Fortschrittsvisionen gegen Untergangsszenarien
Folge 2 von 4 -- Deutschlandradio am 14.1.2010
Was wissen wir über die Zukunft? Über Grenzen des Erkenntnishorizonts Von Hans-Jürgen Heinrichs
Sprecher:
Zukunft — was ist das eigentlich? Etwas von Grund auf Ungewisses, etwas, das auf uns, in welcher Gestalt auch immer, zukommt. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass sich auf diesem Feld alle Arten von Spezialisten für Dieses und Jenes wie auch Science-fiction-Autoren tummeln. Sind die letztgenannten nicht die Ehrlicheren? Sie gaukeln nicht wissenschaftlich begründete Voraussagen vor, sondern geben sich als Spieler und Jongleure mit Szenerien aus, collagieren Wissen und Ahnungen, Bekanntes und Visionen.
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Sprecherin:
Zum Beispiel der neue Roman von Frank Schätzing Limit, der im Jahr 2025 spielt: Kann die Menschheit doch noch gerettet werden? Wodurch? Auf dem Mond ist eine ausschließlich dort vorkommende Energiequelle, das Helium-3, von den USA entdeckt worden. Bahnbrechende Technologien eines Konzerngiganten haben inzwischen die Raumfahrt revolutioniert. Ein erbittertes Kopf-an-Kopf-Rennen ist ausgebrochen. Amerikaner und Chinesen stecken auf dem Trabanten ihre Claims ab. Multinationale Konzerne nehmen der Politik zunehmend das Zepter aus der Hand. Kämpfe auf Leben und Tod und hochgerüstete Killer bestimmen die Szenerie.
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Was ist von einem solchen Szenario zu halten? Wie grenzt der Philosoph Martin Seel Theorien von Spekulationen, Visionen und Science-fiction ab?
10. O-Ton (Seel):
Zunächst einmal, Science-fiction ist ja eine durchaus ehrenwürdige literarische Tradition oder im Kino auch, dass große Science-fiction-Autoren oder Science-fiction-Filme spielen ja menschliche Möglichkeiten durch und imaginieren, wie es sein könnte oder werden könnte, aber sie richten sich immer an die jeweilige Gegenwart; das heißt, im Grunde handelt sie von unseren heutigen Möglichkeiten sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. Das ist bei Visionen oder spekulativen Ausblicken, die ja auch an sich nichts Schlimmes sind, auch so, aber diese Ausblicke richten sich immer auf die Gegenwart, sie verweisen darauf, welchen Gefahren oder Chancen wir heute ausgesetzt sind. Das wichtigste an solchen Übungen, wenn ich das mal so nennen kann, und auch sozusagen an den theoretischen Versuchen ist ja, dass sie einen warnen vor falschen Versprechungen. Wir können sehen, wenn wir darüber nachdenken, dass bestimmte Versprechungen, die uns im politisch-ökonomischen Raum gemacht werden, falsche Versprechungen sind.
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Sprecherin:
Die Gentechnik ist ein Beispiel dafür. Vor Jahren schon haben Gentechniker versprochen, mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms könnten bald schwere Krankheiten abgeschafft, das Leben ins Unendliche erweitert und der Mensch glücklicher gemacht werden.
11. O-Ton (Seel):
Das sind Versprechungen, die man leicht als falsche Versprechungen durchschauen kann. Dieses Nachdenken über die Zukunft, dieses skeptische Nachdenken über die Zukunft, kann uns helfen zu klären, was wir als Einzelner wie als Gesellschaft sinnvollerweise überhaupt wollen können. Sie sind, wenn sie seriös verfahren, keine Versprechungen dessen, was die Zukunft bringen wird, sondern eine Verständigung darüber, welches die positiven Möglichkeiten sind, die wir in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Zustand heute haben.
Sprecher:
Visionen haben in der Politik zumeist einen schalen Beigeschmack. Man traut ihnen nicht. Zu sehr sind sie verstrickt in Interessen und in ein politisches Kalkül. Und dennoch: Sind wir nicht auf Visionen angewiesen: auf eine Gestaltung der Zukunft, die über das Bestehende hinausgeht und die Menschen an das unwahrscheinlich Erscheinende anschließt? Bilder einer ganz anderen Gesellschaft und eines anderen Bewusstseins entwirft und in den Raum stellt?
Sprecherin:
Nehmen wir als Beispiel den sogenannten Brundtland-Bericht von 1987. Mit ihm begann der weltweite Austausch über die Notwendigkeit einer "Nachhaltigen Entwicklung" im Zusammenwirken der reichen und der armen Nationen. 1989 wurde auf dieser Grundlage die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung einberufen, die dann auch 1992 in Rio de Janeiro stattfand. Für die Umsetzung der im Brundtland-Bericht formulierten Ideale in ein internationales Handeln wurde schließlich die Agenda 21 beschlossen. Ausgangspunkt war die Vision einer ökologischen Gerechtigkeit unter den Generationen:
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Zitat:
"Nachhaltige (dauerhafte) Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt (die Lebensqualität der heutigen Generation sichert), ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können, dass die Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung ihres Lebens eingeschränkt werden. Im wesentlichen ist dauerhafte Entwicklung ein Wandlungsprozess, in dem die Nutzung von Ressourcen, das Ziel von Investitionen, die Richtung technologischer Entwicklung und institutioneller Wandel miteinander harmonieren und das derzeitige und künftige Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen."
Sprecher:
Ein zentrales Wort fehlt in dieser Erklärung, es lautet: Verzicht. Die Tatsache, dass es nicht fällt, bedeutet: Man traut den Menschen nicht zu, dass sie sich auf notwendige Veränderungen individuell einlassen, wenn sie den Eindruck haben, sie müssten sich in ihrem Konsumverhalten einschränken. Die sich als liberal verstehenden Parteien formulieren das dann so um: wir möchten freie Bürger nicht bevormunden.
Aber ist Vorsicht überhaupt richtig? Ist es denn ein Verzicht, sinnvoll und zukunftsbewusst zu denken und zu handeln? Werden "die Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung des Lebens", von denen im Brundtland-Bericht die Rede ist, in Zukunft nicht viel stärker eingeschränkt, wenn die Folgen der ökologischen Fehlentwicklungen katastrophal und irreversibel sind? In diesem Bericht ist noch, auf eine eher blauäugige Weise, die Rede von Harmonie und von der "Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche".
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Sprecherin:
Zugleich muss man zugestehen, dass Harmonie, der Ausgleich menschlicher Bedürfnisse und Wünsche und eine ganzheitliche Bewusstseins- und Verhaltensänderung visionäre Aspekte sind, die nur schwer in politische Programme und internationale Vereinbarungen umsetzbar sind. Was ist überhaupt von den politischen Verlautbarungen, die sich den Anstrich des Visionären und Zukunftsbewussten geben, zu halten? Nehmen wir als Beispiel das öffentliche Reden der Politiker: Ihr Jonglieren mit der Synthese aus einem einerseits sehr engen pragmatisch gesteuerten und in Interessenkonflikte verstrickten Gegenwartshandeln und andererseits den Bekenntnissen zu einem ganz anderen Denken und Handeln.
Sprecher:
Konkret heißt das: Wir unterstützen weiter die Autoindustrie, gleichgültig, welche Art von Autos sie herstellt. Wir verlängern die Laufzeiten der Atomkraftwerke, bauen verstärkt auf Atomenergie, aber wir streben natürlich auf lange Sicht den Ausstieg aus der Atomenergie an. Wir kooperieren mit der Atomlobby, aber eigentlich sind wir für die Sonnenenergie. Man könnte die Liste unendlich verlängern. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Vision gesellschaftsfähig geworden ist, ja, geradezu zum guten Ton gehört, sich dabei aber verschleißt. Müssen wir sie deswegen aufgeben? Greifen wir den Bereich der Bildung heraus.
Was ist von der Vision einer eigenverantwortlichen Gestaltung der Zukunft und der Einbeziehung eines neuen Denkens tatsächlich in die Bildung, die Schulen und Universitäten eingegangen? Der Sozial- und Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der gerade, zusammen mit Harald Welzer, die Studie Das Ende der Welt, wie wir sie kannten veröffentlicht hat, sieht das so:
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12. O-Ton (Leggewie):
In Bildungseinrichtungen, die darauf Wert legen, sehr sehr viel. Es gibt phantastische Schulmodelle, in denen das praktiziert wird. Es gibt hervorragende Studiengänge, in denen das passiert. Es passiert überall dort nicht, wo eine in vieler Hinsicht irrwitzige Studien- und Schulreform das Schulwesen auf Effizienz trimmt, auf Globalisierungstauglichkeit, und wo exakt diese Inhalte, die eigentlich die Zukunftsthemen sind, als Ballast eliminiert werden im Sinne formaler Qualifikationen wie Mathematikkompetenz, Lesekompetenz und dergleichen.
Es gibt, wie gesagt, eine unglaubliche Bandbreite in unseren Bildungsangeboten. Man kann also davon reden, dass es eine Erfolgsgeschichte des Nachhaltigkeitsideals oder von Nachhaltigkeitskonzepten gibt, die tief in das Alltagsbewusstsein eingedrungen sind und zugleich eine Gegenbewegung neoliberaler Globalisierung, die das nicht inkludiert.
Wir sind im Moment in einer Phase, wo tatsächlich auch viele Globalisierungsakteure — ich rede von großen Unternehmen, ich rede von Menschen, die in Politik und Verwaltung tätig sind, in Medien tatsächlich so etwas wie innehalten und sich vorstellen, dass ein durchdrehender Globalisierungsdiskurs beendet ist und Nachhaltigkeitsgedanken tatsächlich auch in die Köpfe von Eliten wirtschaftlicher und politischer Art eindringen.
Sprecherin:
Jeder einzelne ist die Welt und trägt die Verpflichtung zu einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Denken und zu einem "gemeinsamen Weltethos" in sich, auf das sich 1993 das "Parlament der Weltreligionen" in Chicago als gemeinsamen Nenner einigte.
Zitat:
"Unsere Erde kann nicht zum Besseren verändert werden, ohne dass das Bewusstsein des Einzelnen geändert wird. Wir plädieren für einen individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel."
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Sprecher:
Es ist eine Frage der Bewusstseinsbildung, ob wir in Zukunft Gesellschaftsformen entwickeln, mit denen unsere globalen Probleme lösbar sind, Gesellschaftsformen, die auch von den Menschen mitgetragen werden. An einem Mangel an Wissen liegt es nicht. Uns steht ein solches Ausmaß an Wissen zur Verfügung, dass wir in der Lage sind, alles anders und besser zu machen. Wir haben genügend "Aufklärung" und "Objektivität", um alle gesellschaftlich, technologisch und ökologisch relevanten Prozesse vernünftig zu planen und zu steuern. Dass dies dennoch nicht gelingt, kann nur bedeuten, dass die Gesellschaften auf der Ebene von totalitären, fundamentalistischen Herrschaftsansprüchen, von Parteiprogrammen und institutionalisierter Forschung die entscheidenden Konflikte nicht lösen werden.
Sprecherin:
Die eigene Aufgabe zu erkennen, ist Vorbedingung eines freien und kreativen Umgangs mit den anderen Menschen, eines dauerhaften engagierten Handelns im Sinne des Gemeinwohls. An der Selbstverantwortlichkeit führt kein Weg vorbei, wenn man sich die Welt der Zukunft noch von Menschen bewohnt vorstellen möchte, die mit denen der Gegenwart zumindest entfernt Ähnlichkeit haben. Leggewie und Welzer sprechen von der Notwendigkeit, dass die "Ich-Identität" zugleich auch immer eine "Wir-Identität" ist und dass wir dies gerade in den hochindustrialisierten Gesellschaften erkennen müssen. Wie entstehen aus dem "Fluchtpunkt der Wir-Identität", der in der Zukunft liegt, neue gesellschaftliche und kulturelle Projekte?
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13. O-Ton (Leggewie):
Ich glaube, die Projekte werden gemacht dadurch, dass man Anregungen bekommt, dadurch, dass man etwas liest, dadurch, dass man etwas im Rundfunk hört, dadurch, dass man Rollenmodelle hat. Das kann der Onkel sein, das kann ein Lehrer sein, es kann jemand sein, der einem beim Gespräch im Zug mal begegnet ist. Man hat sozusagen Eindrücke, Einflüsse, Vorschläge bekommen.
Ich glaube, dass in der Tat eine Bearbeitung von Klimafragen, von Energiewende nur möglich sind als ein identitäres Projekt, wo nicht jetzt die gesamte Gesellschaft sich als eine nachhaltige konstituiert — das ist eine Theorievorstellung —, sondern wo tatsächlich überschaubare Gruppen, die meinetwegen bei hundertfünfzig oder zweihundert liegen, tatsächlich sich selber eine Geschichte erzählen von dem, was sie gerade betreiben. Das ist eigentlich die entscheidende Größe für Veränderung, die, das ist vielleicht der Unterschied zu früher, zu kleinteiligeren Projekten und Gesellschaften, heute immer im Bewusstsein globaler Veränderungen und globaler Interdependenzen agiert. Ein wunderschönes Beispiel aus den neunziger Jahren ist die globale Agenda 21. Sie ist ein bisschen in Funktionärshand geraten, aber ist immer noch eine gute Idee. Man handelt lokal und denkt global.
Sprecher:
Die Politik versucht aktuell einen Spagat: Politiker wissen, die Bevölkerung will von ihnen ein Bekenntnis zum ökologisch verantwortungsbewussten Handeln und dass sie als Vorbilder in ihrem Beruf und in ihrem Privatleben vorangehen. Man gibt zum Beispiel die Vision aus:
Zitat:
"Wir werden die globalen CO2-Emissionen bis 2050 mindestens um die Hälfte vermindern."
Sprecherin:
Man legt sich zwar verbal fest, aber ohne jedes Risiko. Problemlos kann man in jedem Jahr die Prognosen korrigieren, zum Beispiel mit der Formulierung:
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Zitat:
"Die Entwicklung ist anders verlaufen als geplant. Wir konnten damals nicht voraussehen, dass gerade in diesem Bereich, wo wir so voller Hoffnungen und Erwartungen waren, nun Rückschritte zu vermelden sind."
Sprecher:
Die Einsicht und die Vision, dass wir ganz anders denken, handeln und wirtschaften müssen, werden vom Klischee unterwandert und ausgehöhlt. Wenn wir also von Visionen sprechen, gilt es immer zwei Perspektiven gleichzeitig im Auge zu haben: die heute weitgehend anerkannte Notwendigkeit eines visionären Denkens und die ebenso wichtige Skepsis gegenüber den vollmundigen Bekenntnissen der Politiker; Bekenntnisse, die zu nichts verpflichten und jederzeit widerrufbar sind.
Sprecherin:
Was wird nun aus den Visionen eines verantwortungsvollen globalen Denkens in der praktischen Politik? Im gewissen Sinn ist der Umgang der Politik mit der Zukunft schamlos: Sie tut so, als gehöre die Zukunft ihr und hätte das Recht, sie zu formen, wie es ihr gerade gefällt. Ist zum Beispiel den Menschen die Umwelt weitgehend gleichgültig, taucht ihre Bewahrung in den Parteiprogrammen auch nur am Rande auf. Tendiert der Zeitgeist indessen zur Stärkung des ökologischen Bewusstseins, schmückt sich jeder Politiker damit, für die Zukunft und für die nachfolgenden Generationen nicht nur etwas, sondern alles zu tun. Das gilt auch für die anderen gesellschaftlichen und sozialen Bereiche.
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Sprecher:
Man könnte die Hoffnung auf zukünftiges Wachstum und das Erlassen eines "Wachstumsbeschleunigungsgesetzes" als Spielerei und Spekulation im Gewand seriöser staatlicher Lenkung abtun. Die Lage ist aber viel komplexer und dramatischer, denn eine solche Scheinvision soll die Neuverschuldung von 85,8 Milliarden Euro rechtfertigen. Ein visionärer Blick in die Zukunft sähe dagegen ganz anders aus; er würde nämlich die Wachstumsideologie durch völlig andere Modelle ersetzen, die sich daran orientieren, dass der Konsum in den westlichen Ländern gar nicht mehr in den kalkulierten Ausmaßen angekurbelt werden kann. Indem die Verschuldung derart extrem gesteigert wird, haben neue Visionen kaum noch eine Chance zur Umsetzung. Eigentlich müsste man umgekehrt vorgehen und erst einmal fragen: Brauchen wir die Expansion des Konsumverhaltens wirklich; was wäre heute machbar, um die Verschuldung jetzt abzubauen? Je krasser jetzt die falsche Ausrichtung ist, desto härter wird uns die Realität in der Zukunft treffen.
Sprecherin:
Zeichnen wir ein vielfarbiges, zugespitzt düsteres, spekulatives Bild der Zukunft:
Sprecher:
Die Verschuldung der Länder ist nicht mehr in den Griff zu bekommen; Griechenlands Bankrott war nur ein Vorbote. Viele Länder haben angekündigt, ihre Haushaltsdefizite nicht mehr offenzulegen.
Sprecherin:
Die Selbstmordrate ist immens gestiegen und seelische Krankheiten nehmen immer stärker zu. Die Verelendung führt viele Menschen und Familien nicht nur in den ökonomischen, sondern auch in den seelischen Ruin.
Sprecher:
Zu den weltweiten Wirtschaftsflüchtlingen sind die Klimaflüchtlinge, allein in Europa vielleicht 500 Millionen oder viel mehr, noch hinzugekommen. Viele Inselwelten sind inzwischen vom Meer überflutet. Ein neuer Run auf den Insel-unter-Wasser-Tourismus setzt ein.
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Sprecherin:
Die Pharma-Industrie boomt: Ständig wirft sie neue Medikamente auf den Markt: gegen Depressionen, Epidemien, Immunkrankheiten, Allergien, Neurodermitis, Krebs etc. etc.
Sprecher:
Der Staat, die Versicherungen und auch die Pharma-Industrie haben aus Telefonaten und Datenbanken alle persönlichen Daten von jedem Bürger gespeichert.
Sprecherin:
Arztpraxen sind nicht mehr für jeden Bürger zugänglich. Die Medien berichten über solche Zustände nur noch ganz peripher und in Andeutungen.
Sprecher:
Die 2009 vom Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch erfolgreich durchgesetzte Medienpolitik ist allgemeine Praxis geworden: Die Regierungsparteien besetzen mit ihren Leuten die Führungsposten der staatlichen Rundfunkanstalten und bestimmen inhaltlich und formal die Fernsehprogramme. Die privaten Sender bringen nur noch Klamauk und Freaksendungen im weiterentwickelten Stil von "Deutschland sucht das Super-Talent".
Sprecherin:
Große weltweite Migrantenbewegungen und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen um Wohn- und Arbeitsraum, um Nahrungsmittel und Rohstoffe bestimmen den Alltag. Neue Protestbewegungen ungeahnten Ausmaßes breiten sich aus. Die Wohlhabenden trauen sich nur noch mit privater Polizei auf die Straße und ihre Wohnanlagen gleichen einem Hochsicherheitstrakt.
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Sprecher:
Makabre und düstere Szenarien. Gegenwelten zur heute noch verbreiteten Wachstumseuphorie, zum harmonischen Bild von gesichertem Wohlstand — nicht nur für die Wenigsten.
Sprecherin:
Sarkastisch könnte man natürlich behaupten: Die Menschen wollen in ihren Illusionen — Pressefreiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, Sicherheit, Steuersenkungen, Wachstum, Vollbeschäftigung — bestärkt werden. Deswegen zwingen sie geradezu Politiker dazu, sie zu belügen. Die Vollbeschäftigungs-Utopie suggerierte, ein Parteivorsitzender, eine Kanzlerin, eine Partei, ein Staat könne höchstpersönlich die Arbeitsplätze bereitstellen, gleichsam per Parteiprogramm oder Erlass. Noch ist es doch so, dass die Wirtschaft für die Arbeitsplätze sorgt. Die Politik kann dafür nur die Voraussetzungen schaffen.
Sprecher:
Warum aber wagen sich Politiker immer wieder auf das Glatteis völlig überzogener Visionen und Prognosen, an die sie selbst nicht glauben können? Martin Seel sieht die Gründe für solche Versprechen so:
15. O-Ton (Seel):
Zunächst ist es so, dass Wirklichkeit meines Erachtens in der Tat immer eine Konstellation von Möglichkeiten ist, solchen, die ergriffen worden sind, und solche, die vergessen, verdrängt oder noch gar nicht gesehen werden. Aber diese Möglichkeiten sind durchaus da, und das zu Bewusstsein zu rufen, dass Gegenwart eine solche Konstellation von realisierten und nicht realisierten Möglichkeiten ist, das — würde ich schon sagen — ist eine große Aufgabe von Kunst, Literatur bis hin zur Science-fiction.
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Mit den Prognosen ist es so eine Sache. Prognosen sind ja durchaus sinnvoll, weil eine gewisse Planungssicherheit für Individuen wie die Gesellschaft wichtig sind. Aber man muss immer sich im Bewusstsein halten, dass es sich hier um Prognosen handelt, das heißt, es sind falsifizierbare Hypothesen, und sie sind keine Versprechungen und sie müssen ständig — und das sieht man ja nun gerade an den Wirtschaftsweisen dieser Welt —, sie müssen ständig korrigiert, interpretiert und meistens eben auch revidiert werden. Das Geschäft der Prognose würde ich nicht als solches für verwerflich halten. Aber auch hier kommt es auf einen realistischen Blick auf unsere Fähigkeit an, etwas über die Zukunft wissen zu können.
Sprecher:
Was können wir über die Zukunft wissen ?
Sprecherin:
Eine radikale Veränderung der Klimapolitik ist für alle Länder von elementarer, lebensnotwendiger Bedeutung. Die Energiepolitik muss neu konzipiert werden, hin zu den sogenannten alternativen Energien, vor allem zur unerschöpflichen Sonnenenergie. Die großen Konflikte zwischen Israel und den Palästinensern, die ethnischen und religiösen Konflikte in Irak, Iran, Pakistan, Indien und Afghanistan und die atomare Aufrüstung bedrohen auf elementare Art und Weise den Weltfrieden. Nur unzureichend werden diese und weitere Themenfelder und die Ausbildung eines neuen Bewusstseins miteinander verknüpft.
Sprecher:
Stattdessen fallen Politiker, wider besseres Wissen, immer wieder in längst überholte Positionen, Haltungen und unverantwortliche Prognosen zurück. Fortschrittsutopien, Wachstumsprognosen und der Wunsch, eine gute und sichere Zukunft vorauszusagen, sind vehemente Einsprüche gegen Untergangsvisionen und apokalyptische Szenarien. In der Vergangenheit wurden diese beiden Tendenzen — diese unterschiedlichen Weisen, Geschichte zu erzählen und in die Zukunft zu verlängern — sehr oft ineinander verwoben. Ganz in diesem Sinn schreibt der Historiker John Gray in seiner neuen Studie Politik der Apokalypse:
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Zitat:
"So glaubten Marx und seine Anhänger, der Menschheitsfortschritt vollziehe sich in einer Abfolge katastrophischer Revolutionen; die Nationalsozialisten waren überzeugt, dämonische Mächte hätten sich gegen ‘das Volk’ verschworen, um seinen Aufstieg in einen Zustand quasi-göttlicher Unsterblichkeit und Harmonie zu verhindern. Liberale Humanisten beschreiben in der ihnen eigenen Begrifflichkeit einen Prozess, in dem sich die Menschheit langsam und Schritt um Schritt weiterentwickle. Alle diese Erzählungen stellen die Menschheitsgeschichte als ein stimmiges Ganzes hin. Nichts wäre verstörender als die Vorstellung, sie sei ein mäandernder Strom ohne Ziel und ohne Richtung."
Sprecherin:
Die Vertreter apokalyptischer Szenarien sehen überall eine Folgerichtigkeit in der Entwicklung am Werk: Alles geht in Richtung Untergang. Das Drehbuch stammt entweder von Gott oder, im Fall der säkularen Endzeiterzählungen, von der Menschheit. Der Einzelne fügt sich ins Ganze. Er sieht sich als ein Ausführender der im Drehbuch vorgeschriebenen Rolle. John Gray erkennt — außer in den sich verschärfenden Auseinandersetzungen um Rohstoffe — vor allem im Kampf der unterschiedlichen Fundamentalismen, im Gewaltpotential des Glaubens und im Einsatz des Wissens zu destruktiven Zwecken die größten Gefahren in der Zukunft.
Zitat:
"Das politische Handeln des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush und seines iranischen Gegenspielers war religiös-apokalyptisch geprägt. ... Mit dem Tod der Utopien hat das apokalyptische religiöse Denken neuen Auftrieb genommen ..."
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Sprecher:
Das religiös-apokalyptisch geprägte politische Handeln George W. Bushs war, ganz anders als jetzt bei Präsident Obama, auf Spaltung statt auf Zusammenführung, auf totalitäre Herrschaft statt auf Kooperation, auf Fundamentalismus statt auf Dialog angelegt. Die Säulen von Obamas Politik sind Visionen in den folgenden Bereichen:
Sprecherin:
eine atomfreie Welt;
der Dialog zwischen der westlichen und der arabischen Welt;
Versöhnung statt starrer Abgrenzung.
Sprecher:
Das Entscheidende ist, dass er in moralische und politische Vorleistung tritt: Er geht voran mit dem Abbau des Raketenabwehrschildes; er reicht dem iranischen Präsidenten zuerst die Hand, gleichgültig, ob dieser sie annimmt oder ausschlägt, und er begrüßt die arabische Welt in seiner Kairoer Universitätsrede auf arabisch. Seine Vision ist, dass Amerika fortan für das Gute in der Welt steht. Dafür, für das Prinzip Hoffnung und die tatkräftige Initiation eines Dialogs, und nicht für bereits vollbrachte Friedensleistungen, erhält er den Friedensnobelpreis. Er wirkt als personifiziertes Versprechen für eine bessere Welt: Er spricht zu dem kreativen, visionären Potential im Menschen. Er geht von der Vision aus und trifft damit die geheimen Wünsche aller Menschen.
Zitat:
"Wer den Frieden sucht, kann nicht die Hände in den Schoß legen, wenn Staaten sich für den Atomkrieg rüsten. Aber Amerika muss, wenn es Krieg führt, Regeln einhalten, auch wenn der Gegner dies nicht tut. Dies unterscheidet Demokratien von ihren Feinden."
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Sprecherin:
Am Beispiel von Amerika erleben wir nun, wie sich innerhalb weniger Jahre eine destruktive, totalitäre und auch apokalyptische Vision in die entgegengesetzte Richtung wandeln kann. Zugleich aber sind wir hier auch wieder an die Grenze unserer Zukunftsaussagen über die Entwicklung im Nahen Osten, in Irak, Iran, Indien, Pakistan, Afghanistan und Nordkorea oder zum Beispiel in der Frage der Klimaentwicklung gelangt.
Was können wir wirklich über die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte sagen: Wird eine so großformatig angelegte, mit derart hohen nationalen und internationalen Zielen ausgestattete Vision in den konkreten Situationen erfolgreich sein können? Wird Obama das Guantanamo-Lager auflösen und im Nahost-Konflikt Frieden herbeiführen können? Beweist nicht etwa der teils fanatische Widerstand gegen die von ihm siegesgewiss angekündigte Gesundheitsreform, dass die Visionen nur realisiert werden können, wenn sie von der Mehrheit der Bevölkerung langfristig mitgetragen werden?
So bleibt die Bewusstseinsbildung — gebunden an visionäre Ziele und konkrete Umsetzungen — oberstes Ziel. Wie erreicht man es, dass sich die Visionen auch in der Mentalität der Bevölkerung verankern?
16. O-Ton (Leggewie):
Ja, indem es sich sozusagen aus der Oberfläche politischer Kommunikation, auch medialer Kommunikation dann internalisiert. Das wird nicht auf Dauer und bei jedem gelingen, aber es wird Leute geben. Nehmen Sie mal die Obama-Kampagne als Beispiel. Wir haben hier einen hohen Aufwand gehabt, die amerikanische Bevölkerung, speziell die jüngere, zu mobilisieren und dazu zu bringen, an die Wahlurnen zu gehen und damit auch bestimmte Projekte zu verknüpfen.
Der ganze Apparat, der dazu aufgebaut ist, ist in sich zusammengefallen in dem Moment, wo Obama regierte. Statt also jetzt eine gewisse Form von Dauermobilisierung mit der eigenen Wählerschaft, im Dialog mit der eigenen Wählerschaft, mit den neu dazugewonnenen politischen Subjekten zu pflegen, schafft man das alles wieder ab und geht, sehr zum Schaden des Obama-Projektes, zurück in den politischen Alltag.
Jetzt hat er es zu tun mit mächtigen Interessengruppen in der Gesundheitspolitik, in der Energiepolitik. Es ist keine Kleinigkeit, gegen Exxon und gegen eine bestimmte Anti-Staatsideologie in den USA anzutreten, und man kann ihm nur Glück wünschen.
Ich glaube, dass ihm das besser gelingen würde, wenn er die amerikanische Gesellschaft jetzt nicht nur als eine ihn betrachtende, distanziert betrachtende — mal sehen, ob er scheitert oder nicht — auf seiner Seite hätte, sondern als eine, die das Projekt weiter begleitet.
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