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  1. Aus der Alltagswelt  

 

 

Identitäten Anno 1997

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An einem gewöhnlichen Herbstabend spazierten Haci, Gül und ich durch Berlin-Kreuzberg. Gül hielt eine Zigarettenschachtel in der Hand, was einen Radfahrer dazu verleitet hatte anzuhalten, um in einer südländischen Spontaneität zu fragen: 
»Kann ich dir zwei Zigaretten für eine Mark abkaufen?«
Gül wunderte sich über das großzügige Angebot und vergewisserte sich: »Für eine Mark?«
Worauf die lapidare Antwort fiel: »Ja.«
»Also gut, bitte schön«, und das Geschäft war gemacht.

Da Haci mit Fleisch und Blut in die Psychologie übergegangen ist, wunderte er sich nicht minder über das irrationale Kaufverhalten des Radfahrers und fragte diesen: »Warum sparst du dir nicht noch drei Mark, um dafür dann eine ganze Packung Zigaretten zu kaufen? Für vier Mark aus dem nächsten Automaten 20 Zigaretten zu bekommen ist doch viel besser als zwei für eine Mark.«
»Ach«, sagte der junge Radfahrer unbekümmert, »wer weiß, was nachher ist?!« Daraufhin stieg er vergnügt auf sein Fahrrad, grüßte noch einmal freundlich und fuhr davon.

Haci, ein Türke, der seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebt, schaute erstaunt drein und bemerkte: »So unbekümmert in den Tag hineinleben kann sonst nur ein Südländer, etwa ein Türke.« Daran schloß ich an: »Alles sofort rational zu erfassen und zu analysieren ist hingegen typisch deutsch.« Beinahe gleichzeitig ertönte es: »Wahrscheinlich haben in Deutschland Türken und Deutsche ihre Rollen getauscht.«

Die passende Theorie zu diesem Phänomen hatten wir auch gleich parat. Haci wußte zu berichten: »Schon vor 30 Jahren prognostizierte ein Wiener Soziologe, daß die Türken die besseren Deutschen werden würden und die Deutschen die besseren Türken. Denn viele Deutsche verdrängen nach dem Holocaust ihre deutsche Identität und nehmen lieber jene ihrer türkischen Mitbürger an. Und die türkischen Mitbürger versuchen, als Deutsche akzeptiert zu werden, wozu sie deutscher sein müssen als die Deutschen.«

Das klang in meinen Ohren plausibel. Was die Deutschen angeht, so fiel mir ein analoger Fall ein, der die Tendenz zur Selbst­aufgabe der deutschen Identität unterstreicht: In einer Vorlesung über Martin Heideggers Philosophie, den ein amerikanischer Professor an der Universität in Duisburg hielt, drehte ein deutscher Anglist dem amerikanischen Referenten die Worte im Munde herum, um anschließend selbstgerecht, mit hinter dem Kopf geschlagenen Händen stolz herauszuposaunen: »Nun sind Sie der Deutsche und ich der Amerikaner.« Nachdem es dem Anglisten gelungen zu sein schien, sich seiner deutschen Identität zu entledigen, war ihm sichtlich ein Stein vom Herzen gefallen. Er genoß es ebenso sichtbar, ab sofort den coolen Amerikaner verkörpern zu dürfen.

Kommen wir zum Türken zurück und bleiben bei Martin Heidegger, so scheinen beide, wie ich gegenüber Haci feststellte, in einer ähnlichen Beziehung zu stehen wie in den 20er Jahren viele Juden zu Heidegger. »Ich denke etwa an Hannah Arendt«, so führte ich aus, »die - wahrhaft kein Einzelfall - besonders eifrig Vorlesungen des per se deutschen Philosophen Martin Heidegger besuchte.«

Wie sich später herausstellte, schien Haci nicht minder fleißig Vorlesungen über Martin Heidegger besucht zu haben. Denn Haci erzählte mir sodann in einer Kreuzberger Kneipe leidenschaftlich viel über Heideggers Fundamental-Ontologie. Doch der deutschen Philosophie aus Hacis Mund nicht genug, war es mein Part, die Ursprünge der abendländischen Kultur in Alt-Anatolien auszumachen. 

Glücklicherweise fielen weder Haci noch ich selbstgefällig in die Stuhllehne zurück, um uns an unserer je neuen Identität zu ergötzen. Vielmehr lachten wir lange and ausgiebig über diesen unbeabsichtigten Rollentausch im Verwirrspiel um die deutsch-türkische Identität.

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Linke Lebenslügen — Über das geistige Klima: Kostproben aus dem Alltag des Jahres 1999

 

 

Düsseldorf, im Oktober 1999. Im Schaufenster einer Buchhandlung wurde das Buch <Rot-Grün. Eine erste Bilanz> angepriesen. Da griff ich spontan zu. Als ich an der Kasse angekommen war, sagte mir der etwas alternativ aussehende Verkäufer mit einem Blick, als wäre ich sein Gesinnungsgenosse: »Der Pranti [so der Name des Verfassers], der ist wirklich gut. Der schreibt immer in der <Süddeutschen Zeitung>.« - »Na, toll, da weißt du direkt, was drin steht«, dachte ich mir und nahm das Rausgeld entgegen.

So war es denn auch: Pranti suggeriert mit seinen Ausführungen, daß Rot-Grün eigentlich eine tolle Utopie gewesen sei. Leider habe es aber bei der inhaltlichen Umsetzung dieser Utopie gehapert, weil die verantwortlichen Politiker zu sehr schwächelten. In Sachen doppelte Staatsbürgerschaft — die Ausländerfrage ist Prantls Lieblingsthema — sei immerhin ein »Schritt in die richtige Richtung« getan worden. Dieser Schritt bestehe darin, daß zumindest hier geborene Ausländerkinder in naher Zukunft einen zweiten Paß (den deutschen) erhalten und sich dann mit 23 Jahren für einen von beiden entscheiden können (wobei ungeklärt bleibt, ob der deutsche Paß verfassungsrechtlich wieder aberkannt werden kann, wenn der oder die Betreffende keine Entscheidung fällt). 

Nach Pranti geht es heute darum, den Ausländern mit einer generellen doppelten Staatsbürgerschaft in diesem Land die Hand zu reichen. Das klingt dann immer so, als gäbe es für Ausländer nicht schon heute die Möglichkeit, einen deutschen Paß zu erhalten. Pranti spricht vom Paß zwar als dem »edelsten Teil eines Menschen«. Doch dieser soll dann in Deutschland wie Inflationsgeld an Ausländer verteilt werden. Die Frage, was Ausländer für den Erhalt eines deutschen Passes erbringen sollen, wird vom Autor gar nicht erst gestellt. Dabei kann ein klares und ausschließliches Bekenntnis zu Deutschland doch nicht zu viel verlangt sein, wenn jemand als Deutscher anerkannt werden will.

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Da höre ich schon den Zwischenruf meines türkischen Busenfreundes A. Der meinte zu Beginn des Jahres, die Türken seien nun einmal sehr patriotisch, die wollten halt ihre Nationalität nicht aufgeben. »Ist ja toll«, dachte ich mir da. Die Deutschen sollen ihren Patriotismus gänzlich verwerfen, damit Türken dann den ihren einführen. Entsprechend bescheinigte mir mein türkischer Kumpel, endlich die richtige Einsicht bekundet zu haben, als ich äußerte, die Deutschen seien ein seltsames Volk. Als wäre damit gesagt, daß alles, was deutsch ist, verworfen werden sollte und durch den Patriotismus anderer Völker ersetzt gehört. Jedes Volk hat doch seine Eigenart, und diese zur Krankheit zu erklären, empfinde ich dann doch als eine etwas einseitige Rechnung. Auch Prandl bläst in dieses Horn, wenn er immer nur fragt, was die Deutschen alles an Integrationsleistungen erbringen sollen. So macht man die Rechnung ohne den Wirt bzw. Wähler. Daran rüttelt auch Prantls Wählerschelte nichts.

Eines können wir Deutschen, auch Heribert Prandl, von unseren türkischen Landsleuten aber durchaus lernen: die eigenen nationalen Interessen zu vertreten.

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Linke Lebenslügen? 

Ja, derer gibt es noch reichlich. Im August 1999 war es, daß ich einen bekennenden Alt-68er auf eine Party geladen hatte. Die Musik machte er an einer Stelle als aus den 20er oder 30er Jahren stammend aus. Sein Gesichtsausdruck ließ Empörung erkennen. Bei der Information, es handle sich um die (teils jüdische) Gruppe »Comedien Harmonists«, brachte er sofort wieder Begeisterung zum Ausdruck. So kommt es heute oftmals nicht darauf an, was gesungen wird, sondern wer singt. Genauso zählt heute nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer spricht.

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Was geht da vor sich? 

Jene, die durch die Schule der 68er-Bewegung gegangen sind, folgen einem Opus Dei: Ein hehrer moralischer Maßstab wird wie von Gott gegeben angenommen und an die Äußerung eines jeden angelegt. Hält man sich als freier Bürger dieses Landes nicht an die vorgegebenen Raster in Sprache und Denkrichtung, bemerken die Gesinnungswächter sofort einen Verstoß und mahnen mit erboster Miene und gehobenem Zeigefinger zur Rechenschaft. So erstickt, wenn man nicht aufpaßt, das Denken in einem Wust von Anmerkungen. 

Diese Anmerkungen werden von der moralisierenden Obrigkeit flugs als Schuldeingeständnis ausgelegt. Die betreffenden Tabubrecher vergessen darüber dann allzu leicht, was sie eigentlich selbst sagen wollten. Der Aufforderung nach bedingungsloser Einordnung in die vorgegebene Meinungsschablone wird dann nicht mehr viel entgegengesetzt — außer vielleicht einer unzufriedenen Miene. Wenn man sich beispielsweise als nicht politisch links stehend outet und womöglich konservativ nennt, ist man schon einer Sonderbehandlung im Ritual der hier skizzierten Maßstabseinpassung gewiß. Und so drucksen viele, die es wagen, noch selbst zu denken, darum herum, das Kind beim Namen zu nennen, wenn sie ihre Meinung öffentlich äußern. 

Während einer Diskussionsveranstaltung über den »Wertkonservatismus« im November diesen Jahres dauerte es denn auch nicht lange, bis jemand die Befürchtung äußerte: »Wenn ich mich mit dem Begriff <wertkonservativ> ohne nähere Erläuterung ausweise [merke: bei linken Gesinnungswächtern], dann gelte ich als neuer Rechter. Bei denen fühle ich mich aber keinesfalls zu Hause.« 

Er wolle auch niemandem Gelegenheit geben, ihn mit einem solchen Stigma zu behaften.

 

Erhard Eppler, der den Begriff »wertkonservativ« in den 70er Jahren geprägt hatte und in der Diskussionsrunde saß, riet dem Mann, gegebenenfalls hinzuzufügen, daß er ja ein »linker Wertkonservativer« sei. Dann sei das Problem vom Tisch. So einfach ist das also: Wenn man links ist, darf man seine Meinung sagen, andernfalls gilt man als gefährlich und hat möglichst zu schwei-

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