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Nachruf

 

842-843

An einem Herbsttag Anfang der siebziger Jahre rief die <New York Times> an: ob ich bereit wäre, einem ihrer Mitarbeiter, Alden Whitman, ein Interview zu geben. 

Mr. Whitman erschien denn auch pünktlich zur vereinbarten Stunde, ein munterer kleiner Herr mit vergnügt zwinkernden Augen und kurzem, in zwei Hälften gespaltenen Kinnbart; wir beide wären, erklärte er, alte Bekannte; als ich noch in New York in der <New Union Press> arbeitete, habe er dort eine Menge Flugblätter und Broschüren drucken lassen, für das Komitee zum Schutz der im Ausland Geborenen, bei dem er damals angestellt war. Und jetzt sei er bei der Times.

Ich entsann mich dunkel; aber es kamen in jenem Jahr so viele Leute von so vielen Gruppen und Vereinen mit Druckaufträgen, und Whitman hatte wohl auch zumeist mit dem Boß selber verhandelt, dem rothaarigen Mr. Cohn, der, so hörte ich nun, unter großer Anteilnahme des New Yorker Druckgewerbes und der typographischen Gewerkschaften vor einiger Zeit schon zu Grabe gelegt worden war.

Merkwürdig berührte mich nur, daß Whitman sich so ausgiebig mit den Präliminarien beschäftigte, statt zu seinem Interview zu kommen; er verbreitete sich über das ehrwürdige Alter seines Blattes und dessen Ruf, der über den Erdball reiche, und wie die Redaktion auf den sorgfältigsten Recherchen bestehe, so daß der Inhalt der Spalten der New York Times in kommenden Jahrhunderten noch den Historikern als Referenzmaterial dienen werde und daher gewissermaßen von Ewigkeitswert sei.

Da begann mir's zu dämmern. »Ach, der Whitman sind Sie«, sagte ich, »und Sie besuchen mich, um mein Obituary zu schreiben, meinen Nachruf!«

That's it, yes, sagte er, offensichtlich erleichtert. Nachdem er seinen Job bei dem Komitee quittiert, habe er als Korrektor für die Times zu arbeiten angefangen, und jedesmal, wenn er einen ihrer faden, langatmigen Nachrufe korrigieren mußte, habe er sich geärgert und gedacht, das könne er doch besser machen, mit Sechel, verstehen Sie, wie man im Jiddischen sagt - auf Deutsch heißt es Pfiff, nicht? 

Und Art und Stil seiner Versuche gefielen der Chefredaktion, und heute sei er der <Star Obituary Writer> der New York Times und seine Nachrufe die begehrtesten Amerikas, wenn nicht der Welt. Fertig geschrieben stünden sie, ständig up to date gebracht und jederzeit verfügbar, im Satz, bis der Metteur sie am Tage des Ablebens ihres jeweiligen Titelhelden in die dafür bestimmte Seite einfügte.

Und er kenne Leute, die Erkleckliches zahlen würden, um einen Nachruf aus seiner Feder zur Nutzung parat in der Druckerei der New York Times lagern zu haben. Soeben, als Beispiel nur, sei er aus Vevey am Genfer See gekommen, von Charles Chaplin; doch sei der, und dies mit dankbarem Blick auf mich, schon so senil gewesen.

Das Makabre der Situation schwand, bevor Whitman noch im Ernst zu fragen begann. Die Stimmung zwischen uns zweien war heiter, ja, fast ausgelassen; im Geplauder mit Whitman verlor die große Stille, die dann sein würde, ihre Schrecken, und außerdem war mir bewußt, daß ein Whitmansches Obituary mich in den Kreis jener Erlauchten erhob, denen Unsterblichkeit gesichert war, solange Papier und Druckerschwärze hielten.

Dann waren wir am Ende; wir tranken einen, und er sagte, dies werde eines der meisterlichsten seiner Meisterstücke werden, und ich fragte, wann ich denn nun einen Bürstenabzug haben könnte; ich wüßte doch gerne, in welcher Form mein Andenken weiterleben würde. Er wehrte ab. Dies nicht. Nie und nimmer. Wie lieb der eine oder andere ihm, Whitman, auch sei und wie prominent auch: vor seinem Ableben, das sei Grundsatz der New York Times, bekäme keiner der dereinstigen Verstorbenen seinen Nachruf zu lesen.

Alden Whitman ist tot; ich weiß nicht, wer ihm seinen Nachruf verfaßte für die Times, es sei denn, er schrieb ihn noch selber, und längst schon stehen Whitmans Obituaries nicht mehr in bleiernen Zeilen auf dem messingnen Schiff im Regal; sie warten, auf Disketten gespeichert, daß einer sie in den Computer schiebe und abrufe. 

Ich habe, jedesmal wenn ein Times-Mann vorsprach, mich zu interviewen, diesen gebeten: mein Obituary, veranlassen Sie doch, daß ich es endlich zu sehen kriege; und jedesmal kam nur das Achselzucken: <Sie wissen doch, Mr. H. ...> So wird man denn warten müssen mit der Lektüre von Alden Whitmans Nachruf auf mich, bis ich das letzte Stück meines Wegs getragen worden bin.

Unterdessen mag der geneigte Leser mit diesem Buche vorliebnehmen.

843

  Ende  

 nytimes.com/2001/12/18/arts/stefan-heym-marxist-leninist-novelist-dies-at-88-on-lecture-tour-in-israel.html 

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nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/die-new-york-times-laesst-verstorbene-selbst-zu-wort-kommen-1.17334426   

Das letzte Wort 

Die «New York Times» lässt Verstorbene selbst zu Wort kommen 

Thomas Schuler 9.7.2012

Den Nachrufen schenkt die Presse hierzulande relativ wenig Beachtung. Ganz anders denkt die «New York Times». Ein Beispiel zum Nachahmen.

Anfang der siebziger Jahre erhielt der Schriftsteller Stefan Heym einen Anruf der «New York Times». Ob er bereit wäre, einem ihrer Mitarbeiter ein Interview zu geben, wurde er gefragt. Heym sagte zu. Pünktlich zur vereinbarten Stunde erschien «ein munterer kleiner Herr mit vergnügt zwinkernden Augen und kurzem, in zwei Hälften gespaltenem Kinnbart», wie Heym später schrieb. Der Besucher hiess Alden Whitman. Er sagte, er sei ein alter Bekannter aus gemeinsamen New Yorker Tagen.

Merkwürdig kam Heym vor, dass Whitman so viel Zeit für das Vorgespräch verwendete, als müsse er Heym von seinen hehren Absichten überzeugen. Statt mit dem Interview zu beginnen, erwähnte er das Alter der Zeitung, ihren Ruf und betonte die Sorgfalt in der Recherche. «Da begann mir's zu dämmern», erinnerte sich Heym: «Ach, der Whitman sind Sie . . . Sie besuchen mich, um mein Obituary zu schreiben, meinen Nachruf!»

Whitman war offenbar froh, dass er das Wort Obituary nicht selbst erwähnen musste. Denn die Recherche für den Nachruf ist eine Besonderheit, und dies unterscheidet die Qualität der Nachrufe der «New York Times» von jenen anderer Zeitungen. Die «Times» befragt berühmte Menschen, bevor sie sterben, um die Informationen nach ihrem Tod zu veröffentlichen.

Whitman war erleichtert und erwähnte, dass seine Nachrufe die begehrtesten in ganz Amerika seien. Soeben komme er vom Schauspieler Charlie Chaplin vom Genfersee. Es folgte ein angenehmes, heiteres Gespräch, an dessen Ende Whitman sagte, dies werde bestimmt einer der besten seiner Nachrufe werden. Heym fragte ihn, wann er den Text denn sehen könne. Der Besucher wehrte ab. Die «Times» folge dem strikten Prinzip, keine Texte vorab herauszugeben. Die Betroffenen würden ihren Nachruf nie zu Gesicht bekommen.

Zur Kunst gemacht

Der Ansatz, Personen für ihren Nachruf zu befragen, gehe auf Alden Whitman zurück, schrieb die «Times» in seinem Nachruf, als er 1990 starb. Whitman habe das Schreiben des Nachrufs zu einer Kunst gemacht, hiess es; von 1964 bis 1976 reiste er um die Welt und schrieb Hunderte Nachrufe; die Gespräche seien vertraulich zu Lebzeiten des Befragten. Das Wort Nachruf verwandte er nicht in seinen schriftlichen Anfragen, sondern vertraute darauf, dass die Angesprochenen wussten, wofür das Interview gedacht sei. Solche Zurückhaltung ist heute nicht mehr nötig. Whitman befragte Maurice Chevalier, Joseph P. Kennedy, Charles A. Lindbergh, Ho Chi Minh, Pablo Picasso, Mies van der Rohe, Haile Selassie, Graham Greene, John L. Lewis, Andre Maurois, Henry Miller, Albert Schweitzer und Harry S. Truman.

Er schrieb Hunderte seiner Nachrufe auf Vorrat und veröffentlichte zwei Sammelbände. In «Come to Judgment» schrieb er, ein guter Nachruf benenne auch die Schwächen und Negatives des Verstorbenen. Diesen Rat befolgte die «Times», erwähnte in Whitmans Nachruf ein Gerichtsverfahren gegen ihn – und musste prompt eine Berichtigung drucken, weil ein Detail falsch geraten war. Whitman bekam von alldem natürlich nichts mehr mit.

Für Heym war der Besuch von Whitman ein Schlüsselerlebnis. Es brachte ihn dazu, sich selbst an seinen Nachruf zu setzen. Er wollte das letzte Wort haben und schrieb seine Memoiren. Er schrieb sie in der dritten Person und gab dem fast 1000 Seiten umfangreichen Werk den Titel «Nachruf». 

«Als das Buch 1988 erschien, war Whitman bereits tot», schreibt Heym im Nachwort seines Buches. Doch das stimmt nicht. 1988 war Whitman im Ruhestand; gestorben ist er erst zwei Jahre später, wie sein Nachruf belegt.

«Hi, ich bin gerade gestorben»

Seit fünf Jahren zeichnet die «Times» die Interviews mit einer Kamera auf und stellt sie in Dokumentarfilmen auf die Website. 

Der Autor und Humorist Art Buchwald war der Erste, und er begann sein Interview mit dem schönen Satz: «Hi, ich bin Art Buchwald und ich bin gerade gestorben.» Wie wollte er in Erinnerung bleiben? «Als jemand, der Leute zum Lachen brachte», sagte er. Dabei erzählt Buchwald im Video die traurige Geschichte von seinem langen Sterben. 

Er litt an Nierenversagen, er verlor ein Bein, und er brach eine Dialysebehandlung ab. Er ging in ein Sterbehospiz und dachte, in zwei Wochen sei alles vorbei. Aber nach fünf Monaten lebte er noch immer. Er erhielt viel Besuch, er lachte und riss Witze. Im Juli 2006 besuchte die «Times» ihn (und den Fernseh-Starreporter Mike Wallace) in seiner Sommerresidenz; Buchwald starb im Januar 2007. In seinem Nachruf kommt sein Nachbar Wallace ausführlich zu Wort. Wallace starb im April 2012 – sein Video-Nachruf ist der neuste.

Dass Buchwald so ausführlich über sein Sterben sprach, ist eher ungewöhnlich für einen Nachruf der «Times». Denn eigentlich nutzt die Zeitung den Tod als Entschuldigung, um über das Leben zu schreiben. Gute Nachrufe sind kurze Biografien. Eine Besonderheit haben die Videos: Darin kommt vor allem der Tote selbst zu Wort. Das ist bei geschriebenen Nachrufen nicht unbedingt der Fall; darin werden Freunde, Feinde und Zeitzeugen zitiert.

Inzwischen hat die «Times» elf Video-Nachrufe veröffentlicht: Die Jazzsängerin Odetta und die Politikerin Geraldine A. Ferraro (die erste Frau, die in den USA landesweit für ein politisches Amt kandidierte) sind darunter, ausserdem John F. Kennedys Berater und Redenschreiber Theodore C. Sorensen, der kambodschanische Fotograf Dith Pran, der Philanthrop Stewart Mott, der Jazzgitarrist Les Paul, der Baseballspieler Bob Feller, der Schriftsteller und Drehbuchautor Budd Schulberg und der Arbeitskampf-Schlichter Theodore Kheel. Es sind Namen, die nicht jeder sofort einordnen kann – vor allem ausserhalb der USA.

Etwa 15 weitere Videos seien fertig produziert und warteten auf ihren Einsatz, sagt Eileen Murphy, eine Sprecherin der «New York Times». Namen zu nennen, ist tabu. Sind amerikanische Präsidenten darunter? Oscar-Prämierte Hollywoodschauspielerinnen? Schriftsteller? Selbst allgemeine Beschreibungen der Befragten will Murphy nicht geben und sagt nur so viel: Die «Times» befrage «national und international überaus bekannte Personen».

Die «Times» ist geprägt von der Tradition der Nachrufe. Sie ist Teil ihrer Kultur. Dem einstigen Verleger Adolph Ochs wird eine Vorliebe für grosse Begräbnisse nachgesagt. Die Särge leitender Redaktoren wurden in einer Prozession am Verlagsgebäude vorbei getragen, und alle Mitarbeiter hatten davor Spalier zu stehen, berichtet der ehemalige «Times»-Reporter Gay Talese in «The Kingdom and the Power», seinem Klassiker über die «New York Times». Besondere Treue zur Zeitung belohnte sie mit einem extralangen Nachruf.

Weil die Leser der «Times» sich für Nachrufe interessieren, beschäftigte sich im April auch der Ombudsmann Arthur S. Brisbane mehrfach mit der «Wissenschaft des Nachrufs» und wollte wissen, nach welchen Kriterien die «Times» Personen für vorbereitete Nachrufe aussucht: «Sie wählen sich im Grunde selbst aus», sagte Bill McDonald – bekannte Menschen, deren Nachrufe auf die Titelseite kommen. Prominenz und Bedeutung spielen eine Rolle, ausserdem der Gesundheitszustand der Betreffenden. Eine Grundregel sei, sich nie zu fragen, warum man diesen oder jenen Nachruf nicht vorbereitet habe.

Krönung einer Karriere

Das Schreiben von Nachrufen ist eine Berufung und Auszeichnung, keine Strafe. Die Arbeit bedeutet nicht Abstieg, sondern ist Station oder gar Krönung einer journalistischen Karriere. Bill McDonald, der heutige Chef der Nachruf-Redaktion, leitete früher die Sektion für Kunst, Freizeit und Kultur und redigierte investigative Recherchen. Arnie Warren, ein Leser aus Florida, schrieb McDonald einmal, dessen Texte seien der einzige Grund, warum er die «Times» lese: «Ihre Nachrufe sind wunderbare Biografien, auf deren Lektüre ich mich jeden Tag freue.»

McDonald ist sich dieser Wertschätzung bewusst und spricht von einer doppelten Last: «Viele Leute betrachten einen Nachruf der <Times> als das letzte Wort», antwortete er auf das Kompliment. Der Nachruf-Redaktor Bruce Weber schrieb im Jahr 2008, die Leser beurteilten die Bedeutung einer Person nach der Länge des Nachrufs und seiner Placierung. Aber die Bedeutung könne man nicht aus solchen Formalitäten herauslesen.

Was sind die Schwächen der Video-Nachrufe? Sie lassen sich nicht so leicht umschreiben und aktualisieren, wie es manchmal erforderlich ist. Die Aktualisierung eines Textes fällt leichter. Manchmal ist der Nachrufschreiber bereits tot, wenn sein Nachruf erscheint; so war es beim Kritiker Vincent Canby, der über Bob Hope, und bei Mel Gussow, der über Elizabeth Taylor schrieb. Normalerweise gibt die «Times» einen Nachruf in einem solchen Fall neu in Auftrag; bei den Starjournalisten Canby und Gussow machte sie eine Ausnahme und vermerkte am Ende des Textes, dass der Autor bereits tot sei.

Hunderte im Stehsatz

Richard F. Shepard, der die Nachruf-Redaktion 1986 für ein Jahr leitete, nennt die vorab geschriebenen Nachrufe die «Kronjuwelen der Times». Zu seinen Zeiten waren drei bis vier Redaktoren mit Nachrufen beschäftigt, und es lagen rund 2000 Nachrufe bereit; heute sind es angeblich rund 1500. Jedes Jahr kommen 250 neue dazu; 50 werden gedruckt. Das Archiv wächst und wächst. 

90 Prozent aller Nachrufe, die auf der Titelseite erscheinen, wurden vorab, also auf Abruf, geschrieben. Laut Shephard schrieb der damalige Chefredaktor Abe Rosenthal einem Leser: «Wenn Sie sterben müssen, dann ist es besser, in der <Times> zu sterben. Sie müssen wissen, dass die Tageszeit sehr wichtig ist. Ich habe allen meinen Freunden geraten, dass sie Montag bis Freitag so früh wie möglich sterben sollten, vorzugsweise zwischen zehn und zwölf Uhr Mittag.»

Als einmal keine Nachrufe erschienen, wurde die Chefredaktion ungeduldig und fragte, ob etwas mit Alden Whitman passiert sei. Keineswegs, lautete die Antwort des Chefs des Lokalressorts. Das Problem sei nur, dass niemand sterbe.  

Ob Whitman seinen Nachruf selbst verfasst hat, liess die «New York Times» offen. Sein Nachruf erschien ohne Autorenzeile.

Heym jedenfalls liess der eigene Nachruf keine Ruhe. Er fragte jeden Reporter der «Times», der ihn interviewte, ob er ihm nicht helfen könnte, dass er den Text doch zu sehen bekomme. Vergeblich. Stefan Heym schrieb, man werde seinen von Whitman verfassten Nachruf erst nach seinem Tod lesen – und irrte. Denn als Heym 2001 auf einer Lesereise in Israel starb, stand nicht der Nachruf des längst verstorbenen Alden Whitman in der «Times», sondern der Artikel eines Kollegen.

 

 

 

fr-online.de/medien/new-york-times-nachrufe--hi--ich-bin-gerade-gestorben-,1473342,16693212.html

„Hi, ich bin gerade gestorben“  

Von THOMAS SCHULER

Manch ein Leser bekennt sich dazu, die New York Times nur wegen der Nachrufe zu kaufen. Diese gehören neben anderem zu den herausragenden Elementen der Zeitung. Nun führt die NYT Interviews mit Prominenten und veröffentlicht die Videos nach deren Tod im Internet.

Die Nachrufe der New York Times sind legendär. Dass die Zeitung dafür lange Interviews führt, ebenfalls. Weniger bekannt ist, dass sie die Gespräche seit einiger Zeit mit einer Kamera aufzeichnet und nach Ableben des Interviewten auf die Website stellt. Der Autor und Humorist Art Buchwald war vor fünf Jahren der Erste, und er begann sein Interview mit dem schönen Satz: „Hi, ich bin Art Buchwald, und ich bin gerade gestorben.“ 

Wie sollten sich die Menschen an ihn erinnern? „Als jemand, der Leute zum Lachen brachte.“ Dabei erzählt Buchwald im Video die traurige Geschichte von seinem langen Sterben. Er litt an Nierenversagen, er verlor ein Bein, und er brach eine Dialyse-Behandlung ab. Er ging in ein Sterbe-Hospiz und dachte, in zwei Wochen sei alles vorbei. Aber nach fünf Monaten lebte er noch immer. Er erhielt viel Besuch, er lachte dann und riss Witze. Im Juli 2006 hat die Times ihn und den Fernseh-Starreporter Mike Wallace in seiner Sommerresidenz besucht; Buchwald starb im Januar 2007. In seinem Nachruf kommt sein Nachbar Wallace ausführlich zu Wort. 

Wallace starb im April 2012 – sein Video-Nachruf ist der aktuellste. Dass Buchwald so ausführlich über sein Sterben sprach, ist eher ungewöhnlich für einen Nachruf der Times. Denn eigentlich nutzt die Zeitung den Tod als Entschuldigung, um über das Leben zu schreiben. Gute Nachrufe sind kurze Biografien. Eine Besonderheit haben die Videos: Es kommt tatsächlich vor allem der Tote selbst zu Wort. Das ist bei geschriebenen Nachrufen nicht unbedingt der Fall; darin werden Freunde, Feinde und Zeitzeugen ausführlich zitiert.

Den Grundstein für die Nachrufe-Tradition der New York Times hat der Reporter Alden Whitman gelegt. Whitman reiste von 1964 bis 1976 um die Welt und befragte Charles A. Lindbergh, Ho Chi Minh, Pablo Picasso, Mies van der Rohe, Haile Selassie, Graham Greene, Henry Miller, Albert Schweitzer und Harry S. Truman. Anfang der 70er- Jahre erhielt auch der Schriftsteller Stefan Heym eine Anfrage der New York Times für ein Interview. Als Whitman im Vorgespräch die Sorgfalt in der Recherche so sehr betonte, da wurde Heym klar: „Sie besuchen mich, um mein Obituary zu schreiben, meinen Nachruf!“ Die Gespräche waren vertraulich zur Lebzeit des Befragten, erst nach ihrem Tod veröffentlichte Whitman Zitate. Er schrieb Hunderte seiner Nachrufe auf Vorrat und war der Ansicht, ein guter Nachruf benenne auch die Schwächen des Verstorbenen. Diesen Rat befolgte die Times: Sie erwähnte in Whitmans Nachruf auch ein Gerichtsverfahren gegen ihn – und musste prompt eine Berichtigung drucken, weil ein Detail falsch war.

Elf Video-Nachrufe veröffentlicht 

Für Heym war der Besuch ein Schlüsselerlebnis. Er wollte das letzte Wort haben und verfasste seine Memoiren. Er schrieb sie in der dritten Person und gab dem fast 1000 Seiten umfassenden Werk den Titel „Nachruf“. Als das Buch 1988 erschien, war Whitman bereits tot, schreibt Heym im Nachwort. Doch das stimmte nicht. 1988 war Whitman im Ruhestand; gestorben ist er zwei Jahre später.

Inzwischen hat die New York Times auf ihrer Internetseite elf Video-Nachrufe veröffentlicht: Die Jazz-Sängerin Odetta und die Politikerin Geraldine A. Ferraro (die erste Frau, die in den USA landesweit für ein politisches Amt kandidierte) sind darunter, außerdem John F. Kennedys Berater und Redenschreiber Theodore C. Sorensen, der kambodschanische Fotograf Dith Pran, der Philantrop Stewart Mott, der Jazz-Gitarrist Les Paul, der Baseball-Spieler Bob Feller, der Schriftsteller und Drehbuchautor Budd Schulberg und der Arbeitskampf-Schlichter Theodore Kheel. Es sind Namen, die nicht jeder sofort einordnen kann – vor allem außerhalb der USA.

Etwa 15 weitere Videos seien fertig produziert und warteten auf ihren Einsatz, sagt Eileen Murphy, eine Sprecherin der New York Times. Namen zu nennen ist natürlich tabu. Sind amerikanische Präsidenten darunter? Oscar-prämierte Hollywood-Schauspieler? Schriftsteller? Selbst allgemeine Beschreibungen der Befragten will Murphy nicht geben und sagt nur soviel: Die Times befrage, „national und international überaus bekannte Personen“ und werde das Projekt fortsetzen.

Die Tradition der Nachrufe geht bis auf den einstigen Verleger Adolph Ochs zurück. Ihm wird eine Vorliebe für große Begräbnisse nachgesagt. Die Särge leitender Redakteure wurden in einer Prozession am Verlagsgebäude vorbei getragen und alle Mitarbeiter hatten davor Spalier zu stehen, berichtet der ehemalige Times-Reporter Gay Talese in „The Kingdom and the Power“, seinem Klassiker über die New York Times.

Nachrufe sind die „Kronjuwelen“ Das Nachruf-Schreiben ist denn auch eine Berufung und Auszeichnung, keine Strafe. Bill McDonald, der heutige Chef des Nachruf-Redaktion, leitete früher die Sektion für Kunst, Freizeit und Kultur und redigierte investigative Recherchen. Dass er seit 2006 nun Nachrufe schreibt, ist keine Degradierung, so als müsste er Leserbriefe redigieren. Was Buchverlagen das Genre der Biografie, das ist den Zeitungen der Nachruf – eine kleine Biografie, eine Form des Porträts, die todsicher eine Nachricht enthält: eben diesen, den Tod. Arnie Warren, ein Leser aus Florida, schrieb McDonald einmal, die Nachrufe seien der einzige Grund, warum er die Times lese: Sie seien „wunderbare Biografien, auf deren Lektüre ich mich freue.“

Richard F. Shepard, der die Nachruf-Redaktion 1986 für ein Jahr leitete, nennt die vorab geschriebenen Nachrufe die „Kronjuwelen der Times“. Zu seinen Zeiten waren drei bis vier Redakteure mit Nachrufen beschäftigt und es lagen rund 2 000 bereit; heute sind es angeblich rund 1 500. Jedes Jahr kommen 250 neue dazu; 50 werden gedruckt. Rund 90 Prozent aller Nachrufe, die auf der Titelseite erscheinen, wurden vorab, also auf Abruf, geschrieben. Laut Shephard schrieb der damalige Chefredakteur Abe Rosenthal einem Leser: „Wenn Du sterben musst, dann ist es besser in der Times zu sterben. Sie müssen wissen, dass die Tageszeit sehr wichtig ist. Ich habe allen meinen Freunden geraten, dass sie Montag bis Freitag so früh wie möglich sterben sollten, vorzugsweise zwischen zehn und zwölf Uhr Mittag.“

Heym schrieb, man werde den von Whitman verfassten Nachruf erst nach seinem Tod lesen – und irrte. Denn als Heym 2001 starb, stand nicht der Nachruf des längst verstorbenen Whitman in der Times, sondern der Artikel eines Kollegen.

 

 

 

 

nytimes.com/2001/12/18/arts/stefan-heym-marxist-leninist-novelist-dies-at-88-on-lecture-tour-in-israel.html  

December 18, 2001 

Stefan Heym, Marxist-Leninist Novelist, Dies at 88 on Lecture Tour in Israel 

By DAVID BINDER 

Stefan Heym, the widely published author of more than a dozen historical and political novels, died yesterday while on a lecture tour in Israel. He was 88 and lived in Berlin.

A Jew uprooted in Germany in 1933 by the Nazis, Mr. Heym became an intellectual nomad and a lifelong Marxist-Leninist: two years in Czechoslovakia, 15 years in the United States; settling finally in East Germany. In World War II he served in the United States Army in France and Germany.

Extraordinarily prolific, Stefan Heym -- his pen name -- was more a highly gifted storyteller than a transcendent writer. With few exceptions his tales, drawn from history and contemporary political life, pitted a single man against a powerful and implacable authority.

Describing his literary aims in 1967 to an American visitor to East Germany, he said the country was ''a blank spot in literature for me to fill in.'' In fact East Germany produced a number of greatly talented homegrown novelists and poets whose works filled in virtually all of that blank spot.

Mr. Heym never became deeply rooted in the hybrid society of East Germany. ''I always say I'm not only a German writer but also an American,'' he said. ''Much of what I write, say and the way I act is American, although as a boy I wanted to be like Schiller.''

Klaus Korn, a retired university professor in Berlin, said of Mr. Heym: ''We saw him as somebody from over there, from America. His novels were more in the American style, Sinclair Lewis or Norman Mailer, than German.''

As for his origins Mr. Heym said: ''Being here in Germany helps me to continue feeling as a Jew. Sometimes I feel myself as a Jew. Sometimes I feel myself a German. And sometimes I even have American traces in my makeup. I am kind of a mix.''

Late in life, four years after the Berlin Wall collapsed, he ran as an independent Socialist for political office in the newly united Germany and won election as a Bundestag deputy from the Communist stronghold of Prenzlauer Berg, a borough of eastern Berlin. At the time he described himself as both ''a writer of genius'' and ''a full-blooded politician.''

Mr. Heym quit office after a year in protest against the deputies' vote to increase their own salaries by 50 percent.

He was born Helmut Flieg, the son of a textile manufacturer in the eastern industrial city of Chemnitz, on April 10, 1913. Early on he demonstrated a fierce ambition to be noticed, publishing an anti-militarist verse in The Chemnitzer Volkszeitung in 1931, which caused his expulsion from high school. He was attending the University of Berlin when Hitler came to power in 1933.

Fleeing across the frontier near his birthplace to neighboring Czechoslovakia, he earned a hand-to-mouth living as a writer in Prague. He was already strongly attached to the teachings of Marx and Lenin, contributing articles over the next six years to Communist periodicals in Prague and Moscow. In 1935 he gained a scholarship from a Jewish fraternity at the University of Chicago and went to the United States on a ticket paid for by Czech writers and journalists.

He received a master's degree and moved to New York to become editor of a German-language anti-Nazi weekly, Deutsches Volksecho. The paper supported the Hitler-Stalin pact of 1939.

After the collapse of the Berlin Wall, Mr. Heym repeatedly claimed that he ''never belonged to a party in my whole life.'' On a questionnaire he filled out for the East German Writers Association in 1952, however, he said he joined the Communist Party U.S.A. in 1936 and remained a member for three years.

From 1939 to 1942 he was a printing salesman, working on a novel in his spare time: ''Hostages'' (G. P. Putnam's Sons), a thriller about the Nazi occupation of Prague, which was an instant success before he turned 30. Orville Prescott, The New York Times's book critic, called the story ''tense, tautly constructed, swift and terrible.'' Paramount made it into a movie, starring Luise Rainer and William Bendix.

He joined the United States Army and was assigned to a psychological warfare unit, the Second Mobile Broadcasting Company. Landing in France a week after D-Day in 1944, he saw duty close to the front as one of the ''hog callers,'' speaking German over a loudspeaker to urge Wehrmacht troops to surrender.

He became one of the founding editors in Munich of Neue Zeitung, the first American Occupation Zone newspaper. He then returned to New York and resumed writing fiction, publishing a modestly successful World War II novel, ''The Crusaders,'' and ''The Eyes of Reason'' three years later.

In 1951, fearing investigation by the House Un-American Activities Committee as the hunt for Communists led by Senator Joseph R. McCarthy reached a crescendo, Mr. Heym left the United States with his American wife, Gertrude Peltryn, a New Yorker whom he married in 1944. She died in 1969. They stayed first in Warsaw and Prague, arriving in East Germany a year later.

He then presented his action as ''a protest'' against the role of the United States in the Korean War and took part in anti-American propaganda campaigns. He also renounced his American citizenship and returned his Army decorations to Washington.

He soon became a star propagandist for the Communist regime and its Soviet protectors. When construction workers demonstrated in the streets against the system in 1953, he wrote in his weekly column in The Berliner Zeitung that the repression of the uprising by Soviet tank cannons was justified ''to prevent a war'' because otherwise ''American bombing nights would have started.'' On Stalin's birthday that year Mr. Heym wrote of him as ''the most beloved man of our time.'' Later he called Soviet political concentration camps ''settlements.''

When Hungarians revolted against Communist rule in 1956, he called their crushing defeat by Soviet armored columns a ''matter of ethics.'' For this and other expressions of loyalty he was awarded the National Prize II Class and two literary awards by the Stalinist regime in East Berlin. But by the mid-60's he was out of favor with the party leadership, accused of conducting ''a conceited elitist mission'' and writing ''truth as conceived in the West.''

His relations with the ruling party worsened when he began to publish novels in the West that he could not get permission for in the East. But he lived in a comfortable house in the lakeside borough of Grünau and drove a white Lancia roadster. Because of his Western television appearances he was a celebrity in the East despite strictures on his publishing there and police surveillance. With his hard-currency earnings he also traveled to the West.

His historical-political novels included ''The Eyes of Reason'' in 1951 about the 1948 Communist takeover in Czechoslovakia; ''Goldsborough'' in 1953 about a miners' strike in Pennsylvania; ''The Papers of Andreas Lenz'' in 1963 about the abortive 1848 revolution in Germany; ''Lassalle'' in 1969 about Ferdinand Lassalle, the 19th-century founder of the German Socialist movement; ''The Queen Against Defoe'' in 1970 about Daniel Defoe's libel and slander case; ''The King David Report'' in 1972, a story about the rewriting of history under a dictatorship cast as a biblical tale; and ''Ahasver'' in 1981, a mythological story about the eternal wandering Jew as an itinerant revolutionary.

In his autobiographical ''Nachruf'' (''Obituary'') in 1988 he often spoke of himself in the third person as ''S. H.,'' especially when describing his behavior during the Stalin purges. But he was not candid about being an ardent Stalinist from 1933 to 1963. ''I was never a dissident in relation to the Communist-Socialist world movement,'' Mr. Heym said in 1977.

On Nov. 4, 1989, as the Communist regime in East Germany began to topple, Mr. Heym joined other prominent would-be reformers at Marx Engels Square in the center of East Berlin where he spoke to a crowd of 100,000, saying that ''socialism, the right kind, not the Stalinist kind, is what we want to build for our benefit and the benefit of all Germany.''

Just as Mr. Heym had assailed the East Germans in 1953 for rising up against their Soviet overlords, he now spoke sarcastically of this people as ''a horde pressed belly to back on the hunt for glittering junk'' in West German department stores.

One of his last works, ''The Gals Are Always Gone and Other Clever Sayings,'' published in 1997, is a mostly autobiographical collection of tales about himself and his second wife, Inge. A sharp departure from the novels that form the main part of his output, it is written in a peculiar hybrid jargon that is the author's conception of what might be called Jewish-German, including a sprinkling of Yiddish phrases, and is designed as a tribute to his wife, Inge Hohn, a film scenarist who survives him.

Photo: Stefan Heym at his home in East Berlin in 1984. A prolific writer, he was born in Chemnitz, Germany, in 1913. (Günter Schneider)

 

 

 

 

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