9. "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Der Genozid und die Gegenwart
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Im Frühjahr 1985 fand in Bremen eine Ausstellung statt, eine sehr normale, kleine Ausstellung in der Landeszentrale für politische Bildung. Doch über diese Veranstaltung, die keine Zeitung für ankündigenswert hielt, sollte fast der Kultursenator der Hansestadt stürzen.
Das Thema der Ausstellung war der Völkermord an den Armeniern. Fast 70 Jahre nach dem schrecklichen Ereignis war der lange Arm der Türkei – via Bonner Botschaft und Auswärtiges Amt – noch stark genug, um Bildungssenator Horst-Werner Franke dazu zu bewegen, die 750 Exemplare einer Broschüre zum Völkermord einstampfen zu lassen und darüber hinaus den ihm unterstehenden Leiter der Landeszentrale, Frank Boldt, der auch noch mit einer Armenierin verheiratet war, von einer angesetzten Pressekonferenz auszuschließen und damit mundtot zu machen.
In der Bremer Bürgerschaft kam es daraufhin zu einer der seltsamsten Debatten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die sozialdemokratischen Sprecher, die eigentlich ihren Senator verteidigen mußten, hatten sich zwischenzeitig zum Thema kundig gemacht und plädierten für eine offene Diskussion in Sachen Armenien. "Was würden viele Deutsche von Auschwitz wissen", fragte SPD-Redner Hermann Stichweh, "wenn diese braune Verbrecherbande nach dem Zweiten Weltkrieg an der Regierung geblieben wäre?" Die Christdemokraten hingegen, die den Senator zum Autodafe angestiftet hatten, versuchten erschreckt, ihre Aufregung zu minimieren.
"Hier hätte eine gründliche wissenschaftlich exakte Vorbereitung erfolgen müssen", argumentierte ihr Sprecher Bernt Schulte, wie es kasuistischer gar nicht mehr geht, "unter Berücksichtigung der politischen Emotionen und eventuellen zwischenstaatlichen Komplikationen und bei Abwägung zwischen wissenschaftlicher Informationspflicht und politischem Nutzeffekt." Einen "unglaublichen Eiertanz" nannte der Grünen-Abgeordnete Peter Willers die Debatte mit verdrehten Fronten.
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Ein Eiertanz mit Folgen, denn der Bremer Bildungssenator Franke stellte im Hohen Haus klipp und klar fest: "Der Völkermord an Millionen armenischer Christen ist geschichtliche Realität." Das hatte nie zuvor ein deutscher Minister gesagt und - bislang - auch keiner nach ihm.
Lehrstück für Hitler?
Die Deutschen und der Genozid
Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, daß oberste deutsche und türkische Stellen versuchten, eine Diskussion über den Völkermord an den Armeniern im Keim zu ersticken. Schon gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ist die deutsche diplomatische Korrespondenz - besonders von den Reichsvertretern in der Schweiz, wohin sich viele prominente Jungtürken erst einmal geflüchtet hatten - voll mit Rechtfertigungen des Völkermords, die von türkischen Autoren verfaßt und von den deutschen Überbringern als politische Argumentationslinie befürwortet worden waren.
Auch im Berliner Tehlerjan-Prozeß hatte das deutsche Auswärtige Amt anfangs überlegt, die Öffentlichkeit auszuschließen und die Pressevertreter zum Schweigen zu verpflichten, rückte dann aber davon ab. Daraufhin machten die Türken eine Eingabe, die das Auswärtige Amt an den Generalstaatsanwalt weiterleitete. Die Regierung in Ankara wollte wissen, "aus welchen Erwägungen der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft davon Abstand genommen hat, bei der Erörterung der sogenannten Armeniergreuel den Ausschluß der Öffentlichkeit zu beantragen". In Absprache mit der deutschen Regierung hatten die Berliner Richter den Prozeß ohnehin auf ein Minimum reduziert, damit keine wirkliche Diskussion über Schuld und Schuldige aufkam.
Zwar nannte der sozialdemokratische Vorwärts das Verfahren den "ersten echten Kriegsverbrecherprozeß", und auch der als Jurastudent dem Spektakel als Zuschauer beiwohnende spätere amerikanische Stellvertretende Hauptankläger im
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Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, Robert M. W. Kempner, sprach davon, daß "zum erstenmal in der Rechtsgeschichte der Grundsatz zur Anerkennung kam, daß grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können und keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates bedeuten".
Doch die bürgerliche Presse sah in dem Prozeß einen Justizskandal. Die protürkische Einstellung änderte sich erst recht nicht unter den Nazis, die schon deshalb dem einstigen Alliierten huldigten, weil Staatsgründer Atatürk sich als ein glühender Bewunderer Hitlers entpuppte. Hatten die deutschen Völkermörder das Muster des Holocaust an den Juden im Genozid an den Armeniern gefunden? Besonders armenische Wissenschaftler sind dieser Meinung und zitieren Adolf Hitler. "Dschingis-Khan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt", soll der Führer am 22. August 1939 vor den obersten Wehrmachtschefs auf dem Obersalzberg gesagt haben, die er auf den Krieg gegen Polen einstellte, und: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Von der vierstündigen Ansprache Hitlers gibt es fünf Aufzeichnungen, doch nur in einer kommen die Armenier vor. Sie stammt von dem amerikanischen Journalisten und Pulitzerpreisträger Louis Paul Lochner, der kurz vor dem Krieg in Berlin das Büro der Associated Press leitete. Lochner hatte das Schriftstück am 25. Oktober der britischen Botschaft in Berlin übergeben. Sein Informant war, nach eigenem Bekunden, der Jugendführer Hermann Maß, der ihm das Dokument auf Veranlassung des gerade als Heeres-Generalstabschef zurückgetretenen Generaloberst Ludwig Beck zukommen ließ. Aber auch Beck war nicht der Autor der Niederschrift, sondern hatte sie von einem ungenannten Offizier. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser ungenannte Offizier Abwehrchef Wilhelm Canaris. Alle Lochner-Informanten gehörten zur Hitler-Opposition und wurden nach dem Attentat am 20. Juli 1944 umgebracht. So konnte keiner nach dem Kriegsende Zeugnis ablegen. In der später publizierten Mitschrift des Admirals Canaris aber kommt die Anspielung auf das Schicksal der Armenier nicht vor.
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Als möglicher Informant Hitlers wird immer wieder einer der besten Kenner der Greuel an den Armeniern, Deutschlands Vizekonsul in Erzurum, Max Erwin von Scheubner-Richter, angesehen, der zu einem der frühesten Anhänger des deutschen Diktators geworden war. Der stramm national eingestellte baltische Offizier marschierte am 5. November 1923 an der Seite Hitlers und Ludendorffs an der Spitze des Zuges zur Münchner Feldherrenhalle, wo ihn bayrische Landespolizisten erschossen. "Er fiel an der Seite Adolf Hitlers", schreibt Scheubner-Richters Biograph Paul Leverkuehn, "im Kleide des Soldaten, das eiserne Kreuz auf der Brust."
Doch das nationale Pathos täuscht. Scheubner-Richter war nicht nur, wie seine Berichte aus Erzurum beweisen, entsetzt über den Völkermord an den Armeniern und versuchte zu helfen, wo er konnte. Er war auch nur wenige Male mit Hitler zusammen. Zwar hatte er diesen bereits im Oktober 1920 kennengelernt, doch erst im Frühjahr 1923 kam es zu engerem Kontakt, als Hitler ihn zum Chef der bayrischen Kampfbünde machte. Ratgeber in Sachen Völkermord war Scheubner-Richter aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Die Rolle könnten gut andere übernommen haben: Deutschlands Offiziere im Osmanischen Reich, von denen mehrere in der braunen Hierarchie aufstiegen.
Wenngleich über die Authentizität der Hitlerschen Anspielungen auf die Armenier gestritten werden kann, ist unstrittig, daß die Folgenlosigkeit des jungtürkischen Genozids an den Armeniern die deutschen Völkermordsplaner in ihrem Vernichtungswahn nur bestärken konnte.
Jedes Mittel eingesetzt
Ächtung des Genozids an den Armeniern
Erst der Holocaust an den Juden führte dazu, Völkermord als Straftat des internationalen Rechts einzustufen. Im Londoner Statut des Internationalen Gerichtshofs vom 8. August 1945 (zur Aburteilung des Naziverbrecher) wurde erstmals der staatlich verordnete Völkermord zu einer durch überstaatliches Recht anerkannten Straftat erklärt.
Am 9. Dezember 1948 nahm die Uno-Vollversammlung einstimmig eine Konvention an, in der der Völkermord als ein Delikt gegen das
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Völkerrecht festgelegt und die Vertragsstaaten verpflichtet wurden, ihn unter Strafe zu stellen, was die Bundesrepublik Deutschland 1954 mit dem Strafgesetzparagraphen 220a tat. Auch die Türkische Republik unterzeichnete die Konvention. Eine Verjährung für Völkermord, darauf verständigte sich die Weltgemeinschaft, gibt es nicht.
"Völkermord", so definierte die Uno, "ist eine der folgenden Handlungen, die absichtlich oder teilweise eine ethnische, rassische oder religiöse Gruppe vernichten soll: Tötung von Mitgliedern einer Gruppe; Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen."
Für Kenner der Ereignisse von 1915 in der Türkei war es keine Frage, daß diese Völkermorddefinition gleich in mehreren Teilen auf die Vernichtungsaktion gegen die Armenier zutrifft. Um die Definition aber nicht nur den Kennern zu überlassen, gab die Menschenrechtskommission der Uno 1971 eine Studie in Auftrag.
Im September 1973 legte der damalige Sonderberichterstatter Nicodeme Ruhaschyankiko aus Uganda einen Entwurf vor, dessen Paragraph 30 lautete: "Wenn wir uns der zeitgenössischen Geschichte zuwenden, so kann auf eine verhältnismäßig umfassende Dokumentation über das Massaker an den Armeniern hingewiesen werden, das als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts betrachtet wurde." Sofort protestierten die Türken und verhinderten, daß der Entwurf angenommen wurde. Die Diplomaten begannen zu verhandeln, aber sie kamen kaum voran.
Am 23. Januar 1973 betrat der 78jährige Armenier Kurken Janikian das Restaurant des Hotels Baltimore in Los Angeles und steuerte einen Tisch an, an dem der türkische Konsul Mehmet Baydar mit seinem Vize Behadir Demir zu Abend aß. Janikian zog seinen Revolver und erschoß die beiden Diplomaten. Es war der Beginn eines armenischen Rachefeldzugs, auf dessen Konto mehr als 200 Attentate gingen, denen 46 türkische Diplomaten und viele Zivilisten zum Opfer fielen.
Trauriger Höhepunkt der Terrortaten war ein Anschlag am 7. August 1982 auf Passagiere im Flughafen von Ankara, bei
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dem neun Personen starben und 71 verletzt wurden — die meisten von ihnen Gastarbeiter vor ihrem Rückflug in europäische Länder.
Als Verantwortliche zeichneten mehrere armenische Terrorgruppen, deren bekannteste die im Libanon beheimatete "Armenische Geheimarmee für die Befreiung Armeniens" (ASALA) war. Sie alle zeichnete der Geist der bundesdeutschen Rote Armee Fraktion aus: Erst Terror gegen Repräsentanten eines Regimes, dann Terror schlechthin. Keines der Opfer hatte etwas mit dem Völkermord zu tun. Ihr einziges "Verbrechen": Türken zu sein.
1984 war der türkische Botschafter in Kanada, der sich aus dem Fenster rettete und dabei Arm und Beine brach, das letzte Opfer der Gewaltkette. Die armenischen Terroristen stellten ihre Mordaktionen ein. Weder waren sie von irgend jemanden als Revolutionsarmee anerkannt, was sie stets gefordert hatten, noch hatten die Türken, wie von den Bombenwerfern verlangt, den Armeniern das gestohlene Land zurückgegeben. Im Gegenteil: Auch Armenier wurden wieder Opfer der Gewalt.
Am 6. November 1975 hatte der Sohn des Archag Baghdassarian, der armenische Zahnarzt Said Yünkes - er hatte einen türkischen Namen angenommen, wie die meisten überlebenden Armenier im Osten -, vor dem Gerichtshof von Urfa die Herausgabe der Ländereien seiner vertriebenen Eltern verlangt und als einer von ganz wenigen Klägern schließlich am 20. August 1985 Recht bekommen. Das Gericht hatte am Vormittag sein Urteil gesprochen, um zwei Uhr mittags war Yünkes alias Baghdassarian tot. Der Türke Ahmet Özkan hatte ihm alle sechs Kugeln seines Revolvers in den Kopf geschossen. "Die Familie hat das entschieden, und ich habe getötet", verteidigte er sich. Vor Gericht kam der Mörder nicht, denn er war angeblich erst 13 Jahre alt und damit schuldunfähig.
Die armenischen Terroristen waren gescheitert, aber sie hatten, wie so oft in der von den Medien dominierten Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit ihren Gewaltaktionen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt und den friedfertigen Aufklärern den Weg bereitet - einen mühsamen Weg freilich mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
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In Kalifornien, wo die Mehrzahl der 600.000 amerikanischen Armenier leben, beschloß die gesetzgebende Versammlung des Bundesstaats 1981, den (damals US-armenischen) Gouverneur aufzufordern, künftig den 24. April eines jeden Jahres "der Erinnerung für alle Opfer von Völkermorden, besonders für die armenischen Opfer des im Jahr 1915 begangenen Völkermords zu beachten". Im Herbst 1984 befürworteten erstmals Abgeordnete des US-Kongresses, den 24. April zum Gedenktag an das "unmenschliche Verhalten des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen" auszurufen.
Über eine Million habe sich das Entwicklungsland Türkei die Lobbyarbeit gegen einen Beschluß kosten lassen, vermutete der demokratische Abgeordnete für den Bundesstaat Michigan, William Ford, nachdem das Repräsentantenhaus im August das Begehren abgelehnt hatte. Auch Präsident Ronald Reagan und sein Außenminister George Shuitz hatten sich gegen den Vorschlag ausgesprochen, um den Nato-Partner Türkei zu schonen. Im Oktober 1989 unternahm der Rechtsausschuß des US-Senats einen neuen Anlauf, den Feiertag einzuführen. Bislang ohne Ergebnis.
Im März 1985 verlangte der Auswärtige Ausschuß des Abgeordnetenhauses Argentiniens, wohin sich inzwischen mehr als 100.000 Armenier geflüchtet hatten, in der Uno die notwendigen Maßnahmen zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zu ergreifen. Er hatte mehr Erfolg: Am 29. August 1985 stimmte der UN-Unterausschuß für den Schutz von Minderheiten einer Studie über die Verhütung von Völkermorden und Bestrafung der Mörder zu. Der Völkermord an den Armeniern war in dieser Fassung allerdings nicht nur bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden und hieß nur noch "Massaker", sondern war auch in einem Sammelsurium von anderen Verbrechen aufgegangen.
Der neue Paragraph 24 hieß: "Die nazistische Verirrung war unglücklicherweise nicht der einzige Fall von Völkermord im 20. Jahrhundert. Man kann ferner das Massaker an den Hereros durch die Deutschen im Jahr 1904 nennen, das Massaker durch die Osmanen 1915/16, das ukrainische Pogrom von 1919 gegen die Juden, das Massaker an den Hutti durch die Tsutti in Burundi, das Massaker an den Achee-Indianern in Paraguay von 1974, die von den Roten Khmer in Kampuchea 1975 und 1978 begangenen Massaker und gegenwärtig das Massaker an den Bahais durch die Iraner."
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Weder das Wort "Völkermord" kam vor, noch wurden die Türken erwähnt. Sie hatten die Formulierung "Osmanen" durchgesetzt, mit denen sie sich nicht zu identifizieren brauchten. "Die schamvoll lange Zeit von 14 Jahren, die der Bericht bis zu seiner Verabschiedung benötigte", schrieb Tessa Hofmann von der Gesellschaft für bedrohte Völker, die sich wie niemand sonst in Deutschland für die Rechte der Armenier einsetzt, "verleihen der Verabschiedung einen bitteren Beigeschmack."
Auch das Europaparlament in Straßburg machte sich für die Armenier stark, was um so einfacher war, als ihm die Türken nicht angehörten - so jedenfalls schien es. Trotzdem "begriff ich schnell", sagte der Beauftragte des Politischen Ausschusses, der belgische Historiker Jaak H. Vandemeulebroucke, "daß ich mit jenen Widerständen rechnen mußte, die dem armenischen Volk seit jeher entgegengetreten sind. Jedes Mittel wurde eingesetzt - bis hin zu Morddrohungen -, um mich einzuschüchtern und zu beeinflussen."
Mit einem simplen Geschäftsordnungstrick gelang es den Konservativen im EG-Parlament, den Völkermord von der Tagesordnung zu streichen, und Vandemeulebroucke mußte den damaligen französischen Parlamentspräsidenten Pierre Pflimlin einschalten, um den Antrag doch noch ins Parlament zu bringen. Am 18. Juni 1987 verabschiedete es mit 68 gegen immerhin 60 Stimmen (bei 48 Enthaltungen und 348 abwesenden Abgeordneten) eine Resolution, die den Völkermord an den Armeniern als Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 bezeichnet.
Der Europäische Rat wurde vom Parlament aufgefordert, von der türkischen Regierung "die Anerkennung des an den Armeniern 1915 bis 1917 verübten Völkermordes zu verlangen", ohne daß daraus "weder politische noch rechtliche oder materielle Forderungen (der Armenier) an die heutige Türkei abgeleitet werden können". Allerdings sei das Europaparlament "der Ansicht, daß die Weigerung der jetzigen türkischen Regierung, den damals begangenen Völkermord am armenischen Volk anzuerkennen, unüberwindbare Hindernisse für die Prüfung eines etwaigen Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft darstellt".
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"Wer die Menschenrechte ernst nimmt", sagte der französische Sozialist Henry Saby in der Debatte, "muß zugeben, daß damals ein Völkermord stattgefunden hat." Deutschlands CDU-Abgeordneter Gerd Lemmer stimmte gegen die Resolution, weil "die historische Aufarbeitung der Vergangenheit nicht Aufgabe eines Parlaments sein kann und darf". Darin waren sich die Bundesdeutschen mit den Republiktürken so einig wie die Kumpane 70 Jahr zuvor. Doch durch den Parlamentsentschluß wurde auch die Bundesrepublik Deutschland in die Pflicht genommen. "Etwas Historisches war geschehen", sagte Vandemeulebroucke zum Parlamentsbeschluß, "erstmals war der Völkermord an dem armenischen Volk offiziell in Europa anerkannt worden."
"Vielleicht wird das Europäische Parlament", erregte sich der türkische Beobachter, "in nächster Zeit Ronald Reagan zu dem Bekenntnis auffordern, die Regierung in Washington habe im vergangenen Jahrhundert einen Völkermord an den nordamerikanischen Indianern gebilligt." Der Abteilungsleiter im türkischen Außenministerium, Nuezhet Kandemir, ließ die EG-Botschafter zu sich kommen und belehrte sie: Die Darstellung von Todesfällen unter Armeniern, die wegen Parteinahme für Rußland während des Ersten Weltkriegs deportiert wurden, sei verzerrt. Verharmlosender geht es nicht mehr.
"Kommunisten, einige Sozialisten und die Grünen", vermutete der damalige türkische Regierungschef Turgut Özal hinter den Befürwortern der Entschließung, und Staatspräsident Kenan Evren prophezeite: "Europa wird den sinnlosen Beschluß annullieren." Europa annullierte ihn nicht.
Aus der Sackgasse raus
Der Genozid in der heutigen Publizistik
Am 21.April 1986 brachte die ARD zur besten Sendezeit um 21.05 Uhr einen Einstundenfilm über den Völkermord an den Armeniern 1915, in dem vor allem die deutsche diplomatische Korrespondenz den Genozid belegte. Autor war der Schriftsteller Ralph Giordano, und er sagte seine Sendung persönlich an: "Das Geschehen ist bei uns nicht etwa vergessen, es ist nie wirklich bekannt geworden."
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Zum erstenmal in der Geschichte erfuhr ein breites deutsches Publikum von der Vernichtung der Armenier im Ersten Weltkrieg. Giordanos Sendung war ein Wendepunkt in dem jahrzehntelangen publizistischen Schauerstück von Nichtwissen und Nichtwissenwollen. Diese unheilige Allianz aus Schweigen und Verschweigen hatte ihren Anfang just bei jenem Mann genommen, der sich für die Armenier eingesetzt hatte wie kein anderer und von ihnen bis heute fast als Heiliger betrachtet wird: Johannes Lepsius.
Lepsius war Pfarrer, und wie das so ist in seiner Zunft, kannte er nur einen Gott, und der war Deutscher. Für die Geschichtswissenschaft war es ein kleines Unglück, daß ausgerechnet er die diplomatischen Akten zum Armeniermord herausgab, denn er schreckte vor Unterlassungen und sogar Fälschungen nicht zurück, um Schuld von seinen geliebten (Groß-) Deutschen zu nehmen.
Und wie es manchmal so kommt, hatte der einzige prominente Historiker, Ulrich Trumpener, der die Rolle der Deutschen in der Türkei des Ersten Weltkriegs untersuchte, auch nicht nur die reine Wahrheit im Sinn. Dem Engländer, der die deutschen Archive durchforstete, ging es in erster Linie darum, seinem deutschen Konkurrenten Fritz Fischer eins auszuwischen, der den Mut hatte, seine Landsleute für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich zu machen. Bei Fischer aber kommt das Schicksal der Armenier nur ganz am Rande vor.
Bis heute hat kein deutscher Historiker über den Völkermord an den Armeniern 1915 ein Buch verfaßt, obgleich aus deutschen Archiven, solange die türkischen nicht zur Verfügung stehen, mit Sicherheit viel herauszuholen ist, um die Wahrheit von damals an den Tag zu bringen. Die wenigen neueren deutschsprachigen Arbeiten stammen fast ausschließlich von armenischen, österreichischen oder Schweizer Historikern. Wer unter den deutschen Geschichtswissenschaftlern sich mit Verbrechen an der Menschheit auseinandersetzen wollte, befaßte sich mit dem Holocaust an den Juden. Nur vorsichtig nähern sich junge deutsche Wissenschaftler dem Armenier-Genozid. Einer der ersten war der Kirchengeschichtler Uwe Feigel, der über das evangelische Deutschland und Armenien promovierte, ein weiterer sitzt noch an seiner Doktorarbeit.
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Sie alle müssen sich nicht nur mit türkischen Argumenten auseinandersetzen, sondern oft auch mit den unqualifiziertesten Anschuldigungen, wenn nicht mit mehr. Fernsehautor Ralph Giordano kann es bezeugen. Er hatte sich vor der Sendung mit dem Pressechef der türkischen Botschaft unterhalten, dessen Freundlichkeit nur von seiner Unwissenheit über die Ereignisse von 1915 übertreffen wurde. "Zehn Tage nach meinem Besuch", berichtet Giordano, "bekam ich die erste telefonische Morddrohung, der viele andere folgten." Schließlich übte auch die türkische Botschaft direkten Druck auf den Intendanten aus, und Giordano hatte alle Mühe, seine Sendung durchzubringen. Als sie dann gesendet worden war, ging es erst richtig los. Giordano sah bei den türkischen Demonstrationen gegen seine Dokumentarsendung "junge Gesichter, haßerfüllt, schreiend, ekstatisch nationalistisch und gänzlich unwissend, was die von ihnen bestrittene armenische Tragödie selbst betrifft".
Besonders das Wort "Völkermord" brachte und bringt die Türken in Rage, und Giordano gebrauchte es bewußt gleich mehrmals in seiner Sendung. Der Hauptgrund ist, daß nach einem Dreivierteljahrhundert Verschleierungs- und Verleumdungspolitik kein normaler Türke und vermutlich auch keiner der Politiker heute die wirklichen Ereignisse von damals kennt.
Zu welcher Hysterie Berichte über den Armeniergenozid in der Türkei führen, machte die Zeitung Super Tanin klar, als DER SPIEGEL im Frühjahr 1992 eine vom Autor dieses Buches verfaßte Serie über Berg-Karabach und den Völkermord von 1915 brachte. Es sei schade, schrieb das Boulevard-Blatt unter der Überschrift (in deutsch) "Hurenkinder": "Wäret ihr Deutschen doch nach dem Zweiten Weltkrieg mit Stumpf und Stil ausgerottet worden, dann wäre die Welt friedlicher."
"Ich kann und ich will nicht der Feind eines ganzen Volkes sein", war Giordanos Antwort auf die Erregung nach seiner Sendung. Aber eine Gruppe klagte er besonders an: "Das sind die türkischen Intellektuellen aller Generationen seit 1915." Wohl wahr, denn nicht einer von ihnen hatte bis dato seine Stimme gegen den Völkermord erhoben. Nicht der Dichter Bülent Ecevit, aber der war ja auch Spitzenpolitiker der Sozialdemokraten, die sich als Nachfolger der Kemalisten verstehen.
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Doch auch die anderen Schriftsteller, Gelehrten und Wissenschaftler der Türkei schwiegen, vielleicht manche gegen ihr Gewissen.
Am 5. Mai 1992 um 14 Uhr fand in den Räumen des "Hamburger Instituts für Sozialforschung" eine historische Sitzung statt. Armenier waren eingeladen, und Gastgeber war der Türke Taner Akcam. Zwar hatten sich Armenier und Türken schon oft getroffen, auch nach dem Ersten Weltkrieg. Aber diesmal lud Akcam zu einem Thema, das in dieser Zusammensetzung noch nie diskutiert worden war: den Völkermord des Osmanischen Reichs an den Armeniern.
Taner Akcam ist nicht nur der Sohn eines in der Türkei bekannten Schriftstellers. Er hat selbst eine aufregende politische Vergangenheit hinter sich. Mitte der siebziger Jahre gehörte er zu den türkischen Studentenführern und wurde festgenommen. Der Staatsanwalt verlangte 700 Jahre Haft für ihn, doch die Richter ließen es bei knapp neun Jahren bewenden. Akcam konnte nach einem Jahr fliehen und nach Deutschland entkommen, wo er sogleich wieder wegen illegalen Grenzübertritts eingekerkert wurde. Er verschwieg aber anfangs seine Identität, um nicht sofort wieder ausgeliefert zu werden. Amnesty international holte ihn dann aus dem deutschen Gefängnis, und Akcam erhielt dank der Hilfe der Menschenrechtsfreunde politisches Asyl.
Im Mai trug Akcam seine Thesen zum Völkermord vor, die von den Armeniern nicht einstimmig akzeptiert wurden. Aber alle waren sich darüber im klaren, daß Akcams Thesen, die den Völkermord in keiner Weise leugneten, für türkische Verhältnisse revolutionär sind. Der beteiligte armenische Genozid-Forscher Vahakn Dadrian machte sich anheischig, Akcams Thesen in englischer Sprache zu verbreiten, wenn sie ausformuliert seien.
"Wir müssen endlich aus der Sackgasse herauskommen", verlangte Akcam, "einerseits zu versuchen, den Völkermord an den Armeniern rechtfertigen zu wollen und ihn andererseits zu leugnen." Besonders die Lage der Menschenrechte in der Türkei beschäftigt den Nationalismus-Forscher und darin traf er sich mit Giordano. "Es ist die Haltung der Unbelehrbarkeit", hatte dieser gefürchtet, "die den Verdacht nahelegt, daß ein abermaliges türkisches Massaker an Minderheiten jederzeit möglich ist." Eine Mahnung, die angesichts des Kampfes der türkischen Militärs gegen die Kurden nicht ernst genug genommen werden kann.
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Giordanos Sensibilität dem Thema Völkermord gegenüber rührt auch aus seiner eigenen Geschichte, denn seine Mutter war Jüdin. "Nach einem Jahr Studium einer der größten Völkertragödien unseres Jahrhunderts", so Giordano, "erkläre ich als überlebendes Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns: Wenn es überhaupt etwas gibt, was mit dem jüdischen Holocaust verglichen werden kann, dann ist es das türkische Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs." Ein Anstoß, den Holocaust an den Armeniern in eine nun schon beängstigende Reihe von Völkermorden einzubeziehen, die über Auschwitz und den Gulag bis nach Kambodscha und - wer weiß - zum Balkan reicht.
Jeder Deutsche muß auf der Hut davor sein, daß er Beifall für Aufklärungsarbeit zum Thema Völkermord an den Armeniern nicht von der falschen Seite bekommt, von denen, die Hitlers Verbrechen relativieren wollen. Um so dringlicher ist es, eine Geisteshaltung zu untersuchen, die zu Pogromen und zum Völkermord geführt hat und wieder führen kann. Und verdächtig sind in solchen geschichtlichen Situationen die Vertuscher von Zusammenhängen, nicht die Aufklärer.
Die deutschen Archive stehen den vielen jungen Türken, die die deutsche Sprache beherrschen, in gleichem Maße offen wie jedem anderen auch. Sie sind in der privilegierten Lage, ihren Landsleuten die Kenntnisse zu vermitteln, damit sie sich mit einem traumatischen Abschnitt ihrer Geschichte auseinandersetzen können. Es ist zu hoffen, daß Akcams Arbeiten für die Wahrheitssuche der Türken die gleiche Eisbrecherfunktion haben wie einst das Werk von Johannes Lepsius für die Offenlegung des an den Armeniern verübten Unrechts und die Sendung von Ralph Giordano für die Verbreitung.
Wie einsame Wölfe schleichen heute die Dadrians und Dinkels durch die Archive, immer auf der Hut vor den anderen Wölfen, den grauen, oder auch den Grauen verbreitenden. Noch sind es diese Einzelkämpfer, die der Menschheit ein mit Tricks und Gewalt verschleiertes Verbrechen dokumentieren wollen, auf daß vielleicht als Ergebnis ihrer Mühen mehr Menschlichkeit entstehe.
Möglicherweise erscheint dieses Buch zu einem Zeitpunkt, wo Christen oder gar Armenier nicht die Gejagten sind, sondern die Jäger. Aber es gibt keinen falschen Zeitpunkt, um einen Völkermord einen Völkermord zu nennen. Der Genozid an den Armeniern war dabei, zu einem fast perfekten Völkermord zu werden - straffrei für die Täter und dem Vergessen preisgegeben: der Traum fanatischer Politiker, das Trauma machtloser Völker.
Solange es noch kein internationales Gericht gibt, das internationale Verbrechen aburteilen kann, und nicht einmal eine Strafverfolgungsbehörde, die derlei Verbrechen aufspürt, sind die Publizisten in der Pflicht, Morde vor dem Vergessen zu bewahren, erst recht Völkermorde.
Sie alle, die Pol Pots in Kambodscha und Karadzics in Bosnien, müssen wissen, daß ihre Untaten registriert werden, um sie vor der Welt und eines Tages vielleicht sogar vor Gericht zu dokumentieren. Das mag wirksamer sein, als Soldaten und Panzer, vor allem schafft es nicht neue Gewalt. Wer einen Hitler ehrt oder einen Talaat, muß wissen, daß er Verbrecher ehrt und Verbrechen Vorschub leistet.
So, und nur so ist die Warnung des ehemaligen italienischen Staatspräsidenten Francesco Cossiga zu verstehen, der bekannt dafür war, seinen Landsleuten und auch anderen gelegentlich Unangenehmes vorzuhalten. "Wer die Wahrheit verheimlicht", sagte einmal der Mahner aus dem Quirinal, "ist schlimmer als ein Mörder."
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