Vom Undenkbaren in ferner Zeit
Folge 4
Deutschlandradio Kultur Forschung+Gesellschaft 28.1.2010
Von Hans-Jürgen Heinrichs
Was wissen wir über die Zukunft? Über Grenzen des Erkenntnishorizonts
Sprecher:
Zukunftsprognosen haben immer auch die Funktion, die Angst des Menschen vor dem Ungewissen und Undenkbaren einzudämmen, Zukunft mit Zuversicht zu verknüpfen. Zuversicht wird offensichtlich im Gehirn, in der sogenannten “substantia nigra”, belohnt. Der Wunsch nach besseren Zeiten und einem Aufschwung läßt antizipatorisch Glücksgefühle aufkommen.
Sprecherin:
Innerhalb welcher Zeiträume gelingt dies? Stellen wir uns den wirtschaftlichen Aufschwung oder die Bewältigung von privaten und gesellschaftlichen Problemen und Konflikten im überschaubaren Zeitraum der nächsten Wochen, Monate oder Jahre vor, können wir offensichtlich ein Gefühl der Zuversicht aufrecht erhalten. Aber schon bei zehn oder zwanzig Jahren wird es schwierig. Unmöglich gar, wenn das Glück verheißende Geschehen die erwartete Dauer unseres eigenen Lebens übersteigt, also zum Beispiel erst in etwa fünfzig Jahren oder sogar in hundert, zweihundert Jahren stattfindet.
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Musik unterlegen
Sprecher:
Ein Szenario: Die Durchschnittstemperatur hat sich um mehr als sieben Grad Celsius erhöht. Überall sind Bürgerkriege um die Rohstoffe ausgebrochen. Wasser ist kostbarer als der teuerste Wein. Niemand erinnert sich mehr an die Wörter “Eigenverantwortlichkeit” und “Weltethos”.
Musik kurz hochziehen
Sprecherin:
Der Kulturanthropologe Constantin von Barloewen, der gerade <Das Buch des Wissens> publiziert hat, betont die Unwägbarkeit des Zukünftigen und weist zugleich auf Prognosen hin, die man besser ernst genommen hätte:
25. O-Ton (von Barloewen):
Man darf nicht vergessen, selbst die großen Futurologen haben sich überwiegend getäuscht. Hermann Kahn zum Beispiel, der Mann ist vom Hudson-Institut, vor einigen Jahrzehnten, der ganz abenteuerliche Kurven gemalt hat. Kein Mensch hat vorausgesehen die Wasserverknappung, die wir heute so drastisch haben. Kein Mensch in dieser Form hat die Klimakatastrophe vorausgesehen. Das sind eigentlich — Gott sei Dank man muss sagen — die grünen Parteien, die vor einigen Jahrzehnten doch immerhin vorsichtig drauf aufmerksam gemacht haben.
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Damals der Club of Rome war wesentlich, Meadows, die haben in der Tat auch Prognosen gestellt, die zwar so nicht eintrafen, das mag ja sein, aber in der Tat, es ging in die richtige Richtung und es wurde auf die sogenannten Grenzen des Wachstums Gott sei Dank aufmerksam gemacht. Aber leider sind diese Prognosen nicht immer ernst genommen worden, und eigentlich erst die Drastik der Klimaveränderungen, die auch die politischen Bedrohungen und die ökonomischen Bedrohungen, Sie wissen, der Wasserpegel steigt, die Agrarversorgung bricht zusammen für Hunderte von Millionen Menschen, Afrika, diese realpolitischen Bedrohungen beginnen eigentlich erst ein wirkliches Bewusstsein langsam zu schaffen in den letzten wenigen Jahren. Das ist spät genug.
Sprecher:
Also nehmen wir die Zukunft ernst und wagen den Blick vom Jahr 2100 oder gar 2200 zurück auf heute; auf die Warnungen, die die Wissenschaftler tagtäglich aussprechen und über die Medien verbreiten. Wird das, was heute als Schreckensmeldung gilt, dann nur noch als ein früher Vorbote der viel grausameren Wirklichkeit erscheinen?
Zitat:
“Die Sommersonne hat wieder verheerend auf die Arktis gewirkt. Im Monat Juli 2009 sind dort jeden Tag 106.000 Quadratkilometer Eis abgeschmolzen. Alle drei Tage verschwindet eine Eisfläche, die so groß ist wie Deutschland. Im Vorjahr, 2008, waren es täglich noch rund 10.000 Quadratkilometer weniger.”
Sprecherin:
Wird in einer fernen Zukunft — in 50, 100 oder gar 200 Jahren — nur noch ein vager Nachklang, ein fernes Echo, von den früheren Zukunftsvisionen, den ernsthaften Bemühungen um eine bessere menschheitliche und gesamtgesellschaftliche Zukunft, geblieben sein? Zum Beispiel von dem Wunsch, Individualität und Selbstverwirklichung mit Kollektivität und Gemeinwohl zu verbinden, um auf diese Weise die Verantwortungslosigkeit, die Gier, die Verschwendung und totale Ausbeutung des Planeten einzugrenzen?
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26. O-Ton (von Barloewen):
Es stellt sich heute natürlich die Frage, muss Modernisierung unbedingt Verwestlichung sein. Das ist eine Kernfrage. Das betrifft China, Indien, wesentlich auch den Islam in all seiner Komplexität, dort die Frage, Mekka oder Mechanisierung. Das heißt, kann es einen Ausgleich, eine Balance, wenn überhaupt, eine Konvergenz geben zwischen Technologie, Moderne und Tradition? Das ist eine ungelöste Frage, aber eine Überlebensfrage, weil es keine universelle Ratio gibt, heute nicht und künftig. Der Mensch hat keine universelle Ratio, die Ratio ist kein Privileg von Descartes oder von Montaigne, was auch immer, nicht nur des Westens. Immer stärker werden, das ist doch offensichtlich, nun gesamtwirtschaftlich China, Indien, Brasilien, aber immer stärker infolge auch kulturell werden andere Kosmologien zu Wort kommen. Das wird sicher ein Prägemerkmal der Zukunft sein. Deswegen spreche ich von der Notwendigkeit einer gelebten Interkulturalität, also keine rein abstrakte, oder ein Polylog der Kulturen.
Sprecher:
Polylog der Kulturen, also sprachliche und kulturelle Vielgestaltigkeit und Bewahrung der Traditionen, fortgeschrieben in die Zukunft: Sind das Ideale, die für die Gegenwart formuliert werden können, denen aber in 100, 200 Jahren keine Realität mehr zugeordnet werden kann? Was wird man sich unter Werten wie “Balance”, “Ausgleich” und “Harmonie” vorstellen? Die "Evolution der Harmonie", schrieb in den 1990er Jahren der Psychologe Mihály Csikszentmihályi, hänge von unserer Fähigkeit ab, "psychische Energie" in die Zukunft, in die harmonische Zukunft, zu investieren. Vergleichbar Rupert Sheldrake, dem Biochemiker und Zellbiologen, bewegte auch er sich auf dem schmalen Grat zwischen einer innovatorischen und einer spekulativen Forschung, die viele politische, soziale, ökonomische und wissenschaftliche Gesichtspunkte außer Acht ließ.
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Sprecherin:
Was wird aus der "Idee einer Demokratischen Weltcharta", also aus ethisch und verantwortungsvoll strukturierten Institutionen in ferner Zukunft geworden sein? Wird man sich noch daran erinnern, dass sich deren Ziel an den Notwendigkeiten des Überlebens der Gattung Mensch ausrichtete, sich an der Formulierung eines verbindlichen überindividuellen und übernationalen Wertesystems orientierte? Mihály Csikszentmihályi:
Zitat:
“Wenn die Menschen lernen, sich zu funktionellen Gruppen zusammenzuschließen, sich zu effizienten politischen Kräften zu organisieren und dabei auch ihre gemeinsamen Ziele und Wertvorstellungen deutlicher zu konturieren, dann kann der Verlauf der Evolution gesteuert und zum Besseren gelenkt werden.”
Sprecher:
Auch “Evolution” ist ein Wort, dem wir heute noch eine große positive Bedeutung beimessen. Aber vielleicht entgleitet sie uns. Ebenso wie das Konzept der Kooperation. Wie wird später - aus großer zeitlicher Distanz gesehen - unsere heutige Hoffnung auf transnationale politische Aktionseinheiten und eine kooperierende Weltgemeinschaft wirken? Was wird in 50, 100, 200 Jahren aus der Vision des Schriftstellers György Konrád geworden sein?
Zitat:
“Der Bürger des dritten Jahrtausends, so glaube ich, wird ein flexibleres Selbstbewußtsein haben, als wir es im zweiten Jahrtausend hatten, das durch die Konfrontation seiner starren Denkmuster viel Leid verursacht hat. (...) Die vermutliche Richtung des Wandels wird das flexible Ich sein, der dörfliche Weltbürger und der metropolitane Dörfler, der im Schnellauf der Phantasie seinen Horizont zwischen Nähe und Ferne einengen und erweitern kann.
... Noch stehen wir erst am Anfang des Abenteuers der Verständigung. Doch der sanftmütige Humanist streift nicht durch die Lande, um Feinde ausfindig zu machen, im Gegenteil, er neigt zu der Annahme, daß es Feindschaft gar nicht gibt, sondern lediglich Mißverständnisse.”
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Sprecherin:
Ein Bürger mit solchen Eigenschaften wäre das Ergebnis von Bewusstseinsprozessen auf der individuellen Ebene und, nebengeordnet, von grundlegenden institutionellen Umstrukturierungen. Die "Idee einer Demokratischen Weltcharta" wollte als Wegweiser in dieser Richtung verstanden werden.
Sprecher:
Waren dies damals — retrospektiv, aus einem großen zeitlichen Abstand gesehen — zu große Worte, für die noch keine freien, "einsetzbaren" Energien zur Verfügung standen? War die Idee eines "Weltethos" und einer "Weltzivilisation" (und die ihr entsprechende interkulturelle Identität) eine Vision, die sich nicht an die tatsächlichen Verhältnisse anschließen ließ; überstieg sie diese so weitgehend, dass sie für die Bewusstseinsbildung wirkungslos bleiben musste?
Sprecherin:
Welche Kräfte haben das 20. Jahrhundert geprägt, wie wirkte und wirkt die Dynamik des Marktes und der Technologie auf die Gesellschaft? Wie wird sich die gelebte Geschichte, als Segen und als Fluch, in die nächsten Jahrzehnte des neuen Jahrtausends übertragen, was entsteht in ihm Neues und wie kann man sich den Menschen in 50, 100, 200 Jahren tatsächlich konkret vorstellen? Welche Prozesse sind der rationalen Analyse nicht zugänglich, welche alten Inhalte und Vorstellungen transportieren wir in der Begrifflichkeit, die für eine bestimmte historische Entwicklung geprägt worden ist und die nun auch für die Analyse des Gegenwärtigen und Zukünftigen als tauglich angesehen wird?
Sprecher:
Der Begriff der Rationalität selbst steht an erster Stelle und von Grund auf in Frage. So schrieb denn auch der Historiker Eric Hobsbawm:
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Zitat:
“Es kann keine Bestimmung von Rationalität mehr als adäquat akzeptiert werden, die Rationalität nur immanent, d.h. durch logische Strukturen oder Argumentationsprinzipien bestimmt — und nicht auch in ihrer Beziehung zum <Irrationalen>.”
Sprecher:
Also müssen wir uns auch um die uns nicht bewussten, die irrationalen Anteile kümmern. Das Unbewusste ist ein Ort destruktiver Energien, aber auch ein Refugium der Kreativität, der Produktion von Träumen und Werken, die unser Wissen und Bewusstsein weit übersteigen. Das Unbewusste wirkt in jedem Einzelnen und auf der Ebene der Gesellschaft. In seiner gesellschaftlichen Relevanz gleicht es, nach einem Vergleich des Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim, einem Orkus.
Zitat:
“In ihm verschwindet all das, was nicht bewußtseinsfähig ist, ... der Ort, der, wie ein kosmisches schwarzes Loch, alle Phantasien, Wünsche und Wahrnehmungen aufschluckt, die das von der Gesellschaft mitgeprägte Bewußtsein nicht zulassen darf. Gegen diese 'einfrierende' Funktion begehren das Kreative und Schöpferische, das Visionäre und Utopische, das Noch-nicht-Bewußte auf.”
Sprecherin:
Das also ist die Hoffnung, der visionäre Aspekt der Zukunft: Wir entwerfen uns auch als kreative, schöpferische Wesen in die vor uns liegende unbekannte Zeit. Wir wissen darüber nichts Präzises, aber wir haben Ahnungen.
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Sprecher:
Was also ist das Fazit dieser Sendefolge über die Potentiale und Grenzen des menschlichen Erkenntnishorizonts? Kann nur das, was in unseren Gedanken und Entwürfen, unseren Konzepten und Projekten maßlos über das Bestehende hinausreicht, das in eine Zukunft Weisende sein? In diesem Sinn schreiben auch die Sozial- und Kulturwissenschaftler Claus Leggewie und Harald Welzer:
Zitat:
“Erst innerhalb eines Referenzrahmens, der sich an einem künftigen Überleben in Freiheit orientiert, lässt sich bewerten, was heute gedacht und getan werden muss, um die Praxis so zu verändern, dass die Gesellschaften unseres demokratischen und freiheitlichen Typs sich weiterentwickeln. Das bedeutet: Man braucht Kriterien, die Relevanz nicht nach den Bedingungen innerhalb des Systems festlegen, sondern die das System selbst einer Prüfung an seinen eigenen Ansprüchen und normativen Kriterien (wie Nachhaltigkeit, Generationsgerechtigkeit etc.) zu unterziehen erlauben. Solche Fragen lassen sich nicht aus der schieren Gegenwart heraus beantworten — jeder Gegenstand und jedes Verhalten bezieht seinen Wert aus der Voraussetzung einer künftigen Welt.”
Sprecherin:
Jede Vision erhält erst in der Zukunft ihr Maß, sonst wäre sie nur die Beschreibung des Gegenwärtigen. Wenn man heute einen radikalen Paradigmenwechsel — eine grundlegende und drastische Revidierung unseres Denkens — fordert, so handelt es sich hierbei im Kern um den Versuch einer Neubestimmung des verschütteten und des erst noch zur Entfaltung zu bringenden Bewusstseins. Entscheidende Fragen sind: Wo setzen die Widerstände gegen eine solche Entfaltung ein? Ist man bereit, bestehende Systeme von Grund auf in Frage zu stellen und damit auch den Schritt von Einsichten und Wissen in praktisches Handeln zu vollziehen? Reichen unsere gängigen Instrumente der Krisenbewältigung aus? Claus Leggewie wägt Chancen und Skepsis gegeneinander ab.
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28. O-Ton (Leggewie):
Das ist ja eine sehr komplexe Frage. Es gibt aber sicherlich eine Umstellung. Die hängt durchaus auch zusammen mit einer Epoche des Neoliberalismus, dass man, wenn man das als positive Seite dessen ansehen möchte, dass sehr viel stärker vertraut wird heute auf gesellschaftliche, auch unternehmerische Selbstorganisation als über eine Prozessentwicklung und Modernisierung gedacht wird, die gewissermaßen von herrschenden Eliten angestoßen und implementiert wird. Will sagen: es gibt tatsächlich so etwas wie einen sinkenden Staatseinfluss, nicht nur, weil der Staat offensichtliche Finanzprobleme und Steuerungsprobleme hat, sondern auch — es gibt eine Veränderung in dem Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft. Und das ist anstrengend.
Das heißt, das ist eben die Delegation an Papa Staat, Mutter Staat ist eben so leicht nicht mehr möglich und vor der schrecken natürlich viele angesichts der dann auftauchenden Unsicherheiten auch der nicht intendierten Folgen eigenen Handelns, was ja gewissermaßen ein permanentes Selbstexperiment voraussetzt, einfach auch habituell zurück. Das ist aber insofern auch nicht ganz so dramatisch. Demokratische Gesellschaften können schon mit ein, zwei, drei Prozent von Aktivbürgern sehr, sehr weit kommen. Das haben wir dann durchaus auch in den 60er, 70er gesehen, wie aktive demokratische Eliten — ich rede nicht von aristokratischen Oligarchien oder sonst irgendwas, ich rede von demokratischen Eliten — tatsächlich eine ganze Gesellschaft mitgerissen, angezogen haben. Und ich denke, sowas ist auch im Moment noch möglich. Und ich sehe eigentlich auch viele Anzeichen dafür, dass es wieder so etwas gibt wie eine soziale Bewegung.
Sprecher:
Erleben wir also nach 1968 noch einmal eine starke revolutionäre Protestbewegung, jetzt im Sinne einer umfassenden sozialen und ökologischen Selbstorganisation der Menschen? Claus Leggewie und Harald Welzer sprechen in ihrer Studie Das Ende der Welt, wie wir sie kannten auch davon, dass die “Ich-Identität” (das individuelle Handeln) zugleich immer eine sich entfaltende “Wir-Identität” ist, auch wenn wir dies nicht immer gleich wahrnehmen.
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Zitat:
“Deshalb wird man den notwendigen kulturellen Wandel nur in Gang setzen können, wenn er sich auf die Identität der eigenen Wir-Gruppe beziehen lässt — wenn Menschen also sagen können: Bei “uns” ist niemand so blöd, mit einem Geländewagen durch die Stadt zu fahren, “wir” fliegen nicht viermal im Jahr sinnlos irgendwohin, bei “uns” gibt es ein großartiges öffentliches Verkehrssystem, “wir” haben eine emissionsfreie Schule. Solche Identitätsquellen wurzeln nicht im Besitz, sondern im Verhalten und sind daher jedem zugänglich, also demokratisch. Es gibt nicht den geringsten Grund, warum eine moderne Zivilgesellschaft eine solche Wir-Identität nicht entwickeln könnte. Sicher, das gehört nicht in die Welt, wie wir sie kannten. Also müssen wir uns nach einer neuen Geschichte umsehen, die wir über uns erzählen können.”
Sprecherin:
Hoffnungen in die Zukunft sind in diesem Verständnis Hoffnungen in eine veränderte Haltung, in eine in sich bewegliche, kreative kollektive Identität; ein Fortschreiben von Geschichte und Geschichten. Rousseaus berühmter Satz aus seinen Bekenntnissen — “Ich sah eine andere Welt” würde jetzt lauten: Wir sehen in vagen Umrissen eine Welt vor uns, wie sie uns wünschenswert erscheint; und in diese Vision wollen wir Energie investieren.
Sprecher:
Eine vollkommen neue Haltung forderte auch — besonders plastisch und pathetisch — der Dichter Saint-Pol-Roux:
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Zitat:
“Man muß die alte Vernunft, die Grenzsteine der alten Welt verwandeln und von der Zukunft die neue Vernunft fordern. Diese an der Vorwegnahme des Visionären orientierte Haltung nenne ich Surnaturalismus. Unser altes Vernunftsystem ist verkalkt. Geschmeidige Venen herbeischaffen. Tabula rasa, tabula nova. Karawanen in die 'unbekannte Welt' schicken, sie entdecken, und entdeckt man sie nicht, sie erschaffen, sie erfinden ..., sie mit Bildern übersäen ... Die Einbildungskraft geht der Wissenschaft voraus, wie sollte sie nicht einer Übernaturalisierung der neuen Gesellschaft vorausgehen.”
Sprecher:
Selbst der Schriftsteller Witold Gombrowicz, der einer solchen Hymne an das Schöpferische, an den Menschen als Subcreator einer göttlichen Ordnung unnahbar fern steht und die Schöpfung oft genug verschmäht hat, findet doch auch einen Ton, der dem Loblied auf den Surnaturalismus und auf einen neuen Typus des Wissenschaftlers gar nicht so fremd ist:
Zitat:
“Große Entdeckungen sind noch unerlässlich — gewaltige, von weicher Menschenhand gegen den stählernen Panzer der Form geführte Streiche unerhörte List und große Gedankenredlichkeit und eine bis zum Äußersten geschärfte Intelligenz — damit der Mensch seine Steifheit verliere und in seinem Inneren die Form mit der Formlosigkeit, das Recht mit der Anarchie, die Reife mit der ewigen und heiligen Unreife versöhne.”
Sprecherin:
Sobald Politiker, Wirtschaftsfachleute und Wissenschaftler zur Zukunft Stellung nehmen, sprechen sie im Namen ihrer Interessengemeinschaften und deren Programme. Sie sagen das an der Zukunft voraus, was sie glauben, mit ihren Mitteln erfassen zu können. Von der Phantasie und der Einbildungskraft ist dabei kaum die Rede. Darauf legen aber nicht nur Dichter und Künstler besonderen Wert, sondern auch viele derjenigen, die in der Politik beratend tätig sind, sich aber einen größeren Spielraum und einen weiten Horizont bewahrt haben, wie zum Beispiel Federico Mayor, von 1987-1999 Generaldirektor der Unesco.
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Zitat:
“Gewisse entscheidende Wendepunkte der Geschichte sind nicht durch die Macht, durch militärische Gewalt entschieden worden, sondern durch den Intellekt, durch die Denker, die Philosophen. ... Was wir heute bewundern, das ist die Dialektik und die Denkweise. ... In Spanien stellen wir nach Jahrhunderten von Königen, Schlachten und Mächten fest, dass die spanische Geschichte eigentlich von Malern, Schriftstellern und Philosophen geprägt ist.
Letzten Endes sind es also die Menschen von Geist, die die Geschichte machen. Und so würde ich heute den Mächtigen gerne sagen: Ihr habt genug Unglück angerichtet in den letzten Jahrzehnten. Räumt euren Platz also lieber den Denkenden, damit Maßnahmen getroffen werden, die wirklich auf die für die Menschen zählenden Werte gegründet sind.”
Sprecher:
Welchen Weg also sollten die Gesellschaften einschlagen, welchen Idealen folgen und welche Zukunft anstreben: eine von einem Weltethos, von Verantwortlichkeit und gemeinsamen Strategien geprägte gemeinsame Politik im Sinne einer Weltzivilisation? Eine Grundvoraussetzung bestünde darin, die Geschichtsschreibung erst einmal “abzurüsten”, also Geschichte nicht immer nur unter dem Aspekt der Gewalt und des Krieges zu betrachten. Die Gewalt und die Kriege werden auch die Zukunft mitbestimmen. Und dennoch ist eine Korrektur des Blickwinkels im Sinne Mayors möglich.
Sprecherin:
In politischen und ökonomischen Zukunftsmodellen nehmen die Vorstellungs- und Einbildungskraft und die individuellen Umsetzungsprozesse allgemeiner Programme eine sehr geringe Rolle ein. Dabei ist doch entscheidend, dass die allgemeinen Wunschvorstellungen im Bewusstsein der Einzelnen verankert werden. Yehudi Menuhin zum Beispiel hat auf die bedeutende Rolle der Kunst bei diesen Prozessen hingewiesen:
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Zitat:
“Der Sinn des Lebens liegt in der Transformation unserer dringendsten Bedürfnisse in Kunst — in die Kunst zu leben, sich zu ernähren, was weiß ich. ... Mit anderen Worten: Alles beginnt mit einem Rohmaterial, das man nach und nach verfeinert. Da liegt der Sinn. Er liegt auch darin, immer wieder und immer mehr zu lernen, zu begreifen, zu geben und zu helfen. Ohne dieses Bemühen werden wir an den letzten und absoluten Sinn des Lebens nie herankommen. Ohnehin werden wir nie genau wissen, was nach dem Tode geschieht. Wir wissen nur, dass wir, so wie wir einmal geboren worden sind, auch einmal sterben werden. Das ewige Leben würde jede Zukunft unterbinden.”
Sprecher:
Wie also wird der Mensch in 50, 100, 200 Jahren zurückblicken auf unsere Jetzt-Zeit? Als eine Zeit, der es an Hoffnungen und Phantasien, Modellen und Entwürfen, Visionen und Berechnungen nicht mangelte, die aber zu schwach in der Durchsetzung war? Oder viel drastischer noch: als eine Zeit großer katastrophaler Versäumnisse?
29. O-Ton (Leggewie):
Das kann passieren. Ich glaube, dass wir tatsächlich an einem entscheidenden Punkt angelangt sind, die mit der Physik des Klimawandels zu tun hat. Demokratische Politik — und das ist eigentlich auch ihre Qualität — ist, wie wir es im Fachjargon nennen, dilatorisch. Sie schiebt Dinge auf die lange Bank und sagt, heute finden wir keinen Kompromiss. Lass uns lieber abwarten, aussitzen, vielleicht ändern sich die Dinge von selbst.
Diese Sorte von dilatorischer, aufschiebender Politik ist heute ziemlich verantwortungslos. Sie war ein Qualitätsmerkmal von Demokratie. Demokratie steht heute unter einem sehr viel größeren Druck von Endlichkeit unserer Ressourcen der verfügbaren Zeit, der Chancen, die wir künftigen Generationen noch einräumen wollen. Insofern wird man, glaub ich, auf die Jahre 2009/10 mit dem Kopenhagen-Gipfel, mit der Finanzkrise, mit der Herausbildung einer neuen internationalen Architektur nicht nur von Sicherheit, sondern auch von Kooperation, wird man als eine entscheidende Phase zurückblicken, so wie wir heute vielleicht auf den New Deal von Franklin Delano Roosevelt zurückblicken, wo tatsächlich entscheidende Weichenstellungen für die amerikanische Gesellschaft zum richtigen Zeitpunkt getroffen wurden.
Sprecherin:
Aber übersteigen nicht alle unsere Zukunftsaussagen unseren Erkenntnishorizont? Was können wir wirklich begründet über die Zukunft sagen und verschleiert nicht jede Zukunftsaussage die Imponderabilien, die Unwägbarkeiten? Wird am Ende vielleicht sogar eine Schreckensvision, wie die vom transhumanen Wesen, Wirklichkeit werden? Also die Vision eines vom Menschen geschaffenen Wesens, das nur noch entfernt mit uns verwandt ist und vor ganz neuen Aufgaben stehen wird, zum Beispiel der Aufgabe, die Unendlichkeit und Unsterblichkeit ertragen zu müssen?
30. O-Ton (von Barloewen):
Man muss den Menschen aus der Wurzel, wie einen Eisberg, also vom Rumpf her begreifen. Das, was wir heute vom Menschen kennen, ist die Spitze des Eisbergs, die aus dem Wasser ragt. Das sind die uns bekannten historischen letzten zwanzig-, dreißigtausend Jahre. Und wenn er existiert vier Millionen Jahre, faktisch, seit der Evolutionsgeschichte, das heißt, man muss den Menschen historisch betrachten, universal-historisch.
Das geschieht viel zu wenig, einfach weil die Kenntnisse oft fehlen. Und in der Tat haben wir eine kulturelle Evolution, die etwa dreißigtausend vor Christus, zwanzig-, dreißigtausend einsetzt, wo gleichsam die kulturelle Evolution die rein biologische überholt, so könnte man vielleicht formulieren, der Beginn der Religion, der Beginn des symbolischen Denkens, der Kunst natürlich in all ihren Facetten, der Grabesrituale — ich hab es ja kurz erwähnt.
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Ich möchte nur darauf hinweisen, wenn man den Menschen beurteilt, dann historisch. Und alles andere ist bloße Spekulation. Fraglos aber hat es letzte hundert, hundertfünfzig Jahre ein durch die Technologie Innovationen hervorgebracht, die vorher undenkbar gewesen wären, das heißt, wir haben eine exponentiale Entwicklung der Menschen-Evolution durch die Technologie. Aber dieser Gipfelgang, der technologische, hat nun einen Punkt erreicht, wo er einfach bedrohlich wird für den Menschen. Und den seh ich als Anthropologe natürlich deutlich. Deswegen bin ich moderner Technologieformen eben sehr skeptisch. Das bekenne ich freimütig, sehr skeptisch.
Sprecher:
Wir haben in dieser Sendefolge nur Konturen einer denkbaren Zukunft gezeichnet, Potentiale und Gefahren zu benennen versucht und doch auch von vielem nicht gesprochen: Lauern die Gefahren nicht in unendlich vielen Bereichen, zum Beispiel in der Eskalation neuer Kriege und Kriegsformen oder in der Ausbreitung alter (überwunden geglaubter) und neuer, noch nicht bekannter Krankheiten und Epidemien; in einer nur noch gewinnorientierten Medizin und Pharmaindustrie die Medikamente zur definitiven Heilung von Krankheiten hinauszögert?
Oder, um einen ganz anderen Bereich zu nehmen: Steht uns auf lange Sicht die vollständige Verquickung von politischer Macht und Medien bevor, wovon uns ja Berlusconi einen kleinen Vorgeschmack liefert? Oder übernehmen in Zukunft Gentechnologie und die Robotik die Herrschaft über den Menschen?
Sprecherin:
Wir können nicht in die Zukunft schauen, so wenig wie wir in der Lage sind, die allerersten Anfänge unserer Welt zu wissen oder in ganz andere Räume, in andere Universen, zu reisen.
So ist denn unser Erkenntnishorizont in allen Richtungen begrenzt, trotz eines Großaufgebots an Hightech. Wir bräuchten andere Gehirne und Sensoren, Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane, um die Entstehung und die Verläufe der Welt zu verstehen und zu erahnen.
Sprecher:
Alles könnte ganz anders gewesen sein beziehungsweise sich in Zukunft entwickeln.
Musik
Ende
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Auswahl der in den Sendungen erwähnten und zitierten Literatur
Barloewen, Constantin von und Gala Naoumova: <Das Buch des Wissens. Gespräche mit den großen Geistern unserer Zeit.> (Fink Verlag) 2009.
Bommert, Wilfried: Kein Brot für die Welt. (Riemann Verlag) 2009.
Gray, John: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt. (Klett-Cotta) 2009.
Leggewie, Claus und Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. (S. Fischer) 2009.
Ramo, Joshua Cooper: Das Zeitalter des Undenkbaren. Warum unsere Weltordnung aus den Fugen gerät und wie wir damit umgehen können. (Riemann Verlag) 2009.
Schmidt-Glintzer, Helwig: Chinas Angst vor der Freiheit. (C.H. Beck Verlag) 2009.
Seel, Martin: Theorien. (S. Fischer) 2009.
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