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§ 9

(Hegel, Schopenhauer)

 

 

45-50

Allen geistes- und philosophiegeschichtlichen Elogen zum Trotz — der deutsche Idealismus und sein gespreizter Umgang mit dem Absoluten war ein philosophischer Irrweg sondergleichen, und seine Vertreter, die sich Vollender der abendländischen Geistesgeschichte und Künder letzter Wahrheiten dünkten, haben sich vergangen an ihrem Metier und den eigenen z.T. überragenden intellektuellen Anlagen.

Nur einer ihrer Generation hat sich dem falschen Trost einer Philosophie des dialektischen Glasperlenspiels und der sich in apriorischen Weltsystemen versponnen abspiegelnden Selbsterhöhung entzogen, seine Verweigerung mit dem Ruin einer vielversprechenden akademischen Karriere bezahlt und doch über einen genialen Gegenentwurf zugleich nachhaltig demonstriert, was ein Fichte, ein Schelling, ein Hegel ohne den Star* des Anthropozentrismus hätten leisten können.

Die Rede ist von Arthur Schopenhauer, der in seinem Hauptwerk <Die Welt als Wille und Vorstellung> gleichsam die philosophische Syntax und Grammatik, die Architektur des spekulativen Idealismus benutzt und doch zu ganz unvereinbaren und im d'Holbachschen Sinne aufgeklärten Resultaten gelangt; ja, d'Holbachs Einsicht in die widerspruchsfreie Denkbarkeit einer menschenleeren Welt überholt durch den Nachweis ihrer Wünschbarkeit.

In radikaler Opposition etwa zu Hegels Phänomenologie basiert Schopenhauers Lehre auf unmittelbarer, ungefilterter und nicht schon durch philosophische Sinnansprüche zensierter Wirklichkeitserfahrung, d.h. auf der Wahrnehmung eines sich perpetuierenden, aufschaukelnden, keiner Rechtfertigung zugänglichen und bedürftigen Leidens.

Bei Hegel ist Leiden als »unglückliches Bewußtsein«, als Resultat des »Wahnsinns des Eigendünkels«, als Selbsterfahrung der »schönen Seele« Sanktion falschen Denkens, schmerzliche Erinnerung an den Abstand zum absoluten Wissen, Abfallprodukt historischer Fehlentwicklungen; seine Spekulation kümmert sich im Wortsinn einen Dreck um das wimmernde, das brüllende Fleisch,  

* (d-2012)  Auch hier ist sicher die Augenkrankheit gemeint, und nicht der Stern oder die Berühmtheit.


die Tonnen von Menschenaas, die der Weltgeist bei jedem Schritt vorwärts hinter sich läßt, um die Völker und Nationen, die als »bewußtlose Werkzeuge« (Hegel 1968: 316) nach Gebrauch am Wege zurückbleiben und denen Hegel bescheinigt, sie seien fortan »rechtlos« und »zählen nicht mehr in der Weltgeschichte« (ebd.: 317).

Historie als »Schlachtbank« (Hegel 1970: 35), das ist ihm bloßes Phantom eines »subjektiven Tadelns« (ebd.: 53), Ausgeburt der Krittelsucht derer, die sich in ihrer Statistenrolle nicht bescheiden wollen und denen deshalb die höchste philosophische Einsicht abgeht,

daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll, daß das wahrhafte Gute, die allgemeine göttliche Vernunft auch die Macht ist, sich selbst zu vollbringen. Dieses Gute, diese Vernunft in ihrer konkretesten Vorstellung ist Gott. Gott regiert die Welt, der Inhalt seiner Regierung, die Vollführung seines Plans ist die Weltgeschichte. Diesen will die Philosophie erfassen; denn nur, was aus ihm vollführt wird, hat Wirklichkeit, was ihm nicht gemäß ist, ist nur faule Existenz.

(ebd.: 53).

 

Schopenhauer ist nicht müde geworden, diesen Rückfall in die Leibnizsche Theodizee und das Abtun des Leidens an und in der Geschichte als »unwirklich« und »faul« zu geißeln und den über Leichen gehenden geschichtsphilosophischen Optimismus »nicht bloß als eine absurde, sondern als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart ..., als einen bitteren Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit« (Schopenhauer 1977 II: 408) anzuprangern. Leben, zumal menschliches Leben, ist Qual, und diese seine Grundeigenschaft kann kein philosophisches System hinwegdisputieren:

Dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntnis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, wächst, welche dadurch im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist — dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.

— Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Tälern, Strömen, Pflanzen, Tieren usw. — Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehen sind diese Dinge freilich schön, aber sie zu sein ist etwas ganz anderes.

(Schopenhauer 1966: 159)

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Alles Existierende ist nach Schopenhauer Objektivation eines grundlosen und vorvernünftigen Willens, verdankt sich einem zwanghaften und blindwütigen Lebensdrang, dem wahnwitzigen Gebärenmüssen von Organischem, das, sobald es ins Leben getreten ist, übereinander herzufallen beginnt, um sich eben dieses Leben für Augenblicke zu erhalten. Und das Untier macht keine Ausnahme, steigert sich vielmehr schon gattungsimmanent in die Krämpfe und Konvulsionen, in die delirierende Agonie des sich zerfleischenden Vitalen:

Versucht man, die Gesamtheit der Menschenwelt in einem Blick zusammenzufassen; so erblickt man überall einen rastlosen Kampf, ein gewaltiges Ringen, mit Anstrengung aller Körper- und Geisteskräfte, um Leben und Dasein, drohenden und jeden Augenblick treffenden Gefahren gegenüber. — Und betrachtet man dann den Preis, dem alles dieses gilt, das Dasein und Leben selbst; so findet man einige Zwischenräume schmerzloser Existenz, auf welche sogleich die Langeweile Angriff macht, und welche neue Not schnell beendigt. 

(Schopenhauer 1977 IX: 311)  

 

Ein Sinn oder Ziel der Gattungsgeschichte ist vor diesem Hintergrund ebensowenig auszumachen wie eine Begründung der je individuellen menschlichen Existenz, von der in der großen Mehrzahl der Fälle gilt:

Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken. Sie gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum; und jedes Mal, daß ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs Neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz und Takt vor Takt, mit unbedeutenden Variationen. 

(Schopenhauer 1977 II: 402.)  

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Und doch leiden schon diese Schatten, diese biologischen Multipel mit einer grauenvollen dumpfen Intensität, die kein Tier zu empfinden in der Lage ist, mit einer Heftigkeit, die gleichwohl bei denen, die ihr Erkenntnisvermögen nicht bereitwillig den schalen Tröstungen der Religion oder einer optimistischen Weltanschauung opfern, noch eine nachhaltige Steigerung erfährt. Gerade die philosophische Reflexion ist deshalb bei Schopenhauer immer auch qualvolles Denken, weil sie den »angeborenen Irrtum... daß wir da sind, um glücklich zu sein« (Schopenhauer 1966: 163) aufklärt und die menschliche Existenz als »eine Art Verirrung«, als »Fehltritt« (Schopenhauer 1977 ix: 311), »Mystifikation« und »Prellerei« (ebd.: 32.5) enthüllt.

Mit der bloßen Vorstellbarkeit der Menschheitsdämmerung kann sich Schopenhauer, dem Leiden damit zum zentralen und universalen philosophischen Datum geworden ist, im Gegensatz zu d'Holbach und seinem angesichts des Befundes perennierender Qual noch weitgehend indifferenten Materialismus nicht mehr zufriedengeben. Sein anthropofugaler Standpunkt hat deshalb nicht mehr Hypothesen-, sondern Forderungscharakter:

Demnach ist allerdings das Dasein anzusehen als eine Verirrung, von welcher zurückkommen Erlösung ist... Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären. Dies aber ist die wichtigste aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muß; so sehr sie auch mit der heutigen europäischen Denkweise in Kontrast steht.

(Schopenhauer 1966: 162 f)

 

Man könnte den entscheidenden Satz, »daß wir besser nicht da wären«, ein apodiktisches Postulat nennen, denn Schopenhauer will es ja nicht bei der Gewißheit bewenden lassen, daß Leiden der Preis des Daseins sei und die Nichtexistenz somit insbesondere bei einsichtsfähigen Wesen, die die Insubstantialität und das Blendnerische des Lebensköders Glück zu durchschauen vermögen, in jedem Fall dem schmerzgetönten Dasein vorzuziehen sei, sondern er leitet daraus pragmatische Konsequenzen, Handlungs- und Verhaltens­anweisung ab. Jeweils für sich und in seiner individuellen Existenz soll der den schönen Schein blühenden Lebens durchschauende Weise das rastlose Wollen verneinen und brechen.

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Als Quietive des Willens gelten in diesem Sinne ästhetische Kontemplation, das Mitleiden mit der geschundenen Kreatur, sei es Mensch oder Tier, und schließlich die philosophische Aufhebung des principium individuationis, d.h. die Reduktion der kaleidoskophaften Vielfalt des Seienden auf »das Ding an sich«, den blinden Weltwillen. 

Erfolg solcher Bemühungen ist eine gleichsam indignierte Resignation — »der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihn schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt« (Schopenhauer 1977 II: 470) — eine Willenlosigkeit und freiwillige Entsagung, die ihre Vollendung in der Askese findet:

Sein Wille wendet sich, bejaht nicht mehr sein eigenes, sich in der Erscheinung spiegelndes Wesen, sondern verneint es. Das Phänomen, wodurch dieses sich kundgibt, ist der Übergang von der Tugend zur Askesis. Nämlich es genügt ihm nicht mehr, andere sich selbst gleich zu lieben und für sie soviel zu tun, wie für sich, sondern es entsteht in ihm eine Abscheu vor dem Wesen, dessen Ausdruck seine eigene Erscheinung ist, dem Willen zum Leben, dem Kern und Wesen jener als jammervoll erkannten Welt.

Er verleugnet daher eben dieses in ihm erscheinende und schon durch seinen Leib ausgedrückte Wesen, und sein Tun straft jetzt seine Erscheinung Lügen, tritt in offenen Widerspruch mit derselben. Wesentlich nichts Anderes, als Erscheinung des Willens, hört er auf, irgend etwas zu wollen, hütet sich seinen Willen an irgend etwas zu hängen, sucht die größte Gleichgültigkeit gegen alle Dinge in sich zu befestigen

(ebd.: 470 f.).

 

Schopenhauer lehnt bekanntlich die auf den ersten Blick konsequenteste und radikalste persönliche Umsetzung der Einsicht, daß die Nichtexistenz der leidvollen Existenz überlegen sei, den Selbstmord nämlich, als verdeckte Form der Bejahung des Lebens­willens1) ab.

Zudem negiere der Selbstmörder immer nur das Individuum, nie die Gattung, so daß der Wille zum Leben als »Ding an sich ungestört stehen bleibt, wie der Regenbogen feststeht, so schnell auch die Tropfen, welche im Augenblicke seine Träger sind, wechseln« (ebd.: 493).

Eben dieser Hinweis auf die Irrelevanz personaler Entscheidungen, den er an anderer Stelle einmal in einer erinnerungswürdigen kosmischen Metapher wiederholt:

Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß (ebd.: 354),

aber muß auch dem als Alternative zur Selbsttötung propagierten Ideal der Askese — das schließlich nicht minder individuell gelebt wird — alle Überzeugungs­kraft nehmen — wie denn überhaupt Schopenhauers Anleihen an indische und insbesondere brahmanische Vorstellungen, an Seelenwanderung, Karma und das als Existenzziel genannte Verlöschen im Nirwana, eher aufgesetzt und als Ausdruck uneingestandener philosophischer Ratlosigkeit denn als folgerichtiger und organischer Bestandteil seines Systems erscheinen.

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1)  Schopenhauer argumentiert dabei in Die Welt als Wille und Vorstellung so:  (Schopenhauer 1977 II: 492)

»Weit entfernt Verneinung des Willens zu sein, ist dieser [der Selbstmord] ein Phänomen starker Bejahung des Willens. Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheuet. 

Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. Daher gibt er keineswegs den Willen zum Leben auf, sondern bloß das Leben, indem er die einzelne Erscheinung zerstört.« 

 

 

 

 

 www.detopia.de    Literatur     ^^^^ 

Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)