Gustaw
Herlings Bericht |
Andreas
Breitenstein |
Gustaw Herling ist als Exponent der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts noch immer zu entdecken. Seine vor kurzem in Neuauflage erschienenen autobiographischen Erinnerungen <Welt ohne Erbarmen> (1951) sind in ihrem Klar- und Tiefblick eines der luzidesten Werke, die zum sowjetischen Gulag verfasst wurden.
Das seit einiger Zeit in Teilen übersetzt vorliegende, monumentale <Tagebuch bei Nacht geschrieben> (1971-1996) ist das Dokument eines überzeugten «Kosmo-Polen».
Wie groß mag die Genugtuung gewesen sein, spät noch, als alter Mann, aus dem «Grab» des Exils aufzuerstehen und als Legende seiner selbst heimzukehren? Die Reise nach Polen 1991 - das war sich Gustaw Herling wohl zuvor bewusst - konnte am Ende nichts anderes darstellen als das Eingeständnis der kollektiven Niederlage im persönlichen Triumph.
Kaum ein Ort in Warschau, wo sich der 72-Jährige hätte wiedererkennen können. Der Realsozialismus war nach 1945 nicht die wahre Remedur für das gewesen, was die Nazis an materieller und wirtschaftlicher Zerstörung, an kultureller und seelischer Verwüstung hinterlassen hatten.
Seit Herling 1940 die Grenze zu Litauen überquert hatte, um sich dem polnischen Widerstand im Westen anzuschließen, und dabei in die Fänge des sowjetischen NKWD geraten war, der ihn zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilte, war ihm die Freiheit der fernen Heimat höchstes Ziel gewesen. Nach dem vorzeitigen Ende seiner sibirischen Haft 1942 kämpfte Herling dafür zunächst als Soldat der polnischen Exilarmee in Italien, dann nach 1945 als Schriftsteller und politischer Publizist.
1947 war er in Rom an der Gründung des Instytut Literacki sowie der «Kultura» beteiligt. Diese Zeitschrift wird sich unter der Leitung von Jerzy Giedroyc in Paris mit Beiträgern wie Witold Gombrowicz, Czeslaw Milosz, Slawomir Mrozek und Gustaw Herling zum Nabel der polnischen Exilwelt entwickeln.
Italien als Wahlheimat
Nicht erst der Weltkrieg machte den 1919 geborenen Gustaw Herling zum Schriftsteller. 1935 debütiert er als Gymnasiast mit einer Reportage, 1937 veröffentlicht er als Polonistik-Student erzählerische Arbeiten. 1945 erscheint in Rom der Erstling, eine Essaysammlung über im Krieg umgekommene polnische Schriftsteller. Herling schlägt sich mit journalistischen Arbeiten durch.
1947 zieht er nach London, wo er an der Zeitschrift «Wiadomosci» (Nachrichten) mitwirkt. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1952 wechselt er nach München zum Sender Radio Free Europe, um sich 1955 endgültig in Neapel niederzulassen, einer Stadt, die er sich nicht nur emotional und intellektuell, sondern auch literarisch aneignen wird.
Die Heirat mit Benedetto Croces Tochter Lidia besiegelt den Pakt mit der italienischen Wahlheimat. Über Jahrzehnte hinweg ist Herling eine gewichtige intellektuelle Stimme in Publikationen wie «Tempo Presente», «Corriere della Sera», «Il Giornale». Doch wird er seiner Muttersprache nicht untreu. Nach 1956 ist er wieder in der «Kultura» zu lesen, seit Mitte der sechziger Jahre obliegt ihm deren Italien-Berichterstattung.
Die <Welt ohne Erbarmen>, die er im Gulag erfahren hat, lässt Gustaw Herling nicht los. Seine Erinnerungen erscheinen 1951 in London unter dem Titel <A world apart> und erregen hohe Aufmerksamkeit. Der Philosoph Bertrand Russell wertet sie als das «eindrucksvollste und bestgeschriebene» Buch zum Thema überhaupt.
Die deutsche Übersetzung folgt - zeitgleich zur polnischen Ausgabe in England - 1953 im Verlag für Politik und Wirtschaft, Köln. Eine analoge französische Edition wird trotz der Fürsprache von Albert Camus hintertrieben, so dass es 1984 wird, bis das Werk (entdeckt von Jorge Semprun) einen Verleger findet.
1986 und 1987 erfolgen Neuauflagen in England und den USA, 1989 erscheint eine russische Übersetzung.
In Deutschland ist es erst 2000 soweit, nachdem Herling zuvor als Prosaist wieder entdeckt worden war. Gleichzeitig erscheint in Auszügen das als opus magnum geltende «Tagebuch bei Nacht geschrieben», eine zwischen Tatsachenfeststellung und Zeitkommentar, Essay und Erzählung schillernde intellektuelle Chronik der Jahre 1971 bis 1996.
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Es ist nur schwer zu begreifen, warum sich <Welt ohne Erbarmen> so wenig ins Bewusstsein der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit eingebrannt hat.
Es mag dabei die Dringlichkeit und Nähe der (eigenen) Verbrechen der Shoah eine Rolle gespielt haben, aber auch die verbreitete Abneigung linker Kreise, sich die Abgründe des Sowjetsystems bleibend vor Augen zu halten. Herlings Buch ist ein Menetekel dessen, was Menschen einander im Namen einer «höheren Menschlichkeit» anzutun vermögen, es ist ein Meisterwerk der Deskription wie der Analyse.
Dem Autor gelingt hier das scheinbar Unmögliche: als direkt Betroffener den inneren Kreis der Lagerhölle mit der Objektivität eines Aussenstehenden zu beschreiben. Das Motto bezeugt die Patenschaft von Dostojewskis <Aufzeichnung aus einem Totenhaus>, die Herling noch im Lager las:
«Hier war eine besondere Welt, die keiner einzigen anderen glich; hier gab es besondere Gesetze, besondere Tracht, besondere Sitten und Bräuche. Es war ein Totenhaus lebend Begrabener, darinnen ein Leben wie sonst nirgendwo; und auch die Menschen waren hier anders. Eben diesen besonderen Ort will ich nun zu beschreiben versuchen.»
Herlings Leidensweg führt über die Gefängnisse von Witebsk, Leningrad und Wologda ins Lager Jercewo nahe Archangelsk am Weißen Meer, wo er zunächst als Holzfäller und dann als Entlader von Güterzügen unter Hunger und Eiseskälte, unter Übermüdung und unter dem Diktat einer unerfüllbaren Norm körperliche Schwerstarbeit verrichtet. 1940 war Jercewo — als Teil des Lagerkomplexes von Kargopol, in dem etwa 30.000 Gefangene lebten — ein Zentrum der Holzindustrie mit einem Bahnhof, einem Lebensmitteldepot und einem Dorf, in dem die Verwaltung und das Wachpersonal untergebracht waren.
Im nahen Wald boten primitive Hütten, eine Küche sowie eine Lazarettbaracke Platz für rund 600 Gefangene. Jercewo diente zudem als Durchgangsstation für Arbeitssklaven, die in immer neuen Kontingenten aus den Gefängnissen herbeigeschafft wurden, um die vielen Toten in den Außenstellen zu ersetzen. Die meisten, die es dorthin verschlug, fanden keine Wiederkehr. Die Verlegung nach Kolyma, die vor allem Schwache und Kranke traf, vergleicht Herling gar mit der Selektion in die Gaskammern.
Eineinhalb Jahre dauerte Herlings Pein. Seine Rettung war das nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 unterzeichnete polnisch-sowjetische Abkommen über eine Amnestie polnischer Gefangener, die er nach sechs Monaten Verschleppung mit einem Hungerstreik erzwang.
Ganz auf sich allein gestellt schlug er sich nach der Entlassung durch das Chaos des Rückzugs und der Mobilmachung im russischen Hinterland zu einem polnischen Militärverband durch. Nochmals lag eine Odyssee vor ihm — der abenteuerliche Weg nach Italien über Kasachstan, Persien, den Irak, Palästina, Ägypten.
Herlings «Schuld» wirft ein Schlaglicht auf die stalinistische Paranoia:
«Man warf mir anfangs zwei Dinge vor: Einmal, dass ich lederne Schaftstiefel trug, was bewies, dass ich Major der polnischen Armee war. (....) Zum anderen, da mein Name in russischen Buchstaben sich als ‹Gerling› las, dass ich ein Verwandter eines bekannten Feldmarschalls der deutschen Luftwaffe sei. Die Anklage lautete also: <polnischer Offizier, im Solde einer Feindmacht>.»
Als solcher lernt Herling in den Gefängnissen nicht nur die sadistische Meute der jugendlichen Kleinverbrecher kennen, die vom Regime als «echte Proletarier, (....) frei von der konterrevolutionären Erbsünde», als Rohmenschenmaterial gehegt werden.
Einblick in höhere Kreise erhält Herling in der Zelle der Generäle, die «sich zu viel um Politik gekümmert» haben. Mögen ihnen bei den Verhören die Knochen gebrochen worden sein, mehr als «die dumpfe Trauer von Männern, die man aus ihrer Lebensarbeit herausgerissen hatte», zeigen sie in ihrer Überzeugung, Opfer eines Irrtums geworden zu sein, nicht. Es ist der Ausbruch des Weltkriegs, der sie vor dem Todesurteil gerettet hat.
Als wollten sie das System im Allerheiligsten treffen, spotten die Verhältnisse unter den Häftlingen der Idee der klassenlosen Gesellschaft. Von Solidarität unter den Schwachen kann kaum die Rede sein: Wie in den deutschen Konzentrationslagern bildete sich auch im Gulag eine Hackordnung aus, in deren Zentrum die gewalttätigen Schwerverbrecher, die «Urkas», standen. Als Erfüllungsgehilfen der Kommandanten waren sie — den «Kapos» vergleichbar — die ungekrönten Herrscher der Lager. Sie übten wichtige Funktionen aus und beurteilten «die Arbeitskraft und die politische Rechtgläubigkeit der Gefangenen».
Die «Urkas» sind ein Hybrid von Anpassung und Widerstand, für das es keine Existenz ausserhalb des Lagers gibt. Sie erweisen sich als Transmissionsriemen des ideologischen Terrors. Ihre Macht geht nicht nur so weit, beim Glücksspiel das Leben anderer Gefangener zu setzen oder straflos neu eingetretene Frauen zu vergewaltigen (die, auf Beschützer angewiesen, den «Unfall» über sich ergehen lassen), es gelingt ihnen gar, im Lager einen Staat im Staat zu errichten: Sie «hielten nächtlicherweile Gericht über die politischen Gefangenen ab und vollstreckten dann sofort Urteile. Kein Wachposten hätte es gewagt, nach Anbruch der Dunkelheit eine Baracke zu betreten, selbst dann nicht, wenn das furchtbare Stöhnen und Schreien der langsam zu Tode gemarterten Politischen im ganzen Lager zu hören war». Dieser Zustand endete erst Ende 1940, als das Militär die Führung der Lager übernahm.
Im Schattenreich
Der Gulag bedeutete Arbeit als legaler Mord. Wer körperlich schwach war und beim Tempo nicht mithielt, hatte keine Aussicht zu überleben. Selbst die Stärksten, so Herling, ertrugen nicht mehr als zwei Jahre Waldarbeit. Man kann sich das Schattenreich der Lager nicht düster genug ausmalen. Ausbeutung verbindet sich mit Entwürdigung: «Entgegen der landläufigen Meinung dient das ganze Zwangsarbeitssystem in Russland (.....) in erster Linie nicht dazu, den Verbrecher zu bestrafen, sondern ihn wirtschaftlich auszubeuten und psychologisch gefügig zu machen.»
Ziel ist die «Vernichtung der Individualität des Gefangenen» — sei es durch Schinderei und Angst, Kälte und Krankheit, Übermüdung, Verwahrlosung und Verstörung.
Ohne jeden Gestus der Empörung gelingt es Herling, den Horror in seinen Facetten aufzuzeigen: das Siechtum der Arbeitsunfähigen in der «Leichenhalle»; die Verzweiflung jener, die sich selbst verstümmeln, um das temporäre Asyl des Lazaretts zu erreichen; die Tortur der Nachtblinden; den Abgrund der Einsamkeit; die Todesgedanken vor dem Einschlafen; das letale Heimweh der Südländer. Das Schlimmste aber ist im Lager die Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit.
Als effizienteste Methode des Terrors erscheint nicht die rohe Gewalt, sondern der Hunger. Revolten werden durch Nahrungsentzug im Keim erstickt. Die Grösse und Zusammensetzung der kärglichen Essensration entscheidet über die soziale Abstufung des Lagerproletariats. Für eine unbedeutende Verbesserung der Zuteilung ruinieren die Stärkeren die letzte Gesundheit, wobei die Arbeitsleistung perfiderweise nicht individuell, sondern kollektiv gemessen wird — was die Solidarität unterminiert. Allgegenwärtig sind Streit und Neid, Bosheit und Hass. Nur der kurze Sommer mit seiner Wärme, seinen Beeren und Pilzen bietet etwas Entlastung und eine kleine Freiheit im «engmaschigen Riesennetz, in dem die Menschen wie Heringe zappelten».
Der Todesarten waren viele. Da gab es den plötzlichen Tod vor Erschöpfung, da das Verdämmern in der Leichenhalle, da auch den Tod durch Erschießung. Eine Art Suizid war es, sich der Demoralisierung zu ergeben und die Form des (wenn auch zur Unkenntlichkeit entstellten) zivilen Alltags zu verlieren. Wer nur noch auf den Pritschen lag, war vom Tod infiziert.
Das Unheimlichste am Sterben im Lager aber war seine Anonymität: «Die Gewissheit, dass niemand jemals von ihrem Tod benachrichtigt würde noch erfahren würde, wo man sie begrub, war eine der größten seelischen Qualen der Gefangenen.»
Galten Tote auf dem Plan nur als erloschene «Energieeinheiten», wurden den Kranken paradoxerweise Augenblicke der Menschlichkeit zuteil. Noch die kleinste humane Erleichterung war im Lager eine Quelle größten Glücks. Zu einem Hochamt der Zivilität gerieten die wenigen Ruhetage im Jahr. Das vergleichsweise luxuriös ausgestattete Lazarett war der Himmel auf Erden (umgekehrt geriet der Weg zurück zum qualvollen Sterben). Hier erwachte der geschundene Körper zu neuem Leben, hier wurde der Gefangene von aufopferungsvollen Krankenschwestern plötzlich wieder als Mensch behandelt.
Hier lockerte sich der Panzer des Zynismus, hier überschwemmten ihn die verdrängten Erinnerungen an das Leben in Würde und Freiheit. Hier aber wurde auch das ganze Ausmaß der eigenen Erniedrigung und Einsamkeit offensichtlich. Gustaw Herling hat im Lazarett eine eigentliche Selbstfindung erfahren, die in ihm den Willen zum inneren Widerstand weckte und damit das Leben rettete:
«Mit der Auferstehung zerriss alles, was mich mit meinen Mitmenschen verband. Ich vergaß das Lager, die Gefangenen da draußen, ich vergaß meine Familie und meine Freunde, ich dachte nur noch an mich. Und so starb ich, während ich auferstand.»
Eine Farce ersten Ranges ist das «Haus des Wiedersehens», eine herausgeputzte «Baracke an der Grenze zwischen Freiheit und Versklavung», in der Gefangene in Erfüllung ihrer Sehnsucht die Ehefrau empfangen konnten — meist nur um zu erfahren, dass diese sich scheiden lassen wollte. Lakonisch arbeitet Herling die Absurditäten heraus, die einen solchen Besuch begleiteten: die Logik der Sippenhaftung; der Nachweis der Frau, dass sie mit einem «Feind des Volkes» nichts mehr verbinde (worauf sich die Frage erhebt, warum sie ihn denn besuchen will); die Herrichtung der Jammergestalten zu Menschen; die dem Gespräch auferlegte «Schweigeverpflichtung» (der Gefangene darf nichts sagen, die Frau nicht fragen); die (sexuelle) Fremdheit nach Jahren der Trennung; das Mitleid der Frau, ohne ganz begreifen, geschweige denn helfen zu können. Derart drückt sich die Wahrheit dieser Begegnungen einzig im «hilflosen, krampfartigen Weinen» aus, das aus der Baracke dringt. So sehr die Hoffnung auf Besuche vor der Verzweiflung bewahrt, so sehr zerstört der reale Besuch die Illusionen über das Andere des Draußen.
Niederschmetternd ist für Herling in dieser Hinsicht auch die Lektüre von Dostojewskis Gefängnisaufzeichnungen, die den Schluss nahelegen, es gebe zwischen dem Damals und dem Heute eine diabolische Kontinuität: «Die größte Qual (.....) war die unerklärliche Tatsache, dass das Gesetz der Zeit außer Kraft getreten war — zwischen dem rettungslosen Versinken unserer Vorgänger und unserem eigenen verzweifelten Kampf gab es keine Pause; die alles mit sich reißende Gewalt des Stromes blieb.»
Nachdem ihn alle Strapazen nicht so weit gebracht haben, kommt hier erstmals der Gedanke an Selbstmord auf:
«Ich wusste damals noch nicht, dass das einzige, wovor man sich in Gefangenschaft mehr hüten muss als vor Hunger und dem physischen Tod, der Zustand des vollen Bewusstseins über die Ausweglosigkeit der Lage ist.»
Es dürften nicht zuletzt die Beobachtungswut und der Wissensdurst gewesen sein, die Herling überleben ließen. Als Pole in vieler Hinsicht ein Außenstehender wurde er da, «wo sich für die unmenschlichen Taten keine menschlichen Motive mehr entdecken lassen», zu einem Medium des letzten Wunsches - erinnert zu werden. «[Es] blicken ihn die qualvoll verzerrten Gesichter seiner toten und vielleicht noch lebenden Leidensgenossen an, und ihre vor Hunger und Kälte blauen Lippen flüstern: <Sag die ganze Wahrheit über uns, sag, was man aus uns gemacht hat.>»
Erzählen war im Lager ein Elixier des Überlebens, und so erweist sich <Welt ohne Erbarmen> nicht zuletzt als ein Buch der Freundschaft, des Gesprächs zwischen Zufallsbekannten, der Erinnerung an Menschen, die sonst spurlos im Treibsand der Geschichte versunken wären.
Als Sammlung kommunistischer Lebensläufe, als Denkmal für die namenlosen Opfer des Bolschewismus ist es Danilo Kiš' grandiosem Erzählband <Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch> (1976, dt. 1983) vergleichbar. Hier wie dort reihen sich die «Kapitel ein und derselben Geschichte» zu einer Enzyklopädie des Grauens, zu dem sich das sowjetische Menschheitsexperiment auswuchs.
Nur schon die Einzelschicksale lohnen die Lektüre. Es verblüfft nach wie vor, dass sich im Gulag nicht einfach nur Systemgegner, sondern Angehörige der gesamten Sozialistischen Internationale wiederfanden — und zumal solche, die im «Vaterland des Weltproletariats» Schutz vor der tödlichen Verfolgung durch das Hitler-Regime gesucht hatten. Daran, dass diese genauso wie Tausende einfacher Russen auf eine Befreiung durch die deutsche Wehrmacht hofften, kann man den Grad der Verzweiflung ermessen, die im Lager herrschte.
Indes mochten viele überzeugte Kommunisten selbst hier nicht vom rechten Glauben lassen und legten sich immer neue Volten zurecht, um die stalinistischen Säuberungen als logisch und notwendig sowie die eigene Verbannung zwar als gerecht, doch auch als vorübergehend zu betrachten. Uneinsichtigen wiederum prügelte man die Überzeugung eigener Schuld ein, mit fatalen psychischen Folgen. Die «Grosse Umwandlung» als Gehirnwäsche — hier erscheint das System zur Kenntlichkeit entstellt.
Der Preis der Rettung
Mit politischer Intelligenz, psychologischer Meisterschaft und poetischer Sensibilität unternimmt Herling eine Pathologie des Kommunismus, und es ist nicht der Hass, sondern der Wille zum Verstehen, der dem Autor die Feder führt. «Kann man ohne Mitleid leben?» heisst die Frage, die <Welt ohne Erbarmen> als Bildungsroman im Kern aufwirft, um sie bejahend zu verneinen. Der Preis der Rettung war der unbedingte Egoismus, doch führt der Weg der Entfremdung durch den moralischen Nullpunkt zurück zu einer neuen Solidarität.
Nach der totalitären Pervertierung der Idee des Guten aber kann es für Herling keine Rückkehr zum Humanismus alter Schule geben. Es ist das Bedürfnis zu glauben, das den Menschen immer wieder zur Gewalt verführt, doch ohne Glaube geht es auch nicht. Die Einwilligung ins Kontingente, die Banalität des Guten, die Weisheit des Konkreten — das sind Elemente einer religiös grundierten Ethik, wie sie Herling entwirft. «Ein unendlich weit entferntes Ziel hört auf, ein Ziel zu sein, und wird zur Falle», schreibt er. Oder: «Es gibt keine abstrakte Freiheit, es gibt nur freie Menschen.»
Wenn auch keine Schule der Gottlosigkeit, so waren das Lager und die Verbannung für Herling doch eine Schule des Kosmopolitismus oder — einem Wort von Andrzej Bobkowski folgend — «Kosmo-Polismus». Die Distanznahme von der romantisch-konservativen polnischen Nationalmartyrologie bildet den intellektuellen Kern seines Tagebuchs. Herling hat das Exil als Chance der polnischen Kultur begriffen, modern zu werden. Entsprechend spannt das Räsonnement einen Kosmos von vielfältigsten literarischen, geistesgeschichtlichen und kunsthistorischen Bezügen, wobei sich manch pointiertes Urteil findet (etwa Polemisches zu Cioran, Proust oder Brodsky).
Hier wird die Brücke zur polnischen Vorkriegskultur geschlagen, hier wird aber auch die Propaganda Lügen gestraft, dass die Exilliteratur durchweg ein Hort reaktionären Denkens, eine «Brutstätte ethnischer Phobien und religiöser Schreckgespenster» gewesen sei.
In seinem Antikommunismus ist Herling rigoros geblieben, nach 1989 widersetzte er sich (wie Zbignew Herbert) einer voreiligen Versöhnung, der Tatsache eingedenk, dass «Menschen ihren Mitmenschen dieses Schicksal bereitet haben» (Zofia Nalkowska).
Die Ketten der Gefangenschaft - dies zeigt das Tagebuch -, die immer wieder auf den Totalitarismus in seinen Spielarten zurückkommt, hat er zeitlebens hinter sich hergeschleift.
Das Exil sei eine «Probe der inneren Freiheit, und diese Freiheit (sei) entsetzlich», heißt es bei Czeslaw Milosz. Jahrzehntelang ließ man osteuropäische Exilschriftsteller wie Gustaw Herling, Josef Škvorecký und Sándor Márai im Glauben, auf dem «Abfallhaufen der Geschichte» gelandet zu sein. Die friedliche Revolution von 1989 hat sie im Herbst ihres Lebens unverhofft zu Avantgarden des Wandels gemacht. Wer von ihren Landsleuten aus Schaden wirklich klug geworden ist, dankt es ihnen überschwänglich: Nicht jeden, der spät kommt, bestraft das Leben. #
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