Millay Hyatt

 
 

Über das produktive Scheitern von Utopien

Feature 2011

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DNB.Autorin  *1973 in Dallas (ab 1977 in Freiburg)

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Ungestillte Sehnsucht 
Wenn der Kinderwunsch 
uns umtreibt 
 
Links Verlag 2012 224 Seiten 

Leseprobe  bis Seite 31  

 

2012 bei Links

2016 aktualisiert

 

Millay Hyatt, Übersetzerin und Autorin in Berlin, Dr. phil., studierte Philosophie, Politikwiss. und Literaturwiss. in USA, Paris, Berlin. 

2006 Dissertation über das 'Utopische und Utopiekritische' bei Hegel und Deleuze an der 'University of Southern California' (L.A.)

 

Inhalt 2012

 

Wir sind viele - Vorwort  (9)

Die natürlichste Sache der Welt (14)

Wie ein Kinderwunsch entsteht (17)

Jemand ist gestorben (22)

Warum wollen wir überhaupt Kinder?  (26)

 

Meine Wut und meine Trauer (32)

Zwischen Wahn und Euphorie 35  

Macht ein unerfüllter Kinderwunsch hysterisch? 41 
Kinder. Wunsch. Behandlung. 49 

Das Gesetz im Widerstreit mit den technischen Möglichkeiten 56  

In der Maschinerie der Reproduktionsmedizin 59  

Mehr Beratung, mehr Sensibilität in den Kinderwunschkliniken 65 

Letzte Station Eizellspende 69 

Zwischen Kinderwunsch und Kindeswohl 82 

Vom Umgang mit Enttäuschungen (89)

Allein geht es nicht 98 

Kinderwunsch ohne Partner 98  

Partner ohne Kinderwunsch 105 

Wie gemeinsam ist der gemeinsame Wunsch nach einem Kind? 109 

Wenn die Lust abhanden kommt 124 

Homosexuelle mit Kinderwunsch 127  

Mit dünner Haut auf Mitgefühl hoffen 133  

Alles andere als eine Privatsache (145) # 
Warum adoptiert ihr nicht einfach? 152  

Vom Kinderwunsch zum Adoptivkinderwunsch 157  

Abenteuer Auslandsadoption 171  

Weil wir uns einen Menschen wünschen (194)

 

Anhang:  Literaturverzeichnis (214)  

Hilfreiche Internetseiten (219)  Zur Autorin (221) 

 

 

Lesebericht DLF 2012

 

 von Kim Kindermann 09.11.2012

dradio.de kritik/1917670 

Wie weit gehe ich für ein Kind? 

 

Was, wenn das Wunschkind nicht kommt? Obwohl man alles versucht? Keine Chance ungenutzt lässt? Dann bricht ein wildes, hungriges Tier in dir aus, schreibt Millay Hyatt. Es fühlt sich an, als würdest Du unter einer unheilbaren Krankheit leiden, wie eine Krebspatientin, die austherapiert ist. 

Und irgendwann, musst Du dieses Kind beerdigen. Ein Grab schaufeln, für jemanden, den es nie wirklich gab, der nur in deiner Sehnsucht gelebt hat. 

Millay Hyatt hat all das erlebt. Mit 32 Jahren erfährt Millay Hyatt, dass sie schon in den Wechseljahren ist. Ihr Körper produziert keine Eizellen mehr. Von einem Moment auf den anderen gehören sie und ihr Mann mit dieser Diagnose zu den zwei Millionen heterosexuellen Paaren in Deutschland, die kein Kind bekommen können - Homosexuelle nicht mitgezählt. Und all diesen Menschen verleiht sie nun eine Stimme. Sie erzählt - exemplarisch am eigenen und an anderen Beispielen - vom Ringen mit dem wilden, hungrigen Tier, sprich: den Nöten, Frustrationen und Ängsten, aber auch von den Erfolgen der Menschen mit Kinderwunsch. Herausgekommen ist ein kluges Buch über Reproduktionsmedizin, das aber auch von Hoffnung und Trauer, von Abschied und Neuanfang erzählt.

Da sind etwa Andrea und Thomas.
Beide wollen ein Kind. Als Andrea auch nach längerer Zeit nicht schwanger wird, unterzieht sie sich sechs Mal den Prozeduren einer künstlichen Befruchtung. Die damals 29-Jährige muss Hormone nehmen, damit gleich mehrere Eizellen heranreifen. Das bedeutet tägliches Spritzensetzen. Naht der Zeitpunkt des Eisprungs, muss Andrea jeden Tag in die Klinik fahren, zur Blutabnahme und Ultraschall­untersuchung. So soll der günstigste Zeitpunkt zur Eizell-Entnahme festgelegt werden kann. "Es war schrecklich", erzählt Andrea. Sie leidet unter heftigen Depressionen, ihr Körper tut weh, vor allem die Eierstöcke schmerzen. An einem Punkt in dieser Prozedur steht sie auf einer Brücke und überlegt runterzuspringen. Danach bricht das Paar alle Versuche ab und akzeptiert seine Kinderlosigkeit.

Anders Frieda und Tom. 
Sie haben bereits einen Sohn, als Frieda zum zweiten Mal schwanger wird. Tom will das Kind nicht. Frieda treibt ab und wird kurz darauf depressiv. Nur ein Kind kann Frieda helfen, meint sie selbst; das Paar versucht fortan durch künstliche Befruchtung ein neues Kind zu zeugen. Drei Mal scheitert der Versuch. Sie entscheiden sich für eine Adoption, haben auch hier kein Glück und bekommen schließlich doch ein Kind, Max, dank einer Leihmutter aus Spanien. Frieda ist zu diesem Zeitpunkt fast Ende 40, Tom ist 60 Jahre alt.

Nicht jede der im Buch gesammelten Geschichten liest sich leicht. 
Oft regt sich Widerspruch, manchmal auch Empörung, dann wieder Bewunderung. Kein Wunder, wird hier doch die hochemotionale Frage verhandelt: Wie weit gehe ich für ein Kind? Wie weit darf ich gehen? Riskiere ich meine Gesundheit? Was bedeutet diese nagende Sehnsucht für das künftige Kind? Bin ich hysterisch, wenn ich an nichts anderes mehr denken kann? 

All das verhandelt Millay Hyatt kunstvoll. Die Frau, die selbst seit nunmehr neun Jahren auf ein Kind hofft, mittlerweile mit Hilfe einer Adoption, macht deutlich: Es gibt da kein richtig oder falsch. Jede Frau, jeder Mann muss ihre bzw. seine eigene Grenze ziehen. Und dazu gehört mitunter viel Mut.  #

 

 

 

  

 

 

FAZ  faz Gespräch über Kinderlosigkeit   21.07.2012  Fragen: Julia Schaaf

 

 

1) Frau Hyatt, Sie wünschen sich seit neun Jahren ein Kind und haben keins. Wie fühlt sich das an? #  Als ich erfahren habe, dass ich keine leiblichen Kinder bekommen kann, war das ein Schock. Ich bin verfrüht in die Wechseljahre gekommen und wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt. Damit ist vieles zusammengebrochen. Eine ungewollte Kinderlosigkeit ist wie der Verlust eines geliebten Menschen.

2) Sie sprechen von Tod, dabei hat überhaupt niemand gelebt. Ist das nicht übertrieben? # Nein, es ist nur schwierig zu vermitteln. Menschen, die ohne Hindernisse zu ihren Kindern gekommen sind, sind oft perplex über die Vehemenz dieser Trauer. Aber jedes Lebewesen kann sich fortpflanzen. Es gehört zu unserem Menschenbild, dass wir Kinder bekommen können. Insofern geht es um den Verlust einer Selbstverständlichkeit.

3) Das hat etwas mit dem Selbstbild als Frau zu tun? #  Oder als Mann. Kinderwünsche sind nicht nur ein Frauenthema, die Männer verzweifeln auch. Ein Freund von mir hat es als Amputation beschrieben: Auf einmal fehlt etwas, von dem man dachte, es gehöre dazu. Zum anderen macht die Erfahrung, dass es nicht möglich ist, ein Kind zu bekommen, dieses Kind rückwirkend sehr konkret und lebendig.

4) In Ihrem Buch nennen Sie den Kinderwunsch ein "wildes, hungriges Tier"? # Der Kinderwunsch ist nicht wie andere Wünsche. Er entsteht unter der Oberfläche, bevor man darüber nachdenkt. Ich war mir lange Zeit sicher, dass ich keine Kinder will, auch weil ich gesehen habe, wie meine Mutter sich für uns aufgeopfert hat. Ich wollte meine Freiheit und ein Leben für mich. Um meinen 30. Geburtstag herum habe ich dann angefangen zu träumen, dass ich Mutter werde - und das waren sehr schöne Träume, die sich allmählich ins wache Leben schlichen. Ich war erschrocken und habe das verdrängt. Ich dachte, meine Hormone spielen verrückt, das geht wieder weg. Aber es ist nicht weggegangen.

5) Was also ist der Kinderwunsch: Urtrieb oder Kopfgeburt? #  Da kommen verschiedene Einflüsse zusammen, aber ich denke, dass es viel mit einem Trieb zu tun hat. Ich kann mir diese Vehemenz nur so erklären, dass es etwas ist, das tief in Psyche oder Körper angelegt ist und das wir nicht beherrschen. 

 

6) "Andere Menschen haben Sex, um ein Kind zu bekommen. Ich sitze vor dem Computer", schreiben Sie. Was meinen Sie damit? # Sobald man nicht mit dem Partner im Bett ein Kind zeugen kann, wird es kompliziert. Man muss sich überlegen, was es für Strategien gibt. Und ganz gleich ob Reproduktionsmedizin oder Adoption: Da verschiebt sich etwas, das sonst mit Lust und Körper zu tun hat, auf die Ebene des Kalküls. Man muss einen Plan machen und bestimmte Schritte gehen. Ein Adoptionsverfahren zum Beispiel bedeutet wahnsinnigen bürokratischen Aufwand.

 

7) Dabei scheint Kinderkriegen die natürlichste Sache der Welt. Macht das die Scham so groß? # Viele Paare, die Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen, reden nicht darüber, weil sie sich für ihr Unvermögen schämen. Und man hat das Gefühl, man sollte das wegstecken können. Es ist einem peinlich, dass dieser Wunsch in der eigenen Vorstellung zu so etwas Großem heranwächst.

 

8) Studien zufolge gibt es zwei Millionen Paare in Deutschland, die auf natürlichem Weg keine Kinder kriegen können. # Und das sind nur die heterosexuellen Paare. Mir ist dieser Blick auf ungewollte Kinderlosigkeit zu eng. Einer Umfrage von 2007 zufolge haben 12,8 Millionen Menschen zwischen 25 und 59 Jahren einen unerfüllten Kinderwunsch. Homosexuelle Paare und Alleinstehende sind in der öffentlichen Diskussion unsichtbar. Dabei ist es genauso schmerzhaft, wenn man sich ein Kind wünscht und keinen Partner hat.

 

9) Wie weit gehen Menschen, um ihre Sehnsucht zu erfüllen? # Ich habe im deutschen Register für In-vitro-Fertilisationen eine Frau entdeckt, die 22 IVF-Zyklen hinter sich hatte. Wenn man weiß, was das mit einem Frauenkörper macht...

 

10) Nämlich? # Das bedeutet jedes Mal zwischen vier und sechs Wochen Hormonspritzen, die körperlich und emotional für die meisten sehr belastend sind. Diese Hormone bringen einen unglaublich durcheinander; eine Frau beschreibt in meinem Buch ihre Selbstmordgedanken während der Behandlung. Und dann gibt es die Punktion, wo die Eizellen entnommen werden, auch das ist mit Schmerzen verbunden. Der Schnitt liegt bei 3,1 Versuchen pro Frau.

 

11)  Können Sie verstehen, dass jemand 22 Zyklen macht? # Ich kann verstehen, wie man da hinkommt. Es ist ja immer nur dieses eine Mal, das man noch probieren will. Man sagt ja nicht zu Anfang: Ich mache jetzt zehnmal.

 

12)  Wo ist der Punkt auszusteigen? # Wenn es von außen immer weniger Grenzen gibt, muss man diesen Punkt selbst finden.

 

13) Und warum ist das so schwer? # Sobald man in so einem Prozess drinsteckt, ob Reproduktionsmedizin, Adoption oder was auch immer, entwickelt der eine Eigendynamik. Wenn die Ärzte sagen, nur so geht’s, sitzt man plötzlich im Flugzeug, um sich im Ausland fremde Eizellen einpflanzen zu lassen. Das hätte man vorher nie gedacht. Aber man hat schon x Versuche mit den eigenen hinter sich, alle gescheitert, und steht vor der Wahl: Machen oder aufhören? Und wenn ich aufhöre, weiß ich, es hat sich alles nicht gelohnt. Das wird unerträglicher, je mehr man investiert hat.

 

14) Ist die moderne Reproduktionsmedizin also Fluch oder Segen? # Für viele ist es ein Segen, aber für mehr ist es ein Fluch. Die Versuche scheitern, und die Menschen lassen sich darauf ein und haben danach trotzdem kein Kind.

 

15) Wäre es besser, es gäbe diese ganzen Möglichkeiten nicht? # Eine Psychologin, die ich interviewt habe, sagte: Weniger Möglichkeiten machen das Leben einfacher, nicht besser. Und das stimmt natürlich. Es geht nicht darum, uns wieder der Natur auszuliefern, sondern darum, mit den Möglichkeiten umzugehen.

 

16)  Finden Sie die Gesetze in Deutschland zu streng? # Auch wenn ich mich damit sehr unbeliebt mache: nein.

 

17)  Viele Paare fahren ins Ausland, weil Eizellspende oder Leihmutterschaft dort legal sind. # Ich finde die deutschen Gesetze insofern falsch, dass homosexuelle Paare nicht adoptieren dürfen und Lesben keinen Zugang zu Reproduktionsmedizin haben. Auch unverheiratete Paare sind schlechter gestellt. Aber das Embryonenschutzgesetz finde ich im Großen und Ganzen sinnvoll. Höchstens die nichtanonyme Eizellspende würde ich befürworten, so wie sie etwa in England geregelt ist.

 

18) Sie selbst hatten das Angebot einer amerikanischen Freundin, für Sie ein Kind auszutragen. Warum haben Sie am Ende abgelehnt? # Ich wollte unbedingt vorher wissen, wie Leihmutterkinder das sehen, und habe in Blogs Aussagen gefunden wie: „Ich bin ein Mensch und kein Geschenk.“ Oder „Das verstößt gegen meine Würde.“ Die Kinder verspürten einen Verlust, obwohl sie von Anfang an bei der sozialen Mutter waren. Und sie hatten das Gefühl, dass ihre sozialen Eltern nur ihren Wunsch gesehen haben und nicht, was es für das Kind bedeutet. Das hat uns überzeugt. Es wird ja paradox, wenn man etwas tut, das dem Kind, das man sich so wünscht, schaden könnte.

 

19) Was haben Sie selbst versucht? # Nachdem mir die Reproduktionsmedizin nichts bieten konnte, habe ich es mit chinesischer Medizin und Homöopathie probiert. Dann haben wir uns mit dem Thema Adoption beschäftigt, aber da war mein Mann für ein Verfahren in Deutschland schon zu alt. Wir haben einen Antrag für Ungarn gestellt und wieder zurückgezogen. Unser Versuch, aus Amerika zu adoptieren, ist aus juristischen Gründen gescheitert. Danach sind wir auf Mali umgestiegen.

20) Was macht den Adoptionsprozess so quälend? # Man ist ausgeliefert, man ist der Bittsteller, und man ist ständig dabei, sich zu hinterfragen: Wie erscheinen wir im besten Licht?

21) Ihre Wohnung war nie wieder so sauber wie zu dem Zeitpunkt, als Sie für den Sozialbericht geprüft wurden, schreiben Sie. # Man versucht Normvorstellungen zu entsprechen, und man weiß nicht, welchen. Das ist belastend. Außerdem dauert das Verfahren immer länger, als man will. Bis man sich beim Jugendamt meldet, hat man ja schon eine Auseinandersetzung hinter sich. Und dann sieht man Jahren entgegen, in denen man überprüft wird, wartet und nicht weiß, wie es ausgeht. Und dabei wird man immer älter.

22) Wie fühlen Sie sich, wenn dieses Land über Kitas und Geburtenrate diskutiert? # Ich komme darin nicht vor, und das ist eine Schieflage. Weil es wirklich viele Menschen in diesem Land gibt, die sehr gerne heute ein Kind bekommen würden, wenn sie denn könnten. Aber die Diskussion wird so geführt, als fehle es nur an Anreizen. Dazu kommt der unterschwellige Vorwurf, kinderlose Frauen seien karrieregeil. Das tut sehr vielen unrecht.

23) Könnte, sollte der Staat helfen? # Viele Betroffene kämpfen für mehr bezahlte IVF-Versuche, ich bin da skeptisch, weil ich die Kehrseite dieser Behandlungen sehe. Es geht eher darum, Frauen in jüngeren Jahren die Entscheidung für Kinder leichter zu machen. Denn das größte Fruchtbarkeitsrisiko ist die verspätete Entscheidung; die Fruchtbarkeit bei Frauen fängt ab 25 an abzunehmen. Das ist so. Aber das passt nicht zu der Gesellschaft, in der wir leben.

24) Die Kinderlosigkeit hat auch eine gesellschaftliche Dimension? # Es wäre verkürzt zu sagen, Frauen sollen sich früher für ein Kind entscheiden. So, wie wir jetzt leben, wo Lebensläufe immer länger brauchen, um sich zu festigen, ist das einfach nicht möglich. Oder Frauen werden gezwungen, sich zwischen Beruf und Familie zu entscheiden. Das ist keine Lösung. Als Gesellschaft sollten wir mehr tun, um beides miteinander vereinbar zu machen. Aber es geht auch um Bewusstsein. Wir wissen alle, dass eine ungewollte Schwangerschaft eine Katastrophe ist, und verhüten deshalb. Aber dass eine ausbleibende Schwangerschaft genauso eine Katastrophe sein kann, müsste mit zur Aufklärung gehören.

25) Wie hat Ihr Kinderwunsch Sie verändert? # Ich habe in diesen neun Jahren eine Doktorarbeit geschrieben, ich habe mich beruflich weiterentwickelt und etabliert. Aber das Kinderthema war über Jahre hinweg meine wichtigste Baustelle. Es ist das größte Projekt, das ich in meinem Leben bisher angegangen bin. Ich habe viel gelitten. Aber ich habe auch gemerkt, wie viel ich aushalten kann. Ich habe viel über mich gelernt. Auch, dass ich glücklich sein kann ohne Kinder.

26) Sie sind jetzt 39, Ihr Mann 46. Glauben Sie, Sie werden eines Tages ein Kind haben? # Wir stehen aktuell wieder vor einer Enttäuschung: Es gab einen Militärputsch in Mali, Adoptionen sind nicht mehr möglich. Das ist sehr bitter. Auch, weil es wahrscheinlich bedeutet, dass wir es nicht noch einmal probieren. Irgendwann muss man den Schlussstrich ziehen. Wobei ich mit einem Rückschlag jetzt besser umgehen kann als vor drei Jahren, als der Versuch mit Amerika gescheitert ist. Meine Botschaft ist: Ein Stück weit ist jeder Kinderwunsch erfüllbar, nämlich der Teil des Wunsches, bei dem es darum geht, mit einem Kind eine tiefe Beziehung einzugehen. Ob das mit einem Pflegekind ist oder mit einem Kind aus dem Umfeld, das vielleicht zu kurz kommt. Ich glaube, dass es genug Möglichkeiten gibt, für ein Kind da zu sein, auch wenn es nicht das eigene ist.  #

 

 

Wir sind viele - Vorwort

 

9-13

Andrea und Thomas sind ein Paar, seitdem sie 19 ist und er 23. Sie kommt aus einer großen Familie und hat schon immer gewusst, dass sie einmal Kinder haben möchte. Thomas entdeckte seinen Kinderwunsch, als er sich in seine Frau verliebt hat. Nach nur zwei Jahren nimmt das Paar es mit der Verhütung nicht mehr so genau, fünf Jahre später, nach der Hochzeit, wird sie ganz weg gelassen. Langsam rückt das Thema aus den Hinterköpfen in den Vordergrund, dann geht es gezielt darum, schwanger zu werden. Und irgendwann überwiegt die Sorge, dass noch immer nichts geschehen ist. 

Anja ging lange mit aller Selbstverständlichkeit davon aus, dass sie spätestens mit Anfang 30 Mutter sein würde. In ihren Zwanzigern mit Ausbildung, Reisen und Kunst beschäftigt, erhält der Wunsch tatsächlich mit ihrem 30. Geburtstag eine akute Bedeutung. Doch bisher hat sich in ihrem Leben keine Beziehung ergeben, die Kinder tragen könnte. Mit den verstreichenden Jahren wächst die Dringlichkeit. 

Frieda, Mitte 40, und Tom, Mitte 50, sind glücklich mit ihrem Sohn. Aber die Familie ist noch nicht komplett. Das zweite Kind lässt auf sich warten, und es ist klar, dass es ohne Nachhilfe nicht kommen wird. Das Paar nimmt die vorhandenen Angebote an und begibt sich damit auf einen verschlungenen Weg, der sie vor Heraus­forder­ungen stellt, auf die sie kaum vorbereitet sind. 

Ich bin jetzt 39 Jahre alt. Seit fast einem Jahrzehnt weiß ich, dass ich ein Kind haben will. Mein Mann ist 45 und trägt diesen Wunsch schon in sich, seitdem er ein kleiner Junge ist. Wie Andrea, Thomas, Anja, Frieda und Tom können auch wir unsere Kinderlosigkeit nicht einfach hinnehmen. 

Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren haben wir alles Erdenkliche unternommen, um ein Kind in unser Leben zu bringen. Bis heute ist das nicht geschehen. Dass die Umsetzung unseres Kinderwunsches inzwischen zu einer Lebensaufgabe geworden ist, erstaunt uns immer wieder. Dieser unerfüllte Wunsch hat uns auseinander genommen, uns mit uns selbst konfrontiert wie sonst nichts

Wir unfreiwillig Kinderlosen haben keine Plattform, um über unseren Wunsch zu sprechen und unseren Verlust zu betrauern. Auch privat treffen wir oft auf Unverständnis. Viele unserer Freundinnen – die, die Kinder haben, und die, die keine wollen – halten uns für übergeschnappt, wenn sie sehen, wie sehr uns unser Wunsch beschäftigt und wie weit wir gehen, um ihn zu erfüllen: Wie wir uns Kinderwunschbehandlung nach Kinderwunschbehandlung antun, uns für eine Auslandsadoption verschulden, uns den nächstbesten, zeugungs­fähigen Partner vorknöpfen… 

Wenn diese Freundinnen es überhaupt mitbekommen. Denn viele von uns reden nur in einem sehr kleinen Kreis über unsere Sehnsucht und unsere Strategien, und manches verheimlichen wir vor allen: die psychischen Krisen, die gepfuschten Papiere beim Leihmuttergeschäft im Ausland, das Loch im Kondom. Auch wenn es die meisten nicht bis zur Leihmutter oder zum vorsätzlich geschädigten Präservativ bringen – mit solchen oder ähnlichen Gedanken haben viele von uns schon gespielt. 

Aber es braucht nicht einmal eine tatsächliche Überschreitung des Gesetzes oder der eigenen moralischen Vorstellungen, damit wir die Vehemenz unseres eigenen Wunsches für uns behalten. Vielen erscheint schon eine über Jahre anhaltende Sehnsucht unvereinbar mit gängigen Vorstellungen darüber, was wichtig sein sollte, und damit Grund genug, nicht darüber zu sprechen. Denn die Debatte über den Geburtenrückgang, die seit Jahren in vielen Industrieländern entbrannt ist, konzentriert sich auf dessen gesellschaftliche Auswirkungen, vor allem für Länder mit einer vergleichsweise niedrigen Einwanderungsrate wie Deutschland. Die Problemlage ist wohlbekannt: Weniger Kinder bedeuten eine schwere Belastung für die Rentenkassen und für nachkommende Generationen, die immer mehr Alte finanzieren müssen.

In dieser Diskussion wird die Kinderlosigkeit vor allem als eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung behandelt und auf die Verfügbarkeit von Verhütungs­mitteln, die Emanzipation der Frauen, den steigenden Druck auf private Haushalte und Ähnliches zurückgeführt. Die Politik versucht der Situation beizukommen, indem sie Familien mit Kindern steuerlich entlastet, das Elterngeld einführt, Ganztagsschulen fördert, neue Kitaplätze schafft. Diese Maßnahmen folgen der Annahme, dass sich die meisten Kinderlosen mit Absicht gegen eine Familiengründung (oder weitere Kinder) entscheiden. Oft müssen sie, vor allem Frauen in festen Partnerschaften, ihre Entscheidung gegen Kinder sogar rechtfertigen. 

Diese Annahme entspricht jedoch nicht der Realität. Eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2007 zeigte, dass in Deutschland 12,8 Millionen Menschen zwischen 25 und 59 Jahren einen offenen Kinderwunsch haben oder gern (mehr) Kinder bekommen hätten. Das stellt mehr als ein Drittel dieser Altersgruppe dar. Trotzdem spielen diese Menschen so gut wie keine Rolle in der Diskussion, wie sie derzeit geführt wird. Es gibt eine beträchtliche Zahl Menschen, die morgen ein Kind zeugen oder zu sich nehmen würden, wenn sie den richtigen Partner hätten, nicht unfruchtbar (oder noch fruchtbar) wären, wenn sie ein Adoptivkind vermittelt bekämen. 

Was das für jeden Einzelnen bedeutet, ist in der Öffentlichkeit bisher weitgehend unsichtbar. Ich gehöre zu der Gruppe der noch aktiv Wünschenden und Hoffenden. Immer wieder habe ich mich über die Jahre nicht wahrgenommen und missverstanden gefühlt, sowohl innerhalb der öffentlichen Diskussion als auch im Privaten. Gleichzeitig bin ich, sobald ich von meiner Situation erzählt habe, aus allen Richtungen angesprochen worden von Menschen, die gesagt haben: Ich auch. Oder: Ich habe eine Freundin, die hat auch so eine Geschichte. Kratzt man einmal ein bisschen an der Oberfläche, quellen sie nur so hervor, die unerfüllten Kinderwünsche. 

Zahlreiche Menschen tragen traurige, komplizierte und hanebüchene Geschichten mit sich herum, in dem irrsinnigen Glauben, sie seien die Einzigen, denen es so geht. Oder sie betrachten ihre Situation als ausschließlich private Angelegenheit und ärgern sich höchstens darüber, dass sie für die niedrige Geburtenrate mitverant­wortlich gemacht werden – aber sehen keine weitere gesellschaftliche Relevanz ihrer ungewollten Kinderlosigkeit. Dabei ist das, was uns widerfährt und was wir erleben, durchsetzt von kulturellen und gesellschaftlichen Codes. Spätestens wenn wir versuchen, einen nicht ohne Weiteres erfüllbaren Kinderwunsch umzusetzen, begeben wir uns in ein wirres Dickicht aus moralischen, politischen und rechtlichen Vorgaben und Vorstellungen und verheddern uns dort oft heillos.

Aber auch das streng genommen Private daran findet in einem gesellschaftlichen Kontext statt und spiegelt sich in den vielfältigen Erfahrungen anderer wieder und widerlegt somit das oft empfundene Gefühl des Alleinseins. So tief der Abgrund eines unerfüllten Kinderwunsches auch sein mag: Unzählige andere Betroffene halten sich auch dort auf. Aus diesen Beobachtungen und meinen persönlichen Erfahrungen heraus entstand die Idee, einige dieser Schicksale in einem Buch festzuhalten und anhand dieser Erzählungen das Phänomen des unerfüllten Kinderwunschs näher zu betrachten. Ist der Kinderwunsch ein Wunsch wie jeder andere? Ist er »natürlich«? Warum treibt der Versuch, ihn über Umwege zu erfüllen, manche Betroffene weit über die eigenen Grenzen hinaus? Warum ist es vielen peinlich, darüber zu sprechen? 

Anhand dieser Fragen begebe ich mich in die Tiefen und Weiten meiner eigenen Geschichte und die meiner Interviewpartnerinnen. Insgesamt habe ich dreizehn ausführliche Interviews mit Betroffenen (neun Frauen und vier Männer) geführt, hinzu kommen noch einige Protagonistinnen, mit denen kürzere Gespräche stattfanden. Sie alle stammen aus meinem Bekanntenkreis, aus einschlägigen Internetforen oder sind mir empfohlen worden. Mehr Frauen als Männer antworteten positiv auf meine Anfrage und erzählten in der Regel auch ausführlicher. Das bedeutet keinesfalls, dass der unerfüllte Kinderwunsch in erster Linie ein Frauenthema ist. Aber Frauen erleben ungewollte Kinderlosigkeit oft anders als Männer. Das hat kulturelle Gründe, aber auch biologische: Ein unerfüllter Kinderwunsch ist für viele Frauen eng verknüpft mit dem Wunsch, schwanger zu sein. (12/13)  Trotzdem wird ungewollte Kinderlosigkeit von Männern oft genauso als Lebenskrise erlebt wie von Frauen. 

Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass in unserer Gesellschaft unter Frauen eine andere Kultur des Sprechens über »intime« Dinge wie den Kinderwunsch herrscht als unter Männern. Ich habe mehrere Männer angefragt, von denen ich aus privaten Gesprächen weiß, dass ihre Kinderlosigkeit sie bis zur Verzweiflung treibt, die ihre Geschichte aber, auch anonymisiert, lieber nicht in einem Buch stehen haben wollten (Frauen, die aus dem gleichen Grund ablehnten, gab es übrigens auch). Alle Geschichten, bis auf meine eigene und die meines Mannes (den ich auch interviewt habe), sind anonymisiert, das heißt, Namen und einzelne Details wurden geändert. 

Die Gespräche waren gekennzeichnet von großer Offenheit und Ehrlichkeit. Teilweise wurden mir Dinge erzählt, die bisher noch niemandem anvertraut wurden. Ich bin all meinen Gesprächspartnerinnen zutiefst dankbar für ihr Vertrauen. Was diese unterschiedlichen Menschen miteinander teilen, ist die Tatsache, dass sie alle eine schwierige, bisweilen leidvolle Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Kinderwunsch haben oder hatten. Obwohl viele von ihnen ihren Wunsch letztlich erfüllen konnten, es noch tun werden oder mittlerweile mit Freude kinderlos leben, konzentriert sich dieses Buch nicht auf solche Happy Ends. Es geht mir viel eher um einen teilnehmenden Blick auf die Erfahrungen von ungewollt kinderlosen Menschen. 

Und die Frage, was macht man und wie fühlt man, wenn man in dieser Lage ist, wenn man noch nicht weiß, wie die Geschichte ausgehen wird. Ich möchte diese Erfahrungen aus der Unsichtbarkeit und Sprachlosigkeit herausholen und zugleich einen kritischen Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit und ungewollt Kinderlosen werfen. Damit die Betroffenen ermutigt werden, sich ihrem Wunsch und all dem, was er mit sich bringt, zu stellen.

13

 Ende Vorwort

 

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