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Teil 1

Die Etappen
der natürlichen
Evolution

Die Natur, die eine Freude ohne Ende darin findet, 
neue Formen zu erfinden,
neue Wesen zu erschaffen ...  

Der italien­ische Künstler,
Techniker und Philosoph
Leonardo da Vinci

 

1.1 - Der 4.000.000.000 Jahre dauernde Anlauf des Lebens

27-40

Unser wissenschaftlich-technisches Zeitalter hat es nicht nur möglich gemacht, in die Unermesslichkeit des Universums vorzu­stoßen und in die Winzig­keit des Atoms einzudringen, es konnte auch immer mehr Wissen über die Vergangenheit des Menschen und die Entwicklung des Lebens auf dieser Erde zusammen­tragen.

Am Anfang dieser Erweiterung des Weltbildes stand ein Geistesblitz des Engländers Charles Darwin, der die Evolution aller lebendigen Arten aus einfachen zu immer komplizierteren erkannte. Seit Erscheinen seines Werkes <Über die Entstehung der Arten> im Jahre 1859 ist die Ahnenreihe der pflanzlichen und tierischen Gattungen zunehmend dichter geworden, wenn auch wohl manche Lücken für immer unausgefüllt bleiben werden.

Wenn sich also das Leben in fast vier Jahrmilliarden entwickelt hat, dann muß es auch — wie das Universum — einen Ursprung gehabt haben. Darauf konzen­trierte sich die Forschung der letzten Jahrzehnte. 

Bevor wir darauf eingehen, müssen wir kurz die Bedingungen in Erinnerung rufen, die Das Leben benötigte, um überhaupt entstehen und sich fortpflanzen zu können. 

Wir denken einige Seiten zurück, wo unsere Sonne als Urquell allen Lebens beschrieben wurde. Sie sendet der Erde seit ungefähr fünf Milliarden Jahren ihre Wärme und wird dies auch nach unterschiedlicher Einschätzung immerhin noch vier bis 15 weitere Milliarden tun. Bisher blieb die Sonnen­strahlung so konstant, daß die schmale Temperatur­spanne, die für die Lebensprozesse erforderlich ist, nie auf der ganzen Erde gleichzeitig über- oder unterschritten wurde; denn sonst wäre das Leben wieder erloschen.29

Die nötigen Bedingungen für irdisches Leben entstanden dennoch sehr allmählich. Nach der Entstehung der Erde vor viereinhalb Milliarden Jahren herrschte auch noch 700 Millionen Jahre später, also vor 3,8 Milliarden Jahren, eine Temperatur um die 100 Grad Celsius und ein Kohlendioxyddruck von 15 bar, was dem Fünfzehn­fachen des heutigen Luftdrucks entspricht. Außer Kohlenstoff waren Stick­stoff­verbind­ungen reichlich vorhanden, dazu Methan, Ammoniak und Wasserdampf. Zunächst gab es noch kein Oberflächen­wasser, da der Regen auf dem felsigen Boden sofort verdampfte. Erst vor 4,0 bis 3,9 Milliarden Jahren bildeten sich in der Nähe der Pole Wasserbecken und dann die Ozeane.

Die damals vorhandenen chemischen Elemente setzte Stanley Miller 1953 in einem Glaskolben elektrischen Entladungen aus, wie sie in den Gewittern der Uratmosphäre gewiß üblich waren. Dabei erhielt er zehn verschiedene Aminosäuren, organische Säuren, Aldehyde und Cyanwasserstoff. Cyanwasserstoff und dessen Derivate bildeten wahrscheinlich Ausgangsstoffe für Purine, Pyrimidine und Aminosäuren, wie auch Agentien für Informationsträger. Die Aminosäuren entstehen bei Temperaturen von 900 Grad Celsius, unter Gamma­strahlung, Schockwellen und Ultraviolettlicht. Die Nukleinsäure Adenin entsteht spontan aus konzentrierten Lösungen von Cyanwasserstoff oder durch Elektronenstrahl­bombardierung. Und Nuklein­säuren sind selbst­reproduktiv!30) Die Ribonukleinsäure (RNS) war wohl der erste Träger genetischer Informationen, erst später die Desoxyribo­nukleinsäure (DNS). An der Bildung von Zellmembranen schließlich, die für die Entwicklung des Lebens entscheidend sind, wirken gewisse Fette mit.

Die ältesten Lebensformen, die bisher gefunden wurden, sind die Stromatolithen, die vor 3,4 Milliarden Jahren in Westaustralien gelebt haben. Diese Prokaryonten — vereinfacht ausgedrückt »Bakterien« — waren von einer Zellmembran umgebene Einzeller. Sie entwickelten dann hier und da einfache mehrzellige Komplexe. Mit der Bildung eines Zellkerns entstanden vor mindestens 1400 Millionen Jahren Eukaryonten, die sich verschiedenartige Bakterien als Organe einverleibten: die Mitochondrien und die zur Bewegung dienenden Geißeln, sowie bereits luftatmungsfähige Chloroplasten.31 

Vor zwei Milliarden Jahren oder schon früher wurde die Gärungsatmung nach und nach von der Luftatmung abgelöst. Der Sauerstoff unseres Planeten kam zunächst aus den Weltmeeren. Diese erhielten ihn durch Zufluß aus dem Erdinnern.32  Heute schätzt man, daß die gesamte Wassermenge der Weltmeere in acht bis zehn Millionen Jahren einmal umgewälzt wird.33 Mit den Einzellern entstand reichlich Plankton (Blaualgen).

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Die lebenden Zellen, die zur Pflanzenlinie führten, nahmen die genannten Chloroplasten in sich auf, die ihnen den Weg zur Photosynthese und damit zur weiteren Sauerstofferzeugung eröffneten. Die Bakterien hatten zur Verwitterung der Gesteine beigetragen, wobei das Kohlendioxyd der Atmosphäre gebunden wurde mit der Folge einer weiteren Abkühlung der Erde. Mit diesem Prozeß machte sich das Leben selbst die Erde zunehmend bewohnbar.

Die Nahrung der Tierlinie bestand aus bereits existierenden organischen Substanzen. Es war also von Anfang an ein gegenseitiges Sich-Auffressen, bis die Pflanzennahrung hinzukam. Die dritte Linie bilden die auch heute noch existierenden Pilze, die sich vorfindbare Substanzen einverleiben, ohne dabei Enzyme einsetzen zu müssen.34 Die weitere Evolution im Tierbereich mußte viele Weichenstellungen passieren. Nur die sich teilenden Zellen, die in einem festen Verbund miteinander blieben, konnten sich letzten Endes zu den Tierarten entwickeln.

Vor mehr als 400 Millionen Jahren begaben sich die ersten Pflanzen und wirbellosen Tierarten aufs* Land (Skorpione, Tausendfüßer). Die Pflanzen trugen dann auch zur Verwitterung der Kalzium- und Magnesium­gesteine bei, womit weiteres Kohlendioxyd der Atmosphäre gebunden wurde; auch Silikatgestein wurde im Prozeß der Humusbildung immer schneller aufgelöst.35 Daß eine belebte Humusschicht entstand, war Voraussetzung für die weitere Entwicklung des Lebens auf dem Festland, von dem aus vor rund 300 Millionen Jahren auch die Eroberung der Luft begann, zunächst durch Insekten, 150 Millionen Jahre später durch die Vögel.

Im Kambrium, vor 570-500 Millionen Jahren, waren sämtliche Stämme der wirbellosen Tiere entwickelt und der wichtige Schritt zum Wirbeltier, zunächst beim Fisch, vorbereitet. Als ältestes Wirbeltier gilt der vor mehr als 350 Millionen Jahren entstandene Quastenflosser, der schon fast zwei Meter lang und 100 Kilogramm schwer gewesen ist; er wurde noch 1986 im Indischen Ozean lebend beobachtet, während von Fischern gefangene Exemplare sofort starben. Für das Leben auf dem Festland waren Nasenhöhle, Schlund und schließlich das Gebiß erforderlich.36  Die Evolution ging vom Quastenflosser über Amphibien, die in beiden Elementen leben konnten, zum Landwirbeltier und weiter zum Reptil, bis vor 215 Millionen Jahren das Säugetier auftrat. 

*detopia-2014:  So im Original: "aufs"

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Die Warmblüter, die sich bereits in mehreren Reptiliengruppen entwickelten, besitzen Kauwerkzeuge, atmen mit der Lunge und verfügen über starken Stoffwechsel. Somit können sie auch ziemlich kalte Regionen besiedeln. Es gibt drei Hauptstämme: 1. Kloaken­tiere, die noch Eier legen, 2. Beuteltiere, die ihre Kindheit im Brutbeutel der Mutter verbringen, 3. Placentarier, die nach der Geburt gesäugt werden.

Diese für den Lebenskampf gut geeigneten Arten konnten wohl trotzdem erst nach dem Massen­sterben der Dinosaurier und anderer Reptilien zum Zuge kommen, also vor 65 Millionen Jahren. Zunächst waren das nur mausgroße Insektenfresser, Urahnen der jetzigen Spitzmäuse, Igel und Maulwürfe. Vor 55 bis 50 Millionen Jahren traten die ersten Primaten auf, die den heutigen Murmel­tieren ähnelten. Daraus gingen vor 45 Millionen Jahren die Halbaffen hervor und vor 35 Millionen Jahren die Affen. Davon spalteten sich vor 14 Millionen Jahren diejenigen ab, die in der Savanne leben mußten.

Eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung zu höheren Lebensformen war die Zwei­ge­schlecht­lichkeit. Seit 500 Millionen Jahren ist die Paarung die gängige Art der Fortpflanzung. Auf diese Weise wächst die Zahl der Kombinations­möglich­keiten schnell ins Unermeßliche. Wenn die Eltern nur fünf Genpaare haben, so gibt es 32 mögliche Kombinationen, bei 20 Genpaaren sind es schon 1.048.576, bei 32 schon über zwei Milliarden. Da der Mensch mehr als 10.000 Genpaare hat, ist die Chance, daß die Eltern zwei völlig übereinstimmende Kinder bekommen, 1:1018, also eins zu einer Trillion.

 

Die Gene. Die Natur benutzt für den Aufbauplan aller Lebewesen einen einzigen Universal­schlüssel, die Gene. Das ist ein weiterer Beweis dafür, daß sämtliche lebendigen Wesen einem einzigen Stammbaum zugehören. »Alle autonomen Lebewesen machen von der DNA (Desoxyribonukleinsäure) als Informationsspeicher Ge­brauch.«37) Der Nobelpreisträger Werner Arber stellt fest: »Gene sind die Schlüssel der Lebens­ent­falt­ung.«38) 

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Daß in der DNA die Erbanlagen verschlüsselt sein könnten, vermutete 1943 der Biochemiker Erwin Chargaff, einer der umfassendst gebildeten Menschen unserer Zeit, damals Direktor des Biochemischen Instituts der Columbia-Universität. Die entscheidende Veröffentlichung erfolgte allerdings 1953 durch Francis Crick und James Watson, die 1962 dafür den Nobelpreis bekamen.

Die DNA-Moleküle bestehen aus unvorstellbar dünnen Fäden, deren Länge etwa eine Million Mal größer ist als ihr Durchmesser. Auf den zwei in der Regel zusammengedrehten Strängen (Doppel-Helix) befinden sich in paralleler Abfolge jeweils 4 komple­mentäre Bauelemente, die Nukleotide. Ein Molekül des Bakteriums Escherichia coli mit nur einem DNA-Faden besteht aus vielen Millionen solcher Nukleotidpaare, was den Schriftzeichen der gesamten Bibel entspricht. Der normale diploide menschliche Chromosomensatz hat 1500 mal mehr Informationen, entspricht also einer Bibliothek von 1500 Bänden gleicher Kapazität. Da diese sechs Milliarden Zeichen in jeder Zelle des menschlichen Körpers vorhanden sind, wiederholt sich die Information zirka 60 Billionen mal.39

Schon 1000 Bauelemente ermöglichen mathematisch 10600 verschiedene Varianten. Das ist eine Ziffer mit 600 Nullen, zu deren Niederschrift zirka zehn Zeilen dieses Buches nötig wären. Die Wahrscheinlichkeit, im deutschen Lotto sechs »Richtige« zu tippen, ist bekanntlich 1:13.983.816. Unendlich geringer ist die Wahrscheinlichkeit, die gleiche Sequenz in einem Genom anzutreffen. Darum gilt heute der sogenannte »genetische Fingerabdruck« als bei weitem eindeutiger als der normale.

Laut Berechnungen an der Universität Basel »kann die Natur selber aus Gründen beschränkter Kapazität keinesfalls mehr als etwa 1050 dieser Sequenzen schon auf ihre funktionelle Nützlichkeit hin erprobt haben«.40 Nach anderen Berechnungen könnte das ganze Universum mit seinem Radius von zehn Milliarden Lichtjahren nur 10102 Proteinmoleküle aufnehmen.41 Die Natur muß also bei ihren Experimenten systematisch vorgegangen sein. Das legt der Biophysiker Manfred Eigen in seinem Hyperzyklus dar.    wikipedia  Manfred_Eigen  1927-2019

Schon seit das Leben in Form einzelliger thermophiler Archäbakterien entstanden war, hatte es sogleich das Bestreben, sich zu erhalten. Da das einzelne Lebewesen immer und überall sterblich geblieben ist und bleiben wird, kann es nur in seinen Nachkommen weiterleben, welche die gleichen Eigenschaften besitzen.

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Die Konstanz einer jeden Art ist von Anfang an der dominierende Faktor in der Natur. »Das Erbgut wirkt wie ein ruhender Pol in der Betriebsamkeit des Lebens. Es besitzt das Potential, auch im Laufe der Zeit immer wieder dieselben bewährten Prozesse zuverlässig zu leiten.«42) Wäre aber das Erbgut ganz allein wirksam, dann wäre die Evolution nie möglich geworden. Erst die Mutation als untergeordneter Faktor ließ langfristig Änderungen zu, die sich allerdings dann über viele Generationen bewähren mußten.

Aus dem soeben Gesagten ergibt sich: Die Erkenntnisse Darwins über die Evolution haben in den folgenden hundert Jahren selbst eine Evolution erlebt. Darwin sah die Auslese nur im »Überleben der Geeignetsten«, während die Ungeeigneten stets zugrunde gingen, sich also nicht fortpflanzen konnten. Schon kurz vor 1900 setzte sich die Vorstellung von der »Mutation« durch, angestoßen von William Bateson in England und Hugo de Vries in Holland. Mit Mutation wird eine sprunghafte Abweichung bei der Reproduktion der Gene bezeichnet. Manfred Eigen nennt es »fehlerhafte Selbstreproduktion«.43 

Man könnte die Mutation auch als »Experimentierlust« der Natur auffassen, die sie sich in bescheidenem Maße erlaubt. Werner Arber betont, daß »weitaus die meisten der ein Gen verändernden Mutationen nicht neue Funktionen erbringen, sondern den Verlust der ange­stammten Funktion bewirken«.40 Und er mahnt, daß wir die allgemeine Regel im Auge behalten müßten, »daß Mutationen jeglicher Art viel häufiger Nachteile als evolutionäre Vorteile bringen«.44  Auch kann die gleiche Mutation in einem bestimmten Lebensraum oder zu einer bestimmten Zeit Vorteile bringen, während sie unter anderen Bedingungen nachteilig wirkt. Eine bisher homogene Art kann sich auch spalten und verschiedene Lebensräume besiedeln.

Der Neodarwinismus, in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, erkannte, daß der Ausleseprozeß nicht zwischen Individuen, sondern zwischen Populationen stattfindet, die sich bei räum­licher Trennung unterschiedlich weiter­entwickeln. Auch Arber bezeichnet das »Prinzip der Isolation« als bedeutungsvoll: 

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»Gelingt es einer Art von Lebewesen, sich gegen freizügigen Austausch von Erbgut mit anders­artigen Lebewesen abzuschirmen, so hat diese Art auch eine bessere Chance, ihre Eigenständigkeit zu wahren. Dies kann ihren Mitgliedern aber auch helfen, sich in dem ihnen zusagenden Bereich von Lebens­beding­ungen nicht nur zu halten, sondern allenfalls durch schrittweise, längerfristig wirksame interne Veränderungen in ihrem angestammten Erbgut ihr Durchsetzungsvermögen zu steigern. — Die in der Natur vorgefundenen mannigfaltigen Mechanismen vornehmlich der reproduktiven, aber auch der geographischen Isolation verhindern, daß sich zwei verschiedene Erbbibliotheken vermischen. Fast zwangsläufig würde eine solche Vermischung zu einem chaotischen Nebeneinander nicht harmonisch aufeinander abgestimmter biologischer Funktionen führen. Dies könnte den Fortbestand der betreffenden Arten ernsthaft gefährden.«45) 

Christine und Ernst Ulrich von Weizsäcker sprechen von einer »Renaissance des Evolutionsfaktors Isolation«.46)

Der letzte Schritt der Verfeinerung des Darwinismus begann in den sechziger Jahren durch die Populations­genetik. Sie enthüllte, daß jedes Protein eine hohe Variabilität besitzt. Die Gene sichern durch ihre Kopie die Erblichkeit der Eigenschaften, haben aber auch noch eine zweite Aufgabe, sie kontrollieren die Synthese von Proteinen.47 Somit entsteht in den Organismen Mannig­faltigkeit und Variabilität viel schneller als sie durch die Selektion vernichtet werden kann.

»Gefördert wird das scheinbare Anpassungsdefizit dadurch, daß auch die Wirkung der Selektion durchaus nicht geradlinig und konsequent ist. Das lokale Klima mag in aufeinanderfolgenden Jahren sehr verschieden sein, und hierdurch mögen unter Pflanzen und Tieren einmal diese, ein andermal jene Genotypen leicht bevorzugt werden; aber keiner der Genotypen vermag sich in der für ihn günstigen Zeit gegenüber allen anderen völlig durchzusetzen, mit dem Ergebnis, daß sämtliche genetische Varianten in der Population präsent bleiben. Dasselbe gilt für die wechselhaften und unvorhersagbaren Wirkungen von Parasiten, Räubern und Ressourcen, die sehr stark von der Dichte der betroffenen Population abhängen.«48)

Die genetischen Varianten bleiben also zum großen Teil unerkannt erhalten, sie warten auf »ihre Stunde«, die kommen kann oder auch nicht. Die Natur ist in gewissem Maße »fehlerfreundlich« und bewahrt sich damit einen »Mutationsvorrat«. »Erfolgreich sind Arten und Ökosysteme, die beides haben, Tüchtigkeit und Fehler­freundlichkeit.«49 Durch Mutationen entsteht also ein größere Mannigfaltigkeit im Genotyp (Erbbild eines Lebewesens), aus der je nach Bedarf einzelne Eigenschaften herausgegriffen werden können.

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Andererseits treten die spontanen Änderungen im Erbgut nicht beliebig und grenzenlos auf, sie müssen viel­mehr den System­eigenschaften des betreffenden Organismus entsprechen. Vor allem darf das System des betreffenden Organismus nicht durch eine plötzliche Änderung zusammen­brechen, wie die 55. Dahlem-Konferenz 1988 einmütig feststellte.50 Man kann die Evolution durch Mutation sozusagen als »kanalisiert« bezeichnen, wie das Wolfgang Wieser51 tut, der von einer »inneren« und »äußeren« Selektion spricht, wobei jene am Genotypus (dem Chromosomensatz des Lebewesens), diese am Phänotypus (dem Erscheinungsbild) des Lebewesens ansetzt.

Die Evolution des Lebens auf unserem Planeten ist nur möglich geworden, weil die Natur sich an drei Grundgesetze hielt:

1. Sie hält an einmal gefundenen Lebensformen fest (Erblichkeit).
2. Sie besitzt durch die Paarung eine riesige Zahl von Kombinationsmöglichkeiten (Zweigeschlechtlichkeit).
3. Sie versucht spontane Abweichungen, deren Tauglichkeit sich meist als negativ, manchmal als positiv erweist (Mutation).

Voraussetzung für 2. und 3. ist die Ungleichheit der Individuen, die sich miteinander fortpflanzen. Wenn nämlich alle Individuen von Anfang an, gemäß dem Gesetz der Erblichkeit, gleich geblieben wären, dann hätte es nie und nimmer eine Evolution geben können; nur die Abweichungen eröffnen die Möglichkeit dafür. Infolgedessen sind auch die Menschen samt und sonders ungleich. Nur die eineiigen Zwillinge sind gleich; da diese aber stets gleichen Geschlechts sind, können sie sich nicht miteinander fortpflanzen, so daß auch dieser Weg, zu einer absolut einheitlichen Population zu kommen, nicht existiert.

Aufgrund der Ungleichheit kommt es zu Auseinandersetzungen innerhalb der Gattungen, also auch in der des Menschen. Schon das Alte Testament ist voll davon; denn sie waren unvermeidlich — damals wie eh und je und heute.

Der »Kampf ums Dasein« ist allezeit ein Kampf um die Räume, in denen Mittel zum Leben vorhanden sind. Die Luft ist unbegrenzt vorhanden, aber schon das Wasser und noch mehr die fruchtbaren Böden können knapp werden, da ja auch die bewohnbaren Flächen der Erde je nach Klima und Eiszeiten zu- oder abnahmen.

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Die Schwankungen konnten so groß werden, daß sie kleinere oder größere Katastrophen auslösten, bis hin zur Vernichtung ganzer Gattungen. Um deren Verschwinden wird meist keinerlei Aufhebens gemacht, es sei denn, es handle sich um so gewaltige Wesen wie die Dinosaurier. Da wird gerätselt, ob sie wohl infolge des Einschlags riesiger Meteoriten oder gewaltiger Vulkan­ausbrüche, die den Planeten ebenfalls mit Staub und Asche verdunkeln und abkühlen konnten, oder durch Sintfluten untergegangen sind.

Infolge der wiederholten Vernichtung vieler Gattungen hatte der Franzose Georges Cuvier 1796 eine »Katastrophentheorie« aufgestellt, nach der die vernichtete Flora und Fauna mit neuen Arten mehrmals von vorn begonnen habe. Die inzwischen angesammelten Erkenntnisse widerlegen seine Theorie. Der Paläontologe Olivier Rieppel vom Field Museum of Natural History in Chicago formuliert den heutigen Erkenntnis­stand: 

»Evolution ist aus der Sicht der modernen Paläontologie nicht länger ein kontinuierlicher Prozeß der Anpassung und der ständigen ›Perfektion‹ der Lebensformen. Vielmehr scheinen erhöhte Aussterbe­raten die evolutionäre Uhr immer wieder einmal neu gestellt zu haben, ungeachtet der Anpassungs­normen, die bereits erreicht worden waren.«52

Andererseits erleben wir noch heute, daß sich bei günstigen Lebensbedingungen einzelne Arten explosiv vermehren, wie zum Beispiel Heuschrecken, Ratten und Mäuse; doch ihre Überzahl wird stets wieder dezimiert. Gerade in den Savannen kommt es häufig zu Massenvermehrungen bestimmter Arten, von denen dann viele Millionen über die Lande ziehen.53 Daß es im Tierreich auch freiwillige Dezimierungen gibt, dafür wird oft der Todeszug der Lemminge angeführt, dessen Ursachen aber nicht mit Sicherheit bewiesen sind. 

Das Bestreben aller Lebewesen, für soviele Nachkommen wie irgend möglich zu sorgen, scheint durchgehend vorhanden zu sein. Allerdings ist die Zahl der Nachkommen bei großgewichtigen und langlebigen Tieren durch längere Trächtigkeit, den mehr oder weniger begrenzten Wurf und die längere Hilflosigkeit der Jungen von Natur aus kleiner. Trotzdem kann es eine Menschenmutter bis auf mehr als ein Dutzend Nachkommen bringen, was selbst in Europa noch ab und zu vorkommt.

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Langfristig gesehen gab es ein ständiges Kommen und Gehen auf dieser Erde. Eine in die Sackgasse geratene Art hatte kaum eine Chance der Umkehr, vor allem wenn sie sich als wenig wandlungsfähig erwies oder wenn sie sich zu sehr auf eine Lebens- oder Ernährungsweise spezialisiert hatte. Solche Arten, die von bestimmten Pflanzen oder Tieren oder sogar nur von einer Art von Wirtstieren abhängig wurden, blieben an deren Schicksal gekettet. Insofern erreichte der Mensch als Allesfresser mit großer Beweglichkeit und klimatischer Anpassungsfähigkeit von vornherein beträchtliche Vorteile.

Die Zahl der heute lebenden Arten wird höchst unterschiedlich angegeben. Die Schätzungen schwanken zwischen drei und 30 Millionen, ja sogar noch darüber. 80 Prozent aller Tierarten stellen die Insekten, von denen wieder 40 Prozent Käfer sind. Da allein 330.000 Käferarten erkannt und beschrieben worden sind, ihre Gesamtzahl aber sicher über 400.000 liegt, muß die Zahl der Insekten mehr als eine Million betragen.54  Terry L. Erwin kommt durch Hochrechnungen auf 30 Millionen Arten.55 Die Zahl der bisher bekannten Pflanzen­arten liegt bei 400.000.56  Von den Bakterienarten — schätzt man — seien bisher nur 20 Prozent nachgewiesen.57

Die meisten unerforschten Tiere leben in den Tropen, ihre Verflechtung untereinander ist noch weniger erforscht. Da nicht einmal die Zahl der gegenwärtig existierenden Arten annähernd ermittelt werden kann, sollten wir bei Spekulationen über die Anzahl der Arten, die jemals gelebt haben, vorsichtig sein. Hier gibt es phantastische Behauptungen, denen es an Beweisen mangelt. Immerhin waren die klimatischen Verhältnisse in den letzten Millionen Jahren günstig, so daß sich die Lebensformen — bevor der Mensch auftrat — ziemlich ungestört entfalten konnten. Darum wird die Zahl der gleichzeitig lebenden Arten kaum jemals sehr viel höher gewesen sein als beim Auftreten des Menschen. Der genannte Terry Erwin meint, daß sich das statistische Mittel der Lebensdauer von Gattungen zwischen sieben Millionen Jahren in früherer Zeit und 15 Millionen Jahren in der Erdneuzeit bewegt hat.57

Eine beträchtliche Anzahl von Arten hat sich über Hunderte von Millionen Jahren unverändert erhalten. Dazu zählen primitive Einzeller, der schon genannte Quastenflosser, aber vor allem Insektenarten. Von denen wollen wir einige höchst interessante Sonderfälle etwas näher betrachten, da sie menschenähnliche Gesell­schafts­formen entwickelt und über hundert Millionen Jahre beibehalten haben.

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Die Bienen sind darunter wohl die bekanntesten, da der Mensch sie schon sehr früh in seinen Dienst genommen und ihre Lebens­weise studiert hat. Die Bienenkönigin regiert ganz allein ihr Volk und legt die Eier der Nachkommen. Ihre weiblichen Kinder sind die honigsammelnden Arbeitsbienen und ihre männlichen die Drohnen. Da die Drohnen aus unbefruchteten Eiern entstehen, sind diese genetische Duplikate ihrer Mutter. Da die Königin im Laufe ihres Lebens nur von acht bis zehn Drohnen je einmal begattet wird, sind auch die Arbeitsbienen, die aus der jeweiligen Befruchtung entstehen, genetisch gleich und alle im Stock Halbgeschwister. Somit sind die Variationsmöglichkeiten der Bienen und in ähnlicher Weise die der Ameisen und Termiten bei der Vererbung weit geringer als die der sich streng paarig fortpflanzenden Lebewesen. Dieser hohe Inzuchtgrad könnte ein Grund dafür sein, daß sich diese in hochorganisierten Staaten lebenden Tierchen über mehr als 100 Millionen Jahre nur gering verändert haben.

Die Ameisen, Bienen und Termiten zeigen eine unglaubliche Beständigkeit, hatten aber weit geringere Chancen zur Evolution. Dagegen hatten die sich streng zu zweit paarenden Lebewesen alle Chancen zur Evolution, die wohl bei keinem so ausgeschöpft worden sind wie beim Menschen — doch dafür fehlt ihm die genetische Beständigkeit. Infolgedessen ist der Mensch das variations­reichste und unberechenbarste Lebewesen, was sich besonders in seinen geistigen Leistungen zeigt.

Die Ameisen leben schon länger als 100 Millionen Jahre in perfekt organisierten Massengesellschaften, so wie der Mensch erst in der historischen Zeit. An der Spitze jedes Staates steht eine Königin, und in ihm herrscht Arbeitsteilung. Diese winzigen Tiere besitzen eine erstaunliche Körperkraft; sie können das Zehnfache ihres Eigengewichts tragen. Durch Kooperationen, an denen sich bis zu 100 Tiere beteiligen, können sie zum Beispiel einen Wurm transportieren, der 10.000 Mal schwerer ist als eine Ameise.58 Ameisen der amerikan­ischen Subtropen betreiben Pilzzucht. Sie schaffen frische Pflanzenteile in ein Nestgewölbe, wo diese von Arbeiterinnen zerkleinert, enzymatisch aufgeschlossen, gedüngt und mit einem spezifischen Pilz geimpft werden.

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Weitere Zugaben bewirken, daß die Pilze zur optimalen Nahrung gedeihen. — Forschungen des Smithsonian Tropical Research Institute in Panama ergaben, daß kleine Ameisen sich auf ihre größeren Artgenossen setzen, um »mitzureisen«, selbst wenn diese größere Blätter schleppen. Das tun sie nicht aus Bequemlichkeit, sondern um die Buckelfliege abzuwehren; denn diese versucht gerade der lastentragenden Arbeiterin ihr Ei zwischen Kiefer und Kopf abzulegen, dessen Larve später die Ameise tötet. Die aufsitzenden oder mitlaufenden kleinen Schwestern wehren die Buckelfliege energisch ab. Man kann also von einer »Leibwache« für die Arbeiterinnen sprechen.59 

Es gibt auch Ameisenarten, die sich Sklaven aus anderen Völkern erbeuten. Durch Versprühen chemischer Substanzen schlagen sie deren Arbeiterinnen in die Flucht, um deren Puppen zu rauben, die sie heran­wachsen lassen, damit diese die mühseligen Arbeiten wie Nestbau, Pflege der Brut, Besorgung der Nahrung und Entsorgung des Mülls verrichten.60 — Ameisenvölker in den südostasiatischen Regenwäldern halten sich Herden von Schildläusen auf jungen Baum- und Sträuchertrieben oder Blüten und Früchten, von deren Säften sich die Läuse nähren. Und die Ameisen leben vom nährstoffhaltigen Kot ihrer Herden. Bei einer Störung ergreifen die Ameisen ihre Läuse häufchenweise, um sie wegzutransportieren, worauf die Läuse schon eingespielt sind, denn sie unterstützen den Vorgang, statt sich zu wehren. In ihren eigenen Nestern unterhalten die Ameisen »Geburtsstationen« für Läusemütter, die dort durch parthenogenetische, also ungeschlechtliche Fortpflanzung ihre Jungen zur Welt bringen. 

Diese Ameisen verhalten sich wie Nomaden, denn sie ziehen mit dem ganzen Volk (ca. 10.000 Ameisen) samt Brut und Königin weiter, um ihren Läuseherden neue Weideplätze zu bieten. Sie bauen keine Behausung, sondern bilden aus ihren Leibern einen Klumpen, in dessen Innern die Königin mit ihren Läusen lagert. In ähnlicher Weise schirmen sie auch ihre Läuse gegen tropische Sturzregen ab. Wenn diese Symbiose gewaltsam zerstört wird, stirbt das Ameisenvolk in einigen Tagen, und die Läuse werden in wenigen Stunden Beute ihrer Feinde, vor denen sie die Ameisen schützten.61

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Die Lebensweise der Ameisen, von denen es schätzungsweise 8800 Arten gibt, dürfte 150 Millionen Jahre überdauert haben.61 Die Ameisen zählen zu den dauerhaftesten Gattungen auf dieser Erde. Sie konnten offensichtlich solch unvorstellbare Zeiträume überstehen, weil sie ihre einmal gefundene Lebensform unverändert beibehalten haben. Wie bei den Termiten und Bienen stammt jeweils das ganze Volk von einer Königin ab. Darum konnte es trotz Zwei­geschlecht­lichkeit nicht zu der genetischen Vielfalt der Säugetiere kommen. Und als sehr kleine Tierchen fanden sie auch bei extrem wechselnder Flora und Fauna stets genügend Nischen, um zu überleben.

Ein den Ameisen ähnliches Sozialverhalten zeigt ein Säugetier mit dem Namen Nacktmull, das erst 1976 entdeckt wurde.62

Die Termiten haben weitgehend das gleiche Staatswesen wie Ameisen und Bienen. Eine Besonderheit ist höchst interessant: Ihre Soldaten produzieren giftige Sekrete, die sie auf Angreifer verspritzen. In Brasilien fand man bisher 30 solcher Kamikazearten, bei denen die einzelne Termite explodieren kann, wenn sie den Gegner, zum Beispiel eine Ameise, berührt. Sie hat in ihrem Unterleib ein Sekret, das an der Luft klebrig wird und somit Angreifer wie Verteidiger bewegungsunfähig macht, was für beide den Tod bedeutet.63 Auch die Bienen verfügen über eine »Kriegerkaste«.64

Was also der Mensch erst im 20. Jahrhundert vollbracht hat, die chemische oder biologische Kriegführung, fand die Evolution der Natur bereits vor vielen Millionen Jahren heraus. Überhaupt haben die beschriebenen Insektenarten bereits das vorweggenommen, was der Mensch in den letzten Jahrhunderten auf der Erde geschaffen hat: den straff organisierten arbeitsteiligen Massenstaat. Schon der Historiker Jacob Burckhardt hatte entdeckt, daß diese Tierstaaten vollkommener sind als die Menschenstaaten, aber ihre Konsequenz ist die Unfreiheit. »Die einzelne Ameise funktioniert nur als Teil eines Staates, welcher als ein Leib aufzufassen ist.«65

 

Die Lebewesen behalten offensichtlich das, was sich die Generationen ihrer Vorfahren im Laufe der Jahrtausende und Jahrmillionen angeeignet haben, in ihrem genetischen »Gedächtnis«. Was überlebens­wichtig ist, bleibt dort gespeichert bis hin zum kompliziertesten Lebewesen, dem Menschen.

Nach der Vereinigung von Ei und Samenzelle durchläuft der Fötus auch noch im menschlichen Mutterleib in neun Monaten alle Stadien der Evolution, die das Leben in mehr als drei Milliarden Jahren durchlaufen hat. Und ohne daß wir das »wissen«, fließt in uns auch der Strom der unbewußten Erinnerungen. Sie sind es, die dem Fisch sagen, wie er schwimmen muß, dem Vogel, wie er fliegen, sich paaren und ein Nest bauen muß, sowie dem Fohlen, wie es Minuten nach der Geburt auf vier Beinen gehen muß. Alle Tiere und Pflanzen wachsen und handeln nach ihrem in den Genen gespeicherten Gedächtnis, das in unzähligen Generationen angereichert worden ist. Und für alle Zeiten gilt: 

»Die höher entwickelten Lebensstufen bestehen nur, weil sie sich auf die vorhergehenden stützen können: sie folgen auf sie und sind von ihnen abhängig. — Aus diesem Grunde kann der Begriff Fortschritt nur mit Vorbehalt auf die Evolution des Lebens angewendet werden, so daß er beinahe seinen Sinn verliert. Damit ein Lebensbereich sich über den anderen erheben kann, muß erst einmal dieser auf seiner eigenen Stufe Bestand haben und dann jenen stützen... 

Das am höchsten entwickelte Lebewesen, der Mensch, kann nur leben, weil neben ihm die ältesten, aber auch effizientesten Lebensformen weiter­bestehen, weil die weniger entwickelte Pflanzenwelt Leistungen vollbringt, die den höher entwickelten Säugetieren versagt sind. Wenn die letzteren einmalige und völlig neue Fähigkeiten zu entwickeln vermochten, so nur, weil im Laufe von mehr als drei Milliarden Jahren die früheren mit den späteren Lebensformen zusammenblieben. — Das Leben hat auf seine Weise die Arbeitsteilung eingeführt und gleichzeitig als absolutes Gesetz die Inter­dependenz seiner Bereiche eingerichtet.« 

Diese glänzende Definition entnehme ich dem Buch <Die veruntreute Erde> des französischen Wissen­schaftlers und Politikers Maurice Blin.66) Schon Darwin hatte sich einmal notiert, daß es absurd sei, von <höheren> und <tieferen> Lebensformen zu sprechen, berichtet Rieppel und kommt zu dem Schluß: »Die Natur als solche kennt keinen Fortschritt, auch keinen Sinn und noch weniger eine Verantwortung.«67  Er zitiert dann den Wissen­schafts­historiker William Provine: »Das Universum kümmert sich nicht um uns ... und weckt keine begründete Hoffnung auf zukünftige Sorge um uns.«68

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   www.detopia.de    Literatur  (402)    ^^^^ 

Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992