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2. Das Menschenbild

der Kognitiven Verhaltenstherapie  

 

Von Eva Jaeggi 

 

 

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Verhaltenstherapie assoziiert man mit Rollenspielen, Verhaltensübungen, Systematischer Desensibilisierung (Technik zum Abbau von Ängsten) und Belohnungs-Chips für weniger Zigaretten oder Kalorien. Daß ein Verhaltenstherapeut mit seinem Klienten über Gefühle und Wertsetzungen spricht, daß er mit ihm über Probleme der Selbstachtung philosophiert, darüber hätten sich noch vor kurzem viele gewundert. 

Deshalb haben viele Verhaltenstherapeuten erleichtert aufgeatmet, als unter der Bezeichnung "Kognitive Therapie" nun auch "offiziell" erlaubt wurde, was sie immer schon (oft schlechten Gewissens mangels wissen­schaftlicher Legitimation) praktiziert haben. Diese Art der Therapie war den meisten Therapeuten natürlicher und den Bedürfnissen der Klienten angemessener erschienen.

Handelt es sich also nur um eine Neu-Etikettierung, wenn wir dieses altbekannte Vorgehen nun immer häufiger als "Kognitive Therapie" bezeichnen? Mancher mag sich an das Andersen-Märchen "Des Kaisers neue Kleider" erinnern. Ist es denn etwas Besonderes, mit Klienten über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen?

Es handelt sich bei den "Kognitiven" nicht um eine in sich geschlossene Therapieschule (12), sondern eher um neue Aspekte, unter denen der therapeutische Prozeß gesehen wird; um einige neue Methoden und um die Betonung einer für alle kognitiven Richtungen gleichen Grundannahme. Die wichtigste Grundannahme besteht in einer gegenüber dem alten Behaviorismus neuen Akzentuierung des Verhältnisses von Außenreiz und Reaktion (1, 3, 4, 10, 12).

Wesentlich ist nicht mehr allein die Steuerung durch die Umwelt, sondern auch die Bestimmung mensch­lichen Empfindens und Handelns durch die eigene kognitive Einschätzung dessen, was in der Umwelt geschieht. Nach Aaron T. Beck (1) "interessiert sich der kognitive Ansatz sowohl für die bewußten Bedeutungen als auch für die äußeren Ereignisse. Die Berichte des Klienten über seine Ideen, Gefühle und Wünsche liefern das Rohmaterial für das kognitive Modell. Außerdem werden seine verschiedenen Interpretationen von Ereignissen als grundlegende, höchst wichtige Daten akzeptiert..."

Daraus läßt sich leicht ableiten, daß bei jeder Art von psychischer Störung nach denjenigen Bedeutungen zu suchen ist, die gestörte Gefühle und Verhaltensweisen hervorbringen. Bei jedem Autor gibt es zahlreiche Beispiele dafür, in welch falscher, irrationaler, realitätsferner Weise Patienten über sich, ihre Sozialpartner oder die dingliche Umwelt denken und damit als pathologisch zu bezeichnende Gefühle und Handlungen produzieren. 

Psychisches Leiden erscheint so als das Resultat gestörten Denkens.

Daraus ergibt sich wiederum, daß es in der Therapie vor allem darauf ankommt, mit dem Klienten über seine Bewertungen und Einschätzungen zu sprechen und ihn mittels logischer Argumentation, Provokation und dergleichen zu Korrekturen seiner krankmachenden Ideen zu bringen. Die dabei verwendeten Gesprächsstile werden oft unter der Sammelbezeichnung "sokratischer Dialog" zusammengefaßt. Die verschiedenen Arten der Gesprächsführung sind sehr stark von logischen Beweisführungen geprägt, da — wie vor allem der "Kognitive" Beck betont (1) — nur bewußtes Material Gegenstand der Erörterung ist.

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Bei Albert Ellis und Arnold A. Lazarus, zwei weiteren Hauptvertretern der Kognitiven Therapie, steht im Mittelpunkt des therapeutischen Vorgehens ein ganz spezifischer "Denkfehler", der für sehr viele Störungen entscheidend ist. Es ist die verfehlte Auffassung vom "Ich" und der "Selbstachtung". Viele Menschen neigen dazu, ihr gesamtes Ich mit einzelnen Rollen und Verhaltensweisen zu identifizieren und ihre Selbstachtung darauf aufzubauen. Das aber führt zu permanenten Schwankungen und Verzerrungen des Selbstbildes und damit zu psychischen Störungen.

Die Kognitive Therapie hat viele "althergebrachte" therapeutische Vorgehensweisen neu benannt und manche davon mit den Ergebnissen der Allgemeinen Psychologie verknüpft; so zum Beispiel das Problemlösen, das Attribuieren (Zuschreibung von Ursachen zu Ereignissen), das Neustrukturieren.

 

  Im folgenden möchte ich vier Fragen untersuchen:  

  1. In welcher philosophischen Tradition stehen die Grundannahmen der Kognitiven Therapie, und welches Menschenbild steht dahinter?

  2. Kann die Kognitive Therapie mit ihren Grundannahmen eine Theorie über die Ursachen psychischer Störungen hervorbringen?

  3. Ist die Methode des "somatischen Dialogs" brauchbar, und welches Menschenbild liegt ihr zugrunde?

  4. Welche Funktion haben die Überlegungen von Ellis und Lazarus zur "Selbstachtung" für ein mögliches Therapieziel?

 

Die Grundannahme der Kognitiven Therapie, nämlich die Hypothese, daß erst die persönliche Interpretation eines Reizes seine Qualität bestimmt, basiert auf den Emotionstheorien von Schachter und Singer (24) und R.S. Lazarus (9).

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Danach entsteht ein Gefühl, indem einem zuerst unspezifischen Erregungszustand des Organismus kognitiv eine Bedeutung verliehen wird.

Die Schlußfolgerungen für Psychopathologie und Therapie: Rationale Gedanken lösen richtiges (gesundes, konstruktives) Empfinden und Handeln aus, irrationale Gedanken bewirken Kummer und psychische Störungen. Heilung bedeutet Aufklärung: Aufklärung über eben die Irrationalität (Unvernunft, falsche Logik) des Denkens, wodurch der Mensch — als hätte man ihn eines falschen Lösungswegs beim Lösen einer Mathematikaufgabe überführt — seinen logischen Fehler einsieht und von nun an richtig (gesund) handelt.

Hier befinden wir uns offensichtlich, was das Konzept vom Menschen angeht, in einer langen Tradition: Der Mensch als Kampfplatz zwischen Vernunft und Unvernunft. Zu fragen ist, dieser Tradition gemäß: Wie kommt dieser Kampf zustande? Wer wird siegen? Welche Mittel verhelfen der einen oder der anderen Seite zum Sieg? Ich möchte zeigen, daß von den Kognitiven Theoretikern alle drei Fragen nicht wirklich aufgegriffen wurden, so daß sie auch nicht exakt beantwortet werden konnten.

Seit Beginn der abendländischen Philosophie wurde die von jedem Menschen immer wieder neu zu erlebende Tatsache bedacht, daß der Mensch "trotz" gewisser "vernünftiger" Einsichten "unvernünftig" handelt (15). Er wird von Affekten und Leidenschaften überschwemmt, er wird von körperlichen Bedürfnissen getrieben — das Resultat ist nur allzuoft ein Desaster, obwohl der Mensch vernunftbegabt ist. So ist es ein Anliegen der Philosophie seit Plato, das Verhältnis von Geist und Seele, Vernunft und Trieb und so weiter zu erfassen. Immer wieder wird die Tatsache hervorgehoben, wie stark der Mensch eingespannt sei in den Konflikt zwischen "oben" und "unten". 

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Bis in die Philosophie Hegels hinein besteht die Forderung an den Menschen, sich trotz dieses Konfliktes vernünftig zu verhalten, das heißt, sich der vernünftigen Einsichten zu bedienen, die ihm (von Gott, vom Sittengesetz) in die Brust gelegt sind.

Bei Spinoza und Descartes etwa ist eine "metaphysische Brücke" (bei Descartes noch als direkte "Hilfe" Gottes gedacht) nötig, damit das Vernunftprinzip herrschen kann. Auch Kant gibt zwar der Vernunft den unbedingten Vorrang, sie läßt sich für ihn aber nicht mehr metaphysisch begründen, sondern nur durch ein allgemein-praktisches Moralgesetz.

In der Kognitiven Therapietheorie finden wir offensichtlich einen — wenngleich recht blassen und schmächtigen — Ur-urenkel jener Philosophien des Rationalismus. Die Ähnlichkeit beruht vor allem auf dem Glauben an den Vorrang der Vernunft als Lebensprinzip des Menschen. Im Gegensatz zur nachhegelianischen Philosophie des Irrationalismus, wo etwa der "Wille zur Macht" oder die "Angst" als Lebensprinzip fungieren (15), findet sich bei den Kognitiven Theoretikern ein recht ungebrochener Glaube daran, daß das "Vernünftige" siegen wird, wenn wir es dem Patienten nur genügend klarmachen. Das Vernünftige siegt, gemäß diesem Konzept, weil es vernünftig ist, weshalb auch das Problem der Methoden, wie man den Patienten zur Einsicht des Vernünftigen bringt, gar nicht im Vordergrund steht.

Hier aber stellen wir eine wesentliche Abweichung von den großen rationalistischen Ahnen fest. Jene nämlich haben den Konflikt zwischen Vernunft und Unvernunft als so schwerwiegend empfunden, daß sie metaphysische Ursachen suchten für jene "Engel und Teufel", die uns Menschen bewohnen. Nur Gott — als Ursprung der Vernunft — ist bis zu Kant der letzte Grund für die Möglichkeit des Menschen, vernunftgemäß zu handeln. 

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Für Kant ist die praktische Vernunft ebenfalls in gewissem Sinne "übernatürlich"; sie ist ein Gebot, dem ich mich frei und autonom unterstelle, wobei auch er die Mühsal der Unterwerfung betont. Der Sieg der Vernunft über das Irrationale gibt sich für die großen rationalistischen Denker also nicht einfach vernunftgemäß. Es ist vielmehr eine moralische Forderung, die der Mensch mehr oder weniger frei ist zu bejahen oder zu verneinen.

Auch in der Psychoanalyse, wo das vernünftig realitätsangepaßte Ich das unvernünftig fordernde Es verdrängen muß, wird die ungeheure Mühe sichtbar, die es kostet, dieses Es im Zaum zu halten. Weit entfernt davon, daß logisches Argumentieren hier der Vernunft Hilfe bringen kann! Es ist der leidvolle Prozeß einer Wiederholung der individuellen Geschichte, die es mit Müh und Not schafft, dem Ich Raum zu geben. Der Pessimist Freud hat allerdings auch diesem mühsam errungenen Sieg keine Dauer versprochen.

Die Forderung nach Dominanz der Vernunft ist nur mit vielen Mühen und Schmerzen zu verwirklichen und in jedem Augenblick wieder von neuem bedroht. Demgegenüber haben wir es in der Kognitiven Therapie zwar mit einem rein phänomenologischen Aufzeigen von Diskrepanzen zu tun; sie werden aber nie zu einem möglichen Ursprung hin zurückverfolgt; deshalb sieht es auch so aus, als ob ein wenig Logik sie "zurechtrücken" könne.

Wenn wir Aaron T. Beck, Albert Ellis, Donald Meichenbaum oder Arnold A. Lazarus, den Erzvätern der Kognitiven Therapie, folgen, dann finden sie zur "Erklärung" pathologischer Verhaltensweisen immer wieder unlogische, irrationale und unrealistische Gedankengänge, die zu schweren emotionalen Verstimmungen führen: zu Angst, Depression, paranoidem Mißtrauen und so weiter.

Die Kognitiven Therapeuten benutzen ein einfaches "Anstoßmoden": Der Gedanke löst das Gefühl aus, worauf entsprechendes Verhalten sich einstellt. Der Gedanke ist also die "Ursache" der Störung.

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 Daß dies nicht im Sinne einer "letzten Ursache" gemeint sein kann, sondern der Gedanke nur ein möglicherweise existentes Zwischenglied darstellt, leuchtet unmittelbar ein. Denn, so fragt sich natürlich jeder sofort: Woher kommen eigentlich diese Verwirrung erzeugenden Gedanken? Was löst sie aus? Warum sind sie (wie etwa in der Depression) einmal da, später wieder verschwunden? Es zeigt sich, daß diese Gedanken, sofern sie wirklich existieren, eher die Beschreibung einer Symptomatik vervollständigen könnten, als daß man ihnen Ursachen-Charakter zubilligen kann.

Daß es erst gar nicht zur Frage nach der "Ursache" psychischer Störungen kommt, liegt allerdings im System der Kognitiven Theorie selbst begründet. Wenn man keine Vorstellung davon hat, wie der Kampf zwischen rationalen und irrationalen Kräften im Menschen denn eigentlich zustande kommt, dann hat die Frage nach der Ursache des Irrationalen kaum einen Sinn mehr. Sie wird, wenn überhaupt gestellt, mit dem formalen Argument abgetan, daß Irrationales eben "gelernt" sei.

Eine differentielle Psychopathologie, also eine Vorstellung davon, wie es zu jeweils ganz bestimmten Störungen kommt, wird dadurch unmöglich. Die "Erklärung" einer Platzangst zum Beispiel — der Patient sage sich eben "irrtümlicherweise" immer wieder vor, er würde im Kaufhaus ohnmächtig, werde sterben und dergleichen — ist natürlich keine Erklärung, sondern nur eine genaue Beschreibung des Zustandes. Solche Gedanken als "Erzeuger" eines bestimmten gestörten Verhaltens hinzustellen, ist nicht mehr als eine sprachliche Methapher.

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Da es sich bei dem verwendeten Denkmodell ganz offensichtlich um ein recht grobes — einer einfachen physikalischen Ursache-Wirkungsvorstellung entsprechendes — handelt, können Ursache und Wirkung auch umgedreht werden. Dies wird von einigen Theoretikern zuweilen getan; vor allem Meichenbaum weist immer wieder auf die "Wechselwirkung" von Denken und Verhalten hin. Das aber besagt nun einfach nichts anderes, als daß beides miteinander "etwas zu tun hat" — eine recht banale Aussage.

Die interessanten Fragen, die sich daran knüpfen, nämlich: welche Art von Gedanken (Verhalten) unter welchen Bedingungen welche Wirkungen erzeugen, bleiben dabei unbeantwortet. Die sozialpsychologische Einstellungsforschung hat sich mit dem Problem der Beziehung zwischen ideellen Einstellungen einerseits und Handeln andererseits ausführlich beschäftigt (5). Dabei zeigt sich aber: Wir wissen außerordentlich wenig zur Beantwortung der oben gestellten Fragen. Als wichtigstes Ergebnis bleibt festzuhalten, daß ganz offensichtlich die sprachlich faßbare globale Einstellung nur in einem recht lockeren Bezug zu feststellbaren Verhaltensweisen steht.

Wenn wir also immer wieder hören, daß es nicht die "Dinge an sich" sind, die die Menschen bewegen, sondern die "Ansichten, die sie von ihnen haben" (Epiktet, zitiert in Beck und Meichenbaum), dann besticht dieser Satz natürlich durch seine allgemeine Richtigkeit. Wie man diese "Ansichten" aber im einzelnen feststellt und welches Verhalten sie jeweils produzieren, ist damit noch nicht gesagt; gerade dies aber wäre für eine Therapietheorie wichtig.

Die gesamte Literatur über Kognitive Therapie durchzieht ein etwas naiv anmutender Optimismus bezüglich der Methoden, wie man an solche "Einstellungen" und "Gedanken" herankommen könnte und wie man sie ändern kann: durch Befragung und Argumentation. Die oft unter dem Stichwort "sokratischer Dialog" abgehandelte Methode besteht einfach darin, den Patienten möglichst genau über seine inneren Gedanken und Selbstgespräche auszufragen. Er wird dann durch logische Argumente und Vermutungen so weit gebracht, daß er womöglich selbst die Irrationalität oder Unlogik dieser Gedanken einsieht.

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Nun muß man nicht gerade das Mißtrauen eines Phychoanalytikers haben, sondern nur ein wenig Menschen­kenntnis, um zu wissen, daß je nach Thema und Fragestellung die meisten Menschen sehr viele Antworten über ihre inneren Gedanken und Einstellungen bereit haben. Nicht ohne Grund hat Freud freie Assoziation und Traumdeutung als Methoden zur Umgebung der vielen Hemmungen benutzt, die sich der Beantwortung von Fragen über Einstellungen entgegenstellen. 

Auch ohne die voll bewußte Tendenz zur Lüge (die wir möglicherweise im therapeutischen Gespräch ausschließen können) ist es ja geradezu ein Bestandteil vieler psychischer Störungen, daß der Mensch sich im Unklaren ist über seine Gedanken und im Falle von Zwiespältigkeiten sich vorschnell zugunsten sozial angepaßter Antworten entscheidet. Jeder Therapeut weiß, daß es eine Kunst für sich ist, die (angeblich) verhaltenssteuernden Gedanken ausfindig zu machen. So interessant es sein mag, etwa gerade bei psychoanalytisch versierten Klienten, bestimmte Klischees, die sie über ihr inneres Leben haben, in Frage zu stellen, so bleibt doch immer die Frage offen, welche Realitätsebene der die Handlung begleitenden Selbstverbalisationen denn nun eigentlich "wichtig" ist.

Patienten sind oft ganz froh, wenn sie sich ihre irrationalen Gefühle durch vorhergehende "Gedanken" erklären können. Schon die Frage danach erzeugt möglicherweise das Bewußtsein davon, es müßte da "so ein Gedanke" gewesen sein. Denkbar wäre auch, daß bestimmte Störungsformen geradezu ausgezeichnet sind durch einen Mangel oder einen Überfluß an Selbstverbalisationen (so wäre es denkbar, daß Zwangsneurotiker sehr viel exaktere Gedankengänge formulieren beziehungsweise erinnern als etwa Angstneurotiker).

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Die klare Abfolge Gedanke-Gefühl-Verhalten scheint also keineswegs eindimensional und widerspruchsfrei. Schon die von vielen Klinischen Psychologen registrierte "doppelte Buchführung" der Gedanken zeigt ja, daß Gedanken eben nicht automatisch zu bestimmten Gefühlen und Verhaltensweisen führen. Der Phobiker zeichnet sich geradezu dadurch aus, daß er selbstverständlich weiß, daß ein Kaufhaus ein ungefährlicher Ort ist. Er kann sich das auch sagen und erzählt uns häufig auch unaufgefordert davon, daß er sich dies "schon hundertmal gesagt" habe. Trotzdem denkt er beim Betreten des Kaufhauses: "Ich werde ohnmächtig, man wird einen Krankenwagen holen müssen." Allenfalls kann man also davon ausgehen, daß manche Gedanken schneller und unmittelbarer auftauchen, daß sie heftigere Wirkungen erzeugen als andere. 

Warum beim Neurotiker die unlogischen und irrationalen Gedanken aber die wirksameren sind und warum gerade die "richtigen" Gedanken so wenig auf Gefühle und Verhaltensweisen einzuwirken vermögen: das gerade rührt doch an das Geheimnis der Psychopathologie; Menschen fühlen sich oft gegen ihren Willen und ihre ratio "gezwungen", absurd zu handeln.

Was — wie im echten sokratischen Dialog — legitimes Mittel im philosophischen Diskurs ist, wo die Vorrangigkeit der logischen Vernunft Voraussetzung des Diskutierens ist, kann als therapeutisches Mittel nur allzu leicht zum "Überreden" werden.

Die meisten Menschen der westlichen Welt identifizieren sich mit dem, was sie tun. Sie empfinden sich als das "Zentrum" ihres Handelns, das ihre Identität bestimmt. Dieses "Sich-identisch-Fühlen" in verschiedenen Situationen bewirkt vermutlich auch, daß Menschen die Neigung haben, sich allgemeine Attribute zuzuschreiben, mit denen sie ihre Handlungen erklären (2,6, 7).

Diese Attribute betrachten sie häufig als etwas mit ihrer Person "Identisches"; auch wenn es spezifische Situationen sein mögen, die zu bestimmten "Attribuierungen" führen, werden diese sehr leicht zu einem situationsunabhängigen "Ich-Spezifikum" verdichtet. Neben den eigenen Handlungen sind es selbstverständlich auch noch die Aussagen anderer, die diesen Attribuierungsprozeß festigen. Das "Ich" ("Selbst") wird zu einem Träger bestimmter Eigenschaften, die meist negativ oder positiv bewertet werden. Im Zentrum dieser Attribuierungs- und Bewertungsvorgänge steht immer das gleiche Ich, das mit jedem dieser Vorgänge betroffen ist.

Für Ellis und Lazarus ist klar, daß diese Art der Selbstbewertung das zentrale Moment fast aller Konflikte ist. "Sowohl die positive als auch die negative Selbstbewertung sind ineffektiv und stehen der Lösung von Problemen oft ernstlich im Wege ..." (3). "Mit Hilfe einer erfolgreichen Therapie gelingt es, den Klienten zu zeigen, wie sie ein einheitliches "Ich" von den zahlreichen Situationen ihres Lebens dissoziieren können ..." (8).

Diese Zitate, die beliebig ergänzt werden können, zeigen, daß hier gegen eine Tradition von "Identitäts"- und "Ich"-Auffassung vorgegangen wird, die im Laufe der letzten 500 Jahre oft als ein hohes Kulturgut gepriesen worden ist. Wie Horst-Eberhard Richter in seinem Buch "Der Gotteskomplex" (13) behauptet, ist dieses Ich, durch Gleichsetzung mit dem durch die Philosophie und Wissenschaft entthronten Gottvater, als ein allmächtiges, in sich geschlossenes Universum entstanden, das sich erst in jüngster Zeit ernstlich bedroht fühlt in seinem Allmachts- und Allwissenheitsgefühl.

Die "grandiose narzißtische Überschätzung" ist — den psychoanalytischen Annahmen Richters zufolge — immer wieder depressiven Zusammenbrüchen und damit der Ver-

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