Teil 3: "Tiefenpsychologisch"
Man kann ein therapeutisches System und die es begründende Theorie dann als «tiefenpsychologisch» bezeichnen, wenn sie vom Vorhandensein unbewußter Prozesse ausgeht, die mit «Verdrängung», «Erinnerung» und «Widerstand» zu tun haben. So gesehen ist die Tiefenpsychologische Basis-Therapie, wie wir bereits mehrfach festgestellt haben, wirklich eine «tiefenpsychologisch» orientierte Therapie. Wir wollen uns jedoch nicht mit dieser Feststellung allein begnügen, sondern die genannten Aspekte etwas genauer betrachten.
5. Die Bedeutung von Verdrängung, Speicherung, Erinnerung und Widerstand
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Wenn man erst einmal für pränatale Schädigungen, traumatische Geburtsverläufe und andere massive Störungen früher biologischer Programme sensibel geworden ist, fragt man sich ernsthaft, wie ein Ungeborenes oder Neugeborenes eine derartige Bedrohung seiner Existenz durch kaum erträglichen körperlichen Schmerz und seelische Qual überhaupt überleben kann, wenn doch die herangereiften Erwachsenen mit ihrer viel größeren Ichstärke und ihren vielerlei Abwehr-Strategien nach dem Ausbruch einer manifesten Erkrankung damit nur schwer zu bewältigende Probleme haben. Diese fundamentale Frage konfrontiert uns mit der Rolle der «Verdrängung» und deren späterem Schicksal, vor allem mit der Frage, welche Rolle die Verdrängung für das Überleben des Kindes und für den Ausbruch und den Verlauf der späteren manifesten Erkrankung, aber auch für eine adäquate Therapie spielt.
1) Die Verdrängung und das «Rumpelstilzchen-Syndrom»
Der Begriff «Verdrängung» wird von den meisten Menschen, leider auch von vielen Ärzten, Heilpraktikern und Psychotherapeuten, einseitig negativ verstanden, so als handle es sich um ein bewußtes Nicht-wissen-Wollen, um ein Wegschieben von Problemen, die man nicht wahrnehmen und nicht wahrhaben will. Dieser Art von Verdrängung begegnen wir im Alltag natürlich auf Schritt und Tritt.
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Über der negativen Erfahrung, die wir damit machen, vergessen wir jedoch allzu leicht, daß die uns angeborene Fähigkeit zur Verdrängung unter bestimmten Umständen, um deren Bewältigung willen sie uns vermutlich überhaupt mitgegeben wurde, zunächst ganz positiv zu bewerten ist. Für einen Embryo, einen Fötus und ein Baby jedenfalls, die von lebensbedrohlichen Schädigungen betroffen werden, hat sie lebensrettende Bedeutung.
Als Versuch, die mit den noch sehr schwachen Ich-Kräften eines Ungeborenen oder Neugeborenen nicht zu bewältigende tödliche Bedrohung aus dem Wahrnehmungsbereich des geschädigten Kindes — jedenfalls vorläufig — zu entfernen, muß die Verdrängung als Ausdruck des uns angeborenen Überlebenswillens und vitaler Überlebenskraft verstanden werden.
Allerdings müssen wir auch damit rechnen, daß pränatal (vorgeburtlich), perinatal (durch das Geburtsgeschehen) und postnatal (bald nach der Geburt) geschädigte Menschen nur eine so schwache Ich-Struktur entwickeln konnten, daß sie auch in ihrem Erwachsenenleben immer wieder all das verdrängen bzw. verdrängen zu müssen glauben, was an gegenwärtigen Ereignissen sie an die verdrängten Traumata (Verletzungen) ihrer frühesten Lebenszeit erinnern könnte.
Ich möchte hier noch auf eine ganz besondere Art der Verdrängung aufmerksam machen, die mir in meiner Praxis erstaunlich häufig (bisher siebenmal) begegnet ist. Ich bezeichne sie zwar spaßhaft als «Rumpelstilzchen-Syndrom» («Ach, wie gut, daß niemand weiß, wie ich heiß!»), doch ist sie von recht großer Bedeutung.
Es geht in diesem Fall nicht um eine pränatale, perinatale oder postnatale Verdrängung, sondern um die spätere Leugnung bzw. die willkürliche Veränderung des eigenen Namens. Sie ist mir in meiner Praxis immer sehr eindrucksvoll begegnet. In all diesen Fällen ging es um den Versuch, durch Änderung des Namens eine bestimmte Periode des vergangenen Lebens nicht etwa durch Aufarbeitung, sondern durch den zwanghaften Mechanismus des «Ungeschehenmachens» abzuschließen. Manchmal, wenn auch sehr viel seltener, bezog sich der Wechsel auch auf den Familiennamen, wenn z.B. eine Frau, die zweimal verheiratet war und aus beiden Ehen ein Kind hatte, das den jeweiligen Ehenamen trug, bei der zweiten Eheschließung ihren ersten Ehenamen, Müller, zunächst beibehielt und den zweiten Namen anfügte, z.B. Müller-Schmidt, nach der zweiten Scheidung jedoch zu ihrem Mädchennamen zurückkehrte, sich wieder Meier nannte, so als sei sie nie verheiratet gewesen.
Die Ablegung der beiden Ehenamen fördert nicht etwa, sondern sie verhindert eher die Auseinandersetzung mit den ungelösten Eheproblemen. Wenn Patienten so etwas in meiner Praxis tun, dann werde ich immer ganz besonders aufmerksam. Die Erfahrung hat mir nämlich gezeigt, daß in diesen Fällen die Neigung, unbewältigte Probleme der Vergangenheit durch Verdrängung «aus der Welt zu schaffen», ganz besonders stark ausgeprägt und die Bereitschaft zur Aufarbeitung nur sehr gering ist.
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2) Die Speicherung, die Zelle und die therapeutische Chance
Was verdrängt wurde, ist nicht einfach weg, ist nicht gelöscht. Im Gegenteil! Gerade diejenigen Ereignisse, die uns geschädigt, die uns in Lebensgefahr gebracht haben, sind in unserem zentralen und peripheren Nervensystem bzw. in deren zellulären Vorgängern und, wie bestimmte Vorgänge bei der Wiedererinnerung vermuten lassen, auf irgend eine Weise in den von der Schädigung betroffenen Zellen und ihren Nachkommen selbst gespeichert.
Die Dermatologen (Hautärzte) beschäftigen sich in letzter Zeit besonders intensiv mit dem zunehmenden Hautkrebs, den sie in vielen Fällen auf zu starke Sonnenbestrahlung, besonders während der Kindheit und Jugend, zurückführen. In dem Bericht einer Tageszeitung über den Dermatologenkongreß 1994, der sich mit dieser Thematik beschäftigt hatte, hieß die Überschrift: «Die Haut vergißt nichts.» Ich darf wohl davon ausgehen, daß auf dem Kongreß dieser Satz wortwörtlich oder zumindest sinngemäß so formuliert worden ist. Es ist das erstemal, daß ich eine solche Formulierung seitens der Medizin überhaupt gelesen habe. Er stimmt inhaltlich mit dem, was ich unter «Speicherung» verstehe, exakt überein. Ich formuliere denselben Tatbestand aufgrund langjähriger Erfahrung nur sehr viel allgemeiner: «Keine Zelle unseres Organismus, wo auch immer sie sich befindet, «vergißt» jemals eine Information, ein wesentliches Ereignis, das sie direkt betroffen hat.»
Auch im folgenden Fall, der sich in meiner Praxis ereignete, als ich mich mit der Primärtherapie von Arthur Janov beschäftigte, geht es um eine Haut-Erinnerung, allerdings nicht um Hautkrebs und nicht um die Folge von extremer Sonneneinstrahlung.
Bernadette liegt zunächst ganz ruhig auf ihrer Matte. Plötzlich setzt sie sich in Bewegung, kriecht auf allen Vieren durch den ganzen Therapieraum und schreit dabei sehr schmerzvoll mit einer hohen Kinderstimme. Das geht so etwa 10 bis 15 Minuten lang. Danach erzählt sie: «Zunächst sah ich große Steinplatten unter mir. Ich wußte sofort, daß das die Platten von der Terrasse vor unserer Haustür waren. Dann sah ich meinen Vater. Der war schrecklich wütend auf mich, ich weiß aber nicht mehr genau warum. Ich hatte irgend etwas weggenommen oder kaputtgemacht, was ihm gehörte. Er schlug heftig mit der Hundepeitsche auf mich ein. Ich versuchte dauernd, ihm davonzukrabbeln, aber es gelang mir nicht. Ich war damals höchstens drei oder vier Jahre alt. jetzt brennt mein Rücken von den Schlägen ganz fürchterlich.» Plötzlich zieht die Patientin spontan ihr Hemd aus. Der Rücken ist angeschwollen und voller roter Striemen.
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Ganz besonders bei den sehr frühen Speicherungen, bei denen es ganz sicher ist, daß noch kein Gehirn vorhanden ist, das Informationen exakt und differenziert hätte speichern können, muß ich mich fragen, wo und auf welche Weise denn eigentlich gespeichert wird. Die Tatsache der Speicherung steht allerdings außer Frage. Sind es vielleicht die betroffenen Zellen, die ihre Schädigung speichern und bei ihrer Teilung die Information an die Tochterzellen weitergeben, bis ins hohe Alter hinein? Ein Universitätsprofessor, Krebsspezialist, meinte auf meine diesbezügliche Frage, daß er glaube, daß die entsprechenden Informationen nicht auf genetischem, sondern auf elektrochemischem Wege oder über Übertragungssubstanzen von Zellgeneration zu Zellgeneration weitergegeben würden. Das hat sich aufgrund neuester Forschungen teilweise bestätigt. In jüngster Zeit behaupten jedoch Genforscher auch wieder, daß traumatische Erfahrungen die Gene verändern und in ihnen gespeichert werden können.
Inzwischen habe ich mich mit den Theorien von Rupert Sheldrake etwas näher befaßt, mit denen wir uns in einem anderen Zusammenhang beschäftigen werden. Sie leuchten mir noch besser ein. Tatsache aber ist und bleibt, daß von unserer Zeugung an, diese selbst eingeschlossen, zumindest alle traumatischen Ereignisse, vielleicht sogar alle Ereignisse unseres ganzen Lebens, in irgend einer Weise gespeichert werden und abrufbar sind.
Bei weitem nicht alle Vorgänge, die bei der Speicherung, der Abrufung und Wiedererinnerung der erfolgten Schädigungen eine Rolle spielen, sind bisher befriedigend erklärbar. Ihre therapeutische Bedeutung kann man jedoch nicht länger übersehen. Zwei Besonderheiten der Speicherung müssen noch erwähnt werden, weil sie von Bedeutung sind für eine ätiologische (auf den ersten Ursprung eines Erkrankungsprozesses bezogene) Therapie wie die Tiefenpsychologische Basis-Therapie, die direkt auf die primäre Schädigung ausgerichtet ist.
1. Die Speicherung erfolgt global, d.h. die vorgeburtlich oder unter der Geburt stattfindende Schädigung wird nicht so gespeichert, wie wir das in vergleichbaren Fällen als Erwachsene tun würden, nach Hauptsächlichem, Nebensächlichem und rein Zufälligem differenziert und gewichtet, sondern so global, so undifferenziert, wie es Embryo, Fötus oder das betroffene Neugeborene auch wahrgenommen haben: ohne zwischen Wichtigem, Unwichtigem und zufällig Anwesendem unterscheiden zu können. Geräusche, Worte, Dialogfetzen, Gerüche, Geschmacksempfindungen, schmerzhafte Körperempfindungen, damit verbundene Angst, optische Eindrücke — all das, was direkt oder mehr oder weniger zufällig während des schädigenden Ereignisses aufgenommen wird, scheint wichtig zu sein und wird auch gespeichert.
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2. Aus therapeutischer Sicht stellt die Speicherung zusammen mit der Möglichkeit der Abrufung eine Chance dar, die es therapeutisch unbedingt zu nutzen gilt. Wir erinnern uns daran, daß Ungeborene und Neugeborene noch kaum Verarbeitungsmöglichkeiten besitzen, mit denen sie lebensbedrohliche Schädigungen bewältigen können. Die Speicherung unverarbeiteter Traumata für eine Zeit, in der dem Menschen im Laufe seiner Entwicklung eine größere Ich-Stärke zur Verarbeitung der noch anstehenden ungelösten Probleme zugewachsen ist, erscheint uns als eine sehr sinnvolle Einrichtung der Natur. Ich persönlich verstehe sie als die uns ins Leben mitgegebene notwendige Ergänzung zur lebensrettenden Verdrängung, also ebenfalls als «Ausdruck des uns angeborenen Überlebenswillens und vitaler Überlebenskraft».
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Für sein Überleben mit Hilfe der Verdrängung zahlt das geschädigte Kind im Verlauf seiner späteren Lebensgeschichte allerdings einen hohen Preis, nämlich die Entwicklung einer Neurose, einer Psychose, einer psychosomatischen oder chronischen Erkrankung. Der früh geschädigte Mensch muß nämlich sein tägliches Leben mit einer Doppelstrategie bewältigen, die seine Freiheit einschränkt und seine Lebensqualität beträchtlich mindert: Einerseits muß er das schädigende Ereignis so weit aus seiner bewußten körperlichen und gefühlshaften Erinnerung herauszuhalten versuchen, daß er dadurch von innen her keine Beunruhigung erfährt.
Das aber bedeutet, daß er ein ganz wesentliches Stück seiner frühen prägenden Lebensgeschichte leugnen muß und sich dadurch zwangsläufig ein Stück weit sich selbst entfremdet. Andererseits muß er auf der Hut sein vor Dingen und Ereignissen, die ihn an das ins Unbewußte abgeschobene Trauma erinnern und dieses wachrufen könnten. Die Folge dieser Doppelstrategie ist eine eingeschränkte Selbst- und Realitätswahrnehmung, die von den Betroffenen oft deutlich empfunden und beklagt, aufgrund der noch wirksamen Verdrängung ihrem Sinn nach jedoch nicht verstanden wird. Das wird erst möglich, wenn die Aufhebung der Verdrängung, die therapeutisch ermöglichte Erinnerung, ernsthaft betrieben wird.
3) Die spontane Erinnerung und ihre Symptome
Es gibt keine perfekt funktionierende Verdrängung, vielmehr herrscht zwischen Verdrängung und spontan aufkeimender Erinnerung ein ganz und gar labiles Gleichgewicht. Schwerwiegende Schädigungen, die verdrängt werden mußten, um das Überleben zu sichern, belasten nämlich den ganzen Menschen, seinen gesamten Organismus ebenso wie seine Psyche und seinen Geist. Auf dem Weg über psychische und physische Symptome wie psychomotorische Unruhe, Schlaflosigkeit, unklare Bauchschmerzen, Verspannungen in der Muskulatur, auffälliger Aktivitätsdrang u.a.m., besonders aber in Alpträumen, dringen die verdrängten Inhalte immer wieder und im Laufe der Lebensgeschichte zunehmend in das gegenwärtige Leben ein und bieten sich dadurch der Aufarbeitung an. Versuche, der beginnenden Aufweichung der Verdrängung entgegenzusteuern, können sich in erhöhtem Schlafbedürfnis, Trägheit, Interesselosigkeit und Wahrnehmungsverlust, aber auch in Zigaretten-, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmißbrauch zeigen.
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Sollte jedoch eine wiederholte und beinahe perfekte Verdrängung gelingen, so bezahlt das der betroffene Mensch mit massiver Unbeweglichkeit und Starrheit — oft auch mit einem qualvollen Tod. Ich habe im Verlauf meines Lebens, vor allem während der Zeit, als ich noch hauptberuflich als Pfarrer tätig war, viele Menschen mit scheinbar perfekter Verdrängung, zu der in der römisch-katholischen Kirche vor allem die Beichtpraxis durch den Abwehrmechanismus des «Ungeschehenmachens» Beihilfe leistet, sterben sehen. Auch die anderen Konfessionen bieten da ihre ureigensten Verdrängungsmechanismen an. Mein Urteil über die traditionelle kirchliche Seelsorge hat sich dadurch nicht gerade positiv gestaltet. Doch darüber mehr in Teil V
Mein lieber Freund und ehemaliger Mitarbeiter im kirchlichen Dienst, Pfarrer i.R. und Psychotherapeut Wynfrith Noll, ist in seinem Büchlein «Wenn Frommsein krank macht» den neurotisierenden Folgen der psychologisch unaufgeklärten und der oft genug von psychisch stark belasteten Geistlichen ausgeübten Seelsorge eindringlich nachgegangen. Ich bedaure nur, daß er in den von ihm dargestellten Fällen den letzten Ursprung, die «Ätiologie» der Erkrankungen, leider nicht erfassen konnte, weil er die pränatalen, perinatalen und postnatalen Traumatisierungen (Schädigungen) nicht in seine Betrachtungen mit einbezogen hat. Dadurch sind manche seiner Schilderungen sogar noch um einiges «harmloser» ausgefallen, als sie meiner Meinung nach beurteilt werden müssen.
Die Tiefenpsychologische Basis-Therapie (TBT) setzt bei den spontanen Erinnerungen an und führt diese mit Hilfe ihrer therapeutischen Regressions-Technik, über die ich in Teil IV eingehend berichten werde, zur vollen Bewußtwerdung auf allen drei Seinsebenen: Körper, Seele und Geist.
Natürlich hat auch die klassische Psychoanalyse mit Verdrängung und Erinnerung zu tun. Aber gerade auf diesem Gebiet besteht noch eine beträchtliche Differenz zwischen TBT und Analyse. Auf dem Wege der bewußten Erinnerung kommt man wegen des «Hiatus der Bewußtheit», dem Spalt, der zwischen der fast immer ins Unbewußte oder Vorbewußte abgedrängten frühen Lebenszeit und der bewußt erinnerbaren Zeit danach zu existieren scheint, nur bis ins vierte, höchstens bis ins dritte Lebensjahr zurück. Was an früheren Erinnerungen in Träumen und Symptomen versteckt ist, kann mit Hilfe des analytischen Deutungsverfahrens bestenfalls rational erklärt, nicht aber voll erlebbar gemacht werden. Deshalb ist die Psychoanalyse in ihrer klassischen Form zur Wiedererinnerung und Auflösung pränataler, perinataler und postnataler Traumata nicht geeignet. Selbst Arthur Janov hat mit seiner Primärtherapie da noch gewisse Schwierigkeiten. Warum, das wird uns in Teil V noch beschäftigen.
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4) Bemerkungen zu Verdrängung und Erinnerung
1. «Das habe ich getan», sagt mein Gedächtnis. «Das kann ich nicht getan haben» - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das Gedächtnis nach. (Friedrich Nietzsche)
2. «Das habe ich erlebt und erlitten», sagt mein Körper — und der Körper lügt nicht! «Das darf nicht wahr sein», kontert mein Gefühl, «das kann nicht wahr sein», pflichtet mein Geist bei — und beide bedienen sich der Verdrängung. Wer wird sich am Ende durchsetzen? Der Körper sucht den Ausweg: er produziert Symptome, in denen das Erlebte und Erlittene in verdeckter Form wachgehalten wird - bis sich Seele und Geist eines Besseren besinnen.
3. «Verdrängung» ist ein lebensrettender Mechanismus des bio-kybernetischen Selbstheilungssystems. Durch die Verdrängung werden schädigende Ereignisse vorläufig so weit dem Bewußtsein entzogen, daß das Leben, wenn auch mit Traumatypischen Einschränkungen, weitergehen kann. Was verdrängt ist, ist nicht einfach weg, sondern im Organismus gespeichert. Das hat den Sinn, das traumatische Geschehen zur späteren Aufarbeitung aufzubewahren.
4. «Erinnerungssymptome» sind «Leitfossilien», die uns zu den verdrängten Katastrophen unserer Vergangenheit führen, wenn es uns mit Hilfe von Diagnose und Therapie gelingt, sie zum «Sprechen» zu bringen.
5. Viele körperliche, psychische und geistige Symptome müssen wir als eine Art «Leitfossilien» betrachten, die uns direkt zu sehr alten Schichten unserer Lebensgeschichte lenken, wenn wir uns auf sie konzentrieren und die dadurch ausgelösten Körpererinnerungen und Gefühle zulassen, statt sie mit Medikamenten zu bekämpfen, zu unterdrücken.
6. Ein «Ausdruckssymptom» ist ein Appell an die Mitmenschen, der nach Hilfe ruft bei der Bewältigung eines verdrängten, noch ungelösten zwischenmenschlichen und innerseelischen Konflikts.
7. Verdrängung bewirkt, daß traumatische Inhalte und traumatisierende Verhaltensweisen von Generation zu Generation weitergegeben werden, sofern der ewige circulus vitiosus (der fatale Kreislauf) nicht durch eine gründliche Aufarbeitung unterbrochen wird.
8. Es liegt bei uns, ob wir verdrängte Traumata, die ans Licht drängen, mit verstärkter Verdrängung oder mit radikaler Aufdeckung und Erinnerung beantworten.
9. Die Aufdeckung muß jedoch so radikal sein wie die Verdrängung — entsprechend dem «Alles-oder-nichts-Prinzip».
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5) Der Widerstand und der Schutz in der Therapie
Den Versuch eines Patienten, in einer tiefenpsychologisch orientierten Therapie die Verdrängung aufrechtzuerhalten, bezeichnen wir als «Widerstand». Er richtet sich, auch wenn das aufgrund von Übertragungen manchmal so erscheint, eigentlich nicht gegen die Person des Psychotherapeuten, sondern ist grundsätzlich gegen das Aufkommen von Erinnerungen gerichtet. Er kann zu erheblichen Blockaden führen.
Der Widerstand kann ganz willkürlich sein. Er kann z.B. deshalb auftreten, weil sich ein Patient vollkommen falsche Vorstellungen von der Therapie gemacht hat. Es sind meist zwei verschiedene Momente, die unabhängig voneinander oder auch gemeinsam den willkürlichen Widerstand hervorrufen: einerseits die Überraschung, daß ich in der Therapie nicht in dem Sinne «behandelt werde», daß ich passiv bleiben kann, sondern, im Gegenteil, alles selbst erfahren und tun muß, sowie andererseits die Entdeckung, daß es in der Therapie um Schmerz, oft um sehr viel Schmerz geht. Da wir es sowohl von unserer Erziehung im Elternhaus wie von unserer landläufigen Medizin her gewöhnt sind, Schmerz als etwas Schlimmes und unbedingt zu Vermeidendes zu betrachten, kann sich der willkürliche Widerstand natürlich auf dieses mehr als fragwürdige aber gesellschaftlich anerkannte Schmerzkonzept berufen, und die persönliche Angst vor dem Schmerz kann sich dahinter verstecken.
Von der willkürlichen Form des Widerstands müssen wir jedoch grundsätzlich jene Form unterscheiden, die vom Unbewußten gesteuert wird und eine — nur vorübergehende — Schutzmaßnahme gegen Überlastung darstellt. Sie ist ihrer Erscheinung nach ganz unaufdringlich, nie kämpferisch, und besteht vor allem darin, daß der Erinnerungsprozeß nur schrittweise vor sich geht, vom leichteren zum schwereren Trauma voranschreitend.
Dazu gehört auch eine Schutzmaßnahme unseres bio-kybernetischen Systems, unseres Unbewußten, die bereits Arthur Janov beschrieben hat und die auch ich in meiner Praxis einige Male erlebt habe: Wenn es wirklich einmal zu einer unvorhergesehenen Schmerz-Überschwemmung gekommen ist, z.B. weil sich ein Patient selbst zu sehr unter Druck gesetzt hat, dann schaltet ganz plötzlich die Schmerzwahrnehmung völlig ab. Es kommt zu einer Ausschüttung morphinähnlicher Substanzen im Gehirn, die vorübergehend die Schmerzempfindung blockieren. Die Folge davon ist lediglich, daß sich der betreffende Patient in der nächsten Sitzung nicht mehr selbst unter Druck setzt und daß die Schmerzen wieder in dem Maße spürbar werden, wie sie auch verarbeitet werden können.
Das Maß für das Zulassen- und Auflösenkönnen von Schmerzen hängt in erster Linie von der Ich-Stärke der Patienten ab. Damit müssen wir uns jetzt eingehender befassen.
Kapitel 6
Ich, Ich-Inseln, Not-Ich, Ich-Wachstum, Auslöser und Ich-Therapie
Wenn Sie, verehrte Leserinnen und Leser, mir vom Anfang dieses Buches bis hierher gefolgt sind, werden Sie wohl kaum erwarten, daß ich mich mit dem «Ich» an dieser Stelle in Form einer kleinen philosophischen Abhandlung oder einer theoretischen Auseinandersetzung mit den Ich-Begriffen der verschiedenen psychologischen Schulen beschäftigen werde. Ich werde, wie bisher und so auch in Zukunft, bei der praktischen therapeutischen Erfahrung der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie ansetzen.
Das Ich des Menschen, jedes Menschen, ist von allem Anfang, d.h. von der Zeugung an vorhanden und funktioniert in jeder Entwicklungsphase als «Steuerungsorgan». Im Zusammenhang mit dem Geschehen der Speicherung und der Abrufung gespeicherter lebensgeschichtlicher Daten aus der frühesten Zeit unserer vorgeburtlichen Entwicklung, worüber wir bereits ausführlich gesprochen haben, müßte einsichtig geworden sein, daß man nur das abrufen kann, was auch gespeichert worden ist. Speicherung und Abrufung aber setzen ein funktionierendes und organisierendes Ich voraus.
Seitens der Neurologen wird immer wieder kritisch darauf hingewiesen, daß eine Speicherung im Gehirn eines noch ungeborenen Menschen erst in dem Augenblick möglich ist, wenn ein bestimmter Grad an Ausreifung des Gehirns vorhanden ist. Das stelle ich hier natürlich nicht infrage. Auf der anderen Seite — und das müssen sich nun einmal die Neurologen sagen lassen! — sind die in der Regression auftauchenden äußerst frühen Erinnerungen ihrem Inhalt nach unbestreitbar. Das Problem liegt also ganz anders, als es in der Medizin oft dargestellt wird. Wir müssen einen anderen Weg der Erklärung für die Früh-Erinnerungen finden, als ihn uns die Neurologie bisher bieten kann. Damit werden wir uns später noch einige Male beschäftigen müssen.
Natürlich macht das Ich des Menschen, auch dann, wenn es von der Zeugung an, wie ich aufgrund meiner Beobachtungen behaupte, vorhanden ist, im Verlauf des vorgeburtlichen Lebens erhebliche Entwicklungs- und Reifungsprozesse durch. Das ändert aber nichts an meiner Feststellung, daß es von allem Anfang an als eine Leib, Seele und Geist integrierende (umfassende) zentrale Steuerung funktioniert. Deshalb finde ich den Ausdruck «Ich-Inseln» für das vorgeburtliche Ich des Menschen, der von einigen Psychoanalytikern verwendet wird, als unangemessen, ja als problematisch. Wahrnehmung und Verarbeitung, die Hauptfunktionen des Ichs, funktionieren von Anfang an. Auch wenn wir es in frühester Zeit zunächst nur mit einem «kleinen», d.h. den jeweiligen biologisch programmierten Anforderungen entsprechenden Ich zu tun haben.
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Was bei vielen Menschen in vorgeburtlicher Zeit geschieht, entspricht allerdings, wie wir gesehen haben, keineswegs dem genetischen biologischen Programm. Alle Abweichungen von dem, was sein müßte und vom Kind, gemäß seinen jeweiligen biologischen Programmen, erwartet wird, führen zu einer Überlastung seines Ichs, die nicht verarbeitet werden kann. Um das Weiterleben zu garantieren, werden dann die vorhandenen Ich-Kräfte zur Verdrängung eingesetzt. Das ist eine zum biologischen Programm des Kindes gehörende «Überlebensstrategie».
Dieser Vorgang hat allerdings, wie wir bereits erörtert haben, zwei verschiedene Seiten. Einerseits ermöglicht er das Weiterleben selbst unter extrem schlechten Bedingungen, andererseits schränkt er die Lebensfreude, die Selbstverfügbarkeit und die Offenheit für die Mitmenschen und die Umwelt beträchtlich ein. Aus dem sich langsam aber systematisch entwickelnden Ich wird unter dem Druck der Verdrängungsleistung ein «Not-Ich», ein «frühreifes» Ich, das sich in übergroßer Not behaupten muß. Das «Not-Ich» entfaltet sich als «autonomes» Ich, das sich gegenüber dem mütterlichen Ich, das als Bedrohung empfunden wird, abkapselt. Das ist der Ursprung jener Entwicklung, die die Psychologen als «schizoid» bezeichnen. (Sie kann im Extremfall bis zur Schizophrenie führen.) Die scheinbare Stärke des autonomen Ichs beruht darauf, daß die betroffenen Menschen zunehmend eine Mauer um sich herum aufbauen, die die gegenseitige Kommunikation mit den Mitmenschen, verstärkt durch das aus ihrer bedrohlichen Erfahrung heraus aufgebaute grundsätzliche Mißtrauen, behindert, ggf. sogar unmöglich macht.
Im Extremfall, wie er oft in psychotischen Entwicklungen zu finden ist, kann der so bedrohte Mensch die Einheit seines Seins und des steuernden Ichs nicht aufrecht erhalten. Er fühlt sich bzw. erlebt sich in vielerlei Hinsicht gespalten: zwischen Leib, Seele und Geist, zwischen seiner rechten und linken, seiner oberen und unteren Körperhälte, ja sogar als zwei oder mehr Personen. Im Zusammenhang mit einer solchen «Zersplitterung» des Ichs ist der Begriff von den «Ich-Inseln» sehr viel sinnvoller anzuwenden als im Hinblick auf das normale vorgeburtliche Wachstum des Ichs.
Für das Ich-Wachstum ist der kommunikative Charakter dieses Vorgangs äußerst wichtig. Der jüdische Philosoph Martin Buber hat diese Erkenntnis in den bereits zitierten kurzen präzisen Satz gefaßt: «Der Mensch wird am Du zum Ich». Das gilt nicht nur für die frühe Entwicklungszeit des Menschen, sondern auch für die therapeutische Situation, in der es um die Nachreifung des in seiner Entwicklung steckengebliebenen Ichs, auch des «autonomen» und des gespaltenen Ichs geht!
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Im Verlauf eines therapeutischen Reifungsvorgangs mit zunehmendem Ich-Wachstum kann die zum Selbstschutz erfolgte Verdrängung aufgehoben werden. Auch die dann einsetzende «Erinnerung» ist eine Ich-Leistung, die sich in zunehmender Bereitschaft zeigt, sich mit den verdrängten Problemen auseinanderzusetzen und die verdrängten körperlichseelisch-geistigen Schmerzen bis zu ihrer endgültigen Auflösung durchzustehen.
Um diesen therapeutischen Vorgang zu ermöglichen und unterstützen zu können, bedarf es einer sorgfältigen «Ich-Therapie» durch ein haltendes und stabilisierendes Du im Sinne Martin Bubers: «Der Mensch wird am Du zum Ich», An erster Stelle ist hier der Therapeut gefordert. Wenn dieser selbst nicht klar orientiert, nicht ich-stabil, nicht die eine überzeugende Perspektive ausstrahlende Persönlichkeit ist, kann er dieser wichtigen therapeutischen Aufgabe nicht gewachsen sein — der Aufgabe nämlich, den Patienten zu unterstützen bei der Suche nach der eigenen Perspektive, der eigenen Persönlichkeit.
Darüber hinaus ist jedoch auch die rezeptive Musik-Therapie sehr wichtig, ferner die Auseinandersetzung mit dem Schmerz, mit den primären Schädigern und den gegenwärtigen Belastungen.
Der rezeptiven Musik-Therapie kommt in der Psychoanalytischen Regressions-Therapie eine sehr große Bedeutung zu, weil sie, wie wir später noch genauer sehen werden, in der Übertragung als Ich-bildendes und stabilisierendes «Du» im Sinne Martin Bubers wirkt. Unter diesem Gesichtspunkt beschränke ich in den Therapiesitzungen die Auswahl auf Kompositionen des Frühbarock, des Barock, der Frühklassik, der Klassik und, mit strenger Auswahl, der Romantik, etwa von Georg Philipp Telemann bis Johannes Brahms, und vermeide bewußt alle Kompositionen, die «chaotischen» Charakter haben. Obwohl die Musik von mir also sehr sorgfältig daraufhin ausgewählt wird, daß sie wie ein sehr stabiles und stabilisierendes, geordnetes, Haltbietendes Du wirkt, kann sie aber, als «neutraler Übertragungsschirm», auch negative Übertragungen auf sich ziehen. Dazu ein kleines Beispiel, das mich selbst sehr beeindruckt hat:
Undine ist Musikwissenschaftlerin. Sie leidet unter jenem Erkrankungsprozeß, den die Mediziner «Morbus Meniere» nennen. Er wird uns später noch eingehend beschäftigen. Nach der zu Beginn ihrer Therapiesitzung gespielten Musik ist sie sehr unruhig, ja verwirrt. Sie fragt mich, was denn das für eine schrecklich chaotische Musik gewesen sei. Ich beantworte die Frage nicht und helfe ihr, sich mit ihren chaotischen Gefühlen zu beschäftigen. Erst am nächsten Morgen zeigt sich, daß sich ihre Bemühungen gelohnt haben. Nach der einleitenden Musik sagt sie spontan: «Das war heute aber eine gute Musik. Sag mal, war das nicht die CD, die ich Dir mitgebracht habe? Die liebe ich sehr.» Und ich kann sie darauf aufmerksam machen, daß es genau dieselbe Musik war, wie in der Sitzung am Abend vorher. Es handelte sich um ein Klavierkonzert von Mozart. Die Patientin hatte die Projektion ihrer eigenen chaotischen Gefühle auf das «stabile und stabilisierende Du» der Musik Mozarts zum Ausgangspunkt für die Bearbeitung ihrer chaotischen Ich-Gefühle genutzt und dadurch einen erheblichen Fortschritt in ihrer Entwicklung gemacht.
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Die meisten Patienten, die zu mir kommen, sind es von der üblichen Medizin her gewöhnt, Schmerzen mit Schmerzmitteln oder Psychopharmaka zu unterdrücken, oder sie zu verdrängen, zu leugnen, zu ignorieren. Dadurch wird nicht nur eine Auflösung des Schmerzes, sondern obendrein die Ich-Entwicklung der Patienten systematisch verhindert.
Wenn Patienten in ihrer Therapie diese Einstellung beibehalten, verhindern sie natürlich die therapeutische Nachentwicklung eines erwachsenen, reifen Ichs, das in der Lage ist, die unverarbeiteten Traumata (Verletzungen) der Vergangenheit zu verarbeiten und in die bewußt wahrgenommene Lebensgeschichte zu integrieren (einzuordnen).
Für die Nachentwicklung des Ichs ist außerdem die Auseinandersetzung mit jenen Personen besonders wichtig, von denen die frühen Schädigungen ausgegangen sind. Diese Auseinandersetzung kann an zwei einander entgegengesetzten Extremen scheitern, nämlich einerseits an dem Versuch, sich für die Schädigung zu rächen, wie andererseits an dem «Abwehrmechanismus der Identifikation mit dem Aggressor», der uns etwas später genauer beschäftigen wird. An dieser Stelle möchte ich dazu nur sagen, daß in diesem letzteren Fall eigentlich gar keine Auseinandersetzung stattfindet. Sie wird, oft versteckt unter der Entschuldigung, die Schädiger hätten es nicht besser gewußt, oder dem ideologischen Argument, man müsse doch verzeihen können, zum Schaden des Geschädigten endgültig versäumt. Der Versuch, sich, falls die schädigende Person noch lebt, durch irgend welche Aktionen zu rächen, führt ebenfalls in eine Sackgasse, die den Heilungsprozeß verhindert. Dazu ein kleines Beispiel:
Ein junger Mann, der sich für eine Therapie in meiner Praxis interessiert, berichtet mir anläßlich eines Telefonats, daß er inzwischen angefangen habe, sich mit seinem Vater, der ihn immer unterdrückt habe, auseinanderzusetzen und daß damit seine Therapie bereits praktisch begonnen habe. Als ich ihn frage, wie das denn vor sich gegangen sei, berichtet er mir, daß er sich an seinem Vater wegen dessen unmöglichen Verhaltens während seiner Kindheit jetzt endlich gerächt und ihn einmal ordentlich verprügelt habe. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß es in der Therapie nicht um solche Racheakte geht, sondern um eine innere Auseinandersetzung, die auf der Einsicht beruht, daß unsere neurotischen, psychotischen, psychosomatischen und anderen Erkrankungsprozesse nicht einfach eine direkte Folge der erfahrenen Schädigungen, sondern unsere persönliche Antwort darauf sind. Nur deshalb, weil es sich um unsere persönliche Antwort handelt, für die wir selbst verantwortlich sind, können wir diese bzw. können wir uns selbst auch ändern. Auf diese meine Äußerung hin verzichtet er auf eine Therapie bei mir.
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Genau darum aber geht es in der Nachreifung unseres Ichs: Wir müssen erkennen, daß es sich ausschließlich um unser Leben handelt, für das wir als nunmehr Erwachsene, was immer auch in unserer Vergangenheit geschehen ist, selbst verantwortlich sind und niemanden anderes mehr dafür verantwortlich machen dürfen. Niemand kann uns aus der Sackgasse unserer Gefühle und Symptome heraushelfen, ganz gewiß nicht diejenigen, die uns einmal geschädigt haben. Das können nur wir selbst. Solange wir den — inneren oder äußeren — Kampf mit den Schädigern nicht aufgeben, werden wir nicht gesunden. Unsere Antwort auf das, was früher einmal geschehen ist und uns in schwere Bedrängnisse und Ängste gestürzt hat, können nur wir selbst in innerer aber intensiver Auseinandersetzung neu formen. Das ist es, was unser Ich stark macht!
Auch die therapeutische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Belastungen des Alltags ist für die Nachreifung des Ichs ein sehr wichtiges Moment. In der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie geht es niemals nur um ein wiederholendes Erleben des Vergangenen. In einer guten Therapie stellt sich sehr bald ein dauerndes Hin-und-Her zwischen unserer Vergangenheit und der Gegenwart ein, das mit einer deutlichen Offenheit für die Zukunft gepaart ist. Dabei geht es sowohl um unsere persönliche Gegenwart, um unsere Beziehungen in Partnerschaft, Freundschaft, Beruf und Freizeit, wie um die politischen Aspekte im Kleinen wie im Großen. Deshalb hören wir z.B. vor Beginn unserer ersten Therapiesitzung am frühen Morgen gemeinsam Nachrichten. Auch das ist wichtig für die Nachreifung eines infantil gebliebenen Ichs.
Kapitel 7
Erinnerungen, Halluzinationen, Träume und Symptome
Diese Reihenfolge in der Überschrift ist weder zufällig noch willkürlich. Sie stellt eine Skala dar nach dem Maß der jeweiligen Verdrängung.
Spontane Erinnerungen an pränatale (vorgeburtliche), perinatale (im Zusammenhang mit der Geburt stehende) und frühe postnatale (kurz nach der Geburt erfolgte) Ereignisse, die das Leben bedroht haben, kommen außerhalb der Therapie extrem selten vor. Wenn bei dem einen oder anderen Menschen jedoch einmal klare Bilder aus dieser frühen Zeit vor dem geistigen Auge auftauchen, so bieten sie das verdrängte Material am unverfälschtesten an. Im allgemeinen bedarf es, um zu klaren Erinnerungen zu kommen, bestimmter Regressions-Techniken, mit denen wir uns noch ausführlich beschäftigen werden.
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Den relativ seltenen spontanen Erinnerungen kommen die Halluzinationen (angebliche «Wahnvorstellungen») am nächsten. Sie bringen das verdrängte Material oftmals in nur leicht verschleierter Form zutage. Von der Psychiatrie werden die Halluzinationen in ihrer wirklichen Bedeutung meist verkannt, ja als «psychotische» Erscheinungen, als «Wahnvorstellungen», abgetan. Das Problem liegt darin, daß ihr pränataler, perinataler und postnataler Anteil nicht erkannt wird. Solange sich die Psychiatrie nicht eingehend mit der Bedeutung des vorgeburtlichen Lebens, des Geburtsgeschehens und der frühen Zeit nach der Geburt für die Entwicklung von Neurosen, Psychosen, psychosomatischen, chronischen und malignen («bösartigen») Erkrankungen und mit den Formen von Speicherung und Erinnerung beschäftigt, wird sie wohl weiterhin Patienten, bei denen sie Halluzinationen beobachtet, für «verrückt» erklären und damit den Schaden noch größer machen, als er so schon ist.
Eine Krankenschwester, die in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, brachte eines Tages ein vierzehnjähriges Mädchen zu mir in die Praxis mit der Bitte, sie mir doch einmal genauer anzuschauen. Sie hätte das zwar eigentlich nicht tun dürfen, meinte aber beobachtet zu haben, daß die Ärzte bei der Diagnose dieser Patientin («paranoide Schizophrenie») etwas ganz Wichtiges übersehen würden. Das Mädchen litt unter Halluzinationen (unter «Auditionen», Wahrnehmungen im Bereich ihres Gehörs). Sie «hörte» ihren Kanarienvogel immer wieder lange Sätze sprechen, die sie gut verstehen konnte. Ja, wenn es sich um einen Papagei oder einen Wellensittich gehandelt hätte, wäre das alles noch einigermaßen verständlich gewesen; aber ein «sprechender» Kanarienvogel? Da fehlte es schon ganz weit!
Als ich die Patientin vorsichtig über ihr Lebensschicksal befragte, erfuhr ich, daß die Mutter wenige Stunden nach ihrer Geburt gestorben und sie bei ihrem Vater aufgewachsen war. Als der nun auch starb und sie von der Familie allein zurückblieb, brach die Erkrankung aus. Nur der Kanarienvogel war ihr noch geblieben, der nun immer wieder zu ihr «sprach». Als ich sie fragte, was er denn zu ihr sage, teilte sie mir lange Dialoge mit, die zwischen der Mutter, dem Arzt, der Hebamme und einer Krankenschwester so bei ihrer Geburt gesprochen worden waren. Sie hatte die ganzen Gespräche gespeichert und projizierte sie nun in ihrer Verlassenheit in den einzigen Gefährten ihrer Einsamkeit hinein. Was mich besonders betroffen machte: Keiner der sie behandelnden Ärztinnen und Ärzte hatte sie jemals nach dem Inhalt der Sätze, die der Kanarienvogel zu ihr sprach, gefragt. Das waren selbstverständlich Halluzinationen (Auditionen), also typische Symptome einer Paranoia, die mit Haldol behandelt werden mußten.
Sigmund Freud hat die Träume einmal als «Hüter des Schlafs» bezeichnet. Das war eine sehr kluge Bemerkung, die das Wesen des Traumgeschehens gut charakterisiert.
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Ich habe schon kurz erwähnt, daß wir in der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie (TBT) bestimmte Regressions-Techniken anwenden, um zu klaren Erinnerungen an unsere früheste Lebenszeit zu kommen. Das wäre kaum möglich, wenn es nicht das Phänomen der «spontanen Regression» gäbe, das uns Nacht für Nacht im Schlaf begegnet und sich in unseren Träumen widerspiegelt — ganz besonders intensiv in den sogenannten Alpträumen. Das war ja auch der Grund dafür, daß Sigmund Freud und seine Schüler der Traumanalyse immer eine so große Bedeutung zugemessen haben. Träume symbolisieren die Erinnerungen allerdings noch sehr viel stärker als die Halluzinationen und versuchen damit, den aus dem Unbewußten ansteigenden Erinnerungsdruck so weit aufzufangen, daß wir einigermaßen beruhigt weiterschlafen können. Das gelingt allerdings in den Alpträumen am wenigsten, weshalb Arthur Janov die Alpträume einmal als «nächtliche Psychosen» bezeichnet hat.
Hier ein Alptraum, der vor etwa 25 Jahren das Grundproblem eines meiner Patienten so klar aufdeckte, daß — eigentlich — auch ein auf die Psychoanalyse nach Freud eingeschworener Psychoanalytiker sich an seinem perinatalen (geburtsbezogenen) Inhalt nicht mehr vorbeidrücken könnte:
«Ich befinde mich in einem Badezimmer. Es ist darin furchtbar eng und feucht-warm, ja dämpfig. Der Aufenthalt dort wird mir sehr unangenehm. Ich habe das Gefühl, an dieser feuchten Luft zu ersticken, und möchte unbedingt raus, aber die Tür ist fest verschlossen. Ich kann nichts tun, um sie zu öffnen. Nach einiger Zeit geht im oberen Teil der Tür eine kleine Klappe auf, die ich vorher nicht gesehen habe. Ein Mann in weißer Kleidung greift mit einem Arm durch die Klappe. Er setzt mir eine Mütze auf, die meinen ganzen Kopf bedeckt und daran fest anhaftet. Dann zieht er mich an dieser Mütze durch das enge Loch in der Tür aus dem Bad heraus. Ich habe starke Schmerzen am Kopf, besonders oben an der Schädeldecke, so als würde es mir das Gehirn herausziehen; aber ich bin doch froh, daß ich endlich draußen bin.»
Deutlicher kann man wohl eine Geburt mit Hilfe der Saugglocke nicht träumen — oder!?
Von Sigmund Freud wurden das vorgeburtliche Leben, das Geburtsgeschehen und die erste Zeit danach noch nicht in die Traumanalyse einbezogen. Entscheidende Schritte in dieser Richtung wurden vor allem von seinem Schweizer Schüler Gustav Hans Graber, einem Mitbegründer der «Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM)», und von Friedrich Kruse, Wiesbaden, getan. Sie alle und die ihnen nachfolgenden Psychoanalytiker halten jedoch grundsätzlich an der Technik der Traumanalyse fest.
Im Rahmen der Regressionstechnik der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie gehen wir ganz anders mit den Träumen um. Wir — Patient und Therapeut — verzichten ganz bewußt auf jedes Sammeln von Einfällen zu den Träumen, auf alle Interpretationen und Deutungen, sondern versuchen,
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uns in der Therapie die Bilder und Gefühle, die das Traumgeschehen beherrscht haben, möglichst lebhaft zu vergegenwärtigen und uns auf diese Weise noch einmal der Dynamik des Traums zu überlassen. Das führt häufig sehr bald hinter die Kulisse der symbolischen Traumbilder zurück zu den ursprünglichen Verletzungen und Schädigungen, deren Erinnerung uns in der nächtlichen Spontanregression nahe gekommen und, zur Hütung unseres Schlafs, in Symbolbilder (ich sage oft scherzhaft: in mehr oder weniger rissiges Seidenpapier) verpackt worden war. Wie diese Technik des Umgangs mit Träumen in der Praxis aussieht, werden wir später anhand der Darstellung von einigen Träumen noch genauer kennenlernen.
Symptome spiegeln die vorgeburtlichen, geburtsbedingten und nachgeburtlich erlittenen Verletzungen und Schädigungen, die grundsätzlich immer den ganzen Menschen betroffen haben, sehr unterschiedlich wider. Wenn die Symptome auf allen drei Seinsebenen — Körper, Seele und Geist — gleichzeitig erkennbar sind, was relativ selten der Fall ist, kann in der Therapie die Ätiologie des Erkrankungsprozesses, sein Ursprung, viel leichter erfaßt und bearbeitet werden, als wenn sich die Symptome nur auf einer Seinsebene manifestiert haben. Aber auch diese einseitigen Symptome können sehr unterschiedlich dicht an der Erinnerung liegen. Sie sind dem verdrängten Material am nächsten, wenn es sich um Erinnerungs-Symptome handelt. Ausdrucks-Symptome symbolisieren das Geschehene; sie stammen entweder aus späterer Zeit, oder sie stellen eine weitere Verdrängungsstufe von Erinnerungssymptomen dar, d.h. sie versuchen, das Erinnerungs-Symptom bzw. den Erinnerungscharakter des Symptoms abzuwehren. Wir wenden uns jetzt den verschiedenen Arten von Symptomen im einzelnen zu.
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8. Aktuelle Symptome, Erinnerungs- und Ausdruckssymptome
In der Human-Biologischen Ganzheits-Medizin unterscheiden wir zwischen drei verschiedenen Symptomarten, den aktuellen Symptomen, den Erinnerungssymptomen und den Ausdruckssymptomen.
1) Aktuelle Symptome
Die wenigsten Probleme scheinen zunächst die aktuellen Symptome zu machen, z.B. die Folgen von Unfallverletzungen — vorausgesetzt allerdings, daß wir derartige Symptome nicht fehldeuten.
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Mit dem Deuten ist es überhaupt so eine problematische Sache — auch und gerade in der klassischen Form der Psychoanalyse, wie wir in Teil III noch sehen werden. Wie soll man z.B. eine akute Allergie verstehen? Stellt sie ein aktuelles Symptom, ein Erinnerungs- oder ein Ausdruckssymptom dar? Eine Allergie, das sagt schon das griechische Wort, ist niemals eine Erstreaktion. Ihr ist immer schon etwas vorausgegangen. Aber was? Wir werden eine Allergie nicht endgültig heilen können, wenn wir das, was vorausgegangen ist, nicht exakt in seinem lebensgeschichtlichen Zusammenhang aufdecken. Ich darf hier an das Beispiel der Patientin Esther erinnern. Neben der Frage, worauf jemand allergisch reagiert, ist darüber hinaus die Frage wichtig, auf wen, auf welche Person sich die Allergie richtet. Das ist besonders bei der Neurodermitis, die im weiteren Sinne zu den allergischen Erkrankungsprozessen zu rechnen ist, von entscheidender Bedeutung.
Was sich hinter manchen Unfällen verbirgt, wird uns noch gesondert beschäftigen. Ganz besonders sind viele Autounfälle, in erster Linie die Auffahr-Unfälle mit ihren Folgen, die wir gern als «aktuelle Symptome» deuten würden, oft von unaufgearbeiteten Problemen gesteuert, die in der pränatalen und perinatalen Zeit, also vor der Geburt und beim Geburtsgeschehen selbst, ihre Wurzeln haben.
Von einem aktuellen Symptom können wir deshalb nur so lange sprechen, wie der Zusammenhang zwischen Trauma und Symptom noch offen zutage tritt und weder ein Schock noch eine anderweitige Verdrängung, aus welchem Grunde auch immer, stattgefunden hat. Sobald jedoch ein Symptom, sei es durch Verdrängung, sei es durch medikamentöse Unterdrückung, verändert, z.B. abgeschwächt worden ist, handelt es sich nicht mehr um ein aktuelles Symptom, sondern um ein Erinnerungssymptom, oder es setzt sich im Laufe der Zeit ein zudeckendes Ausdruckssymptom darauf.
2) Erinnerungssymptome
Was Erinnerungssymptome sind, können wir uns am besten an den Folgen körperlicher Verletzungen klarmachen. So stellt z.B. jede Narbe ein Erinnerungssymptom dar. Wer sich etwa in der Neuraltherapie auskennt, weiß, daß alte Narben «Störfelder» darstellen können, die den ganzen Organismus belasten. Leider hat, meines Wissens, bislang noch kein Neuraltherapeut ernsthaft darüber nachgedacht, warum die eine Narbe ein Störfeld darstellt, eine andere Narbe aber nicht. In der Human-Biologischen Ganzheits-Therapie müssen wir über solche Phänomene nachdenken und tun das auch. Besonders auffällig reagieren Amputationsnarben, die gelegentlich Schmerzen verursachen, als sei das amputierte Glied noch vorhanden. Der Grund sowohl für die als Störfeld reagierenden Narben wie für die «Phantomschmerzen» in Amputationsnarben liegt darin, daß sie mit Informationen, mit Erinnerungen verbunden sind, die gespeichert, verdrängt, aber nicht aufgearbeitet und deshalb auch nicht in die Lebensgeschichte integriert worden sind. Darin besteht das Wesen von «Erinnerungssymptomen».
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Oskar ruft mich an, daß er nicht zur Therapie kommen könne. Er hat einen Skiunfall gehabt. Er ist gestürzt. Sein linkes Knie ist geschwollen, es schmerzt sehr. Oskar kann kaum auftreten. Er war deswegen auch schon beim Orthopäden. Er meint, daß es sich hier um ein bloßes Unfallgeschehen, um ein «aktuelles Symptom» handelt und daß er sich in der Therapie vor lauter Schmerz nicht richtig konzentrieren könne.
Auf mein Anraten hin kommt er dann doch zur Therapie, läßt den Schmerz voll zu und konzentriert sich auf den Unfall. Als er ihn minutiös wiedererlebt, entdeckt er plötzlich, daß er unmittelbar vor dem Sturz seinen Chef am Ende der Piste stehen sah. Das war der Auslöser dafür, daß ihm das linke Knie den Dienst versagte. Stand hier nun ein psychischer Vorgang, der Schreck beim Anblick des Chefs, die Angst, vor dessen Augen zu versagen, am Beginn des Unfalls und der nachfolgenden Erkrankung?
Oskar hat eine sehr schwere Geburt gehabt. Das linke Bein war im Knie nach hinten unter den Po abgeknickt, das Gelenk sehr schmerzhaft überdehnt. Er hat seine Geburt als ein katastrophales Versagen erlebt. Und in der Gegenwart beantwortet er nun Versagensängste mit Problemen im linken Knie. Das angeblich «aktuelle Symptom» hat sich als aktualisiertes «Erinnerungssymptom» entpuppt! Nach der Therapie heilte das Knie auffällig rasch.
Bei seiner Geburt wurde Oskar mit Gewalt am rechten Arm aus dem Mutterleib gezogen. Außer der Überdehnung des linken Kniegelenks kam es zu Verletzungen im Schultergelenk und zu einem Riß im Mediastinum.
Vor einigen Jahren hatte Oskar einen Motorradunfall. Dabei wurde eine Nervenwurzel im rechten Schulterbereich ausgerissen, so daß der Arm teilweise gelähmt ist. Außerdem erlitt er einen weiteren Riß im Mediastinum. Zufall? Nein! Derartige Verletzungs- Wiederholungen an Körperteilen, die pränatal oder perinatal geschädigt worden sind, erleben wir in unseren Therapien immer wieder - bis die primären Schädigungen bewußt gemacht, wiedererlebt und aufgearbeitet worden sind.
Erinnerungssymptome sind bisher weder in der klassischen Psychoanalyse, noch in der Schulmedizin, noch in der Naturheilkunde bekannt. Sie stellen jedoch eine besonders wichtige Form von Symptomatik dar. Wir finden nämlich Erinnerungssymptome bei chronischen und bei malignen («bösartigen») Erkrankungen besonders häufig vor.
Erkennbar sind Erinnerungssymptome nur bei konsequenter ganzheitsmedizinischer Betrachtungsweise und bei Anwendung von diagnostischen und therapeutischen Verfahren, die mit der Regression arbeiten. Praktisch kann sich jede Art von Symptom als Erinnerungssymptom erweisen. Erst eine Diagnostik, die die Ätiologie (den tiefsten Ursprung) eines Erkrankungsprozesses mit Sicherheit aufzudecken in der Lage ist, vermag zu entscheiden, um welche Art von Symptomatik es sich handelt, und kann die therapeutischen Maßnahmen darauf gezielt ausrichten.
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Es gibt eine ganze Reihe von Erkrankungen, deren Symptome eine direkte Körpererinnerung an massive Störungen biologischer Programme darstellen. Dazu gehören neben Psychosen, Angst- und Zwangsneurosen z.B. solche Erkrankungen wie Schulter-Arm-Syndrome, Skoliosen, generalisierte Muskelverspannungen, Morbus Scheuermann, bestimmte Formen von Migräne, bestimmte Formen der Epilepsie, «idiopathischer» Hörsturz, Tinnitus (Ohrgeräusche), Morbus Meniere und viele andere mehr. Diese Erkrankungen gehen in den meisten Fällen auf pränatale (vorgeburtliche) und perinatale (geburtsbedingte) Schädigungen zurück. Aufgrund der dem Menschen innewohnenden Verdrängungsmechanismen bleiben die davon Betroffenen über Jahre oder gar Jahrzehnte (scheinbar!) symptomfrei, bis schließlich bestimmte Schwellensituationen und Lebenskrisen zu charakteristischen Auslösern der manifesten Erkrankung werden.
3) Ausdruckssymptome
Den Ausdruckssymptomen liegt ein primärer ungelöster zwischenmenschlicher und innerseelischer Konflikt zugrunde (immer beides zugleich!). Es ist möglich, daß solche Konflikte erst relativ kurze Zeit bestehen. In der Regel haben jedoch auch ganz gegenwärtig ablaufende Konflikte eine lange, ggf. sogar eine pränatale, perinatale oder postnatale Vorgeschichte, und die zugehörigen Ausdruckssymptome haben sich bereits fest etabliert.
Die Konflikte selbst sind den Patienten oft nicht einmal bewußt. Die Symptome sind dann die einzigen faßbaren Manifestationen des Konfliktgeschehens. Oft läßt sich aber aus muskulären und andersartigen Verspannungen und Symptomen direkt ablesen, welcher Art der Konflikt ist. So kann sich z.B. verdrängte, ungelebte Wut in Muskelverspannungen im Bereich der Arme und im Schultergürtel ihren körperlichen Ausdruck suchen. Dem anderen «sitzt die Angst im Nacken» oder er «kriegt kalte Füße», der dritte «geht unter einer schweren Last gebeugt», der nächste «zerbricht sich den Kopf», ein anderer «hält den Nacken steif», einen weiteren «tragen die Beine nicht mehr», jemandem «schlägt etwas auf den Magen», und wem «etwas an die Nieren geht», der klagt meist auch über schmerzhafte Verspannungen in der Lendenwirbelsäule.
Der Volksmund hat ein ganzes Arsenal solcher «Diagnosen» zur Verfügung, die sich auf Ausdruckssymptome beziehen. Sie können sich an allen Organen abspielen. Aber auch das darf nicht verschwiegen werden: Jedes der genannten Symptome kann ein Erinnerungssymptom sein oder Erinnerungs- und Ausdruckssymptom gleichzeitig. Deshalb darf ein Therapeut unter keinen Umständen aus der Symptomatik allein Rückschlüsse auf den vorliegenden Erkrankungsprozeß ziehen. Nicht alle Muskelverspannungen im Bereich der Arme und im Schultergürtel drücken ungelebte, verdrängte Wut aus, und kalte Füße sind keineswegs immer ein Ausdruck von verdrängter Angst. Erst eine gründliche Diagnose bzw. die Therapie selbst kann jene Klarheit bringen, die einen therapeutischen Erfolg verspricht.
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Eine der wichtigsten und besonders problematischen Erkrankungen mit Ausdruckssymptomatik ist die Neurodermitis, ein Erkrankungsprozeß, der in die Gruppe jener allergischen Erkrankungen gehört, bei denen wir fragen müssen, aufweiche Person sich die allergische Reaktion ursprünglich gerichtet hat, durch welche gegenwärtige Person(en) sie ausgelöst wird und auf wen sie sich momentan bezieht. Wir zählen dieses Krankheitsgeschehen zu den «Bleib-mir-vom-Leib-Erkrankungen». (NB: auf dermatologischem Gebiet gehören dazu auch die Akne vulgaris und die Pityriasis rosea).
Beim Ausbruch einer akuten Neurodermitis und der anderen genannten dermatologischen Erkrankungsprozesse, auch beim Auftreten akuter Schübe, wird der «Bleib-mir-vom-Leib-Charakter» oft deutlich sichtbar. Um zwei kurze Beispiele zu nennen:
1. Kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes erleidet Geraldine, im Zusammenhang mit dem Stillen, einen neurodermitischen Schub. Die Allergie richtet sich also auf ihr Kind. Sie erinnert sich, daß sie selbst als Säugling nach sehr kurzer Zeit abgestillt wurde und sofort einen «Milchschorf», die früheste Form einer Neurodermitis, entwickelte. Aufgrund ihrer positiven mütterlichen Einstellung stillte sie ihr Kind aber über ein halbes Jahr hinweg weiter. Der Schub klang bald ab und wiederholte sich auch nicht bei weiteren Geburten.
2. Eine Frau leidet seit vielen Jahren an Neurodermitis, die sie mit Hilfe einer eingeübten Distanz zu Ehemann und Kindern einigermaßen beherrscht. Im Urlaub verändert sich jedoch die gewohnte äußere Situation in der Weise, daß sie mit ihrem Ehemann, zu dem sie immer einen gewissen Abstand hält und halten kann, ein «französisches» Bett teilen muß. Prompt bricht bereits nach der ersten Nacht ein sich täglich verstärkender Schub aus. Dafür macht sie aber nicht etwa ihre Nähe-Probleme, sondern «das andere Klima» und «die andersartige Ernährung» verantwortlich. Jeder Hinweis auf den eigentlichen Hintergrund dieser Erkrankung wird mit Rationalisierungen abgeschmettert.
Was Sie vielleicht überraschen mag, ist die Tatsache, daß oft auch die Schuppenflechte, die Psoriasis, zu dieser Kategorie gezählt werden muß. Bei der Psoriasis liegt immer ein Genschaden vor. Die Erkrankung ist also erblich. Aber in den weitaus meisten Fällen bleibt dieser Schaden ein Leben lang unbemerkt, «latent». Unter bestimmten Umständen jedoch reiht sie sich in die Gruppe der «Bleib-mir-vom-Leib-Erkrankungen» ein, blüht kräftig auf und läuft, ähnlich wie die Neurodermitis, in Schüben ab.
Nach sehr frustrierender Pränatalzeit im Leib einer sehr kargen Mutter, die sich ständig überfordert fühlte, wurde Waldemar am zweiten Tag zum Stillen versehentlich zu einer anderen Mutter gebracht, die ganz seinen unerfüllten Sehnsüchten nach Zärtlichkeit und Wärme entsprach. Das Kind bemerkte die Verwechslung sofort am Geruch und an der Brustwarze. Als es am nächsten Tag wieder zu seiner richtigen Mutter gebracht wurde und der Frust von neuem begann, lehnte es diese als «falsch» ab. Auf diesem Hintergrund entwickelte sich eine Neurodermitis als «Bleib-mir-vom-Leib-Erkrankung». In späteren Jahren kam eine Psoriasis hinzu, die genetisch unerheblich vorgeprägt war, von der neurodermitischen Konstitution her jedoch als «Vehikel» benutzt wurde.
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Die Neurodermitis wird in sehr vielen Fällen von den Hautärzten nicht erkannt. In anderen Fällen scheuen sich die Ärzte, eine solche Diagnose zu stellen, weil man «nicht psychisch krank» sein darf! Auf diese Weise wird natürlich mögliche Hilfe schuldhaft versäumt.
Ich erinnere mich sehr gut an eine Ärztin, eine Psychoanalytikerin, die an einer Neurodermitis erkrankt war, aber diese Tatsache energisch leugnete. Sie ließ sich von ihren dermatologischen Kolleginnen wiederholt bestätigen, daß ihre Hauterkrankung zwar medizinisch derzeit nicht klar erkennbar und definierbar, aber keinesfalls als Neurodermitis zu bezeichnen sei. Eine Psychoanalytikerin kann und darf doch schließlich keine psychischen bzw. psychosomatischen Symptome haben! Das wäre ja blamabel (wieso eigentlich?) und obendrein geschäftsschädigend.
Zwei Besonderheiten der Neurodermitis müssen noch erwähnt werden, die besonders oft verkannt bzw. falsch gedeutet werden und zu Fehlbehandlungen führen:
1. Die Neurodermitis ist der «Affe» unter den Hautkrankheiten. Sie kann sich, unterschiedlich lokalisiert, unter recht verschiedenartigen Effloreszenzen (Erscheinungen auf der Haut) verbergen, weshalb sie oft dermatologisch nicht sicher diagnostiziert wird. Hier ist der Psychosomatiker im Vorteil, weil die im Hautsymptom ausgedrückte Ambivalenz (Zwiespältigkeit) zugleich an vielen anderen Äußerungen des Patienten abzulesen ist, u.a. an seiner depressiven Abhängigkeit einerseits und der unterschwelligen Aggressivität und der Flucht vor Nähe andererseits. Oft genügen nur wenige Sitzungen, um die Ambivalenz (Zwiespältigkeit) zwischen der Berührungssehnsucht und der mit Scheuern und Kratzen gegen die eigene Haut geführten Autoaggression (Gewalt gegen sich selbst) aufzudecken, erlebbar zu machen und damit den Weg zur therapeutischen Regression freizulegen.
2. Wir hatten bereits gesehen, daß sich die Neurodermitis in bestimmten Fällen mit der «Psoriasis», der Schuppenflechte, vergeschwistern und dieser Erkrankung zum Durchbruch verhelfen kann. Ähnliches gilt auch für die «Akne vulgaris» und für Pilzerkrankungen. Die Neurodermitis bietet für verschiedenartige Pilzerkrankungen einen idealen Nährboden. Die betroffenen Patienten, leider aber auch viele ihrer Ärzte, sind froh und zufrieden, wenn sie nach langem Suchen schließlich einen Pilz «dingfest» machen können, den sie dann als für die Hautveränderungen verantwortlich erklären. Sie hoffen, mit der entsprechenden antibiotischen Therapie das Problem entgültig lösen zu können. Wenn die äußerlich wahrnehmbare Symptomatik schließlich abklingt, fühlen sich die Patienten (zunächst) befriedigt und ihre Ärzte in ihrer Diagnose und Therapie bestätigt.
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Sie nehmen allerdings nicht zur Kenntnis, es wird ihnen, da sie dafür ja «nicht zuständig» sind, auch nicht einmal mitgeteilt, daß sich die mitmenschlichen Probleme der Patienten, die Kontaktprobleme, auf denen die «Bleib-mir-vom-Leib-Erkrankung» beruht, dadurch keineswegs gelöst, ja in vielen Fällen sogar erheblich verschärft haben. Aber wer erzählt seinem Hautarzt schon von seinen Familien- und Partner-Problemen?!
Für diese dermatologischen Erkrankungsprozesse ist charakteristisch, daß sie sowohl durch zu große Nähe wie auch durch Trennungssituationen ausgelöst werden können. Unter der Angst vor zu großer Nähe lauert nämlich ein ganz großes Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Die abschreckende Wirkung auf die nächsten Kontaktpersonen, die den «Bleib-mir-vom-Leib-Charakter» dieser Erkrankungsprozesse deutlich macht, darf uns da nicht täuschen. Das Berührungsbedürfnis macht sich für die Patienten besonders durch unstillbaren Juckreiz mit nachfolgendem Scheuern und Kratzen und durch das Bedürfnis nach kosmetischen Manipulationen deutlich bemerkbar.
Eine Beobachtung bezüglich der möglichen Ätiologie (des Ursprungs) besonders schwerer Formen der Neurodermitis und der Akne vulgaris möchte ich zum Schluß noch erwähnen. Bei mehr als 50 Patienten meiner Praxis in den letzten 20 Jahren sind Abtreibungsversuche vorgenommen worden. In all diesen Fällen ist bei dem mörderischen Eingriff das Fruchtwasser abgelaufen, was bei den Embryos und Föten, außer beträchtlichen Kältegefühlen durch die Verdunstungskälte, ein vorübergehendes Ankleben der Fruchtblase am Körper der Kinder und unangenehme Reizerscheinungen auf ihrer Haut verursacht hat. Ich bin mir ganz sicher, daß hier ein direkter ätiologischer Zusammenhang besteht.
Ich habe in einigen Fällen auch beobachtet, daß es nach dem Fruchtwasser-Abgang bei den Föten zu vorübergehenden Versuchen kam, über die Lunge zu atmen. Das führte dann regelmäßig zu entsprechenden Reizerscheinungen im Bronchialbereich und im Lungengewebe mit der Folge, daß sich später ein Asthma bronchiale entwickelte.
Da ein Abtreibungsversuch ja einen durch die Mutter bewußt beabsichtigten und vorgenommenen endgültigen Trennungsversuch von ihrem Kind bedeutet, wird auch verständlich, warum sowohl die genannten Hauterkrankungen wie ein solches Asthma bronchiale nicht nur durch zu große, als gefährlich erlebte Nähe, sondern auch durch spätere drohende oder tatsächliche Trennungssituationen ausgelöst werden.
Selbstverständlich können schwere Hautallergien und asthmatische Erscheinungen auch von Umweltgiften hervorgerufen werden, ebenso Allergien im Verdauungstrakt durch schädliche Reizstoffe in unseren Lebensmitteln. Was aber liegt vor, wenn der kleine Theobald gegen mehr als 30 Nahrungsmittel allergisch reagiert? Das ist eine ganz ausgeprägte Ausdruckssymptomatik, hinter der sich ein Dauerkonflikt mit seiner Mutter verbirgt, der vermutlich (Theobald war nie mein Patient, ich kenne aber seine Eltern!) lange vor seiner Geburt begonnen hat.
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