. — Das Reiseziel erfuhren wir erst, als wir bereits in St.-Mère-Eglise an der Seine-Bucht ausgeladen wurden. Dort erwarteten uns sowohl geordnetere Verhältnisse als auch größere Schikanen. Doch nach einigen Tagen wurde eine Arbeitskompanie zusammengestellt, die vor dem Abtransport sogar neu eingekleidet und mit Decken versehen wurde. 

Die eigentliche Überraschung erlebten wir aber am Ankunftsort nahe der belgischen Grenze. Zunächst erhielten wir ein Mittagessen wie die Amerikaner. Sie hatten für uns ein Zeltlager auf einer Wiese neben einem entzückenden kleinen Wäldchen aufgebaut. Es war eine Idylle, zumal es dem Frühling entgegenging. Bald wechselte das Thema Nummer Eins in den Zelten; statt der Schilderung sagenhaft köstlicher Speisen, die dieser und jener früher einmal genossen hatte, wurden nun wieder vergangene Liebeserlebnisse akut.  

Die Straßenbauarbeiten, zu denen wir herangezogen wurden, waren nicht sehr anstrengend. Die amerikanische Soldatenzeitung Stars and Stripes gelangte hin und wieder in unser Camp, so daß wir über den Fortgang des Krieges informiert blieben, der inzwischen in Ost und West in die Heimat hineingetragen worden war. Mit Bangen verfolgte ich das Einrücken der sowjetischen Truppen im östlichen Sachsen. 

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Nur vorübergehend bestand eine schwache Hoffnung, daß die Amerikaner hier über die Elbe vorrücken könnten, bis schließlich nicht nur die Preisgabe Sachsens, sondern auch noch des Landes Thüringen solche Erwartungen zerrinnen ließ. Das beschäftigte mich mehr als der Tod Hitlers und das Ende des Krieges.

Im August erschienen die <Stars and Stripes> mit den Schlagzeilen von den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki, denen die japanische Kapitulation auf dem Fuße folgte.

Mir wurde sofort bewußt, daß die Welt damit in eine völlig neue Ära eingetreten war. Künftige neue Kriege würden keine Ähnlichkeit mehr mit dem soeben beendeten haben. Zunächst war die amerikanische Weltherrschaft perfekt, und die weitere Entwicklung der Machtkämpfe würde von den Besitzern der Atombombe bestimmt werden. Dies galt besonders für den Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjet-Union, der sich für den aufmerksamen Beobachter schon bei Kriegsende abzeichnete. 

Zu der Zeit hatten wir unseren anheimelnden Lagerplatz wieder verlassen müssen, um in einem größeren Camp zu hausen, aber die Verpflegung blieb gut. Sobald der Krieg in Europa zu Ende war, errichteten wir Durchgangs-Zeltlager für die amerikanischen Truppen, die aus Deutschland zurückströmten, um alsbald in ihre Heimat verschifft zu werden. 

Eine weitere völlig neue Erfahrung vermittelte uns die US-Army: Sie hinterließ Berge von Abfall, der zunächst in leeren Benzintonnen gesammelt wurde, denen das Wort <Trash> aufgepinselt worden war. Uns sparsamen Deutschen erschien es unfaßbar, wie man Nahrung und Material derart verschwenden konnte, daß darüber die Abfallbeseitigung zum Problem wurde. So verging der Sommer, der Herbst und auch das Weihnachtsfest 1945, ohne daß unsere Entlassung in Sicht kam. Nach den Stationen in Nordfrankreich bezogen wir ein Lager auf dem stillgelegten Flugplatz Grimbergen bei Brüssel. 

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Auf Grund meiner englischen Sprachkenntnisse wurde ich »Waiter« und bediente mit zwei Mitgefangenen die fünfzehn Offiziere des Stabes der Pionier­einheit, für die wir arbeiteten, früh, mittags und abends. Was in der Küche übrigblieb, reichte ohne weiteres für die deutsche Küchenmannschaft, so daß wir ebenso gut speisten wie die Offiziere.

Aus der Heimat kamen inzwischen Briefe des Inhalts: Seid bloß froh, daß ihr euch noch in Gefangenschaft befindet, solange habt ihr wenigstens keine Not mit dem Sattwerden! Das traf auf mich weniger zu, denn auf dem Bauernhof in der Oberlausitz reichte es offensichtlich. Meine Angehörigen hatten dort die letzten Kriegsereignisse überstanden, und meine Schwägerin schrieb: »Du kannst ruhig heimkommen, zumal Du noch nicht einmal Mitglied der Partei gewesen bist.« Trotzdem hatte ich nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren. Ich wollte in den westlichen Besatzungszonen bleiben. Und in der Gefangen­schaft hatte ich mich auch entschlossen, deutsche Literatur als Hauptfach zu studieren.

 

So nahte der Sommer des Jahres 1946, und die US-Army meinte immer noch, auf uns nicht verzichten zu können. Einigen riß die Geduld, und sie flohen jeweils zu zweit. Das geschah sechsmal; doch stets wurden sie zurückgebracht und strafweise an Frankreich ausgeliefert, was allgemein gefürchtet wurde; denn der Haß der Franzosen war noch beträchtlich und drückte sich häufig, nicht immer, in sehr schlechter Behandlung aus. Nur das siebte Paar kam nicht wieder, was nicht heißt, daß es durchgekommen sein muß, aber die zwei tüchtigsten Burschen sind das schon gewesen. Ich sagte mir: Solltest du einmal abhauen, dann allein, weil das Risiko, unterwegs bemerkt zu werden, kleiner bleibt. 

Im Juli 1946 ereignete sich ein zunächst höchst geringfügiger Vorfall, der — wie so oft in meinem Leben — entscheidende Konsequenzen nach sich ziehen sollte. 

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Einer der amerikanischen Offiziere, Leutnant Blaky, rief am späten Abend in der Küche an, ob noch etwas übrig sei, er hätte einen Gast. Ich fragte unseren Koch und erhielt die Antwort: »Er kann kommen.« Ich übersetzte am Telefon: »He can come.« Darauf Blaky wütend auf Englisch: »Ich weiß, daß er kommen kann! Ich habe gefragt, ob etwas übrig ist!« (Is there something left?). Nach wenigen Minuten stürzte er wutschnaubend zur Tür herein: Wer war eben am Telefon? Ich war mir nicht der geringsten Schuld bewußt, wenn auch meine Übersetzung nicht ganz korrekt gewesen sein mag. »He may come« wäre vielleicht nicht beanstandet worden. Wenn ich jedoch als Gefangener bejaht hätte, daß für einen amerikanischen Offizier noch »etwas übrig sei«, wäre das nicht bedeutend unhöflicher gewesen? 

Doch Blaky verhängte aus dem Stand die auch für amerikanische Soldaten übliche Strafe: ein Erdloch 6x6x6 Fuß ausheben. Dazu holte er mich am nächsten Morgen höchstpersönlich mit seinem Gewehr in der Hand ab. Ich verlangte mehrmals eine Anhörung und weigerte mich, ohne eine solche das Loch zu graben. Da sprang er wild herum und feuerte schließlich vor meinen Füßen einen Schuß in den Boden. Daraus schloß ich, daß er doch nicht ganz von Sinnen war und weigerte mich weiter. Schließlich befahl er mir, über das weite Flugfeld zu laufen und folgte mir auf dem Kotflügel seines Trucks sitzend, den sein Fahrer steuerte, das Gewehr in der Hand. Ich befürchtete schon ein wenig, daß er die Absicht haben könnte, mich »auf der Flucht« zu erschießen. Doch zu meiner Beruhigung sah ich, daß inzwischen die amerikanische Leitung unseres Gefangenen-Camps einschließlich der dort tätigen Gefangenen auf das Ereignis aufmerksam geworden war. Nach zwei Kilometern Dauerlauf im großen Kreis beschloß ich, mich nicht ganz fertigmachen zu lassen und stürzte schließlich zu Boden. Da befahl er mir aufzustehen, und wir fuhren zum Ausgangspunkt zurück.

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Ich verlangte nach einem Arzt. Der kam bald, untersuchte mich und wies mich trotz der lauten Proteste Blakys als dienstunfähig in die Krankenbaracke ein, die innerhalb des großen Camps mit einem deutschen Stabsarzt betrieben wurde. Damit befand ich mich für die nächsten Tage in Sicherheit. Doch dann setzte Leutnant Blaky alles daran, mich wieder in die Bedienungsmannschaft und damit in das abseits gelegene kleine Camp zu bekommen. Dort hätte er mich eines Nachts herausholen und sich rächen können. Unser amerikanischer Lagerkommandant schien meine Befürchtungen zu teilen, denn er telefonierte lange mit seiner vorgesetzten Dienststelle, wobei er mehrmals die Worte »it stinks« (es stinkt) gebrauchte. Aber es half nichts; sein Vorgesetzter sagte ihm, er dürfe meine Abstellung zur Bedienung der Offiziere nicht verweigern, wenn sie von diesen gewünscht werde. Folglich marschierte ich mit den acht Kameraden noch am gleichen Abend in das kleine Außenlager. 

Mein Entschluß stand fest: In dieser Nacht würde ich vorsichtshalber verschwinden. Für einen solchen Fall hatte ich schon vor Monaten von den Belgiern, mit denen wir einen Tauschhandel pflegten, Zivilkleider besorgt. Ich informierte keinen der Kameraden, damit sie gegenüber den Amerikanern nicht in Verlegenheit gerieten. Nachdem sie eingeschlafen waren, zog ich mir leise die Zivilkleider an und, um diese zu schonen, die mit PW (für prisoner of war) bezeichneten darüber. Die Decken auf meiner Feldpritsche arrangierte ich so, als läge ich darunter. Mit einer Kneifzange schnitt ich um Mitternacht den Maschendraht an der Schattenseite unseres kleinen Camps ganz vorsichtig auseinander, denn es lag im Beobachtungsbereich der nächsten zwei Wachtürme des Hauptlagers. Durch das hohe Gras robbte ich ganz behutsam, während gerade die Posten wechselten, bis das Dunkel erreicht war. Keine der Wachen hatte etwas bemerkt. Ich marschierte, bis es dämmerte.

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Mein Plan war, zunächst ein gutes Stück nach Norden und dann genau nach Osten zu gehen, die Grenze nach Holland zu überschreiten, um quer durch den Maastrichter Zipfel hindurch zur deutschen Grenze zu gelangen. Zur Orientierung besaß ich nur eine Landkarte, die nicht viel mehr enthielt als die, welche heute von der Bundesbahn dem Kursbuch beigefügt wird. Als sicherster Aufenthalt am Tage schien mir die Mitte großer Getreidefelder. In einem solchen überstand ich den nächsten Tag in praller Sonne, ohne ein Getränk. Das war schon strapaziös. Auch an Verpflegung hatte ich mir bewußt nur ein paar kleine Konservendöschen mitgenommen. In der nächsten Nacht wanderte ich auf einer Straße entlang eines Kanals, als mich unversehens ein Auto von hinten in die Scheinwerfer bekam, so daß ich mich überholen lassen mußte. 

Was mich erschreckte, war der Gedanke, daß ich die Gefangenenkleidung immer noch über dem Zivilanzug anbehalten hatte; so war zu vermuten, daß der Fahrer das große PW erspäht haben könnte. Tatsächlich konnte ich beobachten, wie er über die nächste Kanalbrücke fuhr und jenseits in einem Häuschen offensichtlich die Brückenwache alarmierte, die dann mit einem Hund das Gelände absuchte. Ich verhielt mich still im Schilf eines Rieselfeldes, bis sich alles beruhigt hatte — wußte aber nun, daß ich den Kanal auf dieser Brücke nicht überqueren durfte und meine »Überkleidung« abzulegen hatte. 

Am folgenden Tag wurde mir klar, daß ich ein Fahrrad brauchte. Zu diesem Zweck durchstreifte ich nach eingetretener Dämmerung eine größere Ortschaft. Dabei geriet ich in eine Sackgasse, die plötzlich in einem kleinen Hof endete, wo zwei Personen an einem Tisch den warmen Abend genossen. Sie fragten etwas auf Flämisch. Ich murmelte einige undefinierbare dunkle Laute, die nach einer Entschuldigung, auf keinen Fall aber deutsch klingen sollten, wandte mich um und ging eisern beherrscht, langsamen Schrittes die Gasse zurück, was sich als einzig richtig erwies; denn niemand folgte mir.

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Möglicherweise hatten mich die Bewohner für einen Betrunkenen gehalten. Schließlich stieß ich am Ortsrand auf eine Kneipe, vor der mehrere Fahrräder standen, während drinnen die Zecher lärmten. Allerdings fiel das helle Licht durch die offene Tür. Dennoch mußte diese Gelegenheit genutzt werden! Als ich mir ein Rad schnappte, krachte ein anderes gegen die Mauer, aber kräftig in die Pedale tretend gewann ich schnell das Weite in den angrenzenden Feldern.

Da ich schon zwei Tage nichts gegessen hatte, bestand die nächste Aufgabe darin, Verpflegung zu beschaffen. Ein einsam gelegener Bauernhof sollte doch wohl etwas zu bieten haben! Sein Wohnhaus erschien in der Dunkelheit ziemlich unzugänglich; doch vor der Haustür stand — o Wunder! — eine halb gefüllte Milchkanne, die ich vorsichtshalber zu einer nahen Hecke schleppte. Bei aller Gunst des Abends erfuhr ich, daß es gar nicht so angenehm ist, sich mit Milch geradezu vollzupumpen. Und an dem folgenden heißen Tag plagten mich bereits wieder Durst und Hunger. War es bisher richtig gewesen, nachts zu marschieren, so war es mit dem Fahrrad besser, tags weiterzukommen. Es war ein Sonntag mit belebten Straßen, und das bedeutete, nicht auffallen zu dürfen; somit war es unmöglich, aus einem Bach oder Brunnen Wasser zu trinken, obgleich solche am Wege lagen. Lechzend schaffte ich viele Kilometer. Am nächsten Tag regnete es, was sich als noch unangenehmer erwies. Der Weg führte durch ein einsames Gebiet nahe der holländischen Grenze, das ganz wie ein Truppenübungsplatz aussah. Ich war hungrig und deprimiert. Hätte einer der wenigen Menschen, denen ich dort begegnete, den einsamen Radler angesprochen, dann wäre die Flucht zu Ende gewesen. Erfreulicherweise ließ der Regen schließlich nach, und die Kleider trockneten wieder.

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Meiner Karte entnahm ich, daß vor der belgisch-niederländischen Grenze noch ein Kanal überwunden werden mußte. Dort trennte ich mich von dem Fahrrad, band alle Kleider zu einem Bündel und durchschwamm den Kanal. Dabei löste sich das Hemd aus dem Bündel, in dessen Tasche auch mein Soldbuch steckte. Trotz mehrmaligen Tauchens konnte ich es nicht erfischen. So blieb ich nun ohne jedes Ausweispapier. Den nächsten Tag verbrachte ich frierend in einem Gebüsch, neben dem ein Bauer pflügte. Es gelang mir nicht zu schlafen. In der nächsten Nacht war noch die Maas in Roermond zu überwinden, die ich auch durchschwimmen wollte. Es mag kurz nach Mitternacht gewesen sein, als ich am Ufer ankam. Der Fluß rauschte gewaltig und hatte eine unerwartet große Breite, die ich auf 150 Meter schätzte. An die Schwierigkeit denkend, die mir schon der lächerliche Kanal bereitet hatte, hielt ich meinen Plan für selbstmörderisch. Wie leicht konnte ich hier hinweggetrieben werden — und kein Mensch würde je erfahren, wo ich geblieben sei. 

Die riesige Brücke, von der ich annehmen mußte, daß sie streng bewacht würde, war hell beleuchtet. Keine einzige Person war weit und breit zu erblicken. Mutterseelenallein tippelte ich schließlich über die Brücke, in der Befürchtung, am anderen Ufer auf eine Wache zu stoßen; doch auch dort regte sich nichts. So schritt ich schnell weiter durch die stillen Gassen der großen Stadt ostwärts, erreichte das freie Land und wanderte kräftig weiter durch die Grenzwälder. Als der Morgen graute, mußte ich nach meiner Berechnung die deutsche Grenze schon einige Kilometer hinter mir haben. So trat ich aus dem Wald auf eine breite Straße — doch da erblickte ich achtzig Meter vor mir einen Schlagbaum und zwei Wächter, die gerade eine Person kontrollierten. Schnell lief ich auf die andere Seite in den Wald, schlug einen großen Bogen, um schließlich in die deutsche Ortschaft Elmpt zu kommen. Dort betrat ich einen Bauernhof, wo im Stall gerade die Kühe gemolken wurden. 

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Alsbald bekam ich ein gutes Frühstück und dann eine Kammer mit Bett zugewiesen. Ich bat, mich mittags zu wecken, weil ich mit der Bahn weiterfahren wollte. Doch die Versuche der guten Leute, mich wach zu bekommen, blieben erfolglos. Das gelang ihnen erst spät am Nachmittag, so daß ich mit der Bahn nur noch Wanne-Eickel erreichte. Es erwies sich als Dummheit, daß ich an diesem Tag noch so spät losgefahren war. Mein Ziel Werdohl, wo die Schwester meines Schwagers Max wohnte, konnte ich an diesem Tag nicht mehr erreichen. Die Bahnhöfe wurden nämlich nachts von der britischen Militärpolizei kontrolliert. Darum brachten mich hilfreiche Rotkreuzschwestern, die Durchreisende verpflegten, in ihrem Nahrungsmittellager unter, womit ich tatsächlich der nächtlichen Kontrolle entwischte. In Werdohl konnte ich mich einige Tage ausruhen. Nur: die Verpflegung war damals für alle so dürftig, wie man es sich heute nicht vorstellen kann. Bei einem Spaziergang wurde mir derart schwindelig, daß ich an einem Geländer Halt suchen mußte. Das lag natürlich auch an den Nachwirkungen der fünf Tage, an denen mein Körper bei größten Anstrengungen und wenig Schlaf fast keine Nahrung bekommen hatte.

In die sowjetisch besetzte Zone wollte ich trotz der Briefe von zu Hause nicht zurück. Mein Plan war, in Westdeutschland zu studieren, wohin ich gegen Kriegsende den größten Teil meiner Ersparnisse vorsorglich überwiesen hatte. Doch das stellte sich als kaum realisierbar heraus. Ich konnte zwar einige Tage bei der freundlichen Schwester meines Kameraden Karl Schüler in der Nähe von Crailsheim verbringen, was Karl mir einst hilfsbereit versprochen hatte. Er selbst kehrte erst 1948 aus russischer Gefangenschaft zurück. Weitere Tage verbrachte ich bei den Eltern seiner Frau in München. Aber alle unzerstörten Wohnungen waren mit Menschen vollgestopft, die Mägen dagegen leer. Mein Geld konnte ich zwar bei der Bank in Kempten abheben, aber es besaß kaum einen Wert, außer für einige wenige Dinge wie die Benutzung der Bahn.

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Da die weiteren Nachrichten vom heimatlichen Hof ziemlich günstig lauteten, entschloß ich mich Ende August zur Heimkehr. Mit der Bahn erreichte ich Ludwigs­stadt, um des Nachts schwarz, wie das damals üblich war, über die Zonengrenze nach Probstzella in Thüringen zu gehen. In solchen Dingen besaß ich ja nun Erfahrung. Von dort bis Bautzen konnte man es mit der Bahn noch nicht in einem Tag schaffen; Brücken und Geleise waren — wie im Westen — vielerorts noch unterbrochen. So war auf dem Bahnhof in Dresden noch eine Nacht wartend zu verbringen. 

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Schließlich betrat ich an einem Sonntagmorgen, im September 1946, nachdem ich die letzten fünf Kilometer von Seitschen wie üblich zu Fuß zurückgelegt hatte, mein Heimatdorf. Wieder war ich — diesmal nach zwei Jahren — zurückgekommen, und nun auch davongekommen. Wieder sollte ein Neubeginn hier seinen Anfang nehmen — und es wurde der entscheidendste meines über den Krieg geretteten Lebens. 

Mein Vater lebte noch auf dem Hof mit meiner nun verwitweten Schwägerin und deren zwei Kindern. Meine Schwester Frieda wohnte nur fünfzehn Kilometer entfernt; sie bauten dort das Haus des Schwieger­vaters wieder auf, das bei den letzten Gefechten des Krieges ausgebrannt war. Auch mein Bruder Gerhart lebte jetzt in Gnaschwitz. Er hatte den gesamten Krieg bei der Flugabwehr in der Heimat und im Westen verbracht und war bald nach dem Waffenstillstand heimgekehrt. Er arbeitete nun als Kutscher auf dem Hof der Großeltern seiner Frau Hildegart. Dann ließ er sich zum Zimmermann umschulen, bis er nach Jahren wieder als Lehrer tätig werden konnte. 

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Gerade an diesem Sonntag feierte man »Dorffest« mit abendlichem Tanz in dem Saal, in welchem wir als Kinder geturnt hatten. Es wurde nie so viel getanzt wie im Deutschland der Nachkriegsjahre. Obwohl ich gar keine Lust verspürte, drängte mich meine Schwägerin Marianne, unterstützt von Irmgard, der Tochter des benachbarten Lehrers, mitzukommen. Dort sah ich plötzlich ein Mädchen tanzen: groß und schlank, blauäugig und blond. War das nicht die Kleine, die mir einst im Zittauer Gebirge zugelacht hatte? Unaufgefordert klärte mich Irmgard auf: »... und die ist jetzt Junglehrerin.« Ich tanzte einige Male mit ihr, wagte aber nicht einmal, Du zu ihr zu sagen. Wir begegneten uns dann einige Male während des Winters ebenso zufällig wie flüchtig.

Ein Ziel nahm mich total in Anspruch: Bereits zu Ostern wollte ich die Reifeprüfung mit der Abiturklasse der Oberschule in Bautzen ablegen. Die in Rußland verloren­gegangenen Fernunterrichtsbriefe waren glücklicher­weise in Potsdam nachzubekommen. Vorsichtshalber nahm ich in einigen Fächern etwas Privatunterricht bei einem Studienrat in Bautzen, der wie die meisten Lehrer wegen der Parteimitgliedschaft im Dritten Reich aus dem Schuldienst entlassen worden war.

Es wurde wieder ein selten eiskalter Winter. Wochenlang fegte der Wind, der beständigste Gast der Oberlausitz, den Schnee zu mannshohen Wehen zusammen. Mit dem Heizmaterial mußte selbst auf dem Bauernhof gespart werden, und auch das Essen war keineswegs so reichhaltig wie früher. Dennoch lebte man auf dem Hof paradiesisch im Vergleich zu den hungernden und frierenden Städtern. An freiwilligen Arbeitskräften, die von dorther kamen, herrschte kein Mangel. Sie verlangten keinen Lohn; sie waren glücklich, wenn sie nur an den Mahlzeiten teilnehmen durften. — Ich blieb fest entschlossen und wurde von meinem Vater darin bestärkt, mich aus der Politik herauszuhalten. 

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Es war klar, daß weder die dortige Christlich-Demokratische Union noch die Liberal-Demokratische Partei einen eigenen Spielraum bekommen würde, obwohl sie zusammen bei den ersten Nachkriegswahlen am 20. Oktober 1946 etwa so viele Stimmen schafften wie die SED, die aus dem erzwungenen Zusammenschluß von SPD und KPD entstanden war und in jeder Weise bevorzugt wurde. Einige, die damals an demokratische Freiheiten glaubten und sich unbedacht freimütig für die CDU oder LPD engagierten, haben das fast ebenso bitter gebüßt wie die früheren Nazifunktionäre — von denen viele nie, andere erst nach vielen Jahren heimkehrten. 

Gerade Bautzen, die schöne traditionsreiche Stadt, gelangte zu trauriger Berühmtheit durch das »Gelbe Elend«. Diese riesige Landeshaftanstalt mit gelben Klinkern war bereits im Königreich gebaut worden — nun war sie über und über belegt.

Ich hatte also nichts anderes im Sinn, als mich ein halbes Jahr so intensiv in meine Lehrhefte und -bücher zu vertiefen wie seinerzeit von 1940 bis 1941. Tatsächlich bestand ich bereits am 31. März 1947 die Reifeprüfung mit den mir sonst unbekannten Schülern der Abiturklasse an der Oberschule in Bautzen, wovon drei nicht bestanden. 

Ein großer Abschiedsball mit Damen war fällig. Für mich die willkommene Gelegenheit, nun Marianne einzuladen, mit der es kurz zuvor immerhin zum Du gekommen war. Es wurde ein fröhlicher Abend in dieser entbehrungs­reichen Zeit. Den fünf Kilometer langen Heimweg hatten wir gemeinsam zu Fuß zurückzulegen. Es dämmerte schon, als sich unsere Wege trennten — da wagte ich den ersten flüchtigen Kuß. Doch bald trafen wir uns wieder. Sie hatte Berufsschüler und -schülerinnen in unserem Kirchdorf Gaußig zu unterrichten, wo sie ein winziges Zimmer bewohnte. So wurden wir häufige Gäste jenes Schloßparks mit den alten, hohen Bäumen und riesigen Rhododendronbüschen. 

In unserem ersten gemeinsamen Sommer wanderten wir jeden Sonntag zu Fuß oder mit Fahrrädern in die Lausitzer Berge. Marianne brachte stets ein Kuchen­paket mit. Ihre Eltern besaßen ein kleines Häuschen mit großem Garten, worin ihr Vater auch Bienen hielt, die damals zu den beneidenswerten Reichtümern zählten.

Wenn ich noch zögerte, ihr Haus zu betreten, dann beruhte das auf einem Grundsatz: Seit frühester Jugend hielt ich die Entscheidung für eine Frau als die bei weitem wichtigste, die es im Leben zu treffen gilt.

Die Zeit, in der wir uns immer gewisser wurden, daß der Weg zueinander der richtige sei, ist die schönste unseres Daseins geblieben. Heute bestätigt der Rückblick, daß wir uns nicht getäuscht haben.

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 Herbert Gruhl 1987  Überleben ist alles  Erinnerungen, Memoiren, Biografie