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Nachworte 1-4

2. Hildmann   3. Germann  4.  Noll  

 

 1. Autor: Macht die Wahrheit frei? 

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Vor mir liegt das Manuskript meines Buches — ein paar hundert Seiten Material zur frühen lebens­geschicht­lichen Wahrheit von Menschen, die sich mir und dem von mir entwickelten therapeutischen Weg anvertraut haben.

Macht diese Wahrheit frei? Die Erkenntnisse, die in drei Jahrzehnten zusammen kamen, stellen so vieles in Frage, womit wir, als Eltern, Erzieher oder Therapeuten, ruhig leben zu können meinten. Es sind Wahrheiten, die Abgründe aufreißen, wo wir auf vertrautem, sicherem Boden zu stehen glaubten.

Vieles, worüber dieses Buch berichtet, wird beim Lesen zunächst nicht befreiend wirken, sondern tiefes Unbehagen auslösen, auch dort, wo Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen als Tugend gilt, die man gern für sich in Anspruch nimmt.

Ich habe drei mir nahestehende Menschen, jeder ein Fachmann auf seinem Arbeitsgebiet, um ein erstes Nach­wort zum Manuskript meines Buches gebeten. Die drei hier nachfolgenden Stellungnahmen zeigen: Auch dort, wo die Bereitschaft vorhanden ist, Neuem zu folgen, beginnt für jeden die Reise zunächst einmal dort, wo er selbst im Augenblick steht. Von diesen unterschiedlichen Standpunkten aus kommt, im besten Fall, die Diskussion in Gang. Die drei Nachworte erhellen diesen Sachverhalt sehr schön:

Dr. med. Reinhold Hildmann, Arzt, Psychoanalytiker und Psychotherapeut, geht in seiner Stellungnahme aus von den Parallelen zwischen meiner Arbeit und der klassischen Psychoanalyse, wobei er zu meiner Freude entdeckt, daß einige Anliegen Freuds in der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie wieder besser zum Tragen kommen als bei vielen gegenwärtigen Psychoanalytikern — auch wenn Hildmann das mehr andeutet als deutlich ausspricht. Sehr wichtig finde ich, daß er sich dazu bekennen kann, daß «Freud mit der gesell­schaft­lichen Angst vor der Radikalität der psychoanalytischen Theorie zu kämpfen» hatte, «der er, wie seine Nachfolger bis heute, teilweise immer wieder Zugeständnisse machte.»

Vor allem seine Erkenntnisse über die Problematik des sexuellen Mißbrauchs von Kindern scheint Freud, wie bereits erörtert, aus gesellschaftlichen Rücksichten heraus durch psychoanalytische (Fehl-) Deutungen und Konstruktionen zugedeckt zu haben. Wenn ich das Nachwort von Hildmann nicht fehldeute, so lese ich aus seinen Worten eine Anerkennung heraus für meine Haltung, nichts, aber auch gar nichts mehr verstecken zu wollen, gleichgültig, wer daran, aus welchen Gründen auch immer, Anstoß nehmen zu müssen glaubt.

Den Heilpraktiker Peter Germann berühren an meinem Buch vor allem jene Aspekte der lebensgeschicht­lichen Wahrheit, die von der Angst handeln.


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Diese Angst scheint ihm in seiner Praxis immer wieder zu begegnen als jenes dominante Symptom, das sogar den Blick verstellt auf das noch tiefer liegende Problem, auf den an der Wurzel liegenden Schmerz. Was mich an seinem Votum überrascht und sehr gefreut hat, ist sein Hinweis auf Hildegard von Bingen, die sich in ihrer Diagnostik und Psychologie der endogenen Wahrnehmung bedient hat.

Geradezu fasziniert hat mich Germanns fragliche private Mitteilung an mich, daß Hildegard die psychischen Symptome «Gefräßigkeit», «Verbitterung», «Unzuverlässigkeit», «Lüge», «Streitsucht», «Unglückseligkeit», «Maßlosigkeit» und «Atheismus» mit der vorgeburtlichen Zeit des Menschen in direkten Zusammenhang bringt.

Diesen Symptomen stellt sie eine entsprechende Reihe von positiven Eigenschaften entgegen, die sie ebenfalls vorgeburtlich begründet: «Enthaltsamkeit», »Großzügigkeit», «Frömmigkeit», «Wahrheitsliebe», «Friede», «Glückseligkeit», «das rechte Maß» und «Seelenheil».

Wenn wir einmal von ihrer religiös-kontemplativen und 900 Jahre alten Ausdrucksweise absehen, so sind wohl drei Momente nicht zu übersehen:

1. In ihrer Symptomenreihe finden wir erstaunlich viele Übereinstimmungen mit jenen psychischen und psychososomatischen Problemen, die auch ich in den Regressions-Therapien als pränatal bedingt erkannt und in diesem Buch beschrieben habe.

2. In der von Hildegard aufstellten positiven Gegensatzreihe erkenne ich jenes Phänomen wieder, das ich als die «biologischen Programme» bezeichne, deren beunruhigenden mahnenden Charakter sie offensichtlich erkannt und therapeutisch zu nutzen versucht hat.

3. In der Tatsache, daß sie die von ihr beschriebenen Gegensatzpaare als vorgeburtlich bedingt überhaupt erkennen konnte, spiegelt meines Erachtens ganz deutlich ihre Fähigkeit zur «endogenen Wahrnehmung» wider. Den von ihr aufgelisteten pränatal bedingten Symptomen ordnet sie den Rumpf und den Hüftbereich als Organe ihrer Manifestation zu. Ich muß gestehen, daß mich diese weitere (teilweise, aber nicht unbedeutende) Übereinstimmung außerordentlich fasziniert!

Für den Theologen Mag. theol. Wynfrith Noll verdeckt die Frage, wie er selbst und seine Theologie mit den unausbleiblichen theologischen Folgerungen aus meinen Entdeckungen und Darlegungen leben kann, die für mich weit wichtigere Frage, wie denn ungeborene Kinder leben, ja überleben können mit den Konsequenzen einer offenbar immer noch von mittelalterlichen Vorstellungen und Spekulationen zehrenden Theologie. Aber auch diese, seine, Position kann, wenn sie offen dargelegt wird, Ausgangspunkt werden für eine fruchtbare Diskussion.

Sehr erfreulich finde ich, daß Noll den mahnenden Charakter dieses Buches gut erkannt hat. Er steht allerdings weniger Zusammenhang mit meinem ehemaligen Pfarrberuf, als sehr viel mehr den zur Lösung drängenden unerfüllten biologischen Programmen, die mahnenden Charakter haben und den Menschen niemals zur Ruhe kommen lassen, bis er seine verdrängten Probleme aufgearbeitet hat.

Um das Ingangkommen der Diskussion also geht es mir, um nichts anderes. Nur so kann der Weg bereitet werden für Veränderungen zugunsten derer, die die Schwachen sind in einer Welt, in der die Starken das Sagen haben: zugunsten der Kinder — der ungeborenen und der neugeborenen.

 

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1. Nachwort aus dem Bereich Psychoanalyse und Psychosomatik
 (Hildmann)

Trotz meiner, wenn auch begrenzten, Selbsterfahrung oder gerade wegen der Begrenztheit meiner Selbst­erfahrung in der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie müßte mein Nachwort mit einer Lücke aus unbedrucktem Papier beginnen, um zu verdeutlichen, wie sprachlos der Versuch machen kann, den Inhalt des vorliegenden Buches in eigenes Wissen und eigene Erfahrung zu integrieren.

In diese Lücke von Sprachlosigkeit drängte sich in meiner Vorstellung immer wieder die Erkenntnis Freuds (1915), daß sich «Illusionen dadurch empfehlen, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer statt Befriedigungen genießen lassen.» 

Die sich bei der ersten Lektüre dieses Buches vielfältig regende Unlust rüttelte mich aus der relativen Behaglichkeit meiner bisherigen Rezeption der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklungen auf und machte zunehmend meinem Interesse an der inhaltlichen Darstellung Platz, die ein leuchtendes Beispiel für eine subjektive, durch eigene Erfahrung verantwortete, narrative Wissenschaft­lichkeit ist, die sich der objektivierenden Prüfung keineswegs entziehen will.

Hollwegs Plädoyer für die Wahrheit, die frei macht, läuft m.E. aufgrund des sehr persönlichen Sprach­duktus immer wieder Gefahr, nicht mehr als wissenschaftlicher Dissens erkannt, sondern als neues Dogma verkannt zu werden. Dem können jedoch seine spannende Auseinandersetzung mit bekannten psychoanalytischen Paradigmen, die zahlreichen Kasuistiken und das bewußte Bekenntnis zu einer auch Nicht-Wissenschaftlern zugänglichen Sprache entgegenwirken.

Die konsequente Einbeziehung der Pränatalzeit in das Konzept der Human-Biologischen Ganzheits-Medizin spiegelt die persönliche Grundlagenforschung des Autors wider, die den Vergleich mit bedeutenden Pionieren der Psychoanalytischen Bewegung nicht zu scheuen braucht. Diese Forschung ermöglichte die Erarbeitung und Erprobung der in diesem Buch detailliert beschriebenen Behandlungstechniken, die die ursprünglichen Ziele des Begründers der Psychoanalyse wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

Sie stellen in ihrer Gesamtheit ein Verfahren dar, das «die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken und den begleitenden Affekt wachzurufen» zum Ziel hat, wie es Freud 1895 schon in «Studien über Hysterie» als wesentlich für die Psychoanalyse darlegte.

Daß der begleitende Affekt immer der Schmerz der Vernichtung ist, die von einem erst in Entwicklung befindlichen Ich als Folge der Nicht-Erfüllung biologischer Programme wahrgenommen wird, auch wenn die Nichterfüllung eine objektiv lebensrettende Maßnahme wie z.B. ein notwendiger Kaiserschnitt ist, und zum Lebenserhalt verdrängt werden muß, hat Hollweg schlüssig dargelegt.


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Die Beschreibung dieses Vorgangs ist keineswegs eine Vereinfachung differenzierter psychoanalytischer Theorien, sondern trennt sehr genau zwischen primärer, realer Schädigung, die dem «veranlassenden Vorgang» (nach Freud) in den verschiedenen, den gesamten Lebenszyklus umfassenden Entwicklungs­phasen (E.H. Erikson) entspricht, und den oft erst viel später in einer auslösenden Situation manifest werdenden sekundären Erkrankungserscheinungen. Unabhängig vom Lebensalter entscheidet das Individuum immer selbst, was ein Trauma ist, in Abhängigkeit von seiner nie vollständig abgeschlossenen Ich-Entwicklung.

Ein Trauma trifft das Individuum als «homo sentiens» (Kutter), das es von der Zeugung an war und ist, das auch als «homo sapiens sive faber» zeitlebens ein traumatisierbares Mangelwesen (Schopenhauer) bleibt, das durch seine immer subjektive Wahrnehmung gekennzeichnet ist.

Freud hatte mit der gesellschaftlichen Angst vor der Radikalität der psychoanalytischen Theorie zu kämpfen, der er, wie seine Nachfolger bis heute, teilweise immer wieder Zugeständnisse machte, ohne ihr — nach meiner Einschätzung — je ganz zu unterliegen. Im Kontrast dazu scheint die Gefahr der kompletten Verdräng­ung der Psychoanalyse die aktuelle berufspolitische Diskussion um die Psycho­therapie zu beherrschen.

Die Unnachgiebigkeit, mit der sich Hollweg jeglicher nicht-ganzheitlichen Sichtweise des Menschen entgegen­stellt, insbesondere der noch weitgehend üblichen Leugnung der individuellen, persönlich erlebten Erfahrung der Pränatalzeit und die damit verbundene Wirkung der «Geburtlichkeit des Menschen» (Janus) auf die späteren Lebensgestaltungen, wirkt genauso provozierend und angstauslösend wie Freuds Entdeckungen am Ende des letzten Jahrhunderts.

Sie kann aber zugleich befreiend wirken, weil sie nicht der Freudschen Erkenntnis nachgibt, daß «es freilich schonender ist, kranke Stellen nicht zu berühren, wenn man dadurch nichts anderes als Schmerz zu bereiten weiß.» Der m.E. durch die Selbstschilderung von Patienten gelungene Nachweis der Heilsamkeit des unverstellt wiedererlebten Schmerzes verdrängter Traumata schließt an die Radikalität ursprünglicher psychoanalytischer Theoriebildung an und kann den kontroversen Diskurs über unbewußte Phantasien in Richtung weiterer Erforschung der von Hollweg beschriebenen endogenen Wahrnehmung beleben, ohne die von Freud 1923 in «Das Ich und das Es» aufgestellten «Grundpfeiler» der Psychoanalyse aufzugeben.

Die Kritik der meisten meiner Kolleginnen und Kollegen riskierend, wage ich meinen persönlichen Erkenntnis­gewinn aus dem vorliegenden Buch Hollwegs und meiner begrenzten Selbsterfahrung mit der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie so zusammenzufassen:


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Individuation beginnt mit dem Gezeugtwerden und kann sich im Lebenszyklus zur Bewußtwerdung der eigenen Identität entfalten. Störungen dieses Prozesses sind als unzählige Varianten der Nicht-Erfüllung genetisch festgelegter biologischer Programme aufzufassen, die in einigen psychoanalytischen Theorien in sprachlicher Symbolisierung implizit sind, z.T. auch unter ausdrücklicher Einbeziehung der intrauterinen Entwicklung, die in der modernen Säuglingsforschung und der Pränatalen Psychologie und Medizin objektivierend beschrieben werden und die mit Hilfe der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie auch subjektiv direkt wahrnehmbar sind.

Als Erweiterung — keineswegs in Ersetzung der psychoanalytischen Standardtechnik, in der die Loslösung vom traumatisierenden, verinnerlichten Objekt eher gefordert wird, erscheint mir die Tiefenpsychologische Basis-Therapie als eine Methode, in der diese zur individuellen und kollektiven Genesung erforderliche Loslösung wirksamer gefördert wird.

Schon 1914 konzedierte Freud in «Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung», ohne sich konsequent daran zu halten, jeder Forschungsrichtung, die die «Grundpfeiler» zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nimmt, daß sie sich "Psychoanalyse heißen darf, auch wenn sie zu anderen Ergebnissen als den meinen gelangt."

Damit bestünde die Möglichkeit, das Hollwegsche Konzept einer Human-Biologischen Ganzheits-Medizin als Innovation für eine fruchtbare Erweiterung des Bestehenden zu nutzen. Einen schönen Erfolg möchte ich der Lebensarbeit meines Freundes Wolfgang Hollweg von ganzem Herzen wünschen.

Freiburg, im Dezember 1994
Dr. med. Reinhold Hildmann
Psychoanalyse, Psychotherapie


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2. Nachwort aus dem Bereich

Ganzheits-Medizin und Naturheilverfahren

(Germann)

«Angst essen Seele auf» — dieser Filmtitel von Rainer Werner Fassbinder trifft den Nagel auf den Kopf. Der Dreh- und Angelpunkt aller Mißempfindungen ist die Angst, die es zu erkennen und zu überwinden gilt; nur dazu müssen wir uneingeschränkt zu einem anderen Faktum stehen, nämlich der Wahrheit. Erst über diesen Erkenntnisweg ist Freiheit möglich.

Wolfgang H. Hollwegs vorliegendes Buch hat mich begeistert! Bringt man es auf die Quintessenz der oben angegebenen Sätze, so ist es aus philosophischer Sicht für mich nichts Neues. Allerdings hat mich die Fülle an Informationen, die systematische Aufbauweise und die Belegung durch Fallbeispiele nahezu erschlagen, so daß ein mehrfaches Lesen nötig war. Dazu kommt noch, daß, wie sonst üblich, so gut wie kein Füllstoff in diesem Buch zu finden ist, sondern Fakten an Fakten aneinandergereiht sind.

«Wir müssen immer vom Ganzheitsbegriff ausgehen.» Dieser erste Lehrsatz von Dr. Bernhard Aschner ist Grundsatz in der Medizin der Naturheilverfahren — er ist aber auch der angreifbarste, denn es gibt keine Definition für «Ganzheit». Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Wenn für den einen Therapeuten der Einbezug sekundärer Faktoren, die Grundkonstitution und ein oberflächlicher Ausflug in die Familienanamnese schon ausreicht, so gibt sich ein anderer mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen noch lange nicht zufrieden. Ganzheit sollte bedeuten, an die Ursache zu kommen, doch die Bestimmung der Ursache ist ebenso schwierig!

So möchte ich den Kollegen und guten Freund Hollweg fragen, warum in der pränatalen Phase aufhören? Geist ist schon vor der Konzeption und Manifestation vorhanden. In wieweit ist eine Strangulation mit der Nabelschnur oder ein Abtreibungsversuch der Mutter eventuell schon in das persönliche Lebenskonzept mit aufgenommen, um an diesen Punkten schon erste endogene Wahrnehmungen zu erleben, die für diese spezielle Manifestation wichtig sind? Natürlich muß die Aufarbeitung erfolgen, denn nur die Erkenntnis macht uns frei.

Ich wollte mit den vorherigen Sätzen nur andeuten, wie schwierig es ist, an die Ur-Sache zu kommen, die ja eine Definitionsfrage zu sein scheint. Ich verstehe allerdings, daß sich Hollweg aufgrund seines Konzepts gegen jede therapeutische Manipulation wendet. Daß er für diese Fragestellung in seiner Therapie aber grundsätzlich offen ist, hat mir das 15. Kapitel seines Buches gezeigt.


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Die endogene Wahrnehmung ist eine Möglichkeit des werdenden Lebens in der pränatalen, perinatalen und postnatalen Phase des Menschen, seine Um- und Außenwelt zu erfahren. Wir, fast nur im Exogenen verhaftet, haben damit unsere Schwierigkeiten. In allen Kulturkreisen und in allen Zeitaltern versuchte man, diese Gabe zu fördern, seien es die Trancezustände, die wir bei den tibetischen Orakeln nach Ritualen kennen, oder der Versuch, mit Drogen die Blockade einer dieser verschütteten Gaben wieder aufzubrechen, wie es einige Indianerstämme mit meskalinhaltigen Kakteen tun.

Hildegard von Bingen (1098-1179) hatte diese Gabe von Geburt an — richtig müßte es heißen: über die Geburt hinaus! Ihr verdanken wir wichtige Konzepte, die nicht als Medizingeschichte des frühen Mittelalters zu sehen sind, sondern erst in den letzten Jahrzehnten sich als alternative Naturheilverfahren in den Praxen bewährten. In ihrer Psychotherapie stellt sie Gegensätze zusammen, wie beispielsweise Lüge (Fallacitas) und Wahrheit (Veritas), sich selbst und anderen gegenüber. Auch bei Hildegard geht hervor, daß nur das rigorose Stehen zur Wahrheit Freiheit, Erlösung und Seelenheil (Salvatio animarum) ergibt.

Wenn Angst die Ursache allen Übels ist, muß nach dem Gesetz der Polarisation ein Gegenbegriff existieren; und das tut es auch, nämlich Liebe. Nur, wie kann ich andere lieben, wenn ich mich selbst nicht lieben kann? Wolfgang H. Hollweg hat diesen Teufelskreis drastisch dargestellt: Dauert eine Geburt sehr lange und ist sie für das Kind sehr qualvoll, kann Haß gegen die Mutter entstehen, die vermeintlich nicht losläßt. Daraus resultiert ein schlechtes Gewissen mit der Selbstbestrafung durch Entzug der Eigenliebe. Doch wie kann ich zur Fremdliebe kommen, wenn ich mir selbst die Liebe verweigere? Hier ist das Hollwegsche Konzept gefordert, um Erkennen und Aufarbeitung möglich zu machen! Angenommen kann ich nur werden, wenn ich mich selbst annehme!

Alternative Medizin sollte auch für alternative Methoden der Psychotherapie offen sein. Die tägliche Praxis zeigt, wie wir letztendlich immer wieder mit den geistigen Aspekten konfrontiert werden, die den somatischen überordnet sind. Daher freue ich mich, aus dem eigenen Kollegenkreis derart wertvolle Niederschriften zur Verfügung zu haben, da ich der «klassischen» Psychotherapie sowieso mit sehr gemischten Gefühlen gegenüberstehe.

Abschließend möchte ich ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe zitieren, welches meines Erachtens «exogen» und «endogen», die Punkte der Polarität als das zeigen, was sie sind, nämlich eine Einheit.

«Müsset im Naturbetrachten,
immer eins wie alles achten.
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
denn was innen ist, das ist außen.
So ergreifet, ohne Säumnis,
heilig öffentlich Geheimnis.»

Sollenberg und Dortmund, im Januar 1995
Peter Germann
Heilpraktiker

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3. Nachwort aus dem Bereich

Kirchliche Seelsorge und Psychotherapie 

(Noll)

Selbst der Psychologe, der eine von Weltanschauung möglichst «freie» Psychotherapie fordert und allem pastoral-psychologischen Bemühen um seelische Gesundheit mit größtem Mißtrauen begegnet, wird in der Zielsetzung seiner «atheistischen» Psychotherapie mit dem Ziel meines Freundes Wolfgang H. Hollweg übereinstimmen müssen: «Zur Freiheit geboren».

Hollweg kann und will in diesem Buch seinen weltanschaulichen Hintergrund und seine ganz persönliche Sendung als Seelsorger nicht verheimlichen. Sein umfassendes theologisches Wissen, das ich als Mitarbeiter im kirchlichen Bereich einst an ihm bewunderte, hilft ihm, dies ohne konfessionelle Engführung zu tun. Das genau wirft Hollweg ja zurecht vor allem der römisch-katholischen Kirche vor; aber auch die im Protest zu ihr stehenden Kirchen sind nicht frei von dieser Engführung geblieben.

Mit dem Schweizer Chefarzt einer Psychiatrischen Klinik, Dr. med. Samuel Pfeifer, möchte ich Hollwegs Feststellungen über krankmachende Seelsorge bestätigen. Pfeifer schreibt:

«Oftmals wurden Spannungsfelder erzeugt, indem Lehren verkündigt wurden, die nur einen Teil der biblischen Wahrheit wiedergeben. Die Sehnsucht nach Vollkommenheit kann die Botschaft von der Gnade völlig in den Hintergrund drängen. Der Wunsch nach Gottes Führung kann völlig vergessen lassen, daß man eigene Entscheidungen zu treffen hat. Die Betonung des Gehorsams unterdrückt oft die persönliche Freiheit in Christus, und die gefühlsbetonte Inanspruchnahme göttlicher Kraft und göttlichen Sieges läßt vergessen, daß wir noch immer im diesseitigen <Jammertal> leben.»

(Pfeifer, S.: Glaubensvergiftung - Ein Mythos?, Moers 1993)

Daß der beginnende Weg in dieses Jammertal schon so voller Belastungen und Beängstigungen stehen kann, zeigt Hollweg in geradezu erschütternder Deutlichkeit auf. Mich erinnert sein Buch an eine seiner einstmals so faszinierenden Predigten, die Menschen von weither in seine Gottesdienste lockten.

Betroffenes, verwundertes, bewunderndes Schweigen nach manchen Predigten kennt wohl jeder Predigt­hörer. Manchmal muß man lange nachdenken und viel verarbeiten und findet nur schwer Worte für Anerkennung oder Kritik. Dieses Buch ist auch eine Predigt. Die Ausführungen meines Freundes über den Sinn und die Wirkungen der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie, die ich nur aus seinen Schriften kenne, rütteln den Seelsorger wohl ebenso auf wie den Psychologen, der es nicht damit gut sein läßt, einmal Erlerntes für den absoluten Endpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis zu halten.


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Religion darf so wenig «Opium für das Volk» sein, wie sich eine irgend einer Richtung entstammende Psychotherapie als Morphium gegen das «Leiden am sinnlosen Leben» (Viktor E. Frankl) definieren darf. Nur die Suche nach immer mehr Wahrheit kann von Leiden frei machen, echtes gesundes Glauben ermöglichen und dadurch Lebensangst beseitigen.

Hollwegs «Predigt» rüttelt auf, beunruhigt, zwingt zum Nachdenken, und das wird ihm Feinde und Kritiker eintragen. Auch ist es die Gefahr gerade einer wirklich packenden Predigt, daß die Begeisterung für die verkündete Botschaft und für die neugewonnene Erkenntnis den Hörer dazu verführen kann, das mühsame Suchen nach neuem Wissen, das in kleinen Schritten streng logisch zu erfolgen hat, zugunsten der neugewonnenen Vision zu vernachlässigen. Aber: entzieht sich jegliche Heilkunst und jegliche Seelsorge nicht häufig den Methoden naturwissenschaftlicher Meßbarkeit und Logistik?

Wer heilt, hat recht, und wer so viel Unerklärliches, mit dem wir uns in der Tiefenpsychologie wie in der Pastoralpsychologie bisher abgefunden haben, so schlüssig erklären kann, hat sicher weitgehend recht.

Gefahr sehe ich, daß der Leser dieses Buches in seiner Begeisterung nunmehr alle neurotischen Störungen und Erkrankungen allzu monokausal mit Erlebnissen im Mutterleib oder bei der Geburt erklären könnte. Psychische Erkrankungen lassen sich aber kaum je «nur auf einen einzigen Faktor zurückführen, sondern auf ein komplexes Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und Erlebnisverarbeitung» (S. Pfeifer).

Der eine oder andere wissenschaftliche Kritiker aus den Reihen der Psychoanalytiker wird vielleicht gerade an dem Anstoß nehmen, was mich als Seelsorger an Hollwegs Werk so fasziniert: die ganz persönliche Betroffenheit des Autors vom Leiden seiner Klientinnen und Klienten, die Empathie, mit der sich Hollweg zusammen mit seinen Patienten auf den Weg der Wahrheitssuche macht, stets bereit, auch selbst Neues dazuzulernen und Leises nicht zu überhören. Dieses gemeinsame Suchen und Miteinandertragen mag wie eine Verletzung der Abstinenz-Regel aussehen: dem Seelsorger stünde solches Mitleiden jedenfalls gut an.

Einige Erkenntnisse Hollwegs vermag ich nicht zu übernehmen. Das Buch verleitet mich zu Anfragen: Wird die Erlebnis- und Lernfähigkeit der Embryonalperiode nicht allzusehr jener der Fetalperiode angeglichen, wobei doch vor dem Abschluß der Organogenese kein menschlich denkendes, empfindendes und speicherndes Gehirn vorhanden ist? Wird der Augenblick der Vereinigung von einer Eizelle mit einer Samenzelle nicht allzu magisch und dogmatisch überhöht? Was bedeutet eine Dreiteilung in Leib, Seele und Geist und was heißt dann Beseelung?


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Als Anhänger einer Evolutions-Theologie im Sinne des Jesuiten Teilhard de Chardin kann ich mit dem heute belächelten Dogma des päpstlichen Schultheologen Thomas von Aquin fast besser leben, daß nämlich der werdende Mensch erst im dritten Existenzmonat eine Seele erhält, als mit dem in der Abtreibungsfrage so strapazierten Glaubenssatz, daß der erfolgreiche Geschlechtsverkehr auch schon Beginn irgend einer Art von Seelenleben im Mutterleib ist.

Wird hier die Funktionsfähigkeit von Ei- und Samenzellen nicht erheblich überschätzt, und sind derartige Patientenerinnerungen nicht nur Projektionen mütterlicher Erzählungen und bildhafte Darstellungen später gesammelter Eindrücke? Die Erlebnisfähigkeit des Fetus hat mir allerdings schon 1968/69 unsere damals dreijährige Tochter Esther glaubhaft gemacht, noch bevor ich mich mit den Fragen pränataler Psychologie beschäftigen konnte.

In einer Periode reifungsbedingter Ängste wachte unsere Tochter schreiend immer mit zwei Traumbildern auf, die auf ihre gefährdete Geburt infolge verzögerten Austreibungsphase und auf einen im siebten Monat miterlebten Geschlechtsverkehr der Eltern schließen lassen. Das Steckenbleiben infolge medikamentöser Wehenhemmung schilderte sie sehr anschaulich: «Mami, ich stecke wieder in der Wurst und habe Angst!» Und mir berichtete sie einmal: «Ich bin im Ballan gelegen (ihr Baby-Ausdruck für alles, was rund ist: Bälle, Ballone und Brüste), und dann ist eine große Wurst dahergekommen, und ich habe schreien müssen!»

Bleibt noch zu berichten, daß die wehenhemmenden Medikamente gegeben wurden, weil sich der auf einer Skitour befindliche Arzt die Entbindung in der Privatklasse des Krankenhauses nicht entgehen lassen wollte.

Weil in unserer sich so menschlich dünkenden Zeit mit ungeborenem Leben noch immer umgegangen wird, als sei da noch kein beseelter Mensch unter uns, ist mir Hollwegs Buch besonders kostbar.

Nürnberg, im Januar 1995
Magister theol. Wynfrith Noll
Pfarrer i.R. und Psychotherapeut

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Eine kurze Nachbemerkung des Buchautors

 

Wahrheit ist nicht angewiesen auf Pauken und Trompeten, Ledereinband und Goldschnitt. Wer Augen hat und Ohren, dem kann sie begegnen an jeder Ecke — sogar beim Fernsehen in einem nicht einmal hochberühmten alten Film. Zwei Dialogfetzen aus dem Krimi «Jack the Ripper», die ich mir notiert habe: «Wissen tut weh, wenn es neu ist.» Und: «Was Menschen nicht begreifen, wollen sie vernichten.»

Nun, daß einige der in diesem Buch vermittelten Erkenntnisse nicht gar so neu sind, haben vor allem das erste und zweite Nachwort gezeigt. Daß Wahrheit weh tun kann, werden die Leserinnen und Leser selbst bemerkt haben. Und der Wille zur Vernichtung? Ich hoffe, daß er sich in einer lebhaften und offenen Diskussion über dieses Buch entlädt. Ich erwarte Kritik oder gar Widerspruch von der Psychologie, der Medizin, den Kirchen, der Pädagogik, von Vertretern des öffentlichen Lebens und von der Politik, besonders der Gesundheitspolitik.

Ausschließlich rational argumentierenden Kritikern kann ich jedoch nur empfehlen, sich auf eine dreiwöchige intensive Selbsterfahrung einzulassen. Dann werden wir weitersehen. Gegen eine «Vernichtung durch Nichtbeachtung» bin ich allerdings machtlos — fast so wie die ungeborenen und neugeborenen Kinder. 

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