5 Was spielt sich bei einem Primal in Gehirn und Körper ab?
Michael Holden
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Eine der kompliziertesten Fragen hinsichtlich der neurophysiologischen Begründung des Phänomens eines Primals ist die direkte Frage: »Was ist ein Primal?« Aus psychologischer Sicht sind Primals von Dr. Janov genauestens beschrieben worden.1,2 Aber was ist ein Primal aus neurologischer Sicht betrachtet?
Primals sind spontan auftretende Veränderungen der gesamten Physiologie eines Menschen, auf die im weiteren ausführlich eingegangen werden soll; sie liefern eine Sequenz beobachtbarer Phänomene, die nahelegen, daß sie primär durch den Hypothalamus integriert werden. Die exakte Definition eines Primals kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben werden, aber die Natur hat uns mit einem Modell bedacht, anhand dessen wir uns der Definition eines Primals in physiologischen Termini annähern können.
Subjektive Charakteristika
Urschmerz betritt unser Wahrnehmungsvermögen als ein Gefühl von Furcht oder Panik, das in den meisten Fällen als eine Empfindung in Bauch oder Brust erlebt wird. Einige Menschen erleben eine solche Empfindung in den Beinen oder im Becken. Sehr charakteristisch ist, daß diese Empfindung mehr oder weniger ausnahmslos (unmittelbar vor einem Primal) den Körper hinaufwandert: von Becken oder Bauch zur Brust, dann weiter hinauf zum Hals und schließlich zum Mund.
Diese Aufwärtsbewegung des Gefühls wird begleitet von vielen Komponenten einer sympathischen »Massenreaktion«, die im folgenden genauer aufgeführt sind:
1. Plötzliche Tachykardie (Herzjagen) mit typischen Werten zwischen 120 und 200 Schlägen pro Minute.
2. Abrupte Erhöhung des Blutdrucks, oft bis in hypertonische Bereiche. Systolische Werte etwas über 200 mm. Bei vielen Patienten sind Hg verzeichnet worden.
3. Plötzliche Gesichtsblässe.
4. Plötzliche »Gänsehaut« mit aufgerichteten Härchen.
5. Extreme Zunahme der Muskelspannung und normalerweise eine Veränderung der Körperhaltung mit Beugen und Nachhintenstrecken der Wirbelsäule einschließlich Kopf und Hals.
6. Pupillenvergrößerung.
7. Vorübergehend verstärktes Bedürfnis zu urinieren.
8. Vorübergehender Anstieg der Körpertemperatur (gemessen mit rektalem Thermistator) in der Regel um 1 bis 2° Fahrenheit.*
Wenn das Gefühl die Kehle erreicht, kommt es oft zu einem Schrei, der sich der Qualität nach unmißverständlich von dem unterscheidet, der einem Grand-mal-Anfall vorausgehen kann. Dann beginnt man abrupt entweder heftig und krampfartig zu weinen oder wie in extremer Agonie zu wimmern. In diesem Augenblick plötzlichen äußeren Ausdrucks inneren Fühlens setzt der abrupte Beginn einer überwiegend parasympathischen Reaktion ein:
1. Die Tachykardie legt sich wieder, und zum Ende eines Primals ist die Herzschlagfrequenz im Durchschnitt um 10 bis 20 Schläge pro Minute niedriger, als sie es normalerweise im Zustand der Ruhe des jeweiligen Patienten ist. Nach einem Geburtsprimal (erste Ebene) ist eine Pulsfrequenz von 40 bis 20 Schlägen pro Minute keine Seltenheit.
2. Der Blutdruck fällt kontinuierlich ab und ist ebenfalls anschließend niedriger, als es für den Betreffenden sonst »normal« ist.
3. Die Gesichtsblässe wird abgelöst von Erythema, »gerötete Haut« und starkem Schwitzen.
4. »Gänsehaut« und aufgerichtete Härchen gehen schlagartig zurück.
5. Nach einem Primal tritt eine erhebliche Minderung der Muskelspannung ein. Das läßt sich durch EMG-Muster [Elektromyogramm - Aufzeichnung des Verlaufs der Aktionsströme der Muskeln] nachweisen, ist aber auch so offenkundig, Subjektiv hat man das Gefühl einer starken Entspannung der Muskeln.
6. Weinen, der Zugang zu Tränen und die Entspannung des zuvor hohen Spannungszustands gehen mit einer Pupillenverengung einher.
7. Der Drang zu urinieren läßt nach.
8. Die Körpertemperatur fällt ab und kann nach einem Primal um 0.1 bis 3.0° Fahrenheit unter der normalen Körpertemperatur des Betreffenden liegen.
9. Die größten Temperaturrückgänge sind nach Geburtsprimais oder nach anderen Primals erster Ebene zu verzeichnen.
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Diskussion
I. Neurologen, die die obige Beschreibung gelesen haben, werden sofort erkennen, daß Primals einige Züge sowohl mit Grand-mal- als auch mit Petit-mal-Anfällen gemein haben.* Es bestehen jedoch einige wichtige Unterschiede:
Wenn es die Umstände erfordern, kann ein Primärpatient sein Pri-mal durch einen Willensakt abbrechen. Ein Patient mit einem Petit-mal- oder mit einem Grand-mkl-Anfall kann das, wenn überhaupt, so gut wie nie.
Ein Charakteristikum von epileptischen Anfällen ist eine kurze komatöse Phase; für Primals gilt das nicht.
Anfällen folgt eine post-iktale Verwirrung, Primals hingegen folgen Klarheit und Gedankenschärfe.
a) Anfälle sind hinsichtlich nervaler Funktionen in wesentlich stärkerem Maße desintegrierend als Primals; so gehen zum Beispiel bei einem Anfall die Stellreflexe verloren, so daß man hinfällt. Ein Primal kann man zwar nicht stehend erleben, wenn nötig jedoch durchaus im Sitzen.
b) Während eines Anfalls hat man keinen normalen Zugang zu kortikalen Funktionen. Während eines Primals hingegen ist man wach und bewußt; man hat dann durchaus Zugang zu normalen kortikalen Funktionen. Ein Primal ist ein bewußtes Erlebnis.
II. Bei Anfällen und bei Primals manifestiert sich ein Überlappen physiologischer Mechanismen:
1. Dr. Yakovlev hat sich vor allem durch seine Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Neuroembryologie einen Namen gemacht, aber einige seiner zahlreichen Publikationen zeugen desgleichen von klinischen Fachkenntnissen. 1937 schrieb er einen Artikel unter dem Titel »Neurologische Mechanismen bei epileptischen Anfällen«3, in dem er eindeutig den Übergang von sympathischer Dominanz zu parasympathischer Dominanz nachwies, der für Petit-mal- und Grand-mal-Anfälle charakteristisch ist.
* Bei einem Entzug süchtig machender Drogen tritt normalerweise ebenfalls eine sympathische Krise ein, der sich eine parasympathische Erholungsphase anschließt, die von Weinen begleitet wird. Suchtdrogen sind vermutlich deshalb suchterregend, weil ein Unterbrechen der kontinuierlichen Einnahme den Betreffenden sehr nahe an Urschmerz heranbringt, oder wie wir es im Primärinstitut erlebt haben, unmittelbar in ein Primal führt. Suchtdrogen haben Auswirkungen auf Zellen, die Leiden vermitteln - im medialen Mittelhirn und im medialen Thalamus -, und das hat eine Senkung des Schmerzbewußtseins zur Folge. Ein Entzug derartiger Drogen versetzt diese Zellen wieder in die Lage, eine vollere Bewußtheit des Leidens zu vermitteln, und diese Funktion hat einen Rückstoßeffekt (nach Drogenentzug), der zu der charakteristischen Übergangsphase führt, in der man dem Urschmerz übermäßig ausgeliefert ist.
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Über den einleitenden Schrei und die frühe Phase eines Grand mal schreibt er:
»Diese unartikulierten Laute haben eine unmißverständlich emotionale Qualität, die entweder unheimliches Grauen oder zerreißenden Schmerz eines gepeinigten Menschen ausdrückt (Hervorhebung von mir). Sie sind immer verbunden mit einer intensiven, umfassenden sympathischen Reizung — Erweiterung der Pupillen, Hervortreten der Augäpfel, gesträubte Härchen und Muskelkrämpfe. Bevor der Patient fällt, umklammert er oft vehement ein in der Nähe befindliches Objekt.
Diese klinischen Züge legen nahe, daß der einleitende Schrei bei Epilepsie nicht, wie manchmal gesagt wird, lediglich das Ergebnis von Muskelkrämpfen der Stimmbänder ist, durch die via Konvulsionen der Atmungsmuskulatur Luft gezwängt wird, sondern eher eine koordinierte phonetische Reaktion relativ hoher subkortikaler (dienzephaler) Integration.
Der epileptische Schrei hat starke Ähnlichkeit mit dem sogenannten Chloroform-Schrei, dem hydrozephalen Schrei, der mit einer weitverzweigten sympathischen Reaktion auf Schmerz einhergeht (meine Hervorhebung), wie er beispielsweise bei tierischen Versuchsobjekten hervorgerufen werden kann, bei denen die zerebralen Hemisphären einschließlich Striatum entfernt werden (hypothalamischer Schrei)« (Bard zit. in 3).Hinsichtlich der Erholungsphase von einem Grand-mal-Anfall lassen sich Veränderungen in der Homöostase feststellen, die jenen auffallend ähneln, die im Anschluß an ein Primal auftreten.
Dr. Yakovlev fährt fort: »Konvulsionen hören auf; es kommt zu Pupillenkontraktionen, vermehrter Speichelbildung, Rückgang von Puls und Atmung, Verengung oberflächlicher Blutgefäße, starker Schweißabsonderung und einem Rückgang des Blutdrucks und der Körpertemperatur.«
Er zitiert Arbeiten von Beattie und Mitarbeitern und bezieht das erwähnte Phänomen auf Funktionen des Hypothalamus.
».... es gibt im Hypothalamus zwei funktional verschiedene Mechanismen, die jeweils posterior respektive anterior im hypothalamischen Komplex durch Kerne und Fasern repräsentiert werden und durch Verbindungsfasern einander verbunden sind, jedoch getrennte Effektoren-Bahnen haben.
Der Komplex anterior scheint durch seine efferenten Bahnen mit dem kranialen und sakralen parasympathischen System verbunden zu sein, während der posteriore hypothalamische Komplex mit dem thoraco-lumbaren sympathischen System verbunden ist.
Die Auswirkungen einer Reizung der vegetativen hypothalamischen Mechanismen scheinen allumfassend zu sein; sie spiegeln auf den Gesamtorganismus zurück und weniger auf einzelne Körperteile oder -bereiche; mit anderen Worten scheinen die beiden Mechanismen jeweils entweder vornehmlich sympathische oder vornehmlich parasympathische Reaktion auszulösen.«3
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2. Die epigastrische Aura wurde von Penfield und Kristiansen untersucht (zit. in 4). »Solche Vorboten eines Anfalls können als eine unten näher beschriebene epigastrisch wachsende Aura bezeichnet werden oder als eine abdominale Aura oder als Palpitation im Präkordium oder im Epigastrium.
Die Bedeutung der Lokalisierung all dieser Empfindungen ist strenggenommen nicht ganz zutreffend, allgemein jedoch hat man den Ursprung von Entladung an zwei Orten feststellen können: 1. tief innen in der Sylviusschen Furche und 2. in der frontalen Mitte, insbesondere im sekundären motorischen Bereich«.4 (Hervorhebungen von mir).
3. Die Krise oder der Höhepunkt, der bei einem Primal auftritt, wird wahrscheinlich vom Zwischenhirn integriert. Er ähnelt der Art nach einem Orgasmus. Für Neurotiker ist der Orgasmus ein Mechanismus, um Urschmerz umzulenken und zu entladen.
Zusammenfassung:
Ein Primal wird durch eine Sequenz physiologischer Veränderungen im Gehirn integriert, die einem Muster folgen, das uniform, konsistent und in einigen Aspekten den bei Epilepsie zu beobachtenden Mustern ähnlich ist. Die entscheidenden Unterschiede wurden bereits angeführt, der Hauptunterschied soll jedoch noch einmal betont werden: Während ein Anfall zu einer vorübergehenden neuralen Desintegration führt, führt ein Primal zu einer vorübergehenden Veränderung des neurophysiologischen Zustands und erzeugt neurale Integration. Auf Anfälle erfolgt post-iktale Verwirrung. Auf Primals erfolgen Klarheit und Gedankenschärfe.
Das Aufsteigen von Urschmerzen kann — analog fokaler Epilepsie — eine Depolarisierung von Neuronen in der Sylviusschen Furche und/oder in dem sekundären motorischen Bereich widerspiegeln. Die neurophysiologische Überlappung zwischen der Entladung bei einem epileptischen Anfall und einem Primal ist nur partiell, sie legt jedoch nahe, daß zumindest einige Fälle von Epilepsie neurotisch bedingt sind, dafür spricht die faszinierende Beobachtung, daß epileptische Patienten in der Primärtherapie anfallfrei werden und keine antikonvulsivischen Medikamente mehr einnehmen müssen. Die frühen Neurologen, insbesondere Gowers und Jackson, erkannten und untersuchten die Strukturen, die den Mustern von Anfällen innewohnen. Die Untersuchungen von Dr. Penfield und seinen Kollegen haben die Struktur der Muster von Anfällen weiterhin bestätigt. Es gibt eine weitere, ähnliche strukturierte Manifestation von Hirntätigkeit: das physiologische Muster von Primals.
»Es ist großteils ein nicht-willensmäßiger Akt. Dieser Schrei wird am ganzen Körper gefühlt. Viele beschreiben ihn als einen Blitz, der all die unbewußten Kontrollen des Körpers auseinanderzubrechen scheint . . . An dieser Stelle genüge es zu sagen, daß der Urschrei sowohl Ursache als auch Ergebnis eines zusammenbrechenden Abwehrsystems ist.«1
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III. Was ist bei einem Primal eine Verknüpfung ?
Im Primärinstitut heißt es bei Patienten und Therapeuten gleichermaßen, daß es — subjektiv gesehen — Primals gibt, die mit einer Verknüpfung verbunden sind, und Pseudo-Primals ohne Verknüpfung, die nur ein Abreagieren darstellen. Dieser Unterschied sollte auch objektiv untersucht werden. Es läßt sich aufgrund vorläufiger Beobachtungen sagen, daß es in der Tat auch objektive, meßbare Unterschiede zwischen beiden Formen gibt. Einfach gesagt sind im Anschluß an »verknüpfte« Primals erheblich niedrigere Meßwerte vitaler Körperfunktionen zu verzeichnen.
Penfield und Mathieson haben unlängst eine hervorragende neurobiologische Arbeit über Gedächtnismechanismen vorgelegt; wir halten diese Arbeit im Hinblick auf die Primärtheorie für relevant und sehen darin eine Unterstützung der primärtheoretischen Thesen. Dr. Penfield vermutet, daß zwischen den Abtastfunktionen von Neuronen des Hippocampus für kortikale Erinnerungen und den nicht-verbalen Komponenten dieser Erinnerung »zusammenfassende Zugangsschlüssel« existieren müssen. Eine Reizung des Schläfenlappens führt zu lebhaftem Abrufen und Erinnern von Gefühlen, Emotionen und Vorstellungen. Bei einem Primal geschieht genau das gleiche.
Ein Primal setzt ein, wenn man Urschmerz nahe ist, es kündigt sich, wie bereits gesagt, durch eine Veränderung der Empfindungen in Abdomen und Brust an. Primals werden ausgelöst durch das Wiederbeschaffen einer vergangenen (Reiz-)Situation, die für den Betreffenden schmerzhaft war. In dem Maße, wie der Patient immer größeren Zugang zu der schmerzhaften Reizsituation gewinnt, beginnt er sie physiologisch voll und ganz wiederzuerleben. Und bei diesem Übergang läßt sich der Beginn der bereits beschriebenen sympathischen Krise beobachten. Wir glauben, daß dabei im Gehirn der folgende Schaltkreis aktiviert wird: die kognitive Erinnerung einer schmerzhaften Szene der Vergangenheit oder deren allgemeines Thema wird vermutlich — wie in dem Kapitel über die Neurologie des Fühlens erörtert — im vorderen Schläfenlappen des Neokortex registriert.
Zu Beginn eines Primals kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem aufsteigenden Feeling und den Mechanismen, die es normalerweise unterdrücken, und das wird als eine Bedrohung des Organismus erlebt. Während das Erlebnis voranschreitet, sieht man jedoch, daß sich posterior ein hypothalamisches Syndrom aufbaut — der Beginn einer sympathischen Massenreaktion. Wir glauben, daß das eine Erregungsbewegung (neurale Depolarisierung) widerspiegelt, vielleicht analog der einer fokalen Epilepsie. Die Erregung wandert vom Schläfenlappen und der kortikalen Insula zum Hippocampus. Dr. Penfield stellte die Hypothese auf5, daß die älteren, früheren Erinnerungen von eher posterior im Hippocampus gelegenen Neuronen »überprüft« werden.
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Es ist mithin wahrscheinlich, daß frühe Schmerzerinnerungen ihre historisch der Reihe nach registrierten »Zugangsschlüssel« im Hippocampus haben. Bei einem Menschen, der ein Primal dritter Ebene hat, das von der Gegenwart über die jüngere Vergangenheit zur fernen Vergangenheit führt, wandert die Erregung im Hippocampus topographisch vermutlich von vorn nach hinten. Der Fornixbogen wird die Erregung vom Hippocampus zu den Mamillarkörpern und den beiderseits der Kommissur gelegenen Kernen des Hypothalamus führen. Von den Mamillarkörpern ausgehend, findet eindeutig eine dominierende Ausdehnung der Erregung auf den vorderen Thalamus und Cingulum statt, aber auch auf andere Bereiche des Limbischen Systems, wie beispielsweise Amygdala, Vorderhirnseitenstrang und orbitofrontaler Kortex.
Das Cingulum projiziert breitgestreut, doch eine seiner wichtigsten efferenten Bahnen führt zum Hippocampus zurück. Wir glauben, daß eine der ausschlaggebenden Determinanten für das Nichterinnern früher schmerzhafter Begebenheiten die mangelnde physiologische Verknüpfung dieser Erinnerungen mit dem vollen Bewußtsein ist. Der von Dr. Penfield hierfür benutzte Terminus »Zugangsschlüssel« ist ungemein treffend. Ein Teil des Papezschen Schaltkreises im Limbischen System umfaßt fraglos die Zugangsschlüssel zu frühen Urschmerzen und zu frühen schmerzhaften Erinnerungen. Soll ein Primal zu wahrer Einsicht führen, dann reicht es nicht aus, ein starkes Feeling und eine von einer parasympathischen Krise gefolgte sympathische Krise zu haben. Ein Patient hat nur dann wahre Einsicht durch ein Primal, wenn eine Verknüpfung hergestellt wird, und zwar derart, daß er die Beziehung zwischen einem alten, frühen schmerzhaften Erlebnis und einem gegenwärtigen neurotischen Symptom intensiv fühlt und sich ihrer bewußt ist. So hat zum Beispiel ein Patient mit Asthma wahre Einsicht in sein Asthma nur, wenn er das kausale Erlebnis, das Asthma als prototypische Reaktion auf Streß festlegte, voll und ganz wiedererlebt hat — etwa, daß er bei seiner Geburt fast ertrunken ist, von der Nabelschnur stranguliert wurde, oder was sonst es gewesen sein mag.
Aber was geschieht nun physiologisch gesehen bei der Verknüpfung? Die präzise Antwort kann noch nicht gegeben werden. Man weiß jedoch eindeutig, daß sich die Funktion des Hippocampus verändert, denn nach einem verknüpften Primal hat man Zugang zu früheren Gedächtnisaufzeichnungen als vor dem Primal, und gleichzeitig besteht eine vorübergehende Veränderung hypothalamischer Funktionen (merklicher Temperaturrückgang bis zu drei Grad Fahrenheit und merklicher Abfall von Pulsfrequenz, Blutdruck und Alpha-Wellen im EEG).
Der Hippocampus ist ein stammesgeschichtlich alter und lebenswichtiger Teil im Nervensystem der Vertebraten. Er ist bereits bei primitiven Vertebraten wie bei Haien und Reptilien eine hervorstechende Struktur.
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Als entscheidende Komponente der mittleren Vorderhirnzone ist er zwischen Archikortex und Hypothalamus gelegen. Die hippocampale Platte des Ammonshorns erwächst embryologisch voll und ganz in der Mantelschicht.8)
Wie sich deutlich an der (fetalen) Entwicklung des menschlichen Gehirns zeigt, ist der Hippocampus zwischen dem stammesgeschichtlich alten mittleren Gehirn und dem neueren Gehirn gelegen, das es phylogenetisch und ontogenetisch überlagert. Seine Funktion besteht offenbar darin, das innere Milieu des Organismus hinsichtlich seiner Erlebnisse und Milieuveränderungen anzupassen. Als solches ist er eine sine qua non des Überlebens. Da der Hippocampus Zugangsschlüssel5 sowohl zu den Erinnerungen als auch zum Reaktionssystem für Kampf und Flucht hat, verbindet oder verknüpft er die Vergangenheit mit dem System, das darauf reagiert.
Eine schmerzhafte Vergangenheit hat bei Neurotikern psychosomatische Krankheiten zur Folge, weil deren Auswirkungen in und auf die Homöostase des Körpers umgelenkt werden. Entsprechend dem Maß, mit dem der Hippocampus diese Umlenkoperationen ausführt, funktioniert er in biologischem Sinne abnormal. Die Reaktion auf Schmerz ist hier der Ausweg. Es gibt zwei Arten möglicher Reaktionen. Die erste ist das, was eintritt, wenn Schmerz voll erlebt und voll ausgedrückt wird. Die zweite ist das, was eintritt, wenn das Erleben oder der Ausdruck von Schmerz blockiert wird. Die Frage lautet mithin: »Kann die abnormale Funktionsweise des Hippocampus so beeinflußt werden, daß er seine normale Reaktivität wiedererlangt?« (so daß Schmerz wieder voll erlebt und voll ausgedrückt und nicht blockiert und umgelenkt wird). Diese Frage läßt sich bejahen.
Ein Primal ist ein volles Erleben und Ausdrücken von Schmerz. Wir behaupten, daß Primals den Hippocampus zu seiner biologisch normalen Funktion zurückführen. Um die obigen Ausführungen zu erläutern, sei gesagt, daß der Hippocampus bezogen auf Urschmerz potentiell eine der folgenden drei Operationen ausführen kann:
1. Die Auswirkungen von Urschmerz können in und auf den Körper und seinen Stoffwechsel (fehl-)gelenkt werden; das verursacht die inneren Manifestationen von Neurose.
2. Die Auswirkungen von Urschmerz können ebenfalls nach außen zum Kortex (fehl-)gelenkt werden; das führt zu gestörtem interpersonellem Verhalten, das heißt zum Agieren als der äußeren Manifestation einer Neurose.
3. Urschmerz kann voll erlebt und ausgedrückt werden. Das ist die einzige biologisch adäquate Aktion des Hippocampus im Hinblick auf körperlichen oder seelischen Schmerz. Idealerweise würde das in der Kindheit, in der unmittelbaren Gegenwart des Lebens eines Kindes geschehen. Wenn es jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht geschieht, kann es durch Primals in der Gegenwart eines Erwachsenenlebens nachgeholt werden. Wenn Kindheitsschmerz im Erwachsenenalter wiedererlebt wird, ist ein Agieren biologisch nicht mehr erforderlich und die Neurose verschwindet.
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Mit fortschreitender Primärtherapie treten zwei Phänomene gleichzeitig auf: Man hat Monat für Monat Primals über immer weiter zurückliegende, frühere schmerzhafte Begebenheiten, und gleichzeitig stellt sich ein stetiger Trend niedrigerer Meßwerte vitaler Körperfunktionen ein. Mithin gibt es fortschreitende physiologische Veränderungen, die sowohl im Hippocampus als auch im Hypothalamus auftreten. Die natürlichen Funktionen dieser Teile des Gehirns werden wieder auf den biologischen Normalstand zurückgeführt oder, in der Fachsprache der Neurologie, von Hemmung befreit. Letztlich muß man den frontalen Kortex, insbesondere vermutlich den orbitofrontalen Kortex als Hemmer annehmen, der in seinen Auswirkungen auf den hippocampisch-hypothalamischen Schaltkreis weniger aktiv ist (insofern als ein poste-rior-orbitaler Eingriff und die infero-mediale Leukotomie den Körper ebenfalls von der Spannung und den Symptomen einer Neurose befreien).
Bei der Erörterung der Funktionen des Hippocampus zitiert Carpenter die ursprüngliche Auffassung von Dr. Papez bezüglich emotionaler Integration: »Er äußerte die Überzeugung, daß die Formation des Hippocampus und deren wesentliches Projektionssystem, der Fornix, eine der Hauptbahnen darstellen, über die Impulse aus dem Kortex den Hypothalamus erreichen.«6
Die Arbeit von Dr. Kaada7) ist für die Erörterung der Physiologie eines Primals unmittelbar von Belang. Geburtsprimais beinhalten regelmäßig in der Anfangsphase einen vorübergehenden Atemstillstand, der vermutlich auf eine starke Erregung im vorderen Cingulum und/oder orbitofrontalen Kortex schließen läßt. Dr. Kaada spricht von Regionen, die bei Reizung die Atmung hemmen, und schreibt: »Die Existenz eines hemmenden insularen und temporalen Feldes bei Menschen und Affen ist nachgewiesen worden (Beispiele angeführt).«7 Beim Menschen: »Diese (atemhemmenden) Reaktionen sind bei Patienten unter leichter Pentothai-Anästhesie in der vorderen cingularen und hinteren orbitalen Außenfläche erzeugt worden, desgleichen bei bewußten Patienten, bei ihnen in den gleichen Arealen sowie in der vorderen Insula und im pentromedialen Bereich der Temporalplatte, insbesondere in der Region des Uncus (Beispiele angeführt).«7 Diese gleichen Areale sind ebenfalls betroffen (in Untersuchungen an Tieren) (7, S. 1356) bei den langsamen tonischen Streckmuskelbewegungen, die ein auffallendes Merkmal tiefer Primals erster Ebene sind.
Vorderes Cingulum, rostraler Hippocampus und orbitofrontale Regionen sind (bei Untersuchungen an Tieren, besonders an Affen) wiederholt als loci nachgewiesen worden, die bei Reizung eine den Blutdruck senkende Auswirkung vermitteln (7, S. 138 f.).
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Ein anderer Grund, in diesem Zusammenhang auf den frontalen Kortex zu verweisen, ist dadurch gegeben, daß zwei getrennt durchgeführte EEG-Untersuchungen am Brain Research Institute der University of California im Verlauf der Primärtherapie eine Zunahme frontaler Alpha-Aktivität und eine Zunahme frontaler Nicht-Alpha-Aktivität (2-8 Hz) nachgewiesen haben (s. Kap. »Urschmerz und Altern«). Mit fortschreitender Primärtherapie gibt es weniger »schnelle Nidrigvolt«-Aktivität des frontalen Kortex.
Eine andere Art, das Ergebnis eines verknüpften Primals zu betrachten, besteht darin, es unter dem Gesichtspunkt einer gelernten, fehlangepaßten viszeralen Reaktion zu sehen. Nehmen wir als Beispiel einer solchen Reaktion die Beziehung zwischen umweltbedingtem Streß und einem Ansteigen des Blutdrucks. Bei fortgeschrittener Primärtherapie wird die hypertonische Reaktion auf Streß von umweltbedingtem Streß getrennt. Das gleiche tritt auf bei Kopfschmerzen, Asthma, Migräneanfällen etc.
Die viszeralen Funktionen werden im medial-frontalen Kortex re-repräsentiert, und wir glauben, daß Primärtherapie die Funktion dieses Kortex verändert, so daß er nicht länger antizipatorische sympathische Reaktionen integriert, die auf alten schmerzhaften Erinnerungen basieren. Sie verändert seine Funktion dahingehend, daß sie sich auf Reaktionen auf das Hier-und-Jetzt, auf gegenwärtigen Streß konzentrieren — zum Beispiel auf den momentanen Straßenverkehr.
Bei einem Neurotiker werden die viszeralen Reaktionsmuster sowohl durch gegenwärtigen Streß als auch durch alten Urschmerz-Streß bestimmt. Die Primärtherapie normalisiert diese Reaktivität, indem sie Urschmerz durch verknüpfte Primals beseitigt. Das Muster autonomer Reaktionen, die lebhafte Wiederkehr alter Erinnerungen und das buchstäbliche Wiedererleben früherer Begebenheiten im gesamten Körper während eines Primals machen deutlich, daß bei einem Primal das gesamte Gehirn beteiligt ist.
Bei der Verknüpfung in einem Primal wird eine Verbindung zwischen alten schmerzhaften Erinnerungen und gegenwärtigen neurotischen Symptomen geschaffen, eine Verbindung, die wahre Einsicht vermittelt.
In einem solchen Falle verändert sich wie gesagt die Funktion des Hypothalamus. Diese hypotha-lamischen Veränderungen sind anfangs nur vorübergehend und treten jeweils nach einem verknüpften Primal auf, aber nach einigen Wochen zeichnet sich ein meßbarer Trend kontinuierlicher Veränderungen ab. Dieser Trend, der sich auch durch Veränderungen der Meßwerte vitaler Körperfunktionen manifestiert, hält mindestens fünf Jahre an (soviel weiß man bis heute), wahrscheinlich jedoch länger.
Die Verknüpfung in einem Primal ist vermutlich ein komplexes Muster neuraler Depolarisierung zwischen Limbischem System und parieto-temporalem Neokortex. Das genaue Muster ließe sich nur durch tiefe Elektrodenuntersuchungen feststellen, folglich wird es unbekannt bleiben (es sei denn, ein Mensch, bei dem im Gehirn Elektroden angebracht sind, wird aus anderen Gründen während eines verknüpften Primals untersucht).
Die zerebralen Regionen, die im Verlauf der Primärtherapie ihre Funktion mit größter Wahrscheinlichkeit definitiv ändern, sind: der posteriore Hippocampus, der Hypothalamus, das anteriore Cingulum und der orbitofrontale Kortex. Unserer Auffassung nach bedeutet ein öffnen der Schleusen für Urschmerz in der Primärtherapie, daß der Hippocampus durch orbitofrontale kortikale Zellen nicht länger gehemmt wird. Umgekehrt wird der Hypothalamus von seinen Zugangsschlüsseln zu Urschmerz befreit und bringt die Homöostase zu biologischer Normalität zurück, die als objektives physiologisches Kriterium für den post-primärtherapeutischen Zustand angesehen werden kann.
Sofern eine Therapie keinen Zugang zu den subkortikalen Strukturen des Zwischenhirns hat, die den neurotischen Zustand vermitteln, vermag sie Neurose nicht wirksam zu heilen.
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Literatur
1) Janov, A.: Der Urschrei. Ein neuer Weg der Psychotherapie, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1973.
2) Janov, A.: Anatomie der Neurose; Die wissenschaftliche Grundlegung der Urschrei-Therapie, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1974.
3) Yakovlev, P. I.: »Neurologie Mechanism concerned in Epileptic Seizures«, in Arch. Neurology and Psychiatry 37, 1937, S. 523-554.
4) Penfield, W. und H. Jasper: Epilepsy and the Functional Anatomy of the Human Brain, Boston 1954.
5) Penfield, W. und Mathieson: »Memory: Autopsy Findings and Comments on the Role of Hippocampus in Experiental Recall«, Arch. Neurology and Psychiatry 31, September 1974.
6) Carpenter, M. B.: Core Text of Neuroanatomy, Kap. XI, Williams & Wil-kins, 1972.
7) Kaada, B. R.: »Cingulate, Posterior Orbital, Anterior Insular and Temporal Pote Cortex«, in The Handbook of Psychology, Abschn. I: Neurophysiology, Bd. II, Hrsg.: Field, Magoun, Hall, American Physiological Society, Washington, D. C, S. 1345-1372.
8) Yakovlev, P. I.: »Telecephalon >Impar<, >Semipar< and >Totopar<«, in International Journal of Neurology Bd. VI, Nr. 3-4, 1968, S. 255.
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