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  § 1 

 

7-9

Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle. Hinter dem Parteien­gezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: daß wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich — ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende.

 

Was sonst trüge das, was das Untier <Weltgeschichte> nennt, wenn nicht die Hoffnung auf die Katastrophe, den Untergang, das Auslöschen der Spuren. Wer könnte eine sich Jahrtausend und Jahrtausend fortsetzende Litanei des Hauens, Stechens, Spießens, Hackens, die Monotonie des Schlachtens und Schädel­spaltens, das Om mani padme hum der Greuel ertragen, ja seinerseits nach Kräften befördern, der nicht zugleich in der Heimlichkeit seiner Vernunft gewiß wäre, daß diese rastlosen Übungen ihn und seine Gattung Gemetzel um Gemetzel, Schlacht um Schlacht, Feldzug um Feldzug, Weltkrieg um Weltkrieg unaufhaltsam jenem letzten Massaker, jenem globalen Harmageddon näherbringen, mit dem das Untier seinen Schlußstrich setzt unter die atemlose Aufrechnung sich fort- und fortzeugenden Leids.

 

In den Parlamenten brüten die Tauben, und die Falken auf der Empore spreizen die Fänge. Wer hörte nicht aus ihren Beteuerungen, sie rüsteten für die Sicherung des Taubenfriedens, die altvertraute Wahrheit, daß sie den Frieden taubrüsten; wer nickte nicht unmerklich der Richtigstellung eines Zarathustra:

Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? 
Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.   
(Nietzsche 1967  1: 575)  

So ist das Untier endlich der Ammenmärchen, der Utopien, paradiesischen Visionen und Heils­geschichten überdrüssig geworden und hat sich ermannt, dem Unaus­weichlichen ins Gesicht zu sehen.  Trost spendet jetzt die Nähe des Unheils, die Gewißheit, daß die Äonen des Ausharrens, der Vorbereitung, der rastlosen Vervollkommnung sich neigen und der Lohn ansteht: das Ausleiden, das Ausgelitten­haben. Der wahre Garten Eden — das ist die Öde. Das Ziel der Geschichte — das ist das verwitternde Ruinenfeld. Der Sinn — das ist der durch die Augenhöhlen unter das Schädeldach geblasene, rieselnde Sand.

 wikipedia  Om_mani_padme_hum  #

Solche Sätze wirken anrüchig und anmaßend. Anrüchig, weil sie sich das Recht nehmen, das Untier als Untier zu bezeichnen und den Euphemismus »Mensch« zu boykottieren. Anmaßend, weil sie damit selbst­verständliche Gattungs­loyalität aufkündigen und die Pferche des gesunden Menschen­verstandes und seines ebenso gesunden Optimismus verlassen.

Trotzdem verdanken sie sich vernünftiger Einsicht, wenn es auch eine exzentrische und nicht hoffähige, eine residuelle und verteufelte Vernunft ist, die hier zu Worte kommt. Ihr Gehör zu verschaffen ist Anliegen der folgenden Darstellung, die damit zugleich zur Streitschrift wird, zum Plädoyer für eine neue Philosophie, die sich vom archimedischen Punkt des Humanen freimacht und nicht in vergeblichen Anläufen den Menschen zu Ende, sondern ganz elementar das Ende des Menschen denkt.

Eigenheit und Träger dieser zunächst befremdlichen Reflexionsform, die gleichwohl als eine Art Trojanisches Pferd schon immer in den Köpfen der Untiere existiert, ist das, was wir künftig als anthropofugale Perspektive, als Blickwinkel einer spekulativen Menschenflucht bezeichnen wollen. Gemeint ist damit ein Auf-Distanz-Gehen des Untiers zu sich selbst und seiner Geschichte, ein unparteiisches Zusehen, ein Aussetzen des scheinbar universalen Sympathiegebotes mit der Gattung, der der Nachdenkende selbst angehört, ein Kappen der affektiven Bindungen.

Zur Veranschaulichung dieser Geisteshaltung eignet sich am ehesten das Bild einer Raumkapsel, die in immer weiteren Ellipsen um die Erde kreist, um sich eines Tages ganz von ihr zu lösen und in den Tiefen des Raumes zu verschwinden.

Nehmen wir an, der sich an Bord befindende Raumfahrer kennte diese seine Flugbahn, die ihm die Rückkehr unmöglich macht, genau — dann wäre es eben sein unverwandter Blick auf den Planeten, sein rettungsloser und illusions­zerstörender Abstand, das Zerfallen der unbrauchbar gewordenen Wahrnehmungs- und Vertraut­heits­muster, kurz, jener lange, schmerzliche und doch ungemein erkenntnisreiche Abschied, den er mit dem anthropo­fugalen Philosophen teilte. 

Auch der nämlich hat Fluchtgeschwindigkeit erreicht — nun aber freilich keine physikalische, sondern eine intellektuelle. Wie sich der Astronaut aus dem Schwerefeld der Erde löst, so ist es jenem gelungen, der Gravitation des Humanismus, d.h. jener ideologischen Einflußsphäre und Kraft zu entkommen, die die Untiere nach wie vor mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen hält und ihnen den Blick über den Horizont verwehrt.

Die Modernität der astronautischen Metapher darf allerdings nicht vergessen machen, daß das anthropofugale Denken, das Absehen­können der Untiere von sich selbst, sehr viel älter ist als Satelliten und die bemannte Eroberung des erdnahen Raumes, vielmehr im Grunde ein Gattungserbe darstellt, das sich in der Phase der Hommisation zusammen mit Problem­lösungs­intelligenz und pragmatischer Verständigung entwickelt haben durfte. 

Bekanntlich sind direkte Spuren dieses Evolutionsstadiums selten und seine ideologischen Konstrukte - im Gegensatz zu Faustkeilen und Speerspitzen - unwieder­bringlich dahin. Aber noch in den Mythen der sogenannten »Primitiven« und den Religionen früher Hochkulturen ist die Desorientierung, das existentielle Fremd- und Deplaciert­heitsgefühl deutlich spürbar, das die Untiere seit Beginn ihrer Gattungs­geschichte begleitet.

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  Literatur      www.detopia.de      ^^^^