Was wissen wir über die Zukunft?

Das Spiel der Politik
mit Zukunftsaussagen
und Sicherheitsutopien 

 Von Hans-Jürgen Heinrichs  

Folge 1/4 am 7.1.2010 

O-Ton von:  

Philosoph Martin Seel

Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologe Harald Welzer

Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer

Sprecher und Sprecherin

   Heinrichs Start

 

deutschlandfunkkultur.de/das-spiel-der-politik-mit-zukunftsaussagen-und.1088.de.html?dram:article_id=176627

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Sprecher:

"Planung" — ein durch die "Planwirtschaft" einst arg in Verruf geratenes Wort. Und dennoch: überall, und in allen Gesellschaftsformen, ist von ihr die Rede. Weil sie eine Aura des Vernünftigen umgibt. In Wirklichkeit aber steckt in der Planung zukünftiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse ein großes Maß an Gläubigkeit und Irrationalität. Die mit der Planung und Durchführung Beauftragten betonen indes die Rationalität und Konkretheit ihres Tuns.

Sprecherin:

Der Glaube an die Vorhersehbarkeit von Entwicklungen und die sich darauf stützende Planung hängen aufs engste mit einer Idee von Wissenschaft zusammen, die von ehernen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten ausgeht. Der Philosoph und Schriftsteller Isaiah Berlin hat einen solchen Glauben eine "Spielart metaphysischen Wahns" genannt. Auch wenn sich Prognosen als falsch und untauglich erweisen — greift man nur eine der populärsten und radikalsten heraus: die These vom "Untergang des Abendlandes" —, sind sie doch ein gängiges Instrument in Politik und Geschichtsschreibung geblieben. Der Philosoph Martin Seel, der gerade ein neues Buch mit dem schlichten Titel Theorien herausgebracht hat, deutet den Wunsch nach Zukunftstheorien so:

1. O-Ton Seel: 

Der Wunsch, etwas von der Zukunft zu wissen, ist, denke ich, ein ganz natürlicher. Man möchte ja ein bisschen planen können, ein bisschen wissen, was man erwarten kann, über den Tag hinaus denken. Das sind Fähigkeiten, die der Mensch hat. Er ist darauf angewiesen, gewisse Erwartungen einigermaßen stabil halten zu können. Das heißt aber nicht, dass man die Zukunft wissen wollen kann, denn wenn wir das wüssten, würden wir auf einer festen Bahn in eine öde Zukunft uns bewegen. Wir könnten nicht überrascht werden, wir könnten uns nicht verändern oder jede Veränderung wäre ja schon vorausgeplant. 

Das heißt, wenn der Wunsch sich so gestaltet, dass die Menschen die Zukunft wissen wollen, dann handelt es sich hierbei um eine Illusion, eine Illusion, von der seit Jahrtausenden bestimmte Leute immer profitiert haben, denn Wahrsagen, Deutung von Zeichen und dergleichen ist ja eines der ältesten Gewerbe. Das Versprechen aber, die Zukunft weissagen zu können, ist immer ein lügenhaftes Versprechen, von dem mancher auch heute noch ganz gut lebt.

Zukunftstheorien, ob die nun heute von soziologischer, politologischer oder philosophischer Seite verfasst werden, geben, denke ich, grundsätzlich ein falsches Versprechen; man kann nur bestimmte Tendenzen aufzeigen, von denen man auch nicht weiß, wie sie sich weiter entwickeln werden, und von daher ist, denke ich, eine Nüchternheit im Gebrauch solcher Zukunftstheorien empfehlenswert, was man ja schon daran sieht, dass die bekannten Autoren, die sich hier versucht haben, alle fünf Jahre eine neue Zukunftstheorie aufstellen.

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Sprecher:

Aus der Geschichte lassen sich nur sehr begrenzt Interpretationsmodelle für die Zukunft ableiten; lange Zeit als unumstößlich geltende Formeln wie diejenige vom "sich selbst tragenden" Wachstum und vom zyklischen Wechsel von Rezession und Aufschwung haben keine Verbindlichkeit mehr. Weder trägt sich das Wachstum selbst noch kann ein System einen Zyklus garantieren. Es scheint vielmehr so zu sein, dass noch unerprobte Systemvermischungen die wirtschaftlich größeren Chancen haben und dass nur eine nach vorne orientierte kulturelle und soziale Phantasie und Verantwortlichkeit den Erschöpfungszustand der konsumindustriellen Gesellschaft zu überwinden vermögen. Politische und ökonomische Entwicklungen werden innerhalb des konventionellen politischen und ökonomischen Denkens allein nicht erklärt, diagnostiziert oder gar vorausgesagt werden können.

1995 schrieb der Historiker Eric Hobsbawm in seinem berühmten Buch Das Zeitalter der Extreme:

Zitat:

"Vorhersagen der Auguren aus den vergangenen dreißig oder vierzig Jahren ... waren derart spektakulär schlecht, dass wahrscheinlich nur noch Regierungen und Wirtschafts­forschungs­institute Vertrauen in sie haben oder zu haben vorgeben."

Sprecher:

"Planung" wird in der modernen Gesellschaft wie eine magische Formel gebraucht, und dabei möchte sie doch als durch und durch rational erscheinen. Die Vorstellung von Planung macht aus einem letztlich nicht greifbaren labil-stabilen, psycho-sozialen Geflecht, das wir Gesellschaft nennen, eine bestimmbare "Größe", eine benennbare polit-ökonomische "Einheit". Dabei soll die wissenschaftliche Forschung das politische Handeln absichern und die Planung als vernünftig, aufgeklärt und realistisch erscheinen lassen.

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Zitat:

"Faktor Vier. Doppelter Wohlstand — halbierter Naturverbrauch. Also: Halbieren wir den Verbrauch an Naturressourcen und verdoppeln so den Wohlstand aller."

Sprecherin:

So lautete in den 1990er Jahren eine der neuen ökologisch-utopischen Formeln für eine bessere und zudem sinnvollere Zukunft. Der Faktor Vier als Schlüssel einer Steigerung der Produktivität und einer effizienten Nutzung der Energie bei gleichzeitiger Minderung des Naturverbrauchs. Auch dies war, im Gewand der Wissenschaft, wieder eine "Lösungsstrategie". Da aber auch die kühnen Gebäude der Theorien von Menschen gemacht sind und zudem (wie dies der Philosoph Karl Popper einmal gesagt hat) weniger auf "Grundgestein" als vielmehr auf "Sumpf" ruhen, müssen wir sie stets aufs neue abstützen, neu begründen.

Sprecher:

Vor der Wirtschafts- und Finanzkrise musste man mehr noch als jetzt skeptisch sein, ob die Menschen bei einer höheren "Energieeffizienz" tatsächlich ihren Energie­verbrauch halbieren oder ob sie sich mit einem doppelten Wohlstand zufriedengeben, wenn ihnen ein vierfacher Wohlstand möglich erscheint. Die Verschwendung hat zwar in den Industrie- und Konsumgesellschaften ein bedrohliches und existenzgefährdendes Ausmaß angenommen, aber wir kennen sie auch in vielen "archaischen" Spielarten. Der Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologe Harald Welzer stellt auch einen Kulturvergleich an:

Zitat:

"Die Geschichte kennt Beispiele von Zivilisationen, die untergegangen sind, weil sie an Strategien, die für ihren Erfolg und Aufstieg gesorgt hatten, unter veränderten Umweltbedingungen zäh festgehalten haben. Was mag derjenige gedacht haben, der auf der Osterinsel den letzten Baum gefällt und damit den unaufhaltsamen Untergang einer 700 Jahre lang erfolgreichen Kultur besiegelt hat? Wahrscheinlich, dass Bäume schon immer gefällt wurden und dass es völlig normal sei, wenn auch der Letzte fällt. Wir sind alle Osterinsulaner: Würde man nach einer schlichten Überlebensregel selbstverständlich davon ausgehen, in einem Jahr nur soviel an Ressourcen zu verbrauchen, wie die Erde per annum zur Verfügung stellen kann, dann müssten wir diese Jahresration auf 365 Tage verteilen und dürften sie nicht vor dem 31. Dezember ausgeschöpft haben."

Sprecherin:

Richtig ist: Wir könnten die Zukunft zu großen Teilen sinnvoll gestalten. Und doch müssten wir uns dabei immer bewusst sein, dass sie nicht die einfache Verlängerung der Gegenwart und dessen ist, was wir über diese wissen, zu wissen glauben und zahlenmäßig erfassen. Welche Aussagen, so muss man sich fragen, können Wissenschaftler überhaupt mit den Mitteln ihrer jeweiligen Disziplin über die Zukunft der Erde, der Gesellschaften und der Menschen machen? Die Wissenschaften tangieren Glaubenssysteme und Hoffnungen, bloße Vermutungen und Spekulationen, wenn sie Voraussagen treffen, die Verlängerungen des Ist-Zustandes in die Zukunft sind.

Sprecher:

Die gegenwärtige fundamentale Wirtschafts- und Finanzkrise hat unsere gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen so von Grund auf erschüttert, dass wir nicht mehr begründet davon ausgehen können, dass die bestehenden Systeme insgesamt in der gegenwärtigen Form überleben werden.

Sprecherin:

Voraussagen über die Zukunft sind also mehr als fragwürdig, wenn sie das Gegenwärtige in die Zukunft projizieren und dies zudem als "wissenschaftlich" ausgeben. Da die regierenden Politiker eine grundsätzliche Infragestellung bestehender Systeme zu umgehen versuchen, vor allem dann, wenn diese Systeme den Kern unseres modernen, zivilisatorischen Selbstverständnisses berühren

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 — exemplarisch die Marktwirtschaft, den unbedingten Fortschritts- und Wachstumsglauben —, ist die gesamte öffentliche Diskussion in eine gravierende Schieflage geraten: Man laboriert an Detailproblemen, löst einzelne Segmente, wie etwa den Klimaschutz, die Reformierung der Bankgesetze oder die Begrenzung der Managergehälter aus der Gesamtproblematik heraus und lenkt auf diese Weise sogar, mit verheerenden Folgen, von den elementaren Fragen und Infragestellungen ab.

Sprecher:

Die Chancen sind nicht allzu groß, dass die politischen Parteien die Fixierung an überkommene Koordinaten und Systeme grundsätzlich infrage stellen und Zukunft nicht immer nur als verbesserte Gegenwart denken. Harald Welzer:

2. O-Ton (Welzer): 

Zum einen muss, wie eigentlich bei anderen Menschen auch, ein gewisser äußerer Anlass dafür da sein, das Überkommene, an dem man festhält, irgendwie zu revidieren und zu versuchen, die Dinge von einer anderen Seite zu sehen. Im Fall der professionellen Politik würde ich zunächst mal denken, dass dieser Druck, dieser Anlass aus einem veränderten kulturellen Klima innerhalb dessen resultiert, was man so unschön Zivilgesellschaft nennt, also im Grunde genommen die bürgerschaftliche Gesellschaft, die im Augenblick ja sehr apathisch, sehr ineffektiv, sehr unengagiert sich das betrachtet, was von der professionellen Politik gemacht wird. 

Insofern haben die keinen besonderen Anlass, andere Dinge zu denken, als sie bislang gedacht haben. Deshalb gibt es diese eigentümliche Stagnation und, wie ich das nennen würde, Zukunftsvergessenheit. Es ist ja auch klar, im Grunde genommen steckt man wie bei jeder betriebsförmigen Tätigkeit innerhalb sozusagen dieses Tunnels drin, versteht sich als Politmanager und hat aufgrund der Kurzfristigkeit der Planungshorizonte und der Legislaturperioden auch keinerlei Perspektive, irgendwie mal grundlegend über die Dinge nachzudenken. Deshalb ist ja so diese Beterei mit Wachstum, Fortschritt und sonstwas, omnipräsent in einer Äußerung, ohne dass das überhaupt noch was mit der Wirklichkeit zu tun hätte, in der wir leben.

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Sprecherin:

Im Alltag und in der Politik stellt man sich zumeist nicht die grundsätzliche Frage, welche Zukunftsvisionen in Ansätzen bereits verwirklicht sind und wie groß überhaupt der Erkenntnishorizont der Menschen und der Wissenschaften ist. Man geht in der Regel stillschweigend davon aus, dass wir mit den über Jahrhunderte hinweg immer mehr verfeinerten Techniken wie bisher auskommen und dass sie für unseren Blick in die Zukunft ausreichen. Es geht also darum, Ansatzpunkte für ein verändertes Verhalten zu finden.

3. O-Ton (Welzer): 

Ich denke, das kann eigentlich nur durch eine massive Protestbewegung auf mehreren Ebenen passieren. Von selber wird das überhaupt nicht passieren, und zwar deswegen, weil die klassischen Politik-Konzepte der Parteien, die zur Wahl stehen, an die Erfolgsphasen aufsteigender westlicher Gesellschaften gebunden sind, das heißt, die Kategorien von Fortschritt, Wettbewerb und Wachstum sind essentiell, die sind habituell für diese Parteien; übrigens auch für die Linke und auch für die Grünen, für die Sozialdemokraten sowieso. Sie sind von ihrer Identität, von ihren mentalen Gravuren dicht da dran gebunden und können da gar nicht davon weggucken. Das ist halt das große Problem.

Ich würde mal denken, wenn zum Beispiel sich das größte Problem, was wir gegenwärtig haben, nämlich diese extreme Generationen-Ungerechtigkeit, so weiter niederschlägt, wie sie das gegenwärtig tut, wird man Jugendprotest sehen. In welcher Form, weiß man nicht, das artikuliert sich historisch immer neu, das ist keine Frage. Aber das wird sicherlich etwas sein, das diese Gesellschaft sehr stark beschäftigen wird.

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Und dann wird es notwendigerweise auch die Politik beschäftigen. Sowas führt möglicherweise zu Denkanstößen. Oder, wenn es tatsächlich so etwas geben sollte, was ja aber auch nur als Silberstreifen am Horizont steht, wie eine internationale Klima-Allianz und wirklich ernsthafte Anstrengung, etwas zu tun, dann kommt von der Seite auch her Druck. Und dann finden solche Absurditäten wie die Förderung absolut gestriger Industrien und sowas nicht mehr statt.

Sprecher:

Die Politik bedient sich selektiv der Spekulationen und mehr oder weniger wissenschaftlicher Zukunftstheorien; sie wählt sie gemäß ihrer eigenen Interessen aus. Sie versucht unablässig eine Balance zwischen Warnung und Beruhigung. Es kann noch schlimmer kommen, aber zur Panik besteht kein Anlass — so lautet ihr Grundsatz. Auf die Vision von Sicherheit im großen ganzen will sie dabei nicht verzichten.

Kein Bereich des politischen und sozialen Lebens bleibt im modernen Sozialstaat unberührt vom Wunsch nach Sicherheit: Ein utopisches Ideal, das man sich aber dennoch bis in Details hinein konkret vorstellen möchte. Uns allen klingt seit Jahren der vielfach variierte und immer wieder — trotz aller Warnungen — erneuerte politische Schlachtruf "Die Renten sind sicher" in den Ohren. Und Bankmitarbeiter bieten im gleichen Ton der gespielten oder vielleicht sogar professionell verblendeten Überzeugung, wie vor der Krise, ihre Produkte als absolut sicher an.

Zitat:

"Wir senken die Steuern, entlasten die Menschen und halten die Renten stabil." — "Wir garantieren Sicherheit für Ihr Kapital." — "Wir kümmern uns um Sie, bei uns sind Sie in sicheren Händen." — "Die globale Wachstumssteuerung macht Ihr Geld sicher."

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Sprecherin:

Sicherheit ist der Fetisch, dem eine magische Kraft innezuwohnen scheint und alle Einwände und Bedenken zeitweise außer Kraft setzt. Wir alle wollen Sicherheit — im persönlichen Leben und bezogen auf das Ganze unserer Gesellschaft und ihrer Bedrohung durch Terroristen —, und die Vertreter des Staates sowie der Versicherungen versprechen sie uns.

"Sicherheit" und "Zukunft": diese beiden Begriffe werden so gehandelt und verhandelt, als gehörten sie einem rationalen Diskurs an. In Wahrheit sind sie aber imaginär, phantasmagorisch, illusionär, vielleicht sogar wahnhaft.

Sprecher:

Für alles wollen wir Sicherheit: für die Gesundheit, die Zukunft der Eltern, der Großeltern und Kinder, für die Fahrt mit dem Auto, für das ersparte Geld und das Gehalt, für die Ehe und das Arbeitsverhältnis unabhängig davon, dass uns die tägliche Erfahrung immer wieder darüber belehrt, dass dieser Wunsch jeder realen Grundlage entbehrt. Unser Wissen, dass das Leben in jedem Augenblick von Krankheit, Alter und Tod bedroht ist, dass das Geld eine zu großen Teilen fiktive Größe ist und sich gleichsam Stück für Stück durch die Inflation von allein aufzehrt, all dieses Wissen um die Vorgänge der Verunsicherung vermag nur sehr peripher und temporär das Sicherheitsideal und das Zukunftsphantasma zu irritieren.

Sprecherin:

Spezialisten, Berater und Politiker nutzen die Stabilität dieses Phantasmas, die Dauerhaftigkeit der Sehnsucht gnadenlos aus und scheuen sich nicht, auch am Tiefstpunkt der Depression und der Enttäuschungen davon zu sprechen, dass sie weiterhin an der absoluten Sicherheit arbeiten und sie sie auch bald schon erreicht haben werden.

Musik unterlegen

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Wagen wir an dieser Stelle der Reise in die Zukunft ein Szenario: wie wird sich die Welt in dem noch verhältnismäßig überschaubaren Zeitabschnitt von drei bis vier Jahren verändert haben, und zwar nur in Bezug auf die wirtschaftliche Situation? Das Szenario:

Musik kurz hochziehen

Sprecher:

Alles ist, wie es vor der Wirtschafts- und Finanzkrise war, nur auf einem viel niedrigeren Niveau, sagen wir 15 Prozent weniger. Aber diese Differenz ist inzwischen aus dem Blickfeld geraten. Die Verluste sind Schnee von gestern. Das Vokabular und die Mentalität der Manager haben sich nicht geändert. Herr Ackermann spricht wie selbstverständlich wieder von 25 Prozent Rendite bei der Deutschen Bank. Alle sind im Bann der Trendwende und haben die Chance vertan, in der Phase des tiefsten Abstiegs und der offenbar gewordenen fundamentalen Schwachstellen des Systems die Grundlagen unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu erneuern und Strukturveränderungen in Angriff zu nehmen.

4. O-Ton (Welzer): 

Es könnte ja sein, dass die Veränderungen genau daraus resultieren, dass es eine verpasste Chance gewesen ist. Es ist deprimierend zu sehen, dass die Veränderungsmöglichkeiten, die Umsteuerungsmöglichkeiten, die die Krise eröffnet hat und diese gigantischen fiktiven Geldbeträge eröffnet haben, die jetzt beispielsweise für Konjunkturprogramme, Bankenstützung und sonstwas ausgegeben werden, unter normalgesellschaftlichen Bedingungen nie zur Verfügung stehen. Insofern hätte die Krise die Chance geboten, genau diese Mittel zum Umbau der Gesellschaft einzusetzen, also von der carbonen zur postcarbonen Gesellschaft Technologien zu fördern, aber auch lokale Projekte zu fördern, also einen Umbau zu machen.

Sprecherin:

Die Frage ist, ob die Chance nicht dauerhaft verpasst worden sein wird, weil die Mittel, die jetzt dafür aufgewendet wurden, dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Andererseits könnte man behaupten, dass genau deswegen der Druck noch viel größer wird. Eine Stärkung der Protestbewegungen deutet sich ja bereits an.

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5. O-Ton (Welzer):  

Man geht gegen den Überwachungsstaat auf die Straße, man geht gegen Nazis auf die Straße, man geht gegen viele Dinge auf die Straße. Das sind die Indikatoren, glaub ich, das poppt so ein bisschen auf und wird sicherlich weitergehen. Es wird in dem Maße weitergehen, wie dieser Staat nicht mehr liefert, die Versorgungsansprüche, die Bedürfnisse nicht mehr befriedigen kann. Das ist jetzt nach dieser Krise oder mitten in der Krise wird das deutlich der Fall sein, in diesem Moment ja nur abgedimmt dadurch, dass man als Krisenmanagement im Grunde genommen die Simulation von Aufschwung produziert hat. # Das ist die Strategie gewesen. Man nimmt fiktives Geld, was überhaupt nicht existiert, und produziert eine Situation, wo alle Autobahnen und Städte voller Baustellen sind, und vor diesen Baustellen gibt es Staus und da stehen die Leute mit den auf Pump gekauften Autos. Das ist sozusagen eine vollkommen fiktive Welt, die da produziert worden ist, und die bricht natürlich blitzartig in sich zusammen. Insofern werden wir in drei Jahren vieles gesehen haben, von dem, glaube ich, die meisten Politikerinnen und Politiker noch gar nicht wissen, dass sie das sehen werden.

Sprecher:

Die Politik arbeitet damit, dass sie die katastrophalen Folgen ihrer Praxis in der Gegenwart (zum Beispiel das Verschleudern von gar nicht vorhandenem Geld) aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen versucht. Jahrelang hat man den westlichen Propheten und ihren Wachstumsprognosen geglaubt. Der Glaube ist erschüttert, aber wird das Misstrauen auch bleiben, wenn die Wirtschaft wieder, wie man sagt, "anzieht", und sei es auch nur virtuell? Jede Diskussion des Kapitalismus gerät unweigerlich in eine dilemmatische Situation: 

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Diejenigen, die das auf Profit aufgebaute System als die einzig angemessene, moderne Ökonomie verteidigen, erscheinen als unverbesserliche Neoliberale, blind für die Auswüchse, die Gier, die Verantwortungslosigkeit und Amoral der Manager und ihrer Institutionen. Wer dieses System hingegen von Grund auf in Frage stellt und den Staat zur Regulierung auffordert, geht davon aus, dass etwa die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise die Folge eben dieses ökonomischen Prinzips sei und der Staat, als Repräsentant der Moral und Ethik, gefordert sei.

6. O-Ton (Welzer): 

Was man jetzt mit dieser Finanzkrise erlebt hat, ist im Grunde genommen nur eine weitere Eskalationsstufe der Verselbständigung des Finanzsystems. Diese interessante Differenzierung zwischen Realwirtschaft und Fiktionalwirtschaft, diesen zweiten Begriff gibt es nicht, der wird ja nicht so gebraucht, aber wenn es eine Realwirtschaft gibt, muss es eine Fiktionalwirtschaft geben, und deren Apotheose haben wir gerade gesehen inclusive dann des Crashs.

Aber jetzt geht die ganze Geschichte schon weiter, das ist ein sehr interessantes Phänomen. Und was dort passiert, trägt eigentlich alle Merkmale dessen, was im Kapitalismus so passiert, auch dass das Krisenmanagement eigentlich eine weitere Stufe der privaten Aneignung der Gewinne und der Veröffent­lichung oder Sozialisierung der Verluste zeigt. Das haben wir gerade erlebt in unvorstellbarem Maßstab — was die Summen angeht.

Sprecherin:

Aber es gibt doch einen Unterschied. Die Krisen konnten bislang von den kapitalistischen Ländern deswegen bewältigt werden, weil sie weitgehend national, im Rahmen partikularer Wirtschaftssysteme, gewesen sind. Sie konnten sich immer dadurch regenerieren, dass sie den, metaphorisch ausgedrückt, "Treibstoff", den sie für ihre Art der Wirtschaft benötigten, von außen wieder holten.

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7. O-Ton (Welzer): 

Das Neue bei der Krise, die wir gegenwärtig erleben, ist, dass diese Form des Wirtschaftens, die den Treibstoff von außen bezieht, um innen den Laden laufen zu lassen, in einer globalisierten Welt nicht funktionieren kann, weil eine globalisierte Welt dieses "Außen" nicht hat. 

Das heißt, dieses System, das zweihundertfünfzig Jahre lang als partikular gedachtes — es war ja nie als universelles Prinzip gedacht —, als partikular gedachtes und als partikular praktiziertes Erfolgsmodell so prächtig funktioniert hat und all diese zivilisatorischen Errungenschaften gebracht hat, braucht man ja nicht naiv sein, das ist ja nicht böse an sich, sondern die ganze Etablierung der Menschenrechte, das Etablieren eines hervorragenden Bildungssystems, all diese Geschichten verdanken wir dieser Form des Wirtschaftens, die aber an ihr systematisches Ende kommt an der Stelle, wo sie nicht mehr partikular ist, sondern universell wird. 

Die globalisierte Welt hat dieses "Außen" nicht, und das ist das Neue, dass an dieser Krise deutlich wird, dass dieses Problem besteht. Insofern ist sie in vielerlei Hinsicht gleich; basal ist sie völlig gleich, sie ist aber sozusagen von der Konsequenz her ungleich.

Sprecher:

Es gibt zwei Bereiche, in denen die Politik besonders stark an Zukunftsaussagen interessiert ist. Zum einen in Bezug auf die Entwicklung ärmerer Gesell­schaften, bei denen sich die reichen Länder einen großen politischen und ökonomischen Einfluss erhoffen. Sie möchten wissen: Lohnt sich ihr kurz- oder längerfristiges Engagement oder nicht? Zum anderen ist die Politik an der Entwicklung der Weltmächte interessiert: Was ist von ihnen in Zukunft zu erwarten; werden ihr Einfluss und ihre Dominanz stärker oder schwächer als bisher wachsen? Bei diesen Fragen steht China mit an erster Stelle.

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Sprecherin:

Die wirtschaftliche Zukunft der Weltmacht China ist aber für die westlichen demokratischen Länder nicht ablösbar von der Frage der Menschenrechte und der Gewährung individueller Freiheiten. Sind diese Fragen überhaupt von außen angemessen zu beantworten und können Prognosen verantwortet werden? Selbst einer Prognose für die nächsten zwei, drei Jahre — innerhalb dieses Zeitraums entscheide sich nach Meinung mancher Experten die Zukunft Chinas — ist, nach Meinung des Sinologen Helwig Schmidt-Glintzer, mit Skepsis zu begegnen:

8. O-Ton (Schmidt-Glintzer): 

In China wird sich noch sehr vieles entwickeln. Wie die Zukunft aussehen wird, wissen wir nicht. Der Blick und die Entwicklung dorthin sind sehr offen. Deswegen ist es weniger sinnvoll, Ratschläge zu geben oder Rezepte zu verteilen, sondern interessiert hinzuschauen und sich vor allem auch einmal zu fragen, wie werden wir von den jungen Chinesen gesehen. Wollen die alles nachmachen, was wir haben, finden sie alles gut und welchen Weg schlagen sie dann selber ein? Das würde uns viel bringen, wir würden auch selber etwas lernen, was wir noch nicht wissen, und im übrigen ist das die Voraussetzung für zukünftige Gespräche. Die wird es geben und denen können wir uns öffnen oder verschließen.

Sprecher:

China wird seinen Grundkonflikt zwischen individueller Freiheit und Staatsraison auf eigene Weise lösen müssen und sich immer wieder neu fragen, ob es eines Tages auf einen schützenden staatlichen Rahmen für die Wirtschaftsliberalisierung verzichten soll. Aber dafür einen zeitlichen Rahmen angeben zu wollen, würde entweder einer Unkenntnis der Komplexität oder aber der Überheblichkeit eines Blicks von außen entspringen. Sicher aber ist, dass auch China um einen Dialog mit dem Westen und eine kooperierende Weltgesellschaft nicht herumkommt. Die Frage ist aber auch, ob der Westen, wie dies Schmidt-Glintzer in seinem neuen Buch Chinas Angst vor der Freiheit schreibt, nicht eine viel größere Angst vor einem "zerbrechenden und von jeglicher Beschränkung freien China" haben müsste.

9. O-Ton (Schmidt-Glintzer): 

Natürlich gibt es Risiken, die wir alle kennen; die zeitlich zu terminieren, ist schwierig: Trinkwasser, Umweltverschmutzung, Armuts-Reichtumsentwicklung. Es gibt von daher auch sehr viel Dynamik, um es einmal positiv zu sagen. Da wird noch vieles auf China zukommen, auch auf uns. Wenn wir das konstruktiv aufgreifen wollen, was die Zukunft bringt, dann ist das Beste: wir schauen hin und wir lernen und wir sprechen miteinander.

Aber es wird manches auch passieren, was wir heute noch gar nicht voraussehen können.

 

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