Hans-Jürgen Heinrichs
Extremereignisse der Gegenwart
und die Grenzen unserer Vorstellungskraft
Deutschlandfunk - Hintergrund Kultur - Essay und Diskurs
Sprecherin: Marietta Bürger + Sprecher: Axel Gottschick + Zitator: Hendrik Stickan
Unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 02. Januar 2011
Sprecher:
Wir haben uns an weltweite Umweltkatastrophen gewöhnt. Die Zeitungs-, Radio- und Fernsehnachrichten berichten von ihnen - so wie vom Krieg in Afghanistan, der Wahl in Nordrhein-Westfalen, den Filmfestspielen in Cannes und dem "Eurovision Song Contest" in Oslo mit Lena.
Sie erinnern sich nicht mehr daran? Kein Wunder! Was ist nicht alles geschehen seit dem Frühjahr 2010.
Neben dem Flüchtigen gibt es Extremereignisse, die, aufgrund ihrer unabsehbaren Folgen, über längere Zeit die Nachrichten dominieren. Zu ihnen gehörte - und wird noch über Jahre gehören - die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Ein Unbeteiligter hätte glauben können, es handle sich um Krieg. Von "Schlammbeschuss" und "Top kill" war die Rede. Unter diesem Aspekt musste man sagen: BP hat den Krieg verloren.
Zitator:
"Unser Versuch, Bohrschlamm in das Sicherheitsventil über dem Bohrloch in gut 1500 Metern Meerestiefe zu pumpen und das Loch mit Beton zu verschließen, ist gescheitert. Das jagt uns allen Angst ein. Wir werden nun mit Unterwasserrobotern das Steigrohr über dem Sicherheitsventil absägen und darüber eine Metallkugel mit Dichtungen stülpen."Sprecherin:
Die aggressive Kriegsmetaphorik war einer Sprache der Befriedung gewichen. Durch die täglichen Nachrichten war allen bereits nach kürzester Zeit klar, dass die Ölfirma keinerlei Vorkehrungen für den Notfall getroffen hatte. Es dauerte bis zum 3. August - inzwischen war die Ölpest zur schlimmsten der amerikanischen Geschichte geworden -, bis das Bohrloch mit einer sogenannten "Static Kill"-Aktion geschlossen, eine spätere "Bottom Kill-Aktion" vorbereitet und die gesperrten Gebiete wieder geöffnet werden konnten.Wir alle waren erschüttert über den offenbar gewordenen verantwortungslosen Umgang mit technischen Anlagen, das Inkaufnehmen einer ökologischen Katastrophe und die zusätzliche Verseuchung des Meerwassers mit hochgiftigen Chemikalien. Aber wir hatten nicht viel Zeit, uns tatsächlich und nachhaltig in das Leid der Betroffenen einzufühlen. Ein uns geographisch viel näher liegendes Extremereignis trat in den Vordergrund: Das Hochwasser in Polen und Brandenburg mit der höchsten Alarmstufe für die Oder vom 26. bis 31. Mai. Alarmstufe 4 für den gesamten Kreis Oder-Spree.
Sprecher:
Man sah Menschen, die Säcke mit Sand abfüllten und auf die Deiche legten. Im weit entfernten Golf von Mexiko versuchten Freiwillige, das Öl mit Schaufeln vom Strand abzuschaben. Die mediale Welt bringt alles zusammen. Inmitten hochgerüsteter Technologien sieht man Menschen mit ihren Händen und einfachsten Werkzeugen arbeiten wir vor Jahrhunderten. Ein Ähnliches Bild nach einem Erdbeben: Mit bloßen Händen versuchen verzweifelte und aufopferungsvoll, bis zur völligen Erschöpfung tätige Dorfbewohner Überlebende aus den Trümmern zu ziehen. Bilder wie aus einer vorindustriellen Zeit. Jeder scheint ganz auf sich allein gestellt zu sein.Zugleich gewinnen die Reporter der Szene idyllische Aspekte ab: Im Fernsehen schwenkt die Kamera über die unermessliche Weite des Flusses, erfasst Menschen, die mit Kind und Kegel hierher pilgern und Erinnerungsfotos machen. In der Zeitung sieht man Angela Merkel und Ministerpräsident Platzek, wie sie Schulter an Schulter am Ufer stehen und beide, wie im Urlaub, mit ihren Fingern auf ein besonders attraktives Objekt in der Ferne deuten. Eine Bild-Unterschrift lautete:
Zitator:
"Der Deichgraf und die Kanzlerin besuchten am Samstag gemeinsam Frankfurt/Oder, um sich ein Bild von der Situation zu machen und sich davon zu überzeugen, dass die Deiche den Wassermassen standhalten."Sprecherin:
Die Ölpest im Golf von Mexiko, der isländische Vulkanascheregen und das erste Hochwasser in Brandenburg, die Waldbrände in Russland, die Überschwemmungen in Pakistan, in Polen, Sachsen, der Tschechischen Republik und ein zweites und drittes Mal in Brandenburg sowie die Giftflut einer ungarischen Aluminiumanlage, ein Tsunami und Erdbeben in Indonesien waren in den Monaten März bis November 2010 große nationale und internationale Extremereignisse. Daneben Grubenunglücke (allerdings auch eine Rettung, das sogenannte "Wunder von Chile"), Flugzeugabstürze, Selbstmordattentate.Ereignisse wie die Ölpest oder das für ganze Länder bedrohliche Hochwasser können jederzeit durch neue Geschehnisse, die auf der nationalen politischen Ebene als extrem wahrgenommen werden - das zeigte zum Beispiel der Rücktritt von Bundespräsident Köhler am 31. Mai - in den Hintergrund treten. An diesem Tag gab es nicht eine einzige Meldung über die Hochwasserlage an der Oder. Auch Extremereignisse wie ein Selbstmordattentat in Pakistan oder schwere Unwetter in Mittelamerika fanden an diesem Tag in unseren Nachrichten keine Erwähnung. Man erfuhr zum Beispiel auch nichts über den hochexplosiven Konflikt zwischen Nord- und Südkorea nach einem Angriff auf ein südkoreanisches Schiff. Plötzlich erschien, angesichts eines nationalen Problems, der ferne Osten tatsächlich sehr fern.
Sprecher:
Die Situation wiederholte sich noch einmal am 24. Juli, als bei der Love Parade 21 Menschen starben und mindestens 510 verletzt wurden. Es geschah zu dem Zeitpunkt, da Südkorea zusammen mit Amerika demonstrativ ein viertägiges Marinemanöver vor der Ostküste der koreanischen Halbinsel startete. Während das Fernsehen von diesem Ereignis keine Bilder lieferte, überflutete es den Zuschauer mit Bildern und Bildfolgen von der Love Parade, auf dem Sender NTV unterlegt mit Musik und kommentiert von teils völlig überforderten Lokalreportern, die der Größenordnung des Extremereignisses in keiner Weise gewachsen waren.
Welche Ausmaße muss ein Ereignis annehmen, um nachhaltig als Extremereignis bewertet und empfunden zu werden? Sind Selbstmordattentate, die Überfälle von Piraten auf Schiffe oder die israelische Militäraktion gegen einen Schiffskonvoi vor Gaza am 31. Mai (die der palästinensische Präsident als "Massaker" und ein türkischer Diplomat als ein "Verbrechen" bezeichneten) Extremereignisse? Sie sind es im politischen und geographischen Umfeld des Geschehens und tragen eine Sprengkraft in sich, die potenziell weit über den ursprünglichen Rahmen hinausreicht: freundschaftliche internationale diplomatische Beziehungen stehen auf dem Spiel und der Einfluss terroristischer Gruppierungen kann sich so stark ausweiten, dass aus einem scheinbar lokal begrenzten Ereignis ein globales Extremereignis wird.
Sprecherin:
Bei solchen politischen Extremereignissen lassen sich - anders als bei Naturkatastrophen - nachträglich Korrekturen im Sinne von Ausbesserungsarbeiten anbringen. Einige Tage nach der Militäraktion stoppte die israelische Armee weitere Schiffe der internationalen Solidaritätsflotte vor der Küste Gazas auf friedliche Weise und schickte Filmaufnahmen dieses Eingriffs in die ganze Welt, um die weltweite Empörung zu befrieden und das Extremereignis vergessen zu machen. Gleichzeitig berichteten nun die freigelassenen Passagiere von grausamen Erlebnissen bei dem gewaltsamen Übergriff. Das Extremereignis wurde auf solche Weise zu einer medialen Auseinandersetzung oder (wenn man so will) zu einer "Schlacht" der Worte und Bilder.
Extremereignisse werden in der Gegenwart durch die weltweite mediale Vernetzung auch in der Wahrnehmung globalisiert. Sie bestimmen den Alltag der Menschen auch dann, wenn sich die Ereignisse fernab auf einem anderen Kontinent abspielen. Durch die tägliche massive Konfrontation mit ihnen verlieren sie einerseits etwas von ihrer schockartigen, einzigartigen, aus allem herausgelösten Wirkung. Andererseits werden selbstverständlich zum Beispiel ein Erdbeben, eine Ölpest, ein Vulkanascheregen oder eine Überschwemmung von den unmittelbar Betroffenen immer noch wie früher als alles dominierende erschütternde Katastrophen und schwerste, oft traumatisierende und existenzgefährdende Schicksalsschläge erfahren.
Sprecher:
Im Unterschied zu früher nehmen wir sehr viel schwächer oder gar nicht mehr die Symbolik in dem Geschehen war: die Symbolik des Erdbebens (das die Erde aufreißt und bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt), des öligen Schlamms (der wie eine fremde böse Macht alles Leben zu ersticken droht), des Vulkanascheregens (der den Himmel verdunkelt, den Luftraum blockiert, das Land, die Pflanzen und Tiere mit einem dunklen Film überzieht) oder der Überschwemmung (die Landmassen verschluckt, Häuser und Straßen, Menschen und Tiere wegreißt und sich bis tief ins Innere von Ländern, Inseln und Halbinseln auswirkt). Wir bringen das Geschehen nicht mehr unbedingt mit strafenden Göttern in Verbindung und sehen uns nicht unmittelbar, wie in den traditionellen Gesellschaften, zu ritualisierten Opferungen aufgefordert.
Manchmal blitzt dieser archaische, urreligiöse oder auch pseudoreligiöse Bezug wieder auf. Am 31. Mai, dem "Memorial Day" der Baptisten-Kirche, fand in einem kleinen Städtchen im Süden Louisianas ein Kriegstoten-Gedenkgottesdienst statt, bei dem die Verteidigung der amerikanischen Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Glückssuche mit dem Blut, das Jesus Christus am Kreuz vergossen hat, und mit der Ölkatastrophe verknüpft wurde.
Zitator:
"'Falls ihr es noch nicht gehört habt', sagt Pastor Stanford, 'wir haben eine Ölkatastrophe hier.' Die Gemeinde lacht auf. 'Die Regierung kann uns nicht retten, BP hat uns nicht geholfen, nur Jesus Christus kann uns helfen und retten!' Und wieder schallt es 'Amen' zurück. An der Ortseinfahrt hat die Kirche das Schild aufstellen lassen: 'Jesus Christus regiert in Grand Isle'."
Sprecherin:
Im Unterschied zu früher sind Betroffene heute längst nicht mehr nur Einheimische, ursprünglich mit einem Ort oder Land Verbundene, sondern ebenso Touristen und über internationale politische und ökonomische Verflechtungen betroffene Geschäftsleute, Industriezweige, Banken und Staaten. Im besonderen Maße trifft dies auf die globale Klimaentwicklung und auf Finanzkrisen zu, die sich nahezu zeitgleich vom lokalen und nationalen auf den gesamten internationalen Markt ausweiten können.
Bei den von Menschen verursachten Extremereignissen und den Naturkatastrophen (bei denen der menschliche Schuldanteil durch verantwortungslose Ausbeutung, destruktive und risikoreiche, nicht für Notfälle abgesicherte Installationen immer größer wird) richtet sich das Hauptaugenmerk darauf, zerstörte Gewässer, Häuser, Straßen und Brücken, die Fischerei, die Landwirtschaft und Industrie wieder aufzubauen, das Land für die Touristen erneut attraktiv zu machen, schadstoffärmere Produkte zu entwickeln und neue Messverfahren und Frühwarnsysteme zu erforschen und zu installieren.
Sprecher:
Die Erfahrung - ob bei Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen, Ölverschmutzungen der Meere oder Tornados, Pandemien oder Reaktorunfällen - zeigt jedoch, dass die unmittelbare Betroffenheit, die große Hilfsbereitschaft und der Wunsch, in die Zukunft zu investieren, sehr schnell durch eine einsetzende Gewöhnung an die Flut ständiger katastrophischer Ereignisse zurückgehen. Auch bei der Kriegsberichterstattung erleben wir eine erschreckend schnelle Gewöhnung an unvorstellbares Leid. Dies betrifft, auf einer anderen Ebene, auch ökonomische Extremereignisse wie den "Euro-Schutzschirm" in einer Größenordnung von 750 Milliarden Euro, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigt und innerhalb kürzester Zeit als gegeben hingenommen wurde. Der kurz aufflammende Zorn manifestierte sich nur kurz in Protestbewegungen und wich schließlich der Apathie und Schicksalsergebenheit:
Zitator:
"Was sollen wir tun. Wir sind machtlos. In ein paar Tagen peitschen die Regierenden ein Milliarden-Hilfspaket für andere Länder durch. Für das eigene Land brauchen sie für kleinste Gesetzesänderungen und Sozialprogramme Monate und Jahre, wenn sie überhaupt was tun. Nach Griechenland sind jetzt Spanien, Portugal und Irland dran."
Sprecherin:
Zu Extremereignissen muss man auch die nationalen Sparbeschlüsse in Deutschland rechnen. Ihr extremer Charakter - vor allem in Bezug auf die dramatischen Einschnitte im Sozialbereich - soll durch die Kennzeichnung als Sparpaket verniedlicht werden, so, als handle es sich um Geschenke, die man schön verpackt auf die Reise schickt, also um etwas Handliches und Greifbares. In der Tat aber sind die Ausmaße der Einschnitte alles andere als greifbar. Auch weitere Charakterisierungen sollen das Vorgehen als menschlich, als nah am Menschen, darstellen:
Zitator:
"Es handelt sich um einen einmaligen Kraftakt in ernsten, schwierigen Zeiten. Das Sparpaket ist ausgewogen, fair, gerecht. Manche Kürzungen, etwa beim Elterngeld, sind schmerzlich."
Sprecherin:
Schmerzlich für wen? Doch nicht für die Politiker - das ist nur der Anschein eines Mitempfindens -, sondern für die Betroffenen, die die Kürzungen als Extremereignis empfinden. Extremereignisse betreffen immer ganze Regionen und weite Bevölkerungsschichten. Sie sprengen den Rahmen dessen, was von den Menschen einfach in ihr Leben zu integrieren und wenigstens teilweise zu reparieren ist.
Der Mensch kann emotional und vorstellungsmäßig die Vielfalt und die Quantität der auf ihn einströmenden Katastrophen-Nachrichten nicht verkraften oder gar verarbeiten. Der Soziologe Ulrich Beck hat die Situation so beschrieben:
Zitator:
"Wir praktizieren eine transnationale Ortspolygamie, sind gleichzeitig mit mehreren Orten verheiratet. Dieses glokale Gefühl ist das Einfallstor der Globalität im eigenen Leben."
Sprecher:
Das Verbundensein mit vielen Orten und die Informationsüberflutung erscheinen heute derart stark und teils übermächtig, dass die größere Kunst darin besteht, sich von der medialen Überflutung abzukoppeln und die Erlangung von Wissen ganz neu zu strukturieren.
Die Medien leben davon, dass sie Welten und Realitäten, Geschehnisse, Einstellungen und Mentalitäten einerseits in ihrer Vielfalt vermitteln, andererseits unablässig den Eindruck zu erzeugen versuchen, als gäbe es eine Realität, eine Wirklichkeit, und genau diese eine Welt würde dem Zuschauer auf wundersame, ja magische Weise in wenigen Minuten direkt ins Wohnzimmer geliefert. Es entsteht das Bild einer großen Welt, an der alle teilhaben können, ein kosmopolitisches Weltgefühl.
Globalisierung ist in diesem Sinn ein medial erzeugtes und unablässig gefüttertes und mit neuen Inhalten und Extremereignissen bereichertes Bild. Nur durch die Extremereignisse ziehen die Nachrichten täglich neu die volle Aufmerksamkeit auf sich.
Sprecherin:
Am 26. Juli 2010 eröffnete dabei die Internetseite wikileaks.org eine neue Dimension: Mehr als 91.000 Dokumente der amerikanischen Kriegsführung in Afghanistan wurden an einem Tag zugänglich gemacht. Rund 15.000, teilweise als "top secret" bezeichnete Dokumente werden noch zurückgehalten; andererseits liefern nicht alle Papiere neue Informationen. Allerdings zeichnen sie in der Fülle ein verschärftes Gesamtbild der Kriegsführung. Auf erschreckende Weise untermauert wurde dies noch durch die drei Monate später erfolgte Veröffentlichung von 400.000 Dokumenten aus einer "Datenbank des Pentagons" über Gefangenen-Folter und den Tod von Zivilisten im Irak-Krieg in der Zeit zwischen dem 1. Januar 2004 und dem 31. Dezember 2009.
In solchen Fällen legen die Medien und das Internet eine Tiefendimension von politisch-militärischen Extremereignissen offen, die das Extreme als noch viel grausamer als ohnehin bekannt zeigen. Lange Zeit aufrecht erhaltene Bilder eines "sauberen Krieges" stürzen in sich zusammen. Julian Assange, der wikileaks leitet und den Zusammenschluss mit internationalen Privatmedien sucht, zeigt sich verantwortungsbewusst:
Zitator:
"Unsere größte Gefahr ist, dass wir zu erfolgreich sind und zu schnell wachsen, dass wir zu viele Dokumente bekommen und all diesen nicht mehr gerecht werden können."
Sprecher:
So wie die Öffnung der Stasi-Archive durch die Bürgerbewegung der DDR die Arbeit der Staatssicherheit transparent machte, so machen die jetzt verfügbaren Dokumente aktuelle politisch-militärische Extremereignisse wie den Krieg in Irak und Afghanistan transparenter und belegen die Verfälschungen des Pentagon. Die Brisanz einer solchen Art medialer Aufklärung zeigt auch die Aufforderung mancher amerikanischen Politiker und Journalisten, jetzt einen konsequenten Kampf gegen WikiLeaks zu führen und die Verantwortlichen wie Staatsfeinde zu jagen.
Bei allen Nachrichten geraten wir aber dennoch immer wieder an eine Grenze, an eine Grenze der Vermittlung. Sind die extremen Greueltaten allein im 20. Jahrhundert (das der Historiker Eric Hobsbawm "Das Zeitalter der Extreme" genannt hat) medial übertragbar? Die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit der Darstellbarkeit des Holocaust und vergleichbarer Geschehnisse und Erfahrungen haben wir sehr oft in ein überquellendes Reden und Verhandeln, Diskutieren und metaphorisches Ausagieren verkehrt, so, als wollten wir die zugrunde liegende Erfahrung in die Normalität integrieren.
Sprecherin:
Letztlich übersteigen aber schon die uns heute als alltäglich vorkommenden Katastrophennachrichten die rationale Verstehbarkeit. Aus geschichtlichen Extremereignissen wissen wir, dass man sich mit den in Kriegen Gefallenen, Verschleppten, Misshandelten und den in Konzentrationslagern Erniedrigten und Verhungerten nur bis zu einer bestimmten Anzahl von Einzelschicksalen gefühlsmäßig und nachhaltig auseinandersetzen kann.
Es gibt geschichtliche Situationen, die nicht nur eine Grenze übersteigen, sondern das absolute Ende einer Idee, ja der Idee der Schöpfung und einer universalen Moral bedeuten. Die Schwierigkeit, mit der uns der Nationalsozialismus konfrontiert hat, besteht darin, dass hier die Verschiedenheit von Menschen auf eine so extreme Art und Weise geleugnet wird, dass der andere (der Jude) nurmehr als Nichtmensch erscheint. Damit wird die Verkennung des Menschen auf die Spitze getrieben. Das Band der Menschlichkeit ist zerrissen. Der Mensch erkennt sich nicht mehr im anderen Menschen wieder. Der Philosoph Alain Finkielkraut schreibt in seiner Studie Die Niederlage des Denkens:
Zitator:
"Was ist also passiert, dass der Begriff der universalen Menschheit und Menschlichkeit im Herzen der Zivilisation, wo er seine eindrucksvollste Entwicklung erreicht hatte, in eine so tiefe und radikale Vergessenheit geraten konnte?"
Sprecher:
Wir müssen, wenn wir von Hoffnungen am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrunderts mit Recht sprechen wollen, die Chancen abwägen, die wir im Verstehen und Aufarbeiten des Geschehenen haben. Können wir diese extremen Ausformungen des Menschseins tatsächlich begreifen und als zu uns gehörig akzeptieren? Wie können wir mit dieser Erfahrung im Rücken an ein dem Menschen eigenes Ethos glauben? Dies scheint nur möglich, wenn wir uns mit der Erfahrung der absoluten Grenze konfrontieren, des Wissens um geschichtliche Situationen, die das bedingungslose Ende der Idee der Schöpfung markieren. In einem Essay stellte der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski fest:
Zitator:
"Das Lager ist für mich Dunkelheit, Nichts. Sogar noch weniger. Ich verstehe die Juden, für die Auschwitz der Tod Gottes war. Für den Christen bedeutet der Tod Gottes die Kreuzigung. Aber nach der Kreuzigung ist Christus wieder auferstanden. Auf dieser Überzeugung gründet die gesamte Zivilisation Europas. Genau deshalb war das Lager als historische Erfahrung unseres Jahrhunderts das Ende der Zivilisation. Vielleicht sogar noch mehr; denn im eschatologischen Sinn musste es das Ende aller Zivilisation bezeichnen, mithin auch das Ende des Menschseins, das Ende der Welt, das Ende von allem. Hitlers KZ und Stalins Gulag bildeten die Schwelle, hinter der sich nur noch das Nichts erstreckte."
Sprecher:
Wir alle tragen, wie Szczypiorski gesagt hat, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das Lager in uns und müssen uns jetzt entscheiden, für oder gegen das Lager, für oder gegen das Nichts. Im Selbstverständnis der Handelnden aber stellte sich die totale Vernichtungsmaschinerie als Produkt und Zeichen der Normalität und normaler Menschen dar. So ist von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, die Aussage überliefert:
Zitator:
"Ich bin völlig normal. Denn selbst, als ich diese Vernichtungsaufgabe durchführte, war mein Familienleben durchaus normal."
Sprecher:
Extremereignisse zerstören für die Betroffenen jede Normalität und können doch für Außenstehende und sogar für Verantwortliche im Rahmen ihrer Normalität verlaufen. Victor Klemperer notiert in seinem Tagebuch:
Zitator:
"Nach einem gipfelhaft furchtbaren Tag eine dauernde weitere Verschlimmerung der Situation ... jeden Tag fühlen wir uns schlimmer gehetzt und dem Tode näher. Wir glaubten vorgestern, die Lage sei unüberbietbar schlimm, sie ist seit gestern hundertmal schlimmer. Sie wird morgen wieder noch schlimmer sein als heute."
Sprecherin:
Wie kann man solche Aufzeichnungen lesen, im Sinne von verstehen und ertragen, sich dazu in Beziehung setzen, sich einfühlen und das Ertragene nacherleben? Ist dies nur dann möglich, wenn das eigene Leben vergleichbare Erfahrungen kennt, an die sich anknüpfen lässt? Gibt es aber überhaupt so etwas wie eine objektive Wertigkeit von Gräueltaten, von Leid und Schrecken, von Extremereignissen?
Das Thema der emotionalen Verarbeitung von Extremereignissen ist noch kaum erforscht. Dabei geht es zum einen um die unmittelbar von den Ereignissen Betroffenen und zum anderen in der heutigen Zeit um die medial an diese Ereignisse Angeschlossenen. Der Mensch ist bewusstseinsmäßig nur in sehr begrenztem Ausmaß mit den medial verbreiteten weltweiten Schreckensszenarien mitgewachsen. Er kann noch sehr schlecht mit seinem weiten Wahrnehmungshorizont umgehen.
Sprecher:
Betrachtet man etwa den Konflikt in Kirgistan zwischen den Kirgisen und Usbeken, der sich im Juni 2010 dramatisch zuspitzte. Grausame Bilder der kriegerischen Auseinandersetzungen flimmern kurz über den Bildschirm. Der Zuschauer erhält die Information, dass es ein Krieg gegen die ethnische Minderheit der Usbeken ist und dass die Lage außer Kontrolle geraten ist. Wir sehen nur die Bilder, können uns aber emotional nicht mit dem fernen Geschehen auseinandersetzen und vermögen auch nicht, den Konflikt geschichtlich und politisch hinreichend einzuschätzen. Wir nehmen zwar dieses Geschehen visuell wahr, bilden dabei aber kein Bewusstsein von der Situation aus.
Erst in dem Augenblick, da sich zeigte, dass es sich keineswegs um einen lokal begrenzten Konflikt, sondern um einen globalen, höchst explosiven Gefahrenherd handelt und das Land ein neues Agitationsfeld für radikale Islamisten zu werden droht, beleuchteten die Medien die geschichtlichen und politischen Hintergründe. So war es dem Fernsehzuschauer möglich, sich ein fundiertes Bild von der Situation und der Dimension dieses Extremereignisses, das den Charakter eines Progroms hat, zu machen. Erst jetzt konnte eine Bewusstseinsbildung einsetzen.
Sprecherin:
Das Interesse an der Geschichte und Komplexität ethnischer Konflikte, auch wenn sie uns nicht unmittelbar betreffen, und die Stärkung des Austauschs zwischen den Kulturen muss auch ein fester Bestandteil nationaler und internationaler Politik werden. Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, schreibt in diesem Sinne:
Zitator:
"Der Dialog unter den Kulturen ist wichtig. Aber noch wichtiger ist, dass dieser Dialog eine verbindliche Umsetzung in internationale Institutionen findet. Ich habe im Laufe meines Lebens an etlichen Konferenzen teilgenommen und dabei zu oft konstatieren müssen, dass, sobald die Debatten gelaufen sind, niemand sich mehr für die Konklusionen interessiert, mangels einer Folgeabmachung. Konferenzen bilden im Buch der Geschichte bloß Fußnoten. Deshalb brauchen wir eine neue Generation internationaler Organisationen."
Sprecherin:
"Globale Wahrnehmung" oder "Wahrnehmung, Bewusstsein und Handeln in einer globalisierten Welt" müssten darüber hinaus dringend Unterrichtsfächer an Schulen und Universitäten werden. Es müsste allen Mitgliedern der Gesellschaft die soziale und individuelle Notwendigkeit einer verantwortlichen Bewusstseinsbildung klarwerden. Welche Wissenschaften sollte man dabei zu Rate ziehen? Die Ethnologie könnte behilflich sein, in kulturvergleichenden Beobachtungen und Analysen Hinweise auf Verarbeitungsformen von Extremereignissen zu geben, Verarbeitungsformen, die uns in unserer Kultur fremd erscheinen mögen.
Sprecher:
Wir sind in den westlichen Gesellschaften - trotz der Irrationalität vieler politischer Extremereignisse, vor allem in totalitären Staaten - besonders stark von der Bedeutung der Vernunft, der Rationalität und Aufklärung geprägt. Entsprechend distanziert und um Verstehen bemüht, reagieren wir auf Extremereignisse. Unsere Reaktionsformen sind aber nur eine Möglichkeit und nicht die einzig vorstellbare Denk- und Aktivitätsform. In anderen Kulturen reagiert man oft sehr viel passiver, hinnehmender, ins Gebet oder in die Meditation versunken, gelassen, schicksalsergeben.
Uns erscheint die rationale und deskriptive Erfassung, die historische Aufarbeitung, die sich daran anschließende Deutung und die theoretische Erarbeitung notwendiger Rettungsmaßnahmen und deren praktische Durchführung als die selbstverständliche Reaktionsform bei Extremereignissen.
Sprecherin:
Dabei spielen technische Messverfahren eine große Rolle und übernehmen zeitweise sogar ausschließlich (wie etwa nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans, Eyjafjallajökull, 2010) die Entscheidung über weitere Handlungsschritte wie die Frage, wie lange Flüge verboten werden sollen.
Es sind also die Technologie, die mediale Information, die Rationalität und der Pragmatismus - oft gepaart mit Prozessen der Gewöhnung und auch der Verdrängung des wirklichen Ausmaßes -, die unsere Reaktionsformen bestimmen.
Verdrängung und Gewöhnung einerseits und Panik bzw. Hysterie andererseits sind zwar gegensätzliche Reaktionsformen auf Extremereignisse, haben sich aber in der Praxis vielfach miteinander vermischt und werden oft je nach der Situation favorisiert. Die Gelassenheit, die in unseren Gesellschaften zuweilen zur Schau gestellt wird, hat zumeist nur die Funktion, dass Politiker als souverän erscheinen sollen. Sie will signalisieren: Wir haben die Lage im Griff. Gelassenheit ist in unserer westlichen Tradition eher selten psychisch, sozial und kulturell verankert.
Sprecher:
Dagegen ist in traditionellen Kulturen die Gelassenheit, aufgrund eines tief verwurzelten Vertrauens in die Göttlichkeit des Geschehens und in die kosmische Ordnung, die natürliche Reaktionsform. Es wäre sehr hilfreich, Extremereignisse wie "fremde Kulturen" als erst noch zu verstehende und zu deutende Komplexe zu betrachten. Das Erklären selbst ist für unsere Kultur spezifisch.
Ein Extremereignis hat eine objektive, faktische Bedeutung; darüber hinaus aber hat es eine individuelle, von jedem Menschen (im Zusammenhang seiner lebensgeschichtlichen und kulturellen Bedingungen) anders erlebte Wertigkeit. Unter diesem Blickwinkel erkennen wir, dass die uns vertrauten, von Angst, Sorge und Aktivität geprägten Reaktionsformen auf Extremereignisse nicht die einzig möglichen und nicht "selbstverständlich" sind. Ein solcher, relativierender, Blick kann sehr positiv und heilsam bei der Bewältigung von Extremereignissen sein.
Sprecherin:
Auf diese Weise tritt die Ethnologie als eine für die einzelnen Menschen, die Gesellschaft, die individuelle und die kollektive Aufarbeitung hochrelevante Wissenschaft in den Vordergrund. Und damit wird auch in einer weitgehend vom naturwissenschaftlichen Denken geprägten Welt das Verstehen - das allem Erklären zugrunde liegt - wieder gestärkt.
Bei aller Bedeutung der Naturwissenschaften sollte deren Zugang zu Extremereignissen doch auch durch den geisteswissenschaftlichen Ansatz ergänzt werden, um die Austausch-Prozesse zwischen den Menschen und dem Ereignis und die darin beschlossenen Bewertungen in den Blick zu bekommen.