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 17. Januar 2000, abends

Guha-1993

 

25-43

Das Glötschnertal wird aufgegeben. Zum einen ist nichts mehr zu retten, zum anderen ist das Risiko für die Rettungsmannschaften zu groß geworden. Die Berge beginnen offenbar zu kreißen, aber sie gebären Unheil. Morgen in Salzburg und im Wiener Stefansdom große Trauergottesdienste. In Hamburg haben sie diese fromme Geste vergessen.

Sylvies Krankheit hält mich in der Realität fest und verhindert, daß ich mich einer depressiven Stimmung überlassen kann. Nächste Woche wird sie in ein Sanatorium östlich von Zilina kommen. Die Luft in der slowakischen Hohen Tatra soll heilkräftig sein. Keine Zauberberge ...

Glaube zu ahnen, was Tina so bedrückt: Schuldgefühl gegenüber Sylvie. Ich empfinde es selbst so. War es notwendig, dieses Kind in die Welt zu setzen? Haben wir nicht lange das Für und Wider diskutiert, haben wir denn nicht die Risiken gekannt? Haben wir gegenüber dieser so ganz neuen – modernen – Verantwortung versagt?

Warum keine pränatale Genomanalyse? Wir wußten doch, daß jedes zweite Kind mit einer Allergie zur Welt kommt, vom Heuschnupfen bis zum Asthma, von der Hautrötung bis zur Neurodermitis. Krankheit als Normalfall am Beginn des neuen Jahrtausends. Und doch, um nichts in der Welt möchte ich Sylvie missen. Mich peinigt ihre Krankheit mehr als sie, aber gleichzeitig hilft sie mir, der ich ihr so wenig helfen kann, mit meinen Ängsten fertig zu werden.

19. Januar 2000

Alarm in Südniedersachsen und Sachsen-Anhalt! Die Wasserwerke können vor allem die Schwermetalle nicht mehr vollständig aus dem Trinkwasser filtern. Gefährliche Rückstände sind unvermeidlich. Trinkwassersperre in den gefährdeten Regionen, obwohl die Landesregierungen allzugern auch diesmal noch die Grenzwerte heraufgesetzt hätten, um sich den Ärger jetzt zu ersparen. Die Bevölkerung von Göttingen und Umgebung wird vorerst über den Einzelhandel und das Technische Hilfswerk versorgt.

Wasser, das Lebensmittel schlechthin. Alles Leben entstand aus dem Wasser und erhält sich durch das Wasser. Vergiftet. Dieser Tatbestand ist mehr als ein ethisches Problem, er ist ein pathologisches. 

Nur: Wenn eine Gesellschaft als Kollektiv pathologisch handelt, läßt sich das Pathologische nicht mehr vermitteln. Ein Geisteskranker vermag vielleicht noch einzusehen, daß er geisteskrank ist. Die geisteskranken Bewohner einer Stadt schon nicht, die Menschheit erst recht nicht. Sie wird ihre Krankheit als Normalfall, also als Gesundheit betrachten. Therapie daher zwecklos. Der Therapeut müßte von außerhalb der Erde kommen. Offenbar wußten dies unsere Altvorderen und legten diese Erwartung ihren Kosmogonien und Religionen zugrunde. Geholfen hat freilich keiner dieser extraterrestrischen Therapeuten.

Die Landesregierungen in Hannover und Magdeburg erlassen für dieses Frühjahr ein generelles Verbot für den Einsatz von Düngemitteln. Dafür Entschädigung der Bauern für eventuelle Ernteausfälle. Proteste der Großchemie. Bayer und Hoechst sprechen wie üblich von »unsachgemäßem Umgang« mit den Chemikalien. Auch die Gewerkschaft zeigt »Unverständnis«.

Auch dieser Maßnahme dürfte das Etikett »zu spät« anhaften, wie fast allen in den letzten Jahren. Die Zeitspanne der Grundwasser­kreisläufe beträgt zwischen 45 und 350 Jahren, wahrscheinlich sogar 750 Jahre. Das Wasser wurde also bereits vor wenigstens 45 Jahren vergiftet, ergo werden die Maßnahmen erst in 45 Jahren wirksam, wenn nicht erst in 750.

24. Januar 2000

Seit Neujahr ununterbrochen Regen. Dabei feuchtwarm und schwül. Akuter Notstand, Hochwasseralarm. Im Gegensatz zum Norden säuft Süddeutschland allmählich ab. Die Gletscher schmelzen rapide dahin. Bei diesen Temperaturen bleibt der Schnee erst ab 2200 Metern liegen. Das Trinkwasser ist gefährdet. In Regensburg reicht der Donaupegel bis zum Domplatz. Neuer Rekord.

26/27

Die Steinerne Brücke mußte gesprengt werden, das achte Weltwunder! – weil sie das Wasser staut. In Frankfurt ist Sachsenhausen überflutet, der Main kriecht zum Römer hinauf. In Wiesbaden alle Bahndämme vor dem Hauptbahnhof unterspült. Zugverkehr eingestellt. Auch die Strecken beiderseits des Rheins gesperrt. Der Main bildet von Hoechst bis zur Mündung einen riesigen See. Mit dem Pkw nach Frankfurt zu kommen schier aussichtslos. Der Kollaps der modernen Zivilisation droht allmählich chronisch zu werden.

25. JANUAR 2000, mittags

Die Regierungen Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens verhandeln mit Schweden und Norwegen über den Import von Trinkwasser! Darüber hinaus sollen Trinkwasserstauseen gebaut werden nach dem Vorbild der Rachel-Talsperre im Bayerischen Wald.

In der Po-Ebene soll es noch katastrophaler sein. Die überlaufende Riesenkloake vergiftet den fruchtbarsten Teil Italiens. In die Speisekammer des Südens schütten die Mailänder und Turiner ihren immer noch ungeklärten, giftigen Dreck.

Wolkenbrüche in den Alpen, Blitz und Donner. Ein bislang unbekanntes »Naturschauspiel«. Ein Schauspiel nur?

26. JANUAR 2000, abends

Wieder ein Erdrutsch, diesmal irgendwo im Wallis. Die künstlichen Verbauungen halten das Erdreich an den Hängen nicht mehr. Sie haben eben keine Wurzeln wie Bäume. Die aber haben sich rar gemacht, abgestorben oder im Begriff, es zu tun. Die »Substitution des Großgrüns im Alpenraum durch geeignete Verbauungsmaßnahmen« – die Sprache entlarvt schon den Schwachsinn – ist gescheitert.

Tina mit Sylvie gut in Zilina angekommen. Andreas scheint gar nicht sonderlich betrübt zu sein, ohne Mutter und Schwester auskommen zu müssen, denn jetzt hat er mich mit Beschlag belegt. Das ist natürlich eine spannende Zeit für ihn. Mir wird bewußt, wie wenig ich mich um ihn gekümmert habe. Ich werde den Urlaub wohl verlängern müssen.

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28. JANUAR 2000, mittags

In der Nacht hat es begonnen: Fast stündlich mehrere Erdrutsche in der gesamten Alpenregion. Wie eine Verschwörung unheimlicher Gewalten, Schlag auf Schlag. Ganze Täler sind eingeebnet, Städte und Dörfer unter Schlamm und Geröllmassen begraben. Alle Verbindungen abgerissen. Hunderttausende vermißt, kaum ein Lebenszeichen, wahrscheinlich tot. Unausdenkbar! Die Erdlawinen bilden rasch wachsende Stauseen, in die sich reißende Flüsse stürzen. Die werden alles mit sich fortspülen. Italien, Österreich, Frankreich, die Schweiz und Deutschland mobilisieren ihre Streitkräfte für die Katastrophenhilfe.

Der Bundeskanzler spricht von der größten Katastrophe, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht habe. Vermutlich weiß er gar nicht, wie recht er hat: Es ist eine Kriegserklärung. Die Natur hat uns ihrerseits den Krieg erklärt, den wir seit Jahrzehnten gegen sie führen. Ihre Geduld ist am Ende, sie will nicht mehr. Ich muß mir die Natur als handelnde Person vorstellen, wie Lovelock das empfiehlt. Die zur Furie gewordene Mutter Gaia.

Irgendwie tröstet es mich, daß wir uns mit einem Gegner konfrontiert sehen statt mit anonymen, blinden Gewalten. Ein Gegner wäre zu versöhnen, könnte vielleicht Mitleid empfinden, wenn wir Einsicht zeigten und Buße täten und umkehrten. Wahrscheinlich ist diese Vorstellung als Archetypus der Ursprung des Übels: die Natur, die Erde als Mutter, die der heranwachsende pubertierende Sohn zu vergewaltigen trachtet. Wenn er ein Mann werden will, muß er sich von ihr lösen, muß er sie verstoßen.

Krisensitzung der EU. Im Fernsehen geschockte Menschen, die vor Entsetzen nur wimmern, unfähig eines Wortes. Sie würgen an ihrem Entsetzen. Und dann die aufgerissenen Bergflanken, die aufgeschütteten Täler. Und der grauenhafte, stumme Frieden über den Massengräbern vermittelt sich selbst über den Bildschirm. Nichts regt sich dort, totale Ohnmacht. Dumpfe Angst. Verzweiflung. Sogar Wut. Es erfüllt sich der bittere Rest. Dennoch – wie konnte das geschehen? Wie war das möglich?

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Ohne jede Warnung, mit dieser Unerbittlichkeit, mit dieser erbarmungslosen Gewalt? Die bekannten, vertraut gewordenen hilflosen Fragen, die die Angst vor der Antwort kaschieren.

Zum ersten Mal sehe ich Kollegen bei der Arbeit, die ihre Verstörtheit nicht verbergen, abgebrühte Journalisten, die sich sonst schon mal für einen Unglücksfall oder eine Katastrophe mit einem Kalauer bedanken, weil er ihnen einen Aufmacher beschert.

Sonderausgabe der Zeitung. Das Entsetzliche wird dokumentiert, es verkauft sich auch gut. Clevere Anzeigenkunden berappen auf die Schnelle gerne den dreifachen Preis. Die Menschen hat es auf die Straße getrieben. Sie stehen im Nieselregen vor der Hauptwache dicht beieinander, als suchten sie sich durch ihre Nähe zu vergewissern, daß sie noch da sind. Wie eine Herde verängstigter Tiere drängen sie sich aneinander. Eine instinktive Gewißheit, daß auch sie betroffen sind.

Das Bundeskabinett hat alle Karnevals- und Faschingsveranstaltungen untersagt. Narretei im Tollhaus verboten. Paradox.

 

28. JANUAR 2000, abends

Todmüde nach Hause gefahren. In der S-Bahn verstörte Menschen, hilfesuchende Blicke, auf die niemand antwortete. Aus dem Main bei Hochheim, der sich selbst in einem See ertränkt hat, ragten die Weiden und Eschen ins Graue und riefen um Rettung vor dem Ertrinken.

Die Herumtoberei von Andreas und seiner beiden Freunde zerrt an meinen Nerven. Dieses Noch-nicht-begreifen-Können der Kinder! Die Angst von Kindern bleibt uns meist verborgen, weil wir uns nicht mehr erinnern können oder wollen. Sie wissen mehr und haben umfassender begriffen, als wir Erwachsenen ahnen. War es mit mir nicht genauso? Hat er mich nicht erst vorgestern gefragt, ob auch die Kinder im Glötschnertal sterben mußten, so wie die Erwachsenen? Es war wohl eine hypothetische Frage, denn natürlich kennt er die Antwort. Der Bengel bekommt alles mit. Die alte Frage, ob und wie lange man Kinder von den Brutalitäten der Wirklichkeit fernhalten soll. In der Dritten Welt gibt es keine Wahl der Antworten, dort hungern die Kinder schon als Föten im Mutterleib, und das Sterben ist ihnen so vertraut wie das Leben.

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28. JANUAR 2000, Mitternacht

Meine Hände zittern vor Übelkeit und Angst. Die Wahrnehmung schmerzhaft sensibilisiert. Lastende Stille, stumm schreien die Bücher in den Regalen. Durch die Schwärze der Fenster dringt alptraumhafte Fremdheit. Die Bäume, die Wolken, der Regen – drohend, feindlich, abweisend. Sie kreisen uns ein, sie wollen uns vernichten, ausspeien, auswerfen.

 

30. JANUAR 2000

Die redaktionelle Routine läßt uns im Stich. Das geht über unsere Kräfte! In der Phantasie ließe sich jede Katastrophe beschreiben, das Jüngste Gericht, der Weltuntergang, die Apokalypse, der Atomkrieg. Doch vor der eingetretenen Realität versagen die Begriffe, werden inhaltsleere Worte. Diese Erbarmungslosigkeit der Totalität! Das Plötzliche dieses Ereignisses, das Übermaß an Gewalt, die Vollkommenheit des Resultats.

Zwar hat es Vorwarnungen gegeben – das Glötschnertal, das Wallis, die abgestorbenen Bergwälder, die tagelangen Wolkenbrüche –, aber doch keinen langwierigen Erosionsprozeß, jedenfalls keinen unmittelbar sichtbaren. Und dann dieser Schlag und diese Ruhe, fast zynische Stille. Der Zynismus dieses Ereignisses liegt in seiner gesetzeshaften Konsequenz. Die als unbelebt gedachte Natur, ein System von Regelkreisläufen, ohne Bewußtsein und ohne Zweck, beginnt mit dem Menschen plötzlich zu kommunizieren, als sei sie ein riesiges Lebewesen, dessen Geduld nun am Ende ist. Das Hohe Gericht hat lange genug Nachsicht geübt, jetzt ist die Stunde des Scharfrichters gekommen. Ist dies die Botschaft? Sollte diese Katastrophe so gedeutet werden? Wäre diese Botschaft so zu vermitteln? So wie Sodom und Gomorrah, die scheinbar von Feuer und Erdbeben, von Naturgewalten, verwüstet wurden.

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Und doch war es Gott – ein gedachtes Individuum –, der sie vernichtet hat. In dieser Vernichtung durch eine vorstellbare Person liegt noch etwas Tröstliches. Der Gedanke, Opfer von unabänderlichen, abstrakten Gesetzmäßigkeiten und »Prozessen« zu werden, ist dagegen unerträglich. Daher dachten sie sich auch den Tod noch als Person, zwar als schreckliches Gerippe, aber immer noch erträglicher als die Vorstellung einer unerbittlichen Gesetzmäßigkeit.

Bin ich so geschockt, daß ich sentimental werde? Warum formuliere ich nur Fragen, obwohl die Antworten bekannt sind? Vermutlich, weil die Antwort wie der Anblick des Medusenhauptes wäre.

 

1. FEBRUAR 2000

Hektischer Aktionismus, ohne daß das Ausmaß der Katastrophe sich begreifen ließe. Daher auch keine koordinierten Maßnahmen. Über eine Million Soldaten und Freiwillige sind mobilisiert. Aus ganz Europa rollt schweres Räumgerät in die Alpenregion. Verhängung des Notstandes. Die Möglichkeiten der Hilfe sind niederschmetternd gering. Die Straßen fortgespült, aufgerissen, zugeschüttet. Nur an den Randzonen können die Bagger eingesetzt werden, in Salzburg, Garmisch, Oberstdorf, Sonthofen. In der Tiefe der Täler bleiben nur Schaufel und Hacke. Aussichtslos, als wollte man mit Hammer und Meißel die Zugspitze abtragen. St. Anton, St. Moritz, Bad Gastein, Kitzbühel – verschwunden, begraben, von der Erde getilgt. Auf ihren Gräbern landen Hubschrauber mit Soldaten, ausgerüstet mit Schaufel und Pickel und verängstigt wegen der nachrutschenden Hänge. Oberhalb von Brixen sind drei Dörfer nur halb verschüttet. Hilfe wäre für einige noch möglich, die Rettungstrupps arbeiten nur bei laufenden Rotoren der Helikopter.

Die Vereinten Nationen empfehlen ihren Mitgliedern eine vierwöchige Staatstrauer. In Europa werden Fahnen drei Monate lang auf Halbmast gesetzt. Und was dann?

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4. FEBRUAR 2000, mittags

Bisher erst einige hundert Tote geborgen – von wahrscheinlich Hunderttausenden. Millionen? Immer noch Geröll-Lawinen, die Berge kommen nicht zur Ruhe. Das macht die Rettungsversuche vollends hoffnungslos. Ununterbrochener Nieselregen. Das Leichentuch über den Alpentälern besteht aus Geröll, Felsbrocken und Schlamm. Ohnmächtig stehen fünf Industrienationen an dem riesigen Katastrophenort, ohne wirklich helfen zu können. Das schwere Räumgerät ist nutzlos. Wo man es brauchen könnte, versinken die Bagger im Schlamm. Die Soldaten und freiwilligen Helfer frustriert, geschockt, an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Spontane Hilfsangebote aus der ganzen Welt – zwecklos. Für die Verschütteten ist es ohnehin zu spät.

 

4. FEBRUAR 2000, abends

Der lähmende Schock weicht allmählich einer gereizten Stimmung. Die Öffentlichkeit ist aufgebracht. Erste Anzeichen von Panik. Das kann gefährlich werden. Die Angst treibt die Leute auf die Straße. Die Rufe nach Schuldigen und Verantwortlichen werden lauter. Am lautesten das Echo in den Medien. In den zahllosen Schweigemärschen, Demonstrationen, Trauerkundgebungen und Gedenkgottesdiensten der letzten Tage schaukelt sich bedrohliche Aggressivität auf. Irgend jemand muß doch verantwortlich sein. Irgend jemand muß doch dafür haften. Man ruft nach Rechenschaft. Wer es mit Erklärungen versuchte, wäre schon schuldig.

Die Hilflosigkeit der Politiker und Regierungssprecher, der Kirchen und der Presse. Die Sprachlosigkeit ist vielleicht jetzt angebracht. Phrasen, auch als Aufmunterung gedachte, würden die gereizte Stimmung nur verstärken. Naturkatastrophe, Schicksalsschlag, Tragödie – das Pathos hat ohnehin Inflation. 

Natürlich sind alle erschüttert, fassungslos, entsetzt, geschockt. Letztlich fehlen die Worte. Das Zeitalter der totalen Kommunikation.

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Die zermalmende Wucht des Ereignisses verschleiert fürs erste, zum Glück für die Politik und ihre Repräsentanten, daß es sich nicht um eine »Naturkatastrophe« handelt, sondern um eine Zivilisationskatastrophe, um eine vorn Menschen gegen sich selbst inszenierte Tragödie. Sie war mehr als ein Verbrechen, sie entsprang einem großen Irrtum.

Die Natur hat allenfalls auf eine jahrzehntelange Provokation reagiert. An Warnungen, Mahnungen, Beschwörungen hat es nicht gefehlt, seit einem Menschenalter ist dieses Desaster vorhergesagt worden, freilich nicht in diesem Ausmaß und in dieser Plötzlichkeit. Erst die Abholzung der Bergwälder für immer mehr Skipisten und Lifte, dann das verheerende Waldsterben, dann die sich beständig einrichtenden Wärmeperioden, das Abschmelzen der Gletscher, die frühe Schneeschmelze, schließlich der Dauerregen. Das war zuviel. Die fatale Kombination lokaler und globaler Ursachen ließ das Ökonetz der Alpenregionen zusammenbrechen. Erwartet worden war ein langsames Siechen und Reißen, dann wollte man offenbar weitersehen, welche Reparaturmöglichkeiten es gäbe.

Vor 20 Jahren hatte die Internationale Alpenschutz-Kommission vor dem »aggressiven Tourismus« und dem »Teufelskreis des endlosen Wachstums« gewarnt. Der ganzjährig geöffnete Jahrmarkt eines immer variantenreicher werdenden Freizeitsports drohte die letzten unberührten Naturreservate zu erobern. Vor zehn Jahren forderten die Grünen in der Schweiz und in Österreich eine Begrenzung des Massentourismus, um der geschundenen, bis in die letzten Winkel und Höhen zertrampelten Alpenregion eine Atempause zu gönnen. 

»Rummelplatz Alpen«. Das Gewerbe antwortete mit einem Schrei der Empörung über soviel Verantwortungslosigkeit, die politischen Parteien spotteten ob dieser Gefühlsduselei. Die Presse hob den Zeigefinger. Man müsse Augenmaß bewahren und den Umweltschutz nicht auf dem Rücken der Alpenbewohner austragen. Ihnen dürfe man die Existenzgrundlage nicht durch unüberlegten Umweltschutzidealismus entziehen. Verantwortungsethik ist gefragt, keine Gesinnungsethik. Wider die Ethikinflation der Ökoidealisten. Der Natur wird es egal sein.

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4. FEBRUAR 2000, Mitternacht

Bin ratlos, teile diese Ratlosigkeit aber mit jedem, den ich kenne. Eine kollektive Ratlosigkeit hat sich unser bemächtigt. Die uralte anthropologisch-philosophische Weisheit, nichts sei dem Menschen fremder als er sich selbst, wird zu einer konkreten Erfahrung eines jeden einzelnen. Eine Allerweltsweisheit. So muß es sein – der Mensch hat Bibliotheken über sich geschrieben, aber die eine, die wesentlichste Erkenntnis über sich selbst ist ihm nicht zuteil geworden. »Gnothi seauton« war an die Stirnwand des Appollon-Tempels in Delphi gemeißelt. Seither bemühen wir uns vergeblich, uns selbst zu erkennen.

Seit 30 Jahren kennt man die Zahlen und Fakten, weiß um die ökologischen Zusammenhänge. Man kennt auch das Risiko und weiß, daß es jeden Tag größer wird. Allgemeiner Konsens, daß es so nicht mehr lange weitergehen könne, daß eine Kurskorrektur erfolgen müsse. Die Einsichtigen unter den Lobbyisten der Tourismusindustrie hatten bereits begonnen, das große Mea culpa zu bekennen, zumindest in der Vorsaison. Jährliche Waldschadensberichte, Klagen über die Verschlimmerung »der Situation«, Versprechen auf rasche Abhilfe. Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Konferenzen, Computersimulationen, Modelle, Berechnungen, Analysen, Untersuchungen, Statistiken, Enquetekommissionen, Hearings, Talk-Shows, Experten, Zahlen, Daten, Fakten, Prognosen, Warnungen, Demonstrationen.

Und alles für die Katz.

Kollektive Fahrlässigkeit? Blindheit? Unfähigkeit zu Systemveränderungen? Hat die Entwicklung der Industrie­gesellschaften den point of no return erreicht? Sind nicht einmal Reformen mehr möglich? Zeugt sich das System selber fort, und wir nur Handlanger? Eine Halbierung des Bruttosozialproduktes würde uns auf den Lebensstandard von 1975 zurückwerfen. Na und? Haben wir damals nicht komfortabel gelebt? Warum erscheint dieser Gedanke so abwegig? Wir haben in den letzten 30 Jahren soviel produziert und konsumiert wie die Menschheit in den Jahrtausenden der bekannten Geschichte zuvor. Würde die Industriegesellschaft bei »Minuswachstum« kollabieren?

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Oder sind Wohlstandssucht und Profitstreben schon so verinnerlicht, daß der elementare Lebenstrieb der Arterhaltung versagt? Vermutlich hat die technische Zivilisation den angeborenen Lebenstrieb verfremdet durch eine Form des Funktionierens. Wenn Freud recht hat, bedeutet die Schwächung der Lebenstriebe die Stärkung des Todestriebes. Oder aber der Mensch ist ein Irrläufer der Evolution, das Großhirn samt Bewußtsein und Verstand eine Fehlmutation, eine bloße Wucherung, ein Tumor. Tinbergen hat es gesagt, Nietzsche, Arthur Koestler, Max Born. Konrad Lorenz und Rupert Riedl wollen es nicht ausschließen. Fehlmutationen aber rottet die Natur aus.

Vielleicht ist dies die zentrale Erkenntnis zum Verständnis unserer selbst, um die wir uns bisher herum­zudrücken versucht haben? Meinte dies die Inschrift auf dem Appollon-Tempel in Delphi? Dann wäre sie die sadistischste Aufforderung gewesen, die je formuliert worden ist.

Tiana aus Ziliana wieder zurück. Sylvie fehlt uns. In den Karpaten befürchten sie ein ähnliches Desaster wie in den Alpen. Auf mittlere Sicht. Also nicht gleich. Aufschub. Galgenfrist. Wenigstens das.

 

5. FEBRUAR 2000

Evakuierung und Massenflucht aus den Alpenregionen. Die Parlamente in Wien, Berlin, Bern, Rom und Paris beschließen ein EU-einheitliches Noteinquartierungsgesetz. Ab 25 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf werden Zwangseinquartierungen möglich. Alle Bürger in der EU müssen die Flächen ihrer Wohnungen angeben.

12.000 Polizisten schützen das Regierungsviertel in Berlin. Bundespräsident und Regierung, Kirchen und Gewerkschaften rufen zur Besinnung auf. Die Bundesregierung werde zusammen mit den EU-Staaten alles tun, um dem Umweltschutz und der »Sicherung unserer natürlichen Existenzgrundlagen« höchste Priorität des politischen Denkens und Handelns einzuräumen. Eine solche Tragödie (schon wieder diese Verharmlosung!) dürfe und werde sich nicht wiederholen, versichert der Kanzler. Woher er das weiß, wo es doch so einfach wird, Prophet zu sein?

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6. FEBRUAR 2000

Die Politik ist offensichtlich mit dem Schutz der Natur restlos überfordert. Die herkömmlichen intellektuellen und ethischen Voraussetzungen für politisches Handeln reichen nicht mehr aus, sie sind überholt. Politik war immer national, bestenfalls regional orientiert, aber immer am nationalen Interesse. Jetzt müßte sie global denken – und handeln. Die Interessen sind weltweit identisch: überleben, den Planeten erhalten. Ein so alter Grundsatz wie der, daß die Politik die Kunst des Möglichen sei, ist schlicht lebensgefährlich geworden. Politik muß künftig die Kunst des Notwendigen sein. Es muß politisch umgesetzt werden, was für die Fortexistenz der Gattung Mensch notwendig ist. Es geht also um das Sein, nicht um die Modalität, etwa ob und wie wir die Sicherung der Fortexistenz komfortabel gestalten können.

Dazu freilich müßte man verstehen – wieder verstehen lernen –, was die Natur ist. Sie als »unsere Existenzgrundlage« zu bezeichnen, verrät nur wieder einen, wenngleich subtilen, Anthropozentrismus, der die Natur als Zweck setzt um des Menschen willen. Die Natur ist Existenzgrundlage aller Lebewesen, die selber zweckfrei existieren, um ihrer selbst willen. Sich selbst eine Sonderstellung anzumaßen, um über die Natur zu herrschen und für sich auszubeuten, ist das fatalste Mißverständnis der Kultur – und der biblischen Religionen. Dieser epochale Irrtum eint Judentum, Christentum und den Islam. Andreas, das Kind, hat es begriffen – und es erscheint ihm auch vollkommen selbstverständlich – daß der Mutter Natur alle ihre Kinder gleich lieb sind und sie zwischen dem Schmetterling und dem Menschen keinen Unterschied macht. Diese biophilosophische Wahrheit, diese Weisheit, kann er sogar seinen Kinderbüchern entnehmen. Ich selber war nicht imstande, sie ihm zu sagen, weil ich sie selbst erst lernen mußte.
       Eben in den Spätnachrichten: Die Regierungen in Bern, Rom und Wien sind zurückgetreten.

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7. FEBRUAR 2000, abends

Schwere Verwüstungen durch Demonstranten auch in Zürich, Bern, Wien, Mailand und Rom. Die Steinewerfer und Randalierer sind keine Halbstarken, Skinheads oder ausgeflippten Randgruppen aus irgendeiner Szene, sondern es ist der sogenannte brave Bürger, der die Verantwortlichen bisher so gut hat schlafen lassen. Plötzlich hat ihn die Angst gepackt. Der brave Bürger mit Angst aber ist unberechenbar, zu allem fähig, und wenn er nach Verantwortlichen, also Schuldigen sucht, sogar zu einer Revolution. Die Regierungen taten daher gut daran, zurückzutreten und dem Volkszorn ein Opfer zu bringen. Kommenden Donnerstag EU-Gipfel in Paris. Sondersitzung der Vereinten Nationen. Allgemeines Erwachen? Glaube es nicht. Nur Aktivität.

Das Interesse der Lobby und in ihrem Gefolge die Regierungen haben bislang noch jeden Experten aufgeboten, der bereit war, die fast schon zur Gewissheit werdende Klimakatastrophe gesundzubeten. Gekaufte Kreaturen oder regierungsamtliche Helfer, Panik zu vermeiden. Die Presse tat allerdings nichts anderes. Damit wird diese Existenzfrage zu einem wissenschaftlichen Streit nivelliert. Die Experten nehmen dieses unvorstellbar komplexe Gefüge der Natur auseinander, zerteilen es und zergliedern die Teile in Systeme und Subsysteme, ohne das Ganze je zu begreifen. Wirtschaft und Politik rufen dann nach dem Konsens der Wissenschaft und dem letzten Beweis, um eine »verantwortungsvolle« Basis für konkrete Maßnahmen zu haben. Ohne den schlüssigen Beweis sei Abwarten die klügste Reaktion. Dabei wissen sie, daß dieser Konsensus nie zustande kommen wird. Also glauben sie, ein – quasi wissenschaftlich abgesichertes – Alibi fürs Nichtstun zu haben.

Dabei müßte man aber vom Risiko her denken und dem möglichen Ausmaß der irreversiblen Folgen. Aber die technische Zivilisation hat gelernt, mit dem Risiko zu leben. Sie ist selbst ein Risiko. Alle nur denkbaren Risiken sind längst schon in Kauf genommen, aber es sind Einzelrisiken, die je für sich tolerabel erscheinen. Das Risiko der Grundwasserverseuchung, der Luft- und Bodenvergiftung, der vergifteten Lebensmittel.

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Das Risiko des Waldsterbens und des Treibhauseffekts, das Risiko des Straßenverkehrs und des Luftverkehrs, das Risiko der Atomkraftwerke und des Super-GAU. Jeder Zweite hat eine Allergie, der Vierte stirbt an Krebs. Jedes zweite Neugeborene kommt mit einer Krankheit zur Welt, klagt der Deutsche Allergie- und Asthma-Bund. Risiko, Pech gehabt. Nun binden sich alle diese Risiken zu einem einzigen Risikobündel – und genau das begreifen wir nicht, weil auch die Natur es bislang nicht kannte. Das individuelle Risiko soll alle möglichen Vorkehrungen und Sicherungen verringern. Niemand würde in einem Haus leben wollen, das auf sumpfigem Boden steht, dessen Wände wackeln, dessen Dach einzustürzen droht und in dem der Gashahn undicht ist. Das kalkulierbare Risiko der Versicherungswirtschaft, Produkt aus Schaden mal Eintrittswahrscheinlichkeit, ist überholt.

 

7. FEBRUAR 2000, Mittemacht

Andreas zu Bett gebracht. Zuvor Geschichten erzählt und mit ihm ein Stündchen gealbert. Wichtig für ihn, vor allem aber für mich.

Die produktive Redundanz der technischen Zivilisation degradiert den Menschen de facto zu einem ebenfalls redundanten, überflüssigen Wesen. Nur seine – möglichst unreflektierte – Rolle als Verbraucher ist von Belang. Eine freiwillige, gegen sich selbst gerichtete Menschenverachtung. Und alle fühlten sich vorgeblich wohl in diesem System, mit Ausnahme derjenigen, die das System als wertlos, weil nicht verwertbar, ausscheidet, oder derjenigen, die in der Lage sind, sich ihres Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Die Pein, denken zu können und daher denken zu müssen! Freilich setzt das Denken nicht von selbst ein, es bedarf der Sensibilität, der Goethe'schen Empfindung für die Zusammenhänge des Ganzen.

Anhand eines in der Lüneburger Heide ausgebuddelten Einbaums will Prof. Eichborn nachweisen, daß es von 610 bis 655 n. Chr. und dann wieder im 13 .Jahrhundert ebenfalls extreme Klimaschwankungen gegeben habe.

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Die Merowinger, Franken und Sachsen hätten dies jedoch allem Anschein nach gelassen hingenommen. Offenbar vibriere die Polachse der Erde alle 500 bis 600 Jahre – einem Kreisel vergleichbar –, ehe sich seine Drehung wieder stabilisiere und ruhig werde. Eichborns Fazit: Der Klima-Anstieg beruhe auf natürlichen Ursachen und sei kein hausgemachter Treibhauseffekt.

Krimineller, bestellter Unsinn eines »Experten«. Der Aralsee ist nun auf ein Fünftel seiner ursprünglichen Fläche zusammen­geschrumpft. Das Land ringsum längst Wüste. Nun versalzt auch Usbekistan, die Baumwolle hat den Boden ruiniert. Das Gebiet ist immerhin so groß wie zwei Drittel Deutschlands.

 

10. FEBRUAR 2000

Den Schweizer Rettungstrupps ist es gelungen, von Norden her den Eingang zum Gotthard-Tunnel freizulegen. Über 4000 Menschen befreit! BILD hat recht – Europa weint vor Glück. 4000 Menschen gegen schätzungsweise eine Million! Statistisch zählt das nicht. Und doch, es ist wie der Gnadenerweis eines rachedurstigen Fatums.

Die Gedanken immer wieder bei Sylvie, die so weit weg ist. Wird ihr die Kur in den Karpaten Erleichterung bringen? Aus der Sicht eines Kindes erscheint die Welt von den Erwachsenen mit Vernunft gestaltet, in die man sich fügen kann und – muß. Aber vielleicht täusche ich mich nur. Vielleicht können Kinder nur nicht artikulieren, daß sie uns Erwachsene als Monster empfinden.

Tina äußerte den Wunsch, wieder als Lehrerin zu arbeiten. Sie will ihre Beurlaubung beenden. Ein bißchen Bammel hat sie schon, nach mehr als zwei Jahren wieder in die Berufsschule einzusteigen. Die Schulen stecken in der Krise, das Aggressionsniveau ist erschreckend, die Verhältnisse gleichen sich denen in Harlem oder der Bronx an. Fast alle Schüler bewaffnet. In den Klassenzimmern wachen Monitore. Der Drogen ist nicht mehr Herr zu werden. Kiffen auf dem Schulhof ist üblich, im Klassenzimmer keine Seltenheit. Jede Elterngeneration hat die Kinder, die sie verdient.

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Das Verhalten der Kinder spiegelt das moralische Niveau der Elterngeneration wieder. Wie soll sich da eine Lehrerin verhalten?

Ich selbst muß mich an den Gedanken erst gewöhnen, künftig nur noch halbtags zu arbeiten. Obwohl – warum eigentlich nicht? Journalismus hat längst masochistische Züge angenommen. Chronistenpflicht schmerzt – und befriedigt – nur den Chronisten selbst, bewegt aber nichts. Obendrein die narzißtische Lust des Kommentators. Das Ethos des Journalismus, gesellschaftliche Prozesse zu verstehen und verstehbar zu vermitteln, längst pure Selbsttäuschung.

Werde also künftig häufiger Gelegenheit haben, mich um meine beiden zu kümmern. Außerdem kann ich mich intensiver dem Schreiben widmen. Schreiben bewirkt zwar auch nichts, bringt aber wenigstens Selbstentlastung.

 

26. FEBRUAR 2000

Rosenmontag. In Europa wehen die Fahnen auf Halbmast. Stumme Tristesse. Indessen Anlaß genug, sich der Narretei dieser »Kultur« zu entsinnen.

 

3. MÄRZ 2000

Wer hätte das gedacht, der Februar mit Eis und Schnee! Und in welcher Fülle. Wie früher! Ein plötzlicher Kälteeinbruch. In Wiesbaden 40 cm Pulverschnee, auf der Platte gar ein Meter. Jedes Anzeichen einer Normalität dämpft die Angst. Vielleicht doch nur extreme »Launen« der Natur, die sich wieder einpendeln? Professor Eichborns Polachse? Oder nur eine einsame Schwalbe im März? Freilich, Blüten und Blätter sind für dieses Jahr erfroren. Was tut's!

In mir erwachen alte Erinnerungen an meine Kindheit im Bayerischen Wald: im Schnee Purzelbäume schlagen, auf knirschenden Skiern durch den stillen, weißen Wald wandern, das Ächzen der schneebepackten Bäume hören.

Andreas erlebt zum ersten Mal einen weißen Winter. Erst war er ängstlich, als wir auf dem Schlitten die Platte hinuntersausten. Doch jetzt kann es nicht genug sein. Tina muß jeden Tag mit ihm und seinen Freunden hinauf.

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Der Schnee in den Alpen tut gut: Über die riesigen Gräberfelder ist ein dickes, weißes Leichentuch gebreitet. Der letzte kümmerliche Rettungsversuch hat nun ein Ende. In den Tälern kahle Öde. Die Hänge und Pisten, auf denen einst um diese Zeit Gewimmel und Gedränge herrschte, sind in die Täler gerutscht. Über die scharfen Bruchkanten stürzen jetzt die Schneelawinen. Aber sie decken die Wunden zu, die der Mensch geschlagen hat. Niemand läuft dort mehr Ski. Niemand will über Gräberfelder gleiten.

Doch die Freude über die weiße Pracht trügt. Es beginnt wieder das Zittern vor der Schneeschmelze. Wenn jetzt, wie letztes Jahr, ein plötzlicher Wärmeeinbruch mit Dauerregen kommt – nicht auszudenken. Dann säuft ja schon wieder alles ab. Die Natur beginnt, uns durchs Jahr zu hetzen. Chaotisch für uns, mit System für sie.

In einer Studie der Bundesregierung heißt es: »Der Habitationswert der Alpenregion ist auf langfristige Sicht stark reduziert. Tendenz negativ.« Zu deutsch: Dort kann niemand mehr leben und existieren.

 

4. MÄRZ 2000

Das 1996 beschlossene Renaturierungsprogramm für fließende Gewässer ist nicht vorangekommen, dank des Boykotts der Bauern- und Winzerverbände, obwohl die unter den jährlich zwei oder drei Überschwemmungen am meisten leiden. An der Mosel und bei Rüdesheim sind ganze Weinberge, darunter berühmte Lagen, fortgespült worden.

 

5. MÄRZ 2000

Dämpfer für unsere Winterfreuden. In der vergangenen Nacht fiel rostbrauner Ruß auf den Schnee. Deutschland – ein Wintermärchen. Die Taunuswälder wie in einem Science-fiction-Film. Niemand weiß, wo der Rost herkam. Das Weiß des Schnees dokumentiert dieses stupide Verbrechen für eine Weile. Sonst hätte man es womöglich gar nicht gemerkt.

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11. März 2000

Gesundheitsgefahren durch Dioxine weitaus größer als angenommen. Schon geringste Mengen schädigen Immunsystem, Hormonhaushalt und Fortpflanzungs­fähigkeit. Als ob wir das nicht schon längst wüßten. Brüssel will die »Dioxinquellen weiter verstopfen«, der deutsche Umweltminister verweist auf die weltweit niedrigsten Dioxingrenzwerte in Deutschland. Das übliche Verdummungsspiel: Was nutzen niedrigste Grenzwerte, wenn sie trotzdem noch zu hoch sind?

 

28. März 2000

Karfreitag. Den Gott zur Vergebung der Sünden opfern und essen, der aber wiederauferstehen wird. Exculpation des Menschen. Eucharistie. Angst des Menschen vor dem Mensch-Sein. 

Die Natur hat allen ihren Mitwesen eine klare Richtlinie vorgegeben: Individuen töten, wenn es um des Lebens willen sein muß, aber nicht die Art ausrotten. Wer andere Arten ausrottet, gefährdet sich selbst. Alle müssen sich daran halten, nur der Mensch setzt sich über diese Schranke hinweg. 

Das Symbol des geopferten und wiederauferstehenden Gottes sehr einfühlsam, auch wenn seine Erfinder das immanente Problem nicht artikulieren konnten: Die Natur muß am Tod der Individuen und Generationen festhalten, weil es sonst keine Fortentwicklung, keine Evolution gäbe, weder physiologisch noch geistig. Ewiges Leben wäre Stillstand, Tod bedeutet Höherentwicklung, komplexere Strukturen, allerdings erst in der folgenden Generation.

Die Natur kann immer nur vom Einfachen zum Komplexeren fortschreiten. Nie umgekehrt. Das schließt auch die evolutionäre Korrektur eines Irrtums aus. Aber ist diese »Höherentwicklung« schon ein »Zweck« der Evolution? Dann wären wir, der Mensch, ihr Endzweck, ihr Ziel, obwohl unsere Evolution noch längst nicht abgeschlossen ist. Der Mensch hat der Evolution seine Fortentwicklung aus der Hand genommen, sie wirkt nicht mehr auf ihn ein.

Was wird das Resultat sein? Hätte die Evolution weitergewirkt, wäre nach uns die Schiller'sche Idee vom Menschen denkbar gewesen, ein emotional und geistig, ein sittlich und rational versöhntes Wesen. Dazu müßte die Zahl der Neuronen zwischen Großhirn und Limbischen System vertausendfacht werden. Nicht unmöglich.

Rückentwicklung, Regression — geistige und emotionale, ästhetische und kulturelle — ist nur dem Menschen möglich. Geht in Riesenschritten vonstatten.

Aus alledem ist kein Sinn des Lebens erkennbar. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Wem das nicht genügt, der muß sich selber einen Sinn geben, dem Leben und seiner individuellen Existenz. An solchen Versuchen, individuellen und kollektiven, hat es nicht gemangelt. Sofern sie dem Menschen nicht die Angst vor dem Tod genommen haben, sind sie alle gescheitert.

Karfreitag 2000. Habe früher den Gekreuzigten und die Unzahl der gemarterten, schmerzverzerrten, hingerichteten Heiligen als Ausdruck der Nekrophilie des Christentums empfunden. Todesverliebtheit und Lebens­feindlichkeit sind unserer Kultur in der Tat nicht fremd.

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