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Teil 3   Das Urerlebnis der Geburt 

 

 

1. Einleitung 

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Nirgends wird das Vorhandensein von Rückkoppelungsschleifen in der Erinnerung dramatischer illustriert als im Urerlebnis der Geburt, dem Geburtsprimal — im Wiedererleben von Traumen, die sich vor unserem Eintritt in die Welt ereigneten. Diese Traumen wurden vom Organismus aufgenommen, bevor sich ein Bewußtsein ausbilden konnte, um sie zu interpretieren und zu analysieren. 

Bislang hatten sie sich unserem Verständnis in der Psychotherapie entzogen, weil Psychotherapie meist eine analytische Form hatte. Geburtsprimals sind mit Videorecordern aufgezeichnet worden. Hunderte von ihnen wurden beobachtet und ihr Verlauf und ihre Intensität lassen keinen Zweifel daran, daß es sie gibt.

Das Gehirn wird nicht nur durch erschreckende äußere Realitäten überlastet — psychologische Ereignisse wie der Tod eines Elternteils —, sondern auch durch ein katastrophenähnliches physisches Trauma wie die Geburt. Das ungelöste Ereignis hinterläßt ein großes Maß an belastender Spannung. Es lenkt das Verhalten, hilft künftige Vorstellungen formen und spielt eine bedeutende Rolle bei der späteren Symptombildung. Die Schwere eines Symptoms oder die Irrationalität einer Idee, die später entsteht, wird proportional zur Stärke der Spannung im organischen Körpergeschehen ansteigen. Eine sehr traumatische Geburt könnte späterhin zu einem sehr schweren physischen Symptom beitragen oder es gar entstehen lassen. Das Übermäßige am Primal verursacht später exzessives Verhalten oder exzessive Antriebe — wie ungewöhnlich lautes Sprechen, übermäßiges Essen, permanenten Redezwang, Kaufzwang etc.

Die Bedeutung katastrophenähnlicher früher Traumen liegt darin, daß sie Bezugspunkt oder Grundmuster für späteres Verhalten werden. Dies ist nicht auf das Geburtstrauma beschränkt; eine Beschneidung kann ebenso traumatisch wirken. Später im Leben, unter allgemeiner Bedrohung, kann der Betroffene mit einem Schmerz oder einem schneidenden Gefühl im Penis reagieren.

Sogar eine harmlose Situation im späteren Leben kann das frühe »prototypische« Trauma wiederbeleben und eine unangemessene Reaktion produzieren. Ein physisches Trauma kann das Kind festlegen und bestimmen helfen, wie es auf späteren Streß reagieren wird.

Nicht alle Geburten verlaufen traumatisch, aber in der vorhandenen neurotischen Welt mit neurotischen Müttern ist es sehr schwierig, Schmerzen beim Geburtsvorgang zu vermeiden. Das kann durch übermäßig lange Wehen verursacht sein, bedingt durch das rigide Abschirmen der Mutter gegen Schmerzen, oder durch zufällige Faktoren wie eine Geburt in Steißlage, Nabelschnurumschlingung, Nabelschnurvorfall, Schmerzen, die durch groben Gebrauch der Geburtszangen verursacht werden und so weiter.

Die psychologische Literatur übersieht die Tatsache, daß der Geburtsvorgang eine Beziehung zwischen Mutter und Kind darstellt, eine Beziehung, in der das Kind etwas »lernt«. Eine schwierige Geburt »lehrt« das Kind, daß es hilflos ist gegen übermächtige Dinge, daß es machtlos ist, Dinge zu ändern, daß das Leben gefährlich und ein Kampf ist. 

Das sind emotionale Lernprozesse, aber sie werden zur Matrix für künftiges Lernen; so kann ein Mensch zur Überzeugung kommen, daß der Kampf eine Notwendigkeit und eine unerläßliche Bedingung des Lebens ist. Derjenige rationalisiert unbewußt sein Bedürfnis nach Kampf, um leben zu können, da dies seine Geburtserfahrung war. Die Tatsache, daß dies unbewußt geschieht, ändert nichts daran, daß es eine persönliche Erfahrung war, die die Vorstellungen und Einstellungen formte. Der Versuch, die Lebensphilosophie eines solchen Menschen zu ändern, würde dem Versuch gleichkommen, ihm seine Lebensgeschichte ausreden zu wollen.

Eine Bestätigung für die Art, wie Geburtstraumen späteres Verhalten formen, wurde eindrücklich durch das Geburtsprimal eines Patienten gegeben, dessen Kopf bei der Geburt steckenblieb und der unter der bei der Geburt erzwungenen Rotationsbewegung innerhalb des Geburtskanals litt. Nachdem er dieses Trauma noch einmal durchlebt hatte, hörte sein leichter Tick, den Kopf beim Sprechen hin und her zu bewegen, auf.

Die Neurose kann im Mutterleib und insbesondere während des Geburtsvorgangs beginnen. Der Charakterzug, den Wünschen anderer ständig nachzugeben, könnte dem Anschein nach zum Beispiel verursacht sein durch folgenden ständigen Refrain der Mutter: »Sei still! Was werden die Nachbarn denken?«, oder durch ständige erzwungene Rücksichtnahme auf die Stimmungen des Vaters.

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Wir können für gewöhnlich in der Interaktion der Familie ausreichende Erklärungen dafür finden, daß sich ein Kind stillschweigend anderen unterordnet oder seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt. Aber das Grundmuster eines solchen Verhaltens kann schon während der Geburt gegeben werden, wenn zum Beispiel die Mutter keinen Schmerz aushalten kann und daher zögert, das Kind auf die Welt kommen zu lassen. Der natürliche rhythmische Prozeß der Geburt ist unterbrochen; das Neugeborene »spürt« keinen natürlichen Rhythmus mehr, bei dem es von der Mutter unterstützt wird stattdessen muß es seinen eigenen natürlichen Rhythmus (sein eigenes Selbst) ihrer Neurose unterwerfen.

Es ist schon mit sich selbst aus dem Rhythmus, noch bevor es geboren ist. Der Umstand, daß es das Leben mit einer alles akzeptierenden Haltung beginnen muß, trägt zur Feststellung bei, wie es später auf Mutters Sorge, was die Nachbarn wohl denken werden, reagieren wird. Wenn es sich aggressiv hätte abmühen müssen um herauszukommen, könnte es auf Mutters Besorgnis auch aggressiv und ungehorsam reagieren anstatt sich ihr unterzuordnen.

Gehen wir nun von einem Kind aus, dessen Rhythmus des Geburtsvorganges unterbrochen wurde, und sehen, welche krankhaften Veränderungen das zur Folge haben kann. Wenn eine große Bedeutung aufs Sprechen gelegt und das Kind früh zum Sprechen gebracht wird, dann kann der Kern von Disharmonie, der bei der Geburt gelegt worden ist, sporadisches arhythmisches Stammeln oder eine gehemmte Aussprache zeitigen — eine stockende Redeweise, deren Prädisposition mit einem »nicht fließenden« Geburtsvorgang begonnen hatte. Der traumatische Vorgang wird »eingefroren«, im Organismus eingeschlossen und als Ganzes bewahrt, weil es ein ungelöstes Ereignis ist. 

Aspekte des Traumas, wie Disharmonie, werden auf verletzbare Bereiche gerichtet (auf organisch schwache Stellen, von denen dann unregelmäßige Menstruationsblutungen oder unregelmäßige Darm­funktionen und Verstopfung ausgehen) oder aber auf Bereiche besonderer psychischer Belastung wie das Sprechen. Eine solche Disharmonie könnte ebenso zu einer holprigen Gehweise führen, wenn das Gehen überbetont wird, bevor das Kind dazu bereit ist. Mit anderen Worten verursacht die Unfähigkeit, die betreffende Erfahrung zu verarbeiten, einen Mangel an Integration oder Koordination zwischen Denken und Sprechen oder zwischen Denken und physischer Fähigkeit.

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Wir wissen aus der umfangreichen Literatur über zirkadiane Rhythmen*, daß fast jeder Lebensprozeß einem natürlichen Rhythmus folgt — Temperatur, Menstruation, Träume, etc. Das Bedürfnis, nach seinem eigenen Rhythmus zu leben, ist elementar, vielleicht ist es ebenso wichtig wie jedes andere Grundbedürfnis.

Einem Kind das Gehen oder Sprechen vorzeitig beizubringen, ist ein Eingriff in den natürlichen Rhythmus. Denn die Evolution ist ein Rhythmus — wie Ebbe und Flut gibt es eine Zeit, in der man zu funktionieren bereit ist und eine Zeit, in der die Funktion erlischt (wie bei der Menstruation). Ich glaube, es würde nicht zu Sprachstörungen kommen, wenn es nicht eine Anzahl übermäßiger Belastungen im Bereich der Sprache gäbe; das heißt, Disharmonie bei der Geburt braucht nicht zu Stottern zu führen, wenn zu diesem Geburtstrauma nicht noch zusätzliche Disharmonie oder eine Unterbrechung des natürlichen Rhythmus hinzugefügt würde, indem man das Kind zum Sprechen zwingt, bevor es dazu fähig ist. Erst die Kombination der Traumen führt zum Symptom. Umgekehrt sind Symptome ein Zeichen dafür, daß der Körper überlastet ist und seine Erfahrungen nicht voll verarbeiten kann.

Arhythmik wird in der Beziehung zwischen dem Neugeborenen und seiner Mutter gelernt, genauso wie viele andere Dinge auf nicht begriffliche Art sehr früh im Leben, oder mit Beginn des Lebens »gelernt« werden.

Ich nenne das anfängliche katastrophale Ereignis, ob nun Geburtstrauma, Beschneidung oder anderes, das prototypische Urtrauma. Die frühe überlastete Situation legt ein Kind derart fest, so daß seine Antwort auf dieses Trauma fixiert und starr wird, und eine ähnliche Reaktion bei späteren Traumen hervorruft. Es ist, als würde dieses überlastende Ereignis zum zentralen Speicher für alle ähnlichen Traumen werden, die neurologisch miteinander verbunden sind und zusammen gespeichert werden. Das Warten, um aus dem Mutterleib herauszukommen, ist dafür ein Beispiel. Jede Situation, in der das Kind später gezwungen wird zu warten, etwa wenn es ihm nicht erlaubt wird, auf die Toilette zu gehen, sobald es das Bedürfnis dazu hat, wird sich mit dem ursprünglichen Geburtstrauma verbinden und kann dann den gesamten Komplex der früher gemachten Erfahrung wiederbeleben.

*  Tagesrhythmen, zum Beispiel Wachen und Schlafen.

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Das erklärt, warum ein Patient nach der Erfahrung eines Geburtsprimals in der Therapie von Einsichten und Erinnerungen überflutet wird; die ganze Ablage von Schmerzen kommt hoch, um in Beziehung gesetzt und verarbeitet zu werden. Es kommt so viel hoch, daß es nicht völlig integriert werden kann, deswegen auch die Primal-Epoche — ein bis drei Wochen ständiger Primals nach dem ersten Geburtsprimal mit all den verschiedenen Verknüpfungen und Einsichten.

Natürlich gibt es verschiedene Arten früher Traumen. Einem Geburtstrauma kann zum Beispiel eine unzureichende Brustfütterung folgen; das Kind wird zunächst durch die Geburt traumatisiert und anschließend durch Störungen beim Saugen. Jedes Trauma formt die Persönlichkeit. Das Bedürfnis zu saugen; verbunden mit einem späteren Verlust der väterlichen Liebe, kann allmählich umschlagen in Homosexualität und in das Bedürfnis, an Penissen zu saugen. Die Homosexualität wird nur dann rückgängig gemacht werden können, wenn jedes damit verbundene Trauma — das Verlangen nach dem Vater, das Bedürfnis zu saugen, etc. — wiedererlebt und in der Primärtherapie aufgelöst wird. Die Homosexualität (oder homosexuelle Tendenz) wird verbleiben, bis die Mehrzahl der Zusammenhänge hergestellt, bis das Umdenken von vorwiegend irreal zu vorwiegend real vollzogen worden ist. Die Ansicht, wir könnten einen Homosexuellen zwingen (oder gar bestrafen), »normal zu werden« und mit dem »anderen« Geschlecht zu verkehren, läßt seine Lebensgeschichte außer acht.

Die Vorstellung vom prototypischen Urtrauma und seiner Entsprechung — der prototypischen Abwehr — ist für das Verständnis späterer neurotischer Reaktionen auf Streß bedeutsam. Nehmen wir einmal an, ein Neugeborenes wurde infolge einer Flüssigkeitsansammlung im Geburtskanal (oder unmittelbar nach der Geburt) so traumatisiert, daß seine einzige Möglichkeit, sein Leben zu retten, ein reflexartiges Zusammenziehen seiner Bronchiolen war. Die Angst und die Abwehrreaktion werden dann frühzeitig »eingefroren«, so daß jede spätere Streßsituation, die als lebensbedrohlich interpretiert werden kann — etwa ein heftiger Streit zwischen den Eltern des Kindes, drohende Scheidung und Auflösung des Zuhause — automatisch die ursprünglich lebensrettende Reaktion der bronchialen Konstriktion auslösen wird. Das Ergebnis kann ein Asthmaanfall sein (unter der Voraussetzung bestimmter vererbter Prädispositionen, die niemals außer acht gelassen werden sollten, wenn es um Symptome geht), nur wird der Organismus nicht gerettet, sondern jetzt befindet er sich in Lebensgefahr.

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Die Abwehr mittels der Bronchien tritt ein, weil der gegenwärtige lebensbedrohende Streit die ursprüngliche Todesdrohung beim Verlassen des Geburtskanals und die ursprüngliche körperliche Reaktion wieder aufleben läßt. Beim Asthma dieser Art können wir sagen, daß eine Heilung nur möglich ist, wenn der Patient jene ursprüngliche prototypische Angstsituation (die große Primärszene) wiedererlebt und gelöst hat, die diese besondere Reaktion in Gang brachte.

Das prototypische Trauma legt die charakteristische Art der Abwehr fest. War das ursprüngliche Trauma die Beschneidung, dann können spätere Bedrohungen Impotenz hervorrufen oder dazu führen, daß der Gebrauch des Penis generell vermieden wird. Es bedarf viel mehr als nur der Beschneidung, um die Impotenz hervorzurufen, aber dieses Trauma kann einen richtungsweisenden Effekt für die folgenden Angstsituationen haben. Beschneidung und die Angst vor der Mutter können Impotenz hervorrufen, wenn sich der Betroffene in einer sexuellen Situation mit einer aggressiven, dominierenden Frau befindet.

Der Ausdruck »richtungsweisend« ist wichtig, weil ein schwerwiegendes frühes Trauma den Verlauf eines ganzen Lebens festlegen kann. Neulich kam eine Frau in die Therapie, die das Gefühl hatte, sich umbringen zu müssen. Sie sagte ständig: »Ich will nicht leben. Ich will nicht leben!« Nachdem sie alle ihre jetzigen Probleme herausgeschrien hatte, verfiel sie in ein Geburtsprimal, krümmte sich und schlug eine halbe Stunde lang um sich. Sie beendete dieses Erlebnis mit der Einsicht, daß sie vom Moment der Geburt an das Gefühl hatte, sie sei unerwünscht. Das Geburtstrauma rief anfänglich — nachdem sie geboren wurde, kämpfen und durch die Geburt leiden mußte ein vages Gefühl, nicht leben zu wollen, hervor. Die dem Geburtsprimal folgende Einsicht ließ erkennen, daß sie es in ihrem Leben meistens mit Menschen zu tun hatte, bei denen sie nicht erwünscht war. Sie war immer der »Angreifer« in ihren Beziehungen zu Männern; immer rief sie an, um zu fragen, ob sie vorbeikommen könne. Sie arrangierte ihr Leben in der Weise, daß sie niemandem Zeit ließ, sie erwünscht sein zu lassen. Sie ließ keine Möglichkeit aus, sich unerwünscht zu fühlen im Sinne des frühen Unerwünschtseins.

Das prototypische Trauma in Verbindung mit einer Mutter, die ihr Kind nicht haben wollte, bestimmte das Verhalten der Patientin. Ihr Leben verging damit, daß sie auf Menschen stieß, von denen sie abgewiesen wurde und mit denen sie sich auseinandersetzte, um sie dahin zu bringen, sie gern zu haben.

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Ob ein Mensch später in gefühlserregenden Situationen automatisch einen Asthmaanfall bekommt, oder ob er sich gezwungen fühlt, nach homosexuellen Kontakten zu suchen, jedesmal bedeutet es, daß er in der neurotisch-symbolischen Phase feststeckt. Anstatt zu fühlen: »Ich ertrinke im Fruchtwasser« oder »ich habe keinen richtigen Vater«, blockiert er die schmerzvollen Gefühle und verdingt sich automatischem, symbolischem Verhalten.

Es gibt zwei Möglichkeiten, in der Primartherapie an die prototvpischen Gefühle heranzukommen. Wir können die Erinnerung verbal wieder wachrufen, indem wir den Patienten frühe Szenen beschreiben lassen; oder wir können die Erinnerung präverbal und physisch wachrufen, indem wir die frühen Szenen simulieren. Zu einem angemessenen Zeitpunkt der Therapie können wir nasse Handtücher über Mund und Nase des Patienten legen, um ein Ersticken zu simulieren, oder den Kopf des Patienten gegen ein Kissen oder gegen die Wand stoßen. Unser Ziel, ob verbal oder nicht verbal, besteht darin, frühe Erinnerungskreise hervorzulocken. In schlechten Träumen oder Alpträumen besteht für uns die Möglichkeit, fixierte Abwehrvorgänge zu beobachten. Das frühe Trauma wird in seiner ursprünglichen Form bewahrt und taucht in Träumen nur leicht verschlüsselt wieder auf. Wenn man zum Beispiel bei der Geburt zu ersticken drohte, kann man später Alpträume haben, in denen man ertrinkt oder in einem Zimmer ohne Luft eingeschlossen ist. Wenn man während der Geburt eingeklemmt wurde, kann das zu Träumen führen, in denen man in einem Tunnel oder einem Schacht eingeschlossen wird. Mit anderen Worten: der gleiche Schmerz, wie er bei der Geburt gefühlt wurde, taucht als symbolischer Vorstellungsinhalt im Traum wieder auf. Wenn ein Mensch wüßte, daß diese Gefühle genau den Gefühlen während der Geburt entsprachen, so könnte er (angenommen, er wäre offen genug) diesen Traum in einen tatsächlichen Ablauf der Geburt umformen.

Die fortschreitenden, subtilen Traumen, bezüglich der täglichen zwischenmenschlichen Beziehung von Eltern und Kind tragen dazu bei, daß der eigentliche Geburtstraum komplizierter wird; sie fügen ihm weitere Symbolik hinzu. Der immer wiederkehrende schlechte Traum ist instruktiv, weil ein Mensch Jahr für Jahr davon träumen kann, wie er in einem unterirdischen Tunnel festsitzt, oder wie er ertrinkt, ohne ein »gutes« Ende für diesen Traum finden zu können. Warum?

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Weil Gefühl und sinnliche Erregung miteinander in Beziehung gebracht werden müssen; und es muß genau geklärt werden, wie und wann sie auftraten. Es kann kein gutes Ende nehmen, solange das Trauma als Erinnerungsschleife im Gehirn haften bleibt, den ganzen Organismus mit nervaler Energie versorgt und wiederkehrende Träume verursacht.

Sich wiederholende Träume können als Antwort auf jede Bedrohung eintreten, die als lebensbedrohlich empfunden wird. Es muß nicht gerade ein schlecht gelüftetes, muffiges Schlafzimmer sein, welches das ursprüngliche Erstickungsgefühl in Form eines Traumes wiederkehren läßt; das gleiche kann auch durch ein symbolisches Ersticken ausgelöst werden, zum Beispiel durch die überragende und dominierende Gegenwart eines anderen.

Wie ich schon erwähnte, deuten Träume oft die heraufkommenden Gefühle an. Während ein Patient im Verlauf der Primärtherapie Fortschritte macht, können wir manchmal eine Vorstellung über das zu erwartende Geschehen gewinnen, indem wir sein Traumleben beobachten. Ein Patient kam eines Samstags herein und erzählte von einem Traum, in dem er einen immer schmaler werdenden Korridor entlang ging, bis er steckenblieb und sich nicht mehr bewegen konnte. Er hatte diesen Traum niemals vorher gehabt. Am folgenden Montag beklagte er sich darüber, in der Therapie festzustecken und nicht vom Fleck zu kommen. Er brachte die Beschwerde nicht in einen Zusammenhang mit dem Traum. Wir simulierten einen Geburtskanal und steckten seinen Kopf so hinein, daß er damit an das Ende des Kanals stoßen konnte. Innerhalb weniger Minuten war er in einem Geburtsprimal. Als alles vorüber war, sagte er: »Ich habe so oft in meinem Leben das Gefühl gehabt, nicht weiterzukommen, es einfach nicht zu schaffen. Ich übertrug dieses Gefühl auch auf alle möglichen Dinge — Schule, Heirat, Therapie, usw. Ich sehe jetzt, daß alles damit anfing, als mein Leben begann, und ich diesen Anfang fast nicht geschafft hätte.«

Hätten wir den Kopf dieses Mannes während der ersten Wochen der Therapie in einen simulierten Geburtskanal gesteckt, wäre gar nichts passiert. Er wäre für derart katastrophale Gefühle noch nicht bereit gewesen. Je bereiter er dafür wurde, um so häufiger tauchten entscheidende Hinweise auf, besonders in seinen Träumen. Der Traum wurde nicht analysiert, sondern nur für spätere Rückverweise notiert.

Dieser Vorgang ist noch komplexer, als es den Anschein hat. Unser Mann hatte viele Urerlebnisse zu dem Gefühl »ich schaffe es nicht ohne dich, Vater«. Diese Urerlebnisse traten ein, nachdem er von seinem College-Leiter im Stich gelassen wurde.

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Als der Leiter darin versagte, sich für ihn einzusetzen, hatte der Patient das Urerlebnis über seinen Vater. Daraufhin entdeckte er, daß er immer nach einem starken Mann suchte, der ihm den Weg zeigen, für ihn reden und Entscheidungen treffen sollte. Seinem Gefühl »ich schaffe es nicht« lag jedoch immer das prototypische Gefühl der Geburt zugrunde. Vielleicht wäre ein starker Vater in seinem Leben eine genügend starke Kraft gewesen, die Macht des Geburtstraumas zu hemmen. Ein starker Vater, der ihn unterstützte, hätte dem Einfluß des prototypischen Traumas entgegengewirkt und verhindert, daß dieses Trauma das spätere Verhalten unseres Patienten gestört hätte. 

Zum Beispiel wäre er vielleicht nicht frühzeitig von der Schule abgegangen, als er dort Schwierigkeiten hatte. Aber die allem zugrunde liegende prototypische Kraft wäre immer ein latentes Potential geblieben; stürbe der Vater zum Beispiel, so könnte sich das Potential realisieren. Ohne die Beteuerung des Vaters, »du schaffst es, ich werde dir helfen«, kann eine Anforderung in der Schule sein frühes Gefühl, »ich schaffe es nicht«, wiedererwecken und ihn veranlassen, von der Schule abzugehen. Wir beginnen zu verstehen, daß späteres Verhalten ein Ergebnis primärer Kräfte und ausgleichender Tenden-zen ist (gute Lehrer, jahrelang im gleichen Haus leben, ein ermutigender Vater, ein hilfreicher Bruder, etc.). Diese Tendenzen halten die Urgefühle unter Kontrolle; sie löschen sie allerdings nicht aus. Sie können aber verhindern, daß Symptome wie Lernstörungen, Schulversagen etc. auftreten.

Vor der Primärtherapie hatte der Patient, von dem oben berichtet wurde, viele Träume, in denen er immer versuchte, in die Schule zu gehen, jedoch niemals fähig war, es tatsächlich zu schaffen — zum Beispiel konnte er die Zimmernummer nicht finden, oder er kam zu spät. Das frühe Schultrauma wurde also zum Angelpunkt für das prototypische Gefühl. Andere haben endlose Träume, bei denen sie nie ihr Ziel erreichen, den Wagen nicht starten können, nicht zum Ufer zurückschwimmen können, etc. — wahrscheinlich alles Ableitungen früher Traumen. Ein anderes verwandtes Gefühl bei Neurotikern, die unter Streß stehen, ist die Angst, »etwas Furchtbares wird passieren«. Ruft der Lehrer sie im Unterricht auf, so werden sie sofort dieses Untergangsgefühl haben. Warum? Wieder kann die Schulsituation mit der prototypischen in Verbindung gebracht werden. Mit uns geschah tatsächlich sehr früh im Leben etwas Schreckliches. Nur wissen wir nicht, was es ist.

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Aber spätere Bedrohung läßt uns dieses sehr reale Gefühl wiedererleben. Psychotherapeuten halten dieses Gefühl für neurotisch, weil, wie sie betonen, »nichts Katastrophales geschah, als der Lehrer uns aufrief, vor der Klasse zu berichten«. Sie versäumen zu verstehen, daß dieses aussichtslose Gefühl, etwas Schreckliches werde geschehen, die Antwort auf ein reales, aber vergrabenes Ereignis ist.

Wir haben Menschen als »neurotisch« etikettiert, weil wir nicht den Kontext verstehen konnten, in dem sie reagieren. Ihre Reaktionen sind real. Sogenannte neurotische Reaktionen sind angemessene Verhaltensweisen auf niederschmetternde Situationen, Situationen, die für den Therapeuten wie für den Patienten ein Rätsel darstellen. Nur das Unbewußte des Patienten »weiß«, worum es geht. Haben wir erst einmal verstanden, daß Neurotiker auf eine ungelöste Vergangenheit reagieren, die sie auf die Gegenwart projizieren. dann wird sich das Geheimnis der Neurose verflüchtigen.

Wir sind in der glücklichen Lage, Erwachsene vorstellen zu können, die, zum ersten Mal in der Geschichte, bewußt über ihre Geburt berichten können. Was sie zu sagen haben, sollte von Ärzten, die Kinder in diese Welt bringen, mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen werden. Was geschieht, wenn zum Beispiel die Mutter während der Geburt narkotisiert wird? Eine Anzahl von Patienten berichtete über ein »lähmendes« Gefühl, das sie während des letzten Teils des Geburtsprimals hatten; sie sind sicher, daß die Betäubungsmittel für die Mutter auch eine Wirkung auf sie selbst hatten. Anstatt lebendig und beweglich in diese Welt zu kommen, als aktive Teilnehmer an einem freudigen Ereignis, schlüpfen sie fast ohnmächtig und gelähmt in die Welt. Solche Patienten sagen, sie seien später unter Streß wie gelähmt. Sicherlich ist größte Vorsicht geboten, ehe man bei einer Geburt irgendwelche Drogen anwendet. Ich glaube, daß wir werdende Mütter zum Teil aus den gleichen Gründen betäuben, aus denen wir auch andere Erwachsene mit Pillen vollstopfen - wir können keine »hysterischen« Anfälle bei anderen ertragen, ohne selber in Panik zu geraten. Eine ruhigere Mutter ist für den Arzt weniger problematisch.

Lange Wehen sind ein weiteres fürchterliches Trauma für das Neugeborene, denn es kommt aller Energien und Reserven beraubt auf die Welt. Es ist für eine prototypische Urangst typisch, bei einem späteren Trauma, müde und ausgelaugt zu reagieren. Auf diese Weise seiner Energien beraubt zu werden, ist nicht einfach ein vorübergehender Zustand; das Neugeborene kann später in seiner Kindheit so reagieren, als verfüge es nicht über die Energie, um mit Situationen fertig zu werden — es ist dann »nicht aggressiv genug«, wie manche Mütter sagen.

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Ein Patient, der jahrelang unter epileptischen Anfällen litt, kam kürzlich in die Therapie. Während der ersten Woche der Behandlung erlebte er ein Geburtsprimal, bei dem er das Gefühl hatte, sein Kopf würde mit etwas zusammenstoßen; nach zwei Stunden begann er sich wie ein Neugeborenes zu winden. Er erklärte später, seine Geburt sei sehr schwierig und lang gewesen und seine Mutter habe ihm erzählt, er sei unter großem Wehgeschrei herausgekommen (dies wurde später von seiner Mutter bestätigt). Die Heftigkeit des Druckes, der auf seinem Kopf lastete, während er versuchte herauszukommen, muß nicht auf physiologische Weise traumatisierend gewesen sein, war aber sicherlich Kern eines psychologischen Traumas. Nach den ersten Monaten seines Lebens, in denen er lieblos behandelt und häufig in seiner Wiege allein gelassen wurde, fing er an, mit seinem Kopf gegen das Bettende zu schlagen. In der Pubertät setzte das Anfallsleiden ein.

Mit dem Beginn der Therapie wurden die Anfälle seltener, obgleich er vom ersten Tag an kein Diphenyl­hydantoin mehr nahm. Was bedeutet das? Zum einen war die bei der Geburt verursachte Spannung entscheidend für das spätere allgemeine Spannungsniveau. Der hohe Grad der Spannung schlägt in ein epileptisches Symptom um, das auf den zentralen Bereich seines frühen Traumas gerichtet ist; in ähnlicher Weise reagieren einige Patienten unter späterem Streß mit einem Hautausschlag, das heißt, sie entwickeln ein Symptom im Bereich des frühen Traumas, so daß jede spätere Streßsituation — auch wenn sie in keiner Beziehung zu einer besonders ausgezeichneten Region (Haut, Kopf, etc.) steht — die festgelegte Reaktion hervorbringt.

Wenn das frühe Leben des Epileptikers geordnet verlaufen wäre, hätte er ein Geburtstrauma haben können, ohne epileptische Symptome zu entwickeln. Es ist jedoch meine Beobachtung, daß das Geburtstrauma einen wesentlichen Anteil zum allgemeinen Niveau chronischer Spannung beiträgt. Das ist zum Teil bedingt durch die mangelhafte Belastbarkeit und die Zartheit des Organismus im Hinblick auf seine Fähigkeit, mit Streß fertigzuwerden, mehr noch aber durch die Tatsache, daß es bei einem Geburtstrauma um Leben oder Tod geht — ein Neugeborenes, das von der Nabelschnur gewürgt wird, stirbt tatsächlich, wenn nichts unternommen wird. Viele Menschen stehen einem Kampf um Leben oder Tod gegenüber, noch ehe sie zur Welt kommen.

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Ein weiteres Beispiel: Kürzlich kam eine Frau in die Therapie, die ihr Leben lang unter »drückenden« Kopfschmerzen, wie sie sie nannte, litt. Im zweiten Monat ihrer Therapie erlebte sie ein Geburtsprimal, das ich überwachte. Zweieinhalb Stunden lang lag sie zusammengerollt wie ein Ball, erbrach Flüssigkeit und schlug mit ihrem Kopf gegen die (gepolsterte) Wand. Dieses Mit-dem-Kopf-Schlagen war eindeutig automatisch und unwillkürlich, und es ist zweifelhaft, ob jemand länger als zwei Stunden mit seinem Kopf fortgesetzt gegen eine Wand schlagen kann, ohne zu ermüden. Unablässig wand sie ihren Kopf. Sie erklärte nachher, sie habe »versucht herauszukommen«. Sie fand einige Tage später heraus, daß sie eine außerordentlich langwierige Geburt durchgemacht hatte.

Dieses Trauma wurde zum Prototyp eines spezifischen Verhaltensmusters, nämlich dem, daß sie unter jeglichem späterem Streß »drückende« Kopfschmerzen entwickelte. Weder sie noch ich hätten jemals den Ursprung ihrer Kopfschmerzen herausgefunden; hätten wir versucht, ihr Symptom innerhalb der konventionellen analytischen Methode zu verstehen, so hätten wir festgestellt, daß sie unter Schuldgefühlen litt, ihrer kranken Mutter nicht genügend geholfen zu haben, unterdrückte Wut auf ihren Vater hat, und so weiter — alles Dinge, die wahr sein könnten. Aber sie würden nicht erklären, wie Schuldgefühle oder Wut in diese Kopfschmerzen verwandelt werden können, die sie tagelang ans Bett fesselten.

Der beste Beweis für die Ursache ihrer Kopfschmerzen ist die Tatsache, daß sie nach diesem Geburtsprimal keine Kopfschmerzen mehr hatte. Ihr Ehemann sagte mir später, daß sich ihr Nacken anschließend — soweit er sich erinnern konnte zum ersten Mal — »weich und beweglich« anfühlte. Elektromyographische Aufzeichnungen ihrer Nackenmuskeln, die einen Tag nach dem Geburtsprimal gemacht wurden, zeigten eine sehr geringe Spannung.

Das alles bedeutet nicht, daß sie aufgrund unterdrückter Wut keine Kopfschmerzen hätte entwickeln können. Es ist jedoch meine Beobachtung, daß die Heftigkeit des Symptoms proportional zur Schwere des Geburtstraumas zunimmt. Ein paar Aspirin­tabletten können einiges an Schuldgefühlen oder Ärger beruhigen, aber sie wären machtlos gegen den Druck des Geburts­traumas. Diese Frau konnte erst dann ein Geburtsprimal erleben, nachdem sie sich durch die vorangegangene Erfahrung vieler kleinerer Urerlebnisse »vorbereitet hatte«.

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Ihr Körper, der sich bereits von schwächeren Schmerzen befreit hatte, konnte nun die Last eines so großen Schmerzes, wie dem der Geburt, verarbeiten. Sobald ihr Körper zu diesem Erlebnis bereit war, begann es, sich von selbst zu entwickeln, ohne jegliche bewußte Anstrengung oder Planung der Patientin; es war ein hartes und schonungsloses Erlebnis.

An dem Tag, als bei dieser Frau das Geburtserlebnis stattfand, hatte sie morgens beim Aufwachen schreckliche »drückende« Kopfschmerzen. Sie wußte, daß sie so schnell wie möglich in die Praxis kommen mußte, setzte sich an das Steuer ihres Wagen und fiel gleich darauf in Ohnmacht. Glücklicherweise konnte sie noch jemanden zu Hilfe rufen, der sie zu uns brachte, wo sie dann ihr Urerlebnis hatte. Wäre sie nie in einer Primärtherapie gewesen, so würde ein »fürsorgliches« Abwehrsystem sie weiterhin von einem Urerlebnis fernhalten, indem es dieses Urerlebnis in eine gestaltlose Spannung umwandeln würde, die sie durch Rauchen und Trinken, oder somatisierend, in Form von Kopfschmerzen, Ohnmacht und Schwindelgefühlen verarbeiten würde.

Nicht jeder muß ein Geburtsprimal durchmachen. Diejenigen aber, die es erfahren haben, machen in "ihrer Therapie oft gewaltige Sprünge. Es ist. als sei dieses Urerlebnis ein Damm, durch den alle anderen Gefühle zurückgehalten werden; nach dessen Öffnung wird der ganze Organismus von Urerlebnissen überflutet. Nach Geburtsurerlebnissen gibt es, wie wir noch zeigen werden, einen scharfen Abfall der Körperkerntemperatur wie auch anderer Werte — ein bestätigender Beweis für das Maß chronischer Körperspannung, die das Geburtstrauma herstellt.

Es könnte sein. daß der Organismus sich unmittelbar während einer traumatisierenden Geburt spaltet (vollständiges Fühlen abtrennt), so daß jedes weitere psychische Trauma diese Spaltung lediglich vertieft. Wenn der Organismus sich gleich bei der Geburt spaltet, haftet der Persönlichkeit dieses Menschen später oft etwas »Lebloses« an. Der Grund für diese Leblosigkeit ist, daß der Betreffende zu keinem Zeitpunkt völlig er selbst war und sich so fühlte.

Wenn bei der Geburt die Gefühle vom Bewußtsein abgespalten werden, kann das hormonelle Gleichgewicht betroffen sein, weil Hormone Überträger für Gefühle sind. Was eine genetisch bedingte hormonelle Störung bei Kleinkindern zu sein scheint, kann vielmehr das Resultat eines Geburtsvorgangs sein und nicht eines der Vererbung.

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Ein Kind, das an einer Unterfunktion der Schilddrüse leidet, kann eine erblich bedingte Praedisposition zu schwacher Schilddrüsenfunktion haben, aber der auslösende Mechanismus für die Krankheit kann das anfängliche Geburtstrauma sein. Die Verarbeitung von Geburtstraumen in der Primärtherapie scheint die oben angeführten Argumente zu bestätigen, denn in bezug auf ihre endokrine Struktur finden bei diesen Patienten radikale Veränderungen statt. Bei einigen Patienten wurden Veränderungen, ja sogar Normalisierungen von Schilddrüsenunterfunktion (falls sie nicht zu schwerwiegend war) festgestellt.

Ein integrierter Organismus bedeutet, daß der gesamte wechselseitig bezogene Charakter des hormonalen Systems sich verändert, mit dem Ergebnis einer größeren Beweglichkeit und eines geregelten Gleichgewichts. Beschaffenheit von Haaren und Haut, Sexualtrieb und Busenumfang ändern sich. Auch der Haarwuchs ändert sich. Bei Frauen, die einen starken Haarwuchs hatten, wurde er geringer, und bei Männern nahm der Bartwuchs zu. Jod-Tests auf Proteingrundlage [PBJ] zeigen signifikante Veränderungen der Schilddrüsenfunktion.

Vielleicht sollte an diesem Punkt betont werden, daß Patienten, die ein Geburtsprimal erlebt haben, selten mit dieser Erfahrung rechneten oder auch nur wußten, daß so etwas möglich ist. Das gleiche läßt sich auch von den Beschneidungsprimals sagen. Es ist sehr schwer, wenn nicht unmöglich, eine solche Erfahrung vorzutäuschen. Bei den filmischen Wiedergaben kann man die bemerkenswerte Ähnlichkeit des Geburtsprimals mit der tatsächlichen Geburt beobachten — die foetale Haltung, nach innen gedrehte Hände, Augen nach hinten verdreht, das Rollen des Kopfes und das Fehlen jeglicher verbalen Äußerung (bestenfalls stöhnende Laute, nicht einmal Säuglingsschreien).

Patienten, die sich an Fruchtwasser verschluckten, geben während des Urerlebnisses häufig Ströme von Schleim von sich. Oft wird sie auch jedes andere Urerlebnis solange dazu veranlassen, sich zu erbrechen, bis sie das prototypische Trauma wiedererlebt haben. Danach erbrechen sie sich nicht mehr. Tatsächlich werden Patienten, die jahrelang an Beklemmungen in der Brust litten, sich nach dieser Art von Urerlebnis innerlich frei fühlen. In diesem Sinn sind Lungenstauungen oder eine tropfende Nase eine symbolische Manifestation von Urereignissen; sind diese Ereignisse einmal mit dem Bewußtsein verbunden, hört ihre unbewußte Wirkung auf. Das symbolische Verhalten ist nicht weniger symbolisch, wenn es sich körperlich ausdrückt. Allergien sind etwas Reales, doch ihre Wirklichkeit ist nicht so sehr durch Staub und Pollen gegeben, als vielmehr durch das Ereignis, das die anfängliche Sensibilität hervorrief.

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Wir wollen für einen Moment die Allergien diskutieren. Es gibt keinen Zweifel über eine mögliche erbliche Praedisposition allergischer Reaktionen, aber die Schritte von der Vererbung zu einer jetzt tropfenden Nase sind komplex. Vielleicht erlitt der Foetus während der Geburt Prellungen, dann mag der Patient später eine allgemeine Sensibilität entwickeln, die verschiedene Formen annehmen kann. Hat er keine physische Neigung zu Allergien, dann wird er vielleicht besonders empfindlich auf Prellungen reagieren. Ein Patient zum Beispiel wurde in Steißlage geboren- und kam mit gebrochenen Armen zur Welt. Im späteren Leben wurde seine Schmerzempfindlichkeit immer besonders stimuliert von Menschen, die in unsanft berührten. Er war bereit, diese Menschen zusammenzuschlagen, um zu verhindern, daß sie ihm noch einmal weh tun — kämpfen war seine Abwehr gegen das Empfinden des frühen Schmerzes.

Hätte derselbe Mensch eine genetisch bedingte organische Sensibilität, so würde er in späteren Streß­situationen eine Sensibilitäts-Reaktion, d. h. eine allergische Reaktion, zeigen. Er würde das Leben als ein Geschlagener beginnen und während seiner Kindheit psychisch unterdrückt werden, bis er es schließlich nicht länger aushallen könnte, und an diesem Punkt wird er Allergien entwickeln. Oft wird ihn ein Schlüsselerlebnis über die Schwelle in die Symptombildung hineinstoßen. Vielleicht mußte seine Mutter für einige Monate ins Krankenhaus oder sein Vater bekam eine neue Arbeit und mußte für eine längere Zeit von zu Hause weggehen. Ist die allergische Reaktion erst einmal eingefahren, können die Symptome durch verschiedene harmlose Reizstoffe, auch Staub und Pollen, ausgelöst werden. Der Pollen verursacht die Allergie nicht (desensibilisierende Spritzen heilen sie nicht); er löst die Reaktion nur aus. Wenn der Betreffende in einer geregelten Lebenssituation ist, bedarf es einer größeren Menge harmloser Reizstoffe, um die Reaktion auszulösen. Wenn er unter einem hohen Spannungsgrad steht, wird weniger nötig sein, um die Reaktion zu aktivieren.

Während der »Geburtsphase« in der Therapie berichten Patienten von gelegentlichem unwillkürlichem Harnlassen. Sie müssen oft urinieren und periodisch »tröpfelt« es nur in kleinen Mengen. Sie scheinen manchmal ungeschickt, fallen leicht hin und können keine Gegenstände mit ihren Händen balancieren. Manchmal fällt ihnen das Sprechen schwer.

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Sie leiden nicht unter schwerwiegenden Funktionsstörungen, aber doch unter kleinen Unannehmlichkeiten. Andere Patienten berichten, daß sich ihre Haut schält — und wir können das beobachten. Andere finden, daß ihre Kleider schwerer werden, — eine Patientin berichtete, daß ihr Haar sich schwerer anfühlte, nachdem sie wiedererlebte, wie sie kahl geboren wurde. Ich werde keine weiteren Beispiele anführen, denn ich bin sicher, daß sich das Gesagte schon bizarr genug anhört. Aber das Entscheidende ist, daß Gehirn und Körper die nicht verarbeitete Erfahrung in ihrer ursprünglichen Form ein Leben lang speichern.

Eine der mehr dramatischen Dokumentationen über die Art und Weise, wie ein Kindheitstrauma unversehrt bewahrt wird, zeigt sich im Fall einer Patientin, deren Muttermal wieder sichtbar wurde, als sie anfing, Geburts­primals zu erleben. Auf ihrer Brust konnte man ein hellrotes Erdbeermuster sehen, das wochenlang blieb. Wo war dieses Muster während der vorangegangenen Jahre? Wir können nur vermuten, daß die gesamte Erfahrung der Geburt und ihrer Folgen in einer geschlossenen Gedächtnisschleife aufbewahrt und erst durch die Therapie freigesetzt wurde.

 

Eine letzte Bemerkung darüber, wie psychotische Phänomene, zum Beispiel Wahnvorstellungen, zu Geburts­traumen in Beziehung stehen. Geburtstraumen sind undifferenzierte Schmerzen, die sich dem begrifflichen Ausdruck entziehen. Ein Mensch, der diese Last trägt, wird versuchen, die Quelle seines Leidens festzustellen, und in seinem Bemühen, seinen nicht bewußt wahr­genommenen Schmerz bewußt zu machen, kann er Wahnvorstellungen entwickeln. Die Vorstellung oder der Wahn sind bizarr, weil sie motiviert sind durch einen niederschmetternden Schmerz, den man nicht zu fassen bekommt, da er der Wahrnehmung nicht zugänglich ist.

Wir können dies an jemandem sehen, der LSD genommen und dadurch einen außer­ordentlichen Schmerz wie das Geburtstrauma ausgelöst hat. Anstatt das blendende Licht bei der Geburt zu empfinden, wird er alle möglichen Arten von Licht halluzinieren. Er kann später eine Episode erleben, in der er das Licht fliegender Untertassen sieht, und alles dies, weil der ungeheure Schmerz vor einer angemessenen Zeit aufgestiegen war, noch ehe er bewußt verarbeitet werden konnte. Katastrophale Geburtstraumen können später eine Empfänglichkeit für ernste seelische Störungen herstellen, weil die ursprüngliche Spaltung bereits mit Beginn des Lebens eintrat; es gab nicht genügend schmerzfreie Jahre, die es erlaubt hätten, lebensfähige Abwehrmechanismen zu entwickeln.

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Wir sehen, welch ein Wunderwerk der menschliche Organismus Ist. Unter Streßsituationen kehrt der Körper in dem Bemühen, den Schaden wieder gutzumachen, in Zeiten und Bereiche zurück, in denen er verletzt worden ist. Das Erstaunliche ist, daß wir 40 und 50 Jahre zurückgehen können, um Träumen zu lösen, die damals eintraten, Traumen, die unser Leben gestalteten und zur Formung unserer Vorstellungen beitrugen.

Prototypische Traumen unberücksichtigt zu lassen, bedingt die Unfähigkeit, Verständnis dafür zu gewinnen, wie Symptome beginnen und wie der Teufelskreis der Neurose seinen Anfang nimmt. Ein Kind, das bei der Geburt zurückgehalten wurde, ist unweigerlich empfindlich und gereizt. Es verlangt mehr von seiner Mutter, die ihrerseits wiederum ungeduldig und ungehalten über seine Forderungen wird. Sie ist gereizt, und das Kind wird nur noch um so beunruhigter. Bei Schulbeginn ist es angespannt und unfähig, still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Dafür bekommt es mehr Ablehnung zu spüren. Es wird zu einem »Problemkind« — und so geht der Zirkel weiter. Eine Mutter, die ihr Baby mit langen Geburtswehen festhält, schafft ein Beziehungsmuster. Es ist nicht so, daß die Mutter während der Geburt anders reagiert als sonst auch. Die Beziehung bei der Geburt gehört zu der Art ihrer Mutterrolle. Der Geburtsvorgang läßt ahnen, welche neurotische Eltern-Kind-Beziehung später folgen wird.

Wir haben jetzt einen Bezugsrahmen, um zu verstehen, wie wir Symptome entwickeln. Bisher hatten wir uns in der Psychologie vor allem mit der Kategorisierung von Symptomen beschäftigt, hoffend, daß solche Kategorien zu einem tieferen Verständnis führen würden. Wir sehen jetzt, warum gewisse Symptome anderen gegenüber als vorrangig behandelt werden. Zum Beispiel fand eine Frau, daß sie immer weniger frigid wurde, als sie Urerlebnisse über die Haltung ihrer Eltern gegenüber Sexualität hatte. Dennoch blieb ihre Frigidität, bis sie ein prototypisches Urerlebnis darüber hatte, wie sie ständig so fest gewindelt wurde, daß dadurch Schmerzen (und Krämpfe) um die Vagina herum verursacht wurden. Vaginalkrämpfe stellten die prototypische Abwehr dar; daraus entstand später aufgrund der Überbetonung der puritanischen Einstellung der Eltern das Problem der Frigidität.

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Wir können jetzt verstehen, warum die eine Person mit puritanischen Eltern frigid wird, und eine andere mit ebenso puritanischen Eltern nicht. Wir sehen, warum der einzige Experte, der die Ursachen von Symptomen finden kann, der Patient selber ist er und seine Urerfahrungen. Was eine genetische Krankheit zu sein schien, kann vielmehr die Wirkung eines prototypischen Traumas sein. Zum Beispiel meinte man, daß hinter manisch-depressiven Psychosen oder der »zyklischen« Persönlichkeit eine genetische Veranlagung stünde. 

Dafür ein anderes Beispiel: die Geburt eines Patienten verzögerte sich um zwei Wochen, dann kam er in aller Schnelle zur Welt. Während eines Urerlebnisses gewann er die Einsicht, daß das Auf und Ab in seinem Verhalten und seine wechselnden Stimmungen ihren Anfang nahmen, als er »außerhalb« des normalen Geburtstermins geboren wurde. Kein Therapeut würde es wagen, anstelle des Patienten eine derartige Verbindung aufzudecken; der Patient jedoch wußte durch seine Urerfahrung, welche Bedeutung diese Erkenntnis hatte. Die Tatsache, daß er nicht länger unter seinen täglichen Stimmungsschwankungen litt, war ein weiterer Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht. Er löste sein lebenslanges Problem. sich während des Vormittags depressiv und handlungsunfähig zu fühlen und später am Tag dann übertriebene Aktivität zu entwickeln. Er bezeichnete sich jahrelang als einen »Nacht-Menschen«, ohne die Ursachen zu verstehen.

Bei einem epileptischen Patienten ließen die Anfälle nach. Wir werden später die Beziehung seiner epileptischen Anfälle zum Geburtstrauma erörtern. Es genügt zu sagen, daß die Anfälle, bevor er die Therapie anfing, nachts auftraten. Er notierte sich jeden Anfall und bemerkte, daß sie alle 90 Minuten eintraten (s. Teil II). Die Herstellung der Zusammenhänge mit den frühen Traumen wird seine epileptischen Alpträume beenden. Wir wollen jetzt Geburtserlebnisse in den Worten derer betrachten, die sie zu beschreiben am besten geeignet sind — die Patienten, die sie selbst erlebten.

 

 

Robert

 

Ich kam in die Therapie, als ich 23 Jahre alt war. Ich hatte Psychologie studiert und befand mich in der Ausbildung zum Therapeuten. Auf den Vorschlag eines Freundes hin las ich den »Urschrei«. Wie die meisten Therapeuten wollte ich möglichst genaue Informationen über die Primärtherapie haben und sie meinem aus vielen Zutaten hergestellten therapeutischen Eintopfgericht hinzuzufügen.

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Ich selbst war mir dabei das einzige Hindernis; ich war so sehr von dem Buch beeindruckt, daß ich sehr bald begann, erste Urerlebnisse zu haben — wirkliche Gefühle von Schmerz. Ich befürchtete auseinander­zufallen, noch bevor ich mich in diese neue Therapie begeben könnte, die mich, wie ich hoffte, wieder zusammenfügen würde. Später stellte ich fest, daß ich wie eine in tausend Scherben zersprungene Porzellanpuppe niemals wieder ganz zusammengesetzt werden könnte. Nachdem mein Schmerz einmal an die Oberfläche drängte, konnte ich keine funktionelle Neurose mehr aufrechterhalten.

Ich rief die Janovs an — ich wollte jetzt gesund werden. Vivian (Frau Janov) sagte mir: »Sie können unmöglich vor Oktober oder Dezember in die Therapie kommen« (das hieß in vier oder sieben Monaten). Zunächst akzeptierte ich es. Am nächsten Tag rief mich Art (Arthur Janov) an und sagte: »Sie können mit der Primärtherapie anfangen«. »Wann?« fragte ich. »Jetzt; gehen Sie sofort zum Motel«. Jemand hatte abgesagt, und ich übernahm seinen Platz. Wer immer es sei, — ich danke ihm, daß er so neurotisch war abzusagen. Zwei Stunden später fuhr ich von meinem Haus in den Bergen in den braunen Smog von Los Angeles hinein.

 

Erste Sitzung — Montag

9 Uhr; ich beginne zu glauben, daß Janov und sein »hochqualifizierter Stab« einfach Quacksalber sind, die nur modische Neurotiker heilen. »Was will ich hier eigentlich? Ich bin selbst ein angehender Therapeut und kein völlig kaputter Typ. Trotzdem, ich bin ängstlich und traurig«.

Ich betrat das Büro und ein lockenköpfiger Jüngling namens Les stellte sich mir vor. »Ich bin Les. Du bist Robert«. »Ja.« Ich wollte mehr wissen, doch mehr als seinen Namen erfuhr ich nicht. Les sagte mir, ich solle mich hinlegen. Er fragte: »Wie fühlen Sie sich?« »Traurig.«

Mit dieser simplen Einführung begann für mich der Abstieg in meine eigene Hölle — in die endlos scheinenden Korridore des Schmerzes. Als ich in die Traurigkeit eintauchte, kam mir ein Zitat von Joseph Conrad in den Sinn: 

»Ein Mann, der geboren wird, fällt in einen Traum wie jemand, der ins Wasser fällt. Versucht er in die Luft hinaufzusteigen, wie unerfahrene Menschen es tun, so ertrinkt er — nicht wahr? Nein! Ich will es dir sagen! Den destruktiven Elementen unterwirf dich... In die destruktiven Elemente tauche dich ein«.

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Ich kann nicht sagen, ich sei in die Traurigkeit hineingetaucht; es war mehr ein Fallen. Ich begann, tief zu atmen, vom Zwerchfell aus; und dann fing ich an zu weinen. Traurigkeit begann aus mir herauszukommen. Mir war, als würde ich in ihr ertrinken. Ich erinnerte mich an das Zitat und versank immer mehr in dem Gefühl. Ich wußte nicht, warum ich weinte und kümmerte mich auch nicht darum. Ich fühlte mich, als hätten diese Tränen mein Leben lang darauf gewartet herauszukommen. Und jetzt ertrank ich in meinen eigenen Tränen. Als das Weinen allmählich aufhörte, fragte mich Les, was ich zu sagen versucht hätte. Es war mir nicht bewußt, irgendetwas gesagt zu haben. Ich zögerte — es schien so schwer, die Worte auszusprechen, die sich auf meinen Lippen formten. Jeden Augenblick wurde es schmerzvoller — und dieser Augenblick schien qualvoll. »In die destruktiven Elemente tauche dich ein ...« 

Ich fühlte mich, als würde ich auseinanderbrechen; mein Bauch war so verkrampft, als wolle er auseinanderreißen. Das einzige, was ich wahrnahm, war der Schmerz. Dann schrie und weinte ich nach meiner Mutter, und der Schmerz, sie bei mir haben zu wollen, kam endlich aus dem Hintergrund hervor. Jede Welle von Schmerz brachte neue Erinnerungen und Reaktionen. Nach einem langen und schmerzvollen Eintauchen in das Leid, Mutter bei mir haben zu wollen, hörte ich auf zu weinen. Ich war in Schweiß gebadet, und meine Arme und Beine waren schwer und steif. Ich war hilflos. Ich wartete und schwitzte; dann fing ich wieder an zu weinen - diesmal fühlte ich mich verlassen und war gebrochenen Herzens. Es war nur noch der Schmerz da. Ich war mir keiner Kontrolle mehr bewußt — ich wußte, wo ich war, aber ich hatte mich nicht in der Kontrolle — ich fing an, mich zu krümmen, zu winden, zu weinen, zu spucken und zu schwitzen — dann formte sich eine Szene in meiner Erinnerung. Ich war im Kreißsaal. Eine heiße, brennende Flüssigkeit wurde in meine Augen getan, meine Haut brannte und überall tat es mir weh. Ich sah die Szene nicht — ich erlebte sie wieder. Dann war ich auf der Säuglingsstation — ich weinte und fühlte mich verzweifelt. Dann nahm mich eine Krankenschwester auf und trug mich zu meiner Mutter. Ich weinte, als ich Mutters warmen Körper und ihre ewig liebende Brust fühlte.

Die Sitzung endete mit einer Szene im Haus meiner Großmutter; sie und Großvater schauten mich an. Der Schmerz ließ endlich nach, ich konnte mich aufrichten und Les anschauen. Er sah völlig anders aus. Ich fühlte mich verändert. Ich konnte die Intensität meiner Erlebnisse kaum glauben.

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Ich ging zurück zum Motel und schlief. Als ich aufwachte, war es früher Abend. Ich hatte noch nicht gegessen, aber ich war nicht hungrig. Ich wartete einfach. Während ich mich duschte und anzog, nahm ich neue Bewegungen und Gefühle in meinem Körper wahr. Ich war mir meiner eigenen Bewegung bewußt. Bis etwa 9 Uhr 30 fühlte ich mich sehr gut. Die Wahrnehmung von Bewegung und Gefühlen wurde intensiver. Ich lag auf dem Bett. Ich fühlte mich, als hätte ich keine Arme und Beine und einen übergroßen Kopf. Dann begann meine Hüfte zu schmerzen. Ich fragte mich: was ist das für ein Schmerz? Ich fand keine rationale Antwort. Ich fühlte nur, es war eine sehr frühe Erfahrung — etwas, das damit zu tun hatte, wenn man sich im Uterus bewegt. Eingeschränkte und anstrengende Bewegung, weil die Uterusmuskeln angespannt waren. Alle meine Gedanken rührten von den Empfindungen meines Körpers her. Sie verstärkten sich, bis ich kinästhetisch [mit dem Muskelsinn] fühlte, wie ich mich im Uterus zu bewegen begann. Ich drückte mich gegen eine Wand von Muskeln. Ich hatte ein Erstickungsgefühl und begann in Panik zu geraten - ein Gedanke tauchte auf: ich werde nicht herauskommen. Ich war verzweifelt und hoffnungslos. Ich erstickte, während ich darauf wartete, geboren zu werden. Ich stellte fest, daß iclr entweder ein Urerlebnis haben müßte oder die Gefühle beenden sollte. Ich hatte zuviel Angst, um Les anzurufen oder das Urerlebnis alleine zu haben, deshalb setzte ich mich hin und schrieb meine Erlebnisse auf. Am frühen Morgen konnte ich endlich schlafen.

 

Dienstag

An diesem Morgen hatte ich vier Träume, an die ich mich erinnern konnte. Ich schrieb in mein Tagebuch: »Ich fühle mich wie der Kapitän (in einem der Träume ein Symbol des Besiegtseins). Ich habe Angst vor der heutigen Sitzung. Alles ist verkrampft — Brust, Bauch, Rücken und Beine. Ich habe einen Brechreiz im Hals. Ich habe keinen Appetit. Meine Innereien fühlen sich tot an. Ich fühle mich wie ein totes Baby. Totgeboren. Nicht geboren. Ich hätte Les anrufen sollen, aber ich habe Angst, wirkliche Forderungen zu stellen. Wenn ich still und ruhig bin, wird es nicht weh tun. Wenn ich weine und etwas haben will, tut es mehr weh. Mein Bauch tut weh. Ich fühle mich verlassen.«.

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Ich war so ängstlich und besorgt, daß ich eine Stunde vor Beginn der Sitzung das Motel verließ und draußen wartete. Ich war angstgelähmt wegen der großen schnellen Wagen, der eilenden, großen Geschäftsleute und der hohen, kalten Gebäude. Endlich war es zehn Uhr.

 

Zweite Sitzung

Ich legte mich hin und Les fragte »Wie fühlst Du Dich?« »Klein«. Ich folgte dem Gefühl, klein zu sein. Ich schwitzte und kämpfte um mein Leben. Ich wurde von Gefühlen überwältigt. Ich war im Uterus, und jedesmal, wenn ich gegen die Wände drückte, löste ich kräftige Kontraktionen aus. Bevor jedoch etwas weiteres geschehen konnte, veränderte sich das bildhaft wechselnde Geschehen - jetzt weinte ich, weil meine Augen brannten und ein stechender Schmerz in meinem Bauch mir weh tat. Ich weinte aus Schmerz darüber, wie man mit mir umging. Dann eine weitere Einstellung - ich fühlte mich diffus, und dann ein brennender Schmerz in meinem Penis. Ich schrie und schrie - lange, laute Schreie. Jede Szene war zwischen fünf und zehn Minuten lang. Das allgemeine Gefühl war: ich bin gerade geboren worden, und es tut überall weh. Dann fing ich an zu husten und bekam keine Luft, weil mir aus Nase, Hals und Lungen Schleim floß. Ich spuckte und erbrach und schrie laut, bis eine Krankenschwester mich nahm und mich in einen Brutkasten legte. Ich wartete, ich war verzweifelt und hatte das Gefühl, ich müsse sterben. Ewigkeiten später war ich dann endlich bei meiner Mutter, und ich saugte, würgte und schrie.

Ich tauchte aus diesen Urgefühlen auf und fühlte mich durch die überwältigenden, zufälligen und äußerst lebendigen Erfahrungen verwirrt. Nichts ergab einen Sinn. Ich fühlte mich schwach und war von meinen anarchischen Urerlebnissen überwältigt. Gewiß, ich war bereit, Schmerz zu ertragen, aber ich wollte es auf meine neurotische, ordentliche Art. Ich fing an, mit Les zu sprechen, und er versetzte mich in das Chaos zurück. Diesmal nahm ich fötale Stellungen ein. Ich begann mich wie ein Wurm zu bewegen. Mich überkam ein Schütteln, sobald ich versuchte, mich gegen die Muskeln meiner Mutter zu pressen. Periodisch wurde ich durch kräftige uterine Kontraktionen zusammengedrückt, die mich langsam nach vorne bewegten. Dies schien mir Stunden zu dauern, dann kamen drei oder vier kräftige Kontraktionen, und ich war draußen und ausgesetzt.

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Ich war da, im schwarzen Schwindelgefühl, und versuchte mich der Welt außerhalb der Gebärmutter anzupassen. Schließlich kam ein instinktiver und nach dem Leben greifender Schrei aus mir heraus. Ich schrie aus Schmerz darüber, geboren worden zu sein, und aus dem Instinkt, leben zu wollen. Ich fühlte mich zutiefst verletzbar und unfähig, hinsichtlich des Schmerzes meiner neuen Welt etwas zu tun.

Dann meinte ich zwischen der Säuglingsstation und meiner Mutter hin- und hergetragen zu werden. Ich war völlig erschöpft. Alles, was ich tun konnte, war auf dem Fußboden liegen und mich lebendig fühlen. Les und ich sprachen eine Weile miteinander, aber ich fühlte mich unfähig, in dem Geschehenen einen Sinn zu finden. Ich fiel auseinander, ohne daß es mir etwas ausmachte; ja, ich war sogar erleichtert.

In den folgenden sechs Wochen kehrte ich immer wieder in dieses Sammelbecken von Urerlebnissen zurück. Allmählich erkannte ich, daß es das Sammelbecken der Geburtsgefühle war. Ich hatte auch Urerlebnisse zu späteren Erfahrungen, aber meistens führten sie doch zu diesem Sammelbecken zurück. In den Urerlebnissen, die den ersten zwei Tagen folgten, sollte sich eine neue Logik herausbilden. Die Logik des Schmerzes. In den ersten zwei Tagen war ich von meinen Gefühlen einfach überwältigt, so daß ich mich öffnen konnte, um später das entscheidende Urerlebnis, das noch immer unbemerkt im dimensionslosen Sammelbecken des Schmerzes wartete, vollständig fühlen zu können.

Die Geburtsprimals, die den ersten beiden Tagen folgten, waren spezifischer und gaben mir mehr und mehr Einsicht in mein Leben. Im folgenden habe ich nur die Höhepunkte dieser Urerlebnisse aufgezeichnet.

 

Eine weitere Sitzung

Ich legte mich hin. Ich war verzweifelt und hoffnungslos. Les brachte mich dazu, in dieses Gefühl hinabzusteigen. Mir kam die Erinnerung, daß ich in der Wiege liege und darauf warte, zu meiner Mutter gebracht zu werden - und schließlich die physiologische Realisierung, daß Mutter sich mir entzieht. Sie zog sich zurück, während ich saugte. Meine Realität wurde mir weggenommen. Ich weinte und weinte.

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Eine weitere Sitzung

Ich saß auf dem Fußboden und litt unter Schmerzen in meinen Schultern und entlang meiner Wirbelsäule. Les half mir, es zu fühlen. Dann wurde der Schmerz zur Bewegung, und ich fing an, langsam rückwärts zu rollen. Ich war wieder im Mutterleib. Diesmal war die Bewegung unendlich langsam. Die Bewegung übte Druck auf meine Wirbelsäule aus, wegen des Gewichts meines Kopfes und der Schwierigkeit der Bewegung. Ich weinte vor praenatalem Schmerz, den ich empfunden hatte, der aber nicht völlig erfahren werden durfte, wenn ich überleben wollte.

Nach jeder Sitzung fühlte ich mich besser, aber ich empfand immer noch ein allgemeines Unbehagen. Ich fühlte mich manchmal paranoisch und wartete, daß noch etwas geschehen würde. Am Ende der zweiten Therapiewoche schickte mich Les nach Hause, meine Eltern besuchen. In dieser Nacht hatte ich einen Alptraum, aus dem ich schwitzend und kalt erwachte. Ich träumte, ich stiege einen Berg hinauf, könnte aber niemals die Spitze erreichen. Ich stieg hinauf und fiel. Am nächsten Morgen ging ich zur Gruppe.

Zunächst weinte ich; es kamen keine Bilder oder Erinnerungen. Ich hörte auf und setzte mich aufrecht hin. Als ich mich im Raum umsah, wurde ich sehr ängstlich und paranoid. Ein vages Gefühl versuchte heraufzukommen, und ich bekämpfte es. Ich berichtete Les von meiner Furcht, und er half mir behutsam in die Verrücktheit hinein. Ein Anfall kündigte sich an. Ich schwitzte und war zutiefst verängstigt. Ich wurde von einem Gefühl überflutet, das unerträglich war. Blindlings streckte ich meine Hand nach Hilfe aus. Art nahm meine Hand, und dann schwemmte mich das Gefühl gleichsam ins Endlose hinweg. Der Anfall und das Schreien intensivierten sich — beides hörte auf, als ich ein Bild vor mir sah, wie ich in einem Brutkasten wartete.1

Diesem Bild folgten Gefühle, die aus meinem Inneren kamen. Ich verkrampfte mich und wand mich vor Schmerzen in der Herzgegend. Unerträgliche Schmerzen. Ich lag im Sterben. Mein Herz zerbrach. Ich weinte und wimmerte weiter, bis ich einen Körper in meiner Nähe fühlte. Eine totale körperliche Reaktion auf einen anderen Körper. Ich kroch, zog und schob mich unter die Beine dieses Körpers. Als ich unter den schützenden, liebenden Beinen war, weinte ich und weinte. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich sicher. Ich würde nicht sterben. Ich hatte überlebt.

 

1  In letzten Gesprächen mit meiner Mutter erfuhr ich die genaue Zeit, die ich als Neugeborenes warten mußte. Ich wurde um 14 Uhr 45 geboren und nicht vor 6 Uhr früh am nächsten Morgen zu ihr gebracht. 15 Stunden Wartezeit in einem sterilen Brutkasten. Das schmerzlichste aller meiner Urerlebnisse beinhaltete diese Wartezeit.

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Zwei Wochen später kam der Schmerz wieder. Wie vorher ging ihm die Verrücktheit voraus, aber als ich ihn dann fühlte, war der Schmerz schwächer, doch immer noch sehr intensiv. Ich begann endlich aus dem Ozean des Schmerzes, der mich umfangen hatte, wieder an die Oberfläche zu kommen. Ich berichtete Les später, daß ich endlich das Gefühl hatte, am Ufer zu sein. Ich war geboren und würde leben.

*

Mein Kommentar

Das entscheidende Merkmal des Geburtsprimals ist ein Ergebnis der Verletzbarkeit des wehrlosen kindlichen Organismus. Die vorgeburtlichen, geburtlichen und nachgeburtlichen Schmerzen sind nicht die Ursache der Neurose — sie sind jedoch physiologisch derart traumatische Ereignisse, daß der Säugling eine neurotische Dynamik entwickelt, um seine Existenz aufrecht zu erhalten. In dieser frühen schmerzhemmenden Reaktion wird die Grundlage für die Neurose gelegt. Der Säugling muß, gleichsam nach dem Gesetz des Alles oder Nichts, sich selbst von dem aufkommenden Schmerz abspalten, wenn er überleben will. Diese Schmerzminderung erlaubt dem Organismus weiter zu leben. Das ist zugleich der Beginn neurotischen Verhaltens.

 

Kreißsäle und andere Übel

Stellen wir uns einen besonders sensiblen Organismus im relativen Dunkel und der sensorischen Isolation des Uterus vor; er kämpft, um in Hände geboren zu werden, die in Plastik eingewickelt sind oder in den eiskalten Griff der Zangen. Sobald er von seiner Mutter befreit ist, wird er zunächst einmal gründlich »behandelt« und von der eigenen Mutter getrennt. Von seinem Geburtskampf und der anschließenden Behandlung nach der Geburt geschwächt, wird er in eine Wiege oder in einen Brutkasten gebracht, fern seiner einzigen Quelle des Trostes und der Identität — der Mutter. Die Mutter, die ihm durch ihre Körperwärme Trost und Identität geben könnte, ist tabu. Identität und Bedürfnis sind einem neurotischen Zeitplan untergeordnet, der von irgendeinem fachkundigen neurotischen Arzt erstellt wurde.

Untersuchungsergebnisse über die Sterberate Neugeborener und ihrer emotionalen Stabilität, weisen darauf hin, daß unsere Kreißsäle neurotisches Verhalten institutionalisiert haben. 

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Ich glaube, es ist klar geworden — wenn wir die Absicht haben, uns als Gattung weiter zu entwickeln und zu überleben —, daß wir zumindest bislang allgemein akzeptierte Praktiken aufgeben müssen, die einem erfüllten Leben des Kleinkindes schaden — auch wenn diese Praktiken von den mächtigen und allwissenden »Vätern« der medizinischen Wissenschaft sanktioniert sind.

Wir werden so lange neurotisches Verhalten nähren, wie neurotische Männer und Frauen Kinder zeugen, um die Liebe zu erhalten, die sie selber nie bekamen, und solange, wie Ärzte und Schwestern die Krankenhäuser nicht ändern, wie Babyflaschen die Brust ersetzen, und wie Drogen den Schmerz und die Ekstase einer natürlichen Geburt ersetzen.

Es ist klar, was in der präventiven Psychologie getan werden muß, aber als Therapeut bin ich mit der Heilung der schon kranken Erwachsenen beschäftigt. Das einzige Problem auf der Suche nach Heilung ist meine eigene Krankheit. Ein Neurotiker, ob er nun ein Psychologe oder ein Klempner ist, wird neurotisch denken. Neurotisches Denken ist eingeschränktes, computerhaftes Denken, das uns daran hindert, unser Wissen zu fühlen. Und nur durch fühlendes Wissen kann eine wirkliche Veränderung eintreten. Die Geburtsprimals machen das mehr als deutlich.

 

Jahrzehnte bevor Janov Zeuge des Geburtsprimals wurde und schließlich dessen Wirklichkeit fühlte, waren andere Psychologen — wie die nachfolgenden Zitate zeigen — Zeuge des gleichen Phänomens:

»In dieser Absicht führten sie ihn an das Bett einer Hysterika, deren Anfälle unverkennbar den Vorgang einer Entbindung mimten.«2

»Indem wir das anscheinend rein körperliche Geburtstrauma in seinen ungeheuren seelischen Folgen für die gesamte Entwicklung der Menschheit aus analytischen Erfahrungen erstmalig zu rekonstruieren versuchen, vermögen wir in ihm das letzte biologisch faßbare Substrat des Psychischen zu erkennen.«3

»Daraus ergibt sich, daß die eigentliche Übertragungslibido, die wir bei beiden Geschlechtern analytisch aufzulösen haben, die mütterliche ist, wie sie in der pränatalen physiologischen Bindung zwischen Mutter und Kind gegeben war«.4

 

2  S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke Bd. XI, S. 313, Frankfurt/M., S. Fischer, Imago, 1948.
3  Otto Rank, Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Wien, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1924, S. 3.

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Kelsky (1953) untersuchte Phantasien über Geburt und vorgeburtliche Erfahrungen und folgerte, daß die Phantasien für tatsächliche Ereignisse standen, die unterdrückt worden waren.5

Aber genau wie Janov bei seinen frühen Arbeiten konnten andere Psychologen die Realität oder die Bedeutung ihrer Ergebnisse nicht voll und ganz glauben. Und jene, die es glaubten, waren doch unfähig, mehr zu tun, als diese Erfahrung in Begriffe zu fassen und sie in einem stillen Eckchen ihrer Theorie unterzubringen. Sie waren Opfer ihrer eigenen Empfindungsunfähigkeit. Wäre auch nur einer von ihnen fähig gewesen, die Erfahrungen, an denen er teil hatte, umfassend nachzuempfinden, hätte er etwas entdecken können, was der Primärtherapie ähnlich wäre. Aber für den »etablierten Neurotiker« ist das Fühlen gefährlich, da es ihn zu nah an seinen eigenen, nicht empfundenen Schmerz herankommen läßt.

Gerade in diesem Mangel des Fühlens liegt die Wurzel für das Versagen anderer Therapien. Andere Therapeuten und Behandlungsformen versagen deshalb, weil der Therapeut, wenn er Zeuge eines (Ur-) Erlebnisses wird, das über seine eigene emotionale Toleranz hinausgeht, den Patienten am »Ausagieren« oder »Hysterischsein« hindert - womit er indirekt zugibt, daß seine theoretischen und emotionalen Fähigkeiten ein solches intensives emotionales Ereignis nicht ertragen können. Daher werden Therapeuten die Erfahrung des Patienten zugunsten ihrer festen und mystifizierten Theorie über das, was real ist, verneinen.

Als Therapeut und Patient bin ich absolut sicher, daß die einzige Theorie, an die ich glauben kann, diejenige ist, die der Patient selbst aus seiner Erfahrung mit seinem eigenen Urschmerz entwickelt. Nur indem jeder Patient sein eigenes Geheimnis aufdeckt, wird er seine Theorie und seine Heilung finden.

Ein Therapeut, der nicht seine eigenen Urerlebnisse erfahren hat, wird versuchen, sie in einer linearen und logischen Art zu verstehen und zu analysieren. Aber Urerlebnisse sind nicht linear; sie sind räumlich logisch, das heißt, daß ein Patient die umfassende organismische Wahrnehmung und Erinnerung, die sein kindliches Erbe ist, wiedererleben kann.6

 

4  Ibid., S. 10.
5  Jesse Gordon, Handbook of Clinical and Experimental Hypnosis, New York, Macmillan, 1967, S. 222.

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Daher besteht zwischen Patient und Therapeut eine dimensionale Lücke — eine zweidimensionale Computer-Logik steht einer multidimensionalen gefühlsmäßigen Logik gegenüber. Niemand kann diesen Abgrund überbrücken, bevor er seinen eigenen Urschmerz erlebt hat. Denn das Urerlebnis verändert nicht unser Verhalten; es transformiert uns in unser eigenes Selbst.  

R. D. Laing beschreibt diese Umwandlung in seiner Schrift über die schizophrene Erfahrung: »Ich habe den Paradiesvogel gesehen, er hat sich vor mir ausgebreitet, und ich werde niemals mehr derselbe sein. Da gibt es nichts, wovor man Angst haben muß. Nichts.«7-8 

Indem ich dies schreibe, habe ich versucht, einige Dinge, die ich fühle, verständlich zu machen. Ich weiß, ich kann Ihnen meine Erfahrung nicht berichten, weil sie die meine ist. Ich habe entdeckt, daß ich der Paradiesvogel bin. Nicht Ihr Paradiesvogel, sondern meiner. Ich bin mein Himmel, mein Gott und meine Hölle. Ich bin geformt von der Dynamik der Evolution, aber es ist dieser umfassend empfundene Schmerz, der mich transformiert - ICH BIN. Als Psychologe bin ich von dem Karussell des Verstehens herunter gegangen und fand die Welt des Fühlens. Endlich kann ich genau der sein, der ich bin.

 

***

 

Mary

Ich war spät am Abend nach Hause gekommen und fühlte mich reizbar und unruhig. Mein Körper war nicht fähig, in irgendeiner Position zu verharren. Ich begann wieder zu zittern, ähnlich wie in den vorangegangenen Geburtsprimals. Ich hatte keine Kontrolle über die Bewegungen meines Körpers. Meine Hände, mein Gesicht, Arme, Beine und Rumpf bewegten sich unwillkürlich. Ich nahm so etwas wie einen Piepton in meinem Kopf wahr, ich wartete ruhig, und mein Körper antwortete auf diese sinnliche Wahrnehmung. Es war, als würde mein Gehirn dem Rest meines Körpers Signale senden. Ich wußte, daß ich die ersten Bewegungen meines Lebens erlebte.

 

6   Ähnlich Freuds »polymorph pervers«.
7, 8   R. D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1969.

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Sie gingen von einem zentralen Punkt meines Körpers aus und begannen langsam in alle Richtungen auszustrahlen. Sie hatten etwas Wärmendes. Der Bewegungsablauf war sehr langsam, es war, als führte ich ein Wasserballett auf. In der Schlußphase liefen die Bewegungen in meinem oberen Rumpf in rhythmischen Mustern ab. Die Zunge hing mir aus dem Mund heraus und begann zu zittern; ich streckte sie rein und raus, und dann begann ich spontan zu saugen.

Die »Signale« strahlten jetzt stärker, die Wirbelsäule entlang bis in nieine Beine. Nach vielen rhythmischen Bewegungen setzten Körperkontraktionen ein, und mein Körper streckte sich aus. Langsam begann ich mich in krampfartigen Schüben den Geburtskanal herunter zu bewegen.

Plötzlich hatte ich Angst, und es wurde mir klar, daß von außen — außerhalb des Mutterleibs — etwas mit mir gemacht wurde. Mein Körper bewegte sich nicht mehr frei und spontan. Ich wurde von außen gezogen, gestoßen und geschlagen.9

Ich war für das, was geschah, nicht bereit. Ich merkte auch, daß dieses Etwas (die Plazenta) um meine Füße geschlungen war und ich sie nicht frei bewegen konnte. Das heftige Schütteln begann, und ich zitterte am ganzen Leib. Das »Schlagen« von außen ging weiter. An diesem Punkt würde meine Hand über meiner Nase eingeklemmt, und ich konnte nicht frei atmen.10 Ich konnte meine Hand eine beträchtliche Zeit lang nicht befreien. Mein ganzer Körper wurde von Angst geschüttelt. Kein Wunder, daß ich nicht geboren werden wollte. Kein Wunder, daß ich so lange brauchte, um meine Geburtsprimals zu vervollständigen (der eigentliche Vorgang dauerte Berichten Anwesender zufolge fast 30 Stunden).

Bei diesen Versuchen, mich in die richtige Geburtslage zu bringen, wurde mein Körper buchstäblich schon »geschlagen«, noch ehe ich zur Welt kam. Ich habe mich oft gefragt, warum ich die Schläge, die ich als Kind von meiner Mutter erhielt, nie richtig gefühlt habe. Jetzt weiß ich die Antwort. Während der Geburt mußte ich zuviel erleiden, so daß ich bereits bei der Geburt aufhörte, die Schläge zu fühlen.

 

9  Handgriffe, die durch den Arzt von außen vorgenommen werden, um das Baby für die Geburt in die richtige Lage zu drehen.
10  Bei der tatsächlichen Geburt verursacht die Hand in dieser Stellung keine Schwierigkeiten, da der Sauerstoff den Organismus über die Nabelschnur erreicht. Beim Wiedererleben dieser Erfahrung verursachte es jedoch eine Schwierigkeit.

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Der folgende Abschnitt gibt Auszüge der Aufnahme wieder, die unmittelbar nach meinem Geburtsprimal aufgenommen wurde:

»... Da war niemand, der mir half. Niemand - niemand. Und niemand sah... und niemand, der sehen konnte, daß ich in Gefahr war, und daß sie mir weh taten. Sie zwangen mir ihre ganze Macht auf. Dann wurde mein Nacken von einer Seite zur anderen gezwungen und die Vibrationen überwältigten meinen ganzen Körper. Jemand hatte mich am Kopf gepackt und versuchte mich herauszuziehen, mit Gewalt." (Geburtszangen)... zerrten an mir und zogen mich hin und her. Als die Plazenta meine Füße umschlang und ich mich nicht bewegen konnte, fühlte ich mich besiegt und konnte nicht um Hilfe schreien. Niemand konnte hören und niemand konnte sehen... Das waren Primärszenen für mich. ..

... Als ich im Geburtkanal war, brauchte ich behutsame Hilfe... aber dort war niemand, der sie mir geben konnte. Es ist ein Wunder, daß ich überlebte... Ich war so verletzt und so sehr erschrocken.... Ich mußte einfach abschalten und mich abschließen ... Für mich gab es keinen Platz. Meine Mutter hätte eine wirkliche Märtyrerin sein können, wenn ich gestorben wäre. Sie hat ihr ganzes Leben lang immer versucht, eine Märtyrerin zu sein... dann hätte jeder sagen können, wie sehr sie wohl gelitten habe... sie litt so sehr, daß sie sogar ihr Kind verlor... kein Wunder, daß sie mich haßte... ich überlebte und überließ ihr nicht den Triumph... deswegen warst du immer eifersüchtig auf mich, Mama... Deswegen war ich immer eine Bedrohung für dich ... Du wolltest mich wirklich dumm halten, damit ich nicht bemerke, wie sehr du mich haßt... Du mochtest mich nie... nie, nie... Ich wollte mich... Ich wollte mich... Mama, Mama ... wenn du mich nicht willst... und niemand anderes wollte mich... ich will mich jetzt -.. mich ... mich... Ich konnte nur das tun, was sie mir befahlen... liebe mich... bitte liebe mich... mich... mich ... mich. Ich weiß jetzt, daß ein Kind ganz Körper ist... ich bin ganz Körper.

... Mein ganzes Leben bin ich gelaufen und habe versucht, jemand zu finden, der sehen würde, wie bedürftig und wie sehr verletzt ich war.

... Ich weiß, wenn sich meine Urerlebnisse entfalten, daß sie einem festgefügten Muster folgen. Wenn sie vorausgeplant werden könnten, würden sie sich einem natürlichen Ablauf und einer natürlichen

 

11  Die Entbindung war fast vorüber.

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Reihenfolge gemäß entfalten, und doch für mich als Mensch einzigartig sein ... mein ganz persönlicher Weg. Ich kann das festgefügte Muster erkennen, während die Urerlebnisse sich aneinanderreihen. Die Primärszenen sind wesentlich, weil sie die Grundlage meiner Sinnzusammenhänge sind. Ich verstehe auch etwas von Liebe ... es geht einfach darum zu sein ... ich bin... es geht nicht darum, klein oder groß, geistreich oder dumm oder irgend etwas anderes zu sein ... Nur sein, das ist alles. Es war für Mami sicherer, mich ein kleines Mädchen sein zu lassen. Sie wollte nicht, daß ich erwachsen werde und hielt mich von Anfang an zurück — zuerst mit ihrem Körper. Sie mußte mich dumm halten, damit ich nicht dahinterkomme, daß sie mich haßte und mich nicht haben wollte. Wenn sie es schaffte, mich vom Erwachsenwerden abzuhalten, war die Chance, dieses Wissen von mir fern zu halten, um so größer. Ich mußte in allen Fragen von ihr abhängig sein ... auf diese Weise war sie sicher. Ich mußte ihr Lieblingskind sein, damit sie mich kontrollieren konnte ... und mich daran hindern konnte herauszufinden, wie es um die Dinge wirklich bestellt war.

Ich weiß, daß das, was ich durch meine Geburtsprimals erfahren habe, der Anfang der physischen Abwehr meines Körpers war. Er konnte den Schmerz, den ich fühlte, nicht verarbeiten. Doch seitdem ist mein Körper auf so vielerlei Weise wieder zum Leben gelangt. Bevor ich mit der Therapie anfing, habe ich jeden Tag vier Milligramm eines schilddrüsenwirksamen Medikaments genommen. Seit meinem ersten Behandlungstag habe ich nichts mehr eingenommen und habe ein normales PBJ [Jodaufnahme durch die Schilddrüse]. Meine Körpertemperatur ist gesunken ... ich weiß nicht um wieviel, aber als ich kürzlich eine Virusinfektion hatte, zeigte mein Körper alle Symptome hohen Fiebers, doch Messungen ergaben keine erhöhte Temperatur. Dem Arzt war dieser Widerspruch ein Rätsel. Außerdem hat meine früher extrem trockene Haut inzwischen ihren eigenen Schutzfilm hergestellt und einen leichten Glanz erhalten. Ich beginne zum ersten Mal in meinem Leben, wirklich lebendig zu sein.«

 

Interpretation

 

Wir sehen in den Primals dieser Patientin das subtile Ineinandergreifen von Geburtstraumen und späterem Verhalten. Sie sind nicht so sehr Ursache und Wirkung als vielmehr integrale Ganzheiten, die in organismischer Wechselbeziehung stehen. Im Uterus stecken zu bleiben wurde ein Teil ihres späteren »Dumpf«-seins. Das heißt, die intrauterine Erfahrung plus dem Bedürfnis der Mutter, sie auf tausenderlei Art dumm zu halten, und zwar über viele Jahre der Beziehung hinweg, brachten zusammengenommen ein »dumpfes«, unwissendes, nicht begreifendes Verhalten hervor.

Das Wiedererleben der Geburtserfahrung enträtselte ihr viele der späteren Erfahrungen mit ihrer Mutter. Das Bedürfnis ihrer Mutter, sie dumm zu lassen, war nur eine Fortsetzung dessen, sie bei der Geburt nicht ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Daher kann das Geburtsprimal des Steckenbleibens eher als eine totale Hilflosigkeit empfunden werden und weniger als »Dumpfheit«. 

Sich »hilflos« fühlen ist eine Interpretation der Erfahrung. Diese Interpretation entwickelte sich mit dem Gebrauch der Sprache und der Entwicklung der begrifflichen Fähigkeiten. Das Gefühl der Hilflosigkeit aber, wenn man sich machtlos fühlt, Schmerz abzuwenden, beginnt bei einigen Menschen mit dem Geburtserlebnis. Dieses Gefühl ist unbewußt und bleibt unbemerkt; da es aber besteht und sich von einer »Lebens«-erfahrung ableitet, wird es auf das Verhalten derart Einfluß nehmen, daß der Betroffene in seinem späteren Leben hilflos handeln wird (das heißt, er wird sich in einer Situation, auf die er keinen Einfluß hat, hilflos fühlen und auch hilflos handeln).

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