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Was heilt?     Janov-1975

 

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Wir können jetzt fragen: »Wie kommt es, daß <ein Gefühl fühlen> - Heilung herbeiführt?« Wenn wir uns <ein Gefühl fühlen> einfach als ein Abreagieren vorstellen, dann lautet die Antwort, daß es nicht heilsam ist. Das wäre lediglich eine momentane Erleichterung. Abreagieren als die Entladung der Energie eines alten Gefühls beinhaltet weder ein Wiedererleben noch die Verknüpfung durch alle Bewußtseinsebenen hindurch.

Das Wiedererleben der Geburt ist mehr als ein einfaches Abreagieren; wenn die Blutergüsse und Beulen von einer problematischen Geburt bei einigen Patienten während eines Geburtsprimals in ihrer ursprünglichen Form wieder auftreten, kann man das kaum als Abreagieren bezeichnen. 

Primals erweitern das Konzept der Erinnerung dahingehend, daß es weit mehr bedeutet als bewußt erinnerte Ereignisse. Für jemanden, der abreagiert, bedeutet Erinnerung Bewußtheit dritter Ebene, manchmal begleitet von Affekten zweiter Ebene. Die Primärtherapie geht jedoch davon aus, daß es Bewußtseins- und Erlebnisebenen gibt, so daß ein bewußt erinnertes Geschehen eine körperlich registrierte und »erinnerte« Erinnerung erster Ebene sein kann.

Es gibt verschiedene Arten von Erinnerungen, und diese Unterschiede sind ungemein wichtig, wenn man verstehen will, warum Erinnerungen heilsam sein können. Es gibt Erinnerungen eines Gefühls. Das ist ein Geschehen dritter Ebene. Es ist eher verschwommen, nicht klar oder unmittelbar. Und es gibt das Fühlen einer Erinnerung — das ist ein Primal. Das eine ist ein totales Erlebnis, das andere ein psychisches Geschehen. Wahre Erinnerung benutzt beim Erinnern der Vergangenheit die Sprache des Fühlens. Erinnerungen der dritten Ebene benutzen die Sprache des Intellekts. Primärerinnerung ist immer unmittelbar; sie ist eine Gegenwart.

Ein Kind, dem beigebracht wird, es müsse seine Eltern formal anreden, kann auf der dritten Ebene eine frühe diesbezügliche Szene erinnern (»Ich erinnere mich, daß meine Mutter immer darauf bestand, daß wir sie mit Mutter anredeten.«). Aber eine solche Erinnerung verblaßt gegenüber der ungeheuren Wucht einer Primärerinnerung, bei der die Sprache die wirkliche Sprache des Kindes gegenüber seinen Eltern ist, nicht die angelernte (»Mami, ich will mein Teddy«). Dieselbe Szene, ein unterschiedliches Erinnerungserlebnis..... und ein unterschiedliches therapeutisches Resultat.

Aber wie kommt es, daß das Wiedererleben eines alten Erlebnisses zur Heilung führt?

Wenn wir verstehen, daß ein Gefühl auf seiner spezifischen Bewußtseinsebene repräsentiert ist und daß dieses Gefühl Repräsentationen auch auf anderen Ebenen hat, dann verstehen wir auch, daß <ein Gefühl fühlen> ein alle drei Ebenen einbeziehendes Erlebnis ist. Der Schmerz erzeugt eine Schleusung und unterbricht dadurch den Schaltkreis der bei einem Gefühl einbezogenen Repräsentationen.


Das Ergebnis ist Spannung, und Spannung ist die Energie des Gefühls, das nicht durch die Schleusen zu gelangen vermag, um seinen Schaltkreis bis zum Ende zu durchlaufen. So entsteht ein unverknüpftes Erlebnis, wobei ein Segment des Schaltkreises zurückstrahlt und dadurch das System auf ungezielte Art aktiviert. Das läßt sich mit einem Kanalisationssystem vergleichen, das durch ein Wehr führt. Wenn das Wehr plötzlich geschlossen wird, wird das Wasser mit seiner geballten Energie nach allen Seiten hin umgelenkt.

Die Öffnung des Dammes, um so eine Wiederverbindung herzustellen, ist der Schlüssel. Ein Patient kann seine Wut an anderen Gruppenmitgliedern, gegen eine Wand oder dadurch, daß er auf ein Kissen eindrischt, entladen, ohne dabei irgend etwas zu lösen, denn es wurde ja nichts getan, um die ursprünglich unterbrochenen Schaltkreise, durch die die Wut überhaupt erst entstanden ist, wieder zu verbinden. Diese frühen Schaltkreise sind die Ursache der Wut, und alles, was sich nicht unmittelbar mit ihnen befaßt, kann nicht heilsam sein; es wäre allenfalls ein Abreagieren und eine Bemäntelung.

Primals sind heilsam, weil sie die Verbindung unterbrochener Schaltkreise wiederherstellen, so daß alte Ereignisse aufgelöst werden und das System wieder in seinen normalen Ruhestand gelangt. Primals schaffen Einheit und Kohäsion. Sie korrigieren das System und ermöglichen die richtige Intra- und Interstrukturierung des zellularen Lebens.

Die durch Primals geschaffene Einheit scheint Ergebnissen der Untersuchungen Dr. Gardiners zu entsprechen. Im Gehirn eines Postprimärpatienten herrscht offenbar eine größere Harmonie; elektro­physiologisch ist eine größere Kongruenz der Hirnstrommuster sowohl zwischen vorn und hinten als auch von Seite zu Seite im Gehirn vorhanden. 

Wir können die Hypothese noch weiter führen, denn es könnte sein, daß sehr tiefer früher Schmerz sich auf die Zellen störender auswirkt als späterer Schmerz der zweiten Ebene; und daß der Schmerz um so störender wirkt, je tiefer er ist, so daß man auf zellularer Ebene von einem Kontinuum sprechen könnte, das von leichter Störung bis zur totalen Zerrüttung reicht. Je tiefer der Schmerz, um so lebensbedrohlicher seine Auswirkungen auf die Zellen. Und dieses Konzept der »Lebensbedrohung« ließe sich als Kriterium für den jeweils vorhandenen Schmerz benutzen. So wäre Krebs das Ergebnis schwerwiegender Schmerzen der ersten Ebene, Kolitis wäre etwas weniger schwerwiegend und Magengeschwüre noch weniger und so weiter. Krebs als Krankheit der Zellen wäre eine Krankheit der ersten Ebene und wäre das Ergebnis von Druck der ersten Ebene auf bestimmte Zellen. Krebs ist ja tatsächlich meistens mit den Viszera und der Mittellinie verbunden und beeinträchtigt genau jene Bereiche, die die erste Ebene vermittelt.

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Kein Mensch, der nicht selbst Primals gehabt hat, kann sich den Druck in unseren Körpern, der letztlich zur völligen Struktur­zerstörung der Zellen führt, auch nur annähernd vorstellen, ehe er nicht sieht, wie ein Primärpatient bei Geburtsprimals, die sich auf ein Erlebnis beziehen, das vielleicht nur wenige Minuten gedauert hat, sich unter Schmerz windet und quält, und das manchmal über ein oder zwei Jahre hinweg. 

Zuzusehen, wie dieser Druck Monat für Monat und Tag für Tag freigesetzt wird, läßt uns die ungeheure geballte innere Kraft ahnen, die ständig gegen die Zellen anarbeitet. Wenn die Zellen nachgeben, führt das zu Krankheiten. Vielleicht werden dabei bestimmte Arten latenter Viren freigesetzt und erzeugen Krankheiten. Aber die eigentliche Ursache ist meiner Ansicht nach Primärdruck der ersten Ebene; und Krebs wäre der Wahnsinn der Zelle. Der gleiche Druck, wenn er gegen ein schwaches Bewußtsein dritter Ebene freigesetzt würde, könnte zu einem Wahnsinn anderer Art führen — zu der uns geläufigeren Form, nämlich zum psychischen Wahnsinn.

Vielleicht können wir körperliche und geistige Phänomene im Hinblick auf die Bewußtseinsebenen insofern korrelieren, als es Psychosen, schwere Neurosen und leichte Neurosen des Körpers und der Psyche gibt. Krebs und Psychose wären die schwersten und lebensbedrohendsten (ein Psychotiker vermag sich im Leben nicht sicher zu bewegen); ähnlich könnten leichte Neurosen und leichte Kopfschmerzen gleichgesetzt werden. Asthma beträfe die erste Ebene und kann durchaus lebensbedrohend sein, Gastritis hingegen nicht. Kurzum, ich glaube, daß es Psychosen und Neurosen des Körpers gibt; allerdings tragen diese Begriffe wenig zu unserem Verständnis bei, es sei denn, man nimmt sie einfach als Kürzel, um Grade pathologischer Zustände zu kennzeichnen. Das Kriterium für diesen physisch pathologischen Zustand ist der Grad, in dem die Krankheit lebensbedrohend oder potentiell lebensbedrohend ist.

Gewiß, Zellen sind spezialisiert, so daß Gehirnzellen und Magenzellen nicht die gleichen sind. Aber in der Diskussion von Neurosen oder Psychosen spielt dieser Unterschied keine wesentliche Rolle; hier geht es um Zellen allgemein, und Zellen werden von bestimmten biologischen Gesetzen regiert. Wir alle verstehen, daß der »Geist« unter schwerem sozialem Druck gestört wird. Vielleicht bedenken wir dabei aber nicht, daß der Geist nichts als ein Aggregat gemeinsam arbeitender Zellen ist. Geist ist, kurz gesagt, nicht etwas ex machina, sondern eine Funktion der Zellen. Die Störung des Geistes weist auf eine irgendwie geartete zellulare Störung hin. Ich vermute, daß es irgendeinen grundlegenden Lebensprozeß gibt, der uns dahingehend antreibt, störende Einflüsse zu überwinden und unseren normalen Zustand der Homöostase wiederherzustellen. Wir agieren symbolisch, um alte Bedürfnisse zu befriedigen, um auf diese Weise letztlich zu einer Einheit und Kohäsion zu gelangen. Das Ziel einer Neurose ist mithin Wohlbefinden.

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Der Druck auf die ersten (und wie ich glaube empfindlicheren) Gehirnzellen, der mit der ersten Ebene im Zusammenhang steht, könnte vielleicht den Prozeß des geistigen Zerfalls, der Senilität und möglicherweise auch den des Alterns erklären. Denn die Zellen, die als erste zerfallen, gehören der ersten Ebene an; als zweites zerfallen dann die Zellen der zweiten Ebene, und als letztes schließlich die Zellen der dritten Ebene. Ich könnte mir vorstellen, daß dieser Prozeß des Alterns und des Zerfalls mit der Stärke des Primärdrucks auf bestimmte Zellgruppen zusammenhängt. Wenn wir davon ausgehen, daß sich innerer Druck auf Zellen störend und zerrüttend auswirkt und daß der Druck auf diese Zellen um so größer ist, je größer der Schmerz ist, dann wäre die logische Schlußfolgerung ein der Reihe nach von der ersten zur dritten Ebene erfolgender zellularer Zerfall. 

*

Ich glaube, daß Wissenschaftler und Philosophen gleichermaßen in die Irre gegangen sind, indem sie versucht haben, das Bewußtsein im Gehirn zu isolieren. Sie haben außer acht gelassen, daß das Gehirn in einen Körper eingebettet ist: das Muster neuraler Aktivität, die spezifischen wechselseitigen Verknüpfungen, die Frequenz und Amplitude nervaler Aktivität, sie alle werden beeinflußt durch den Zustand des organischen Bewußtseins, nicht nur durch Gehirnzellen. Bewußtsein entsteht durch die Dialektik der wechselseitigen Veränderung von Körper und Gehirn und durch die jeweiligen Auswirkungen des einen auf den anderen, durch einen Seinszustand. Ein Fehler derer, die sich mit der Natur des Bewußtseins befaßt haben, liegt darin, Bewußtheit (ein »Geisteszustand«) mit Bewußtsein gleichzusetzen. Es sei noch einmal betont, es gibt nur ein Bewußtsein, das viele verschiedene Bewußtheiten oder Wahrnehmungen umfaßt — akustische, visuelle, viszerale etc.

Bewußtsein ist ein Phänomen des Gehirns, und — dialektisch — das Gehirn ist ein Phänomen des Bewußtseins. Bewußtsein hat sich im Verlauf der Evolution mit evolutionären Veränderungen der Gehirnstrukturen gewandelt, und umgekehrt haben sich die Gehirnstrukturen im Verlauf der Evolution aufgrund von Bewußtseinsveränderungen gewandelt.

In diesem Licht betrachtet, verstehen wir, daß Bewußtsein den Fluß spezifischer zerebraler Aktivitäten formt. Bewußtsein ist nicht das psychische Ergebnis nervaler Aktivität — (ein »Leck« von Gehirnzellen) —, sondern ein dynamischer Zustand der Interaktion nervaler Aktivität als einer Funktion des Seinszustands. Das Erstaunliche am Menschen liegt für mich darin, wie ein Konglomerat auf bestimmte Art angeordneter Zellen so wachsen kann, daß es in der Lage ist, innen eine exakte Kopie der Außenwelt zu schaffen und sich selbst dann auf dieses Bild zu beziehen, als sei es außen. Und noch erstaunlicher ist, wie diese Stücke von Materie im Geist Bilder erschaffen können mit Farbe und Klang etc.

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    Die Dialektik   

 

Ich habe den Begriff »Dialektik« des öfteren benutzt und erklärt, die Primärtherapie sei ein dialektischer Prozeß. Vielleicht sollte ich diesen Begriff näher erläutern. Dialektik bedeutet die wechselseitige Durch­dringung von Gegensätzen zu immer neuen Synthesen. Das ist keine rein akademische Bezeichnung. Es ist vielmehr die Grundlage des Lebens und ist meiner Meinung nach das Schlüsselgesetz der Bewegung aller lebenden Dinge. 

Mann und Frau kommen sexuell zusammen und erzeugen einen neuen Menschen. Dieses neue Wesen tut sich später mit einem anderen zusammen und erzeugt einen weiteren Menschen und so weiter. Das ist die Dialektik der Entstehung des Lebens. Ich glaube nicht, daß man sich über dialektische Gesetzmäßigkeiten hinwegsetzen kann, wenn man sich mit dem Reifungsprozeß, mit Neuroseentstehung und mit Behandlungsmethoden menschlicher Neurosen befaßt, denn die Dialektik ist die eigentliche Grundlage des Lebens. So kommt es, daß Schmerz fühlen den Schmerz auflöst; Schmerz nicht fühlen erhält ihn aufrecht.

Wenig fühlen hilft uns, groß zu werden; nicht einmal wenig fühlen veranlaßt uns, zu agieren und unreif zu bleiben. Sich allein fühlen hilft uns, allein zu sein. Es nicht fühlen, veranlaßt uns, uns in Geselligkeit zu flüchten. Angst fühlen hilft uns, Mut zu entwickeln. Sie nicht fühlen bewirkt, daß wir für immer ängstlich sind. Und so weiter, ad infinitum. Wenn wir diese Dialektik übergehen, führt unsere Therapie in die Irre. Wenn ein Patient sich machtlos fühlt, helfen wir ihm, voll und ganz in dieses Gefühl zu gelangen. Andernfalls bliebe dieses unbewußte Gefühl der Machtlosigkeit bestehen und zwänge ihn, ein Leben lang zu agieren, er sei mächtig. Das würde Teil der Grundlage seines lebenslangen neurotischen Verhaltens sein. Und der einzige Ausweg aus diesem Agieren ist das Fühlen der eigenen Gefühle der Machtlosigkeit und der Ohnmacht; eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Nichts anderes würde zu einer Heilung führen. 

 

Ich möchte diesen Punkt mit einem weiteren Beispiel veranschaulichen, selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, denn das ist ein wirklich wesentlicher Punkt. Wenn wir verstehen, daß alle entscheidenden Begebenheiten des Lebens im System registriert werden, dann bleibt das Gefühl der Hilflosigkeit, das während einer problematischen Geburt im Uterus entstand, ein Leben lang bestehen. Im Uterus gibt es keinen Gott, nichts, woran man sich geistig anlehnen könnte, um das Trauma erträglicher zu machen. Später jedoch, wenn das Gehirn weiter entwickelt ist, können wir einen allmächtigen Gott erschaffen, als Hilfe für unsere frühen unspezifischen Gefühle der Hilflosigkeit und der Ohnmacht. Die Stärke dieses Bedürfnisses wird in gewissem Maße (wenn auch keineswegs ausschließlich) durch die Stärke des von der Geburt verbleibenden Gefühls der Hilflosigkeit abhängen. 

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Wollen wir das Symbol beseitigen, so müssen wir uns auf irgendeine Weise mit den Gefühlen auseinander­setzen, die dessen Entstehung bewirkt haben, und das ist die Dialektik. Das Symptom oder Symbol ist die Synthese, die sich aus dem Widerspruch zwischen einem Trauma und der Notwendigkeit, es zu verdrängen, ergibt. Sich mit dem Symptom oder dem Symbol auseinanderzusetzen — auf welche Weise auch immer —, ohne die ihnen zugrunde liegende Dialektik zu berücksichtigen, heißt, unkorrekte Therapie betreiben. Deshalb kann keine ahistorische Therapie — Biofeedback, Konditionierung, Meditation, Encounter etc. — Heilung bringen, da sie die historische Dialektik nicht berücksichtigt. Die Dialektik ist halsstarrig und unnachgiebig. Sie bestimmt, daß nichts anderes funktionieren kann, denn ohne sie findet keine Weiterentwicklung statt. Es ist undialektisch zu glauben, soziale Probleme könnten ohne Berücksichtigung des inneren Zustande der Individuen, die in einer Gesellschaft leben, gelöst werden. Und es ist gleichermaßen undialektisch, zu glauben, innere Probleme könnten restlos gelöst werden, ohne Berücksichtigung der sozialen Struktur, in der wir leben. Leben beginnt mit der Dialektik und entwickelt sich dialektisch. 

Die Grundlage des dialektischen Prozesses ist Materialismus — das heißt, daß es eine materielle Grundlage für geistige Begebenheiten gibt; und selbstverständlich gab es Materie im Universum, lange bevor es Geist und geistige Prozesse gab. Das läßt in unserem theoretischen Schema mithin keinen Raum für mystische Kräfte wie das Es oder einen Elan. Jedes Konstrukt ist an etwas Konkretes gebunden. 

Die Grundlage für psychische Krankheit ist die, daß uns in unserer frühen oder frühesten Jugend etwas Konkretes zugestoßen ist, was eine Auswirkung auf das materielle System hatte; Nervenbahnen wurden umgelenkt und Energie wurde an unverknüpfte Schaltkreise gebunden. Die Behandlung dieses Übels ist wiederum dialektisch — eine Neurose in umgekehrter Reihenfolge —, ein Zurückkehren zu jenen frühen Begebenheiten, eine andere Lösung für sie finden, die gebundene Energie durch Verknüpfung der Schaltkreise freizusetzen. Neurose entsteht durch Blockierung der Schmerzen, und sie wird dadurch behoben, daß man den Schmerz fühlt.

Die Behandlung ist ein Prozeß, eine konstante dialektische Wechselwirkung zwischen repressiven und expressiven Kräften mit immer neuen Lösungen, die den Menschen zu immer neuen Synthesen führen — zu neuen Bewußtseinsebenen und neuen Funktionsebenen. Und wie in allen dialektischen Prozessen birgt die Therapie die Saat ihres eigenen Endes in sich. Je mehr Schmerz man fühlt, um so weniger braucht man die Therapie; je mehr dieses Bedürfnis in der Gesellschaft befriedigt wird, um so geringer wird das allgemeine Bedürfnis für Psychotherapie schlechthin. Je weiter der Patient in seiner Behandlung fortschreitet, um so weniger braucht er einen Therapeuten — und das ist ein entscheidender Punkt, denn er trifft für andere therapeutische Methoden nicht zu. So muß man zum Beispiel ständig meditieren oder kann jahrelang in der Psychoanalyse sein und ist noch immer behandlungsbedürftig.

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Das sind keine Prozesse, die zu einem Abschluß führen. Solange man sich nicht direkt mit den zugrunde liegenden Kräften befaßt, muß man zurückschlagen und diese Kräfte verdrängen; somit bleibt ständig die Gefahr bestehen, daß sie wieder durchbrechen. Und dann bedarf es zur Kontrolle und Verdrängung erneut der Therapie. Das wird ewig so weitergehen, bis wir endlich die Dialektik berücksichtigen — bis wir berücksichtigen, daß Kräfte am Werk sind, die die Entstehung von Neurose bewirken, und daß man sich mit eben diesen Kräften auseinandersetzen muß. 

Aber selbst wenn wir diese Kräfte berücksichtigen, müssen wir darüber hinaus doch auch die Dialektik des therapeutischen Prozesses selbst im Auge behalten. Denn Therapie ist die Neurose in umgekehrter Reihenfolge. Das heißt, daß wir von späteren Ereignissen zu frühen Begebenheiten vorgehen, in genau der umgekehrten Reihenfolge ihres ursprünglichen Auftretens. Auf das Gehirn bezogen, bedeutet das, daß wir fast wortwörtlich von der Peripherie zum inneren Kern vorgehen. Wir setzen uns über die Neuroembryologie keineswegs hinweg, im Gegenteil, wir beziehen sie mit ein. Wir stürzen uns nicht unvermittelt in Material der ersten Ebene (wie einige Therapeuten, die mit LSD arbeiten), sondern betrachten die Therapie insgesamt als einen langsamen, vorgegebenen und geregelten Prozeß. Uns geht es nicht um mystische Ereignisse wie Tod und Wiedergeburt, Zerstörung des Ich oder ähnliches; wir suchen nach konkreten Begebenheiten, die sich in unserem Leben zu ganz bestimmten Zeitpunkten ereignet haben und die konkrete Auswirkungen auf unsere Neurophysiologie hinterlassen haben.

Ebensowenig verhelfen wir einem Patienten zu mystischen oder idealistischen »Höhepunktserlebnissen« oder zu einem »Zustand der Glückseligkeit«. Wir verhelfen ihm zu einer sehr realen Reise in sich selbst, nicht um ihn zu Höhepunkten zu führen, sondern um neue Lösungen für die Kräfte zu schaffen, die in ihm am Werk sind. Diese Kräfte sind erfaßbar, sie sind physisch, zeitlos, und sie sind so lange von Dauer, bis man sie auflöst.

Solange eine psychologische Theorie eine idealistische Vorstellung beinhaltet, wird sie in eben dem Maß ein schwaches Glied in ihrer Kette haben. Freud geht bei all seiner Brillanz und seinem Scharfsinn trotzdem von einer nicht erfaßbaren, unveränderlichen, fast nichtmateriellen, Neurose erzeugenden Kraft aus — dem Es. Er hatte recht im Hinblick auf Verdrängung, aber die eigentliche Frage lautet, was wird verdrängt. Hätte er »Schmerz« statt inzestuöser Kräfte oder libidinöser Impulse gesagt, dann wäre seine Behandlungs­methode einen sehr anderen Weg gegangen. Sie hätte sich nicht darauf gestützt, Abwehrmechanismen gegen aufwallende Impulse zu errichten. Diese Impulse selbst wären vielmehr Gegenstand der Auseinandersetzung geworden und wären gelöst worden. Seine Traumtheorie hätte sich nicht um Wünsche gedreht, die in einem Unbewußten hervortreten, das aus mystischen Kräften besteht, sondern um verdrängte frühe Erlebnisse, die sich ereigneten, noch ehe das Bewußtsein richtig tätig war. 

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Hätte Freud berücksichtigt, daß alles wissentlich erfaßbar ist, dann gäbe es kein unergründliches Es, das all diese ungeheure Zerstörung anrichtet. Und auch das Überich wäre nicht konzipiert als eine eigenartige geistige Kraft, die plötzlich mit sechs Jahren auftaucht. Es gäbe keine Jungschen Schattenkräfte, noch einen besonderen »Willen zum Sinn«, wie ihn Frankl postuliert.

 

Hat man sich einmal über die Dialektik hinweggesetzt, dann sind alle theoretischen Ableitungen aus der Realität möglich, und all diese Ableitungen werden gleichermaßen uneffektiv sein. Zum Beispiel diese »Mutmacher«-Therapien — »Du schaffst es; du mußt eine bessere Grundeinstellung haben. Du bist größer als Napoleon. Du kannst, wenn du nur willst. Laß dich von negativen Gedanken nicht unterkriegen« etc. All diese wortreichen, aufmunternden, im Grunde diktatorischen Therapien mit einem Chefguru übersehen einfach bei den Menschen, die sie ermutigen, daß hinter ihnen ein Leben voller Erfahrungen und Erlebnissen steht, das eine konkrete Grundlage in deren Physiologie hat; wir überwinden unsere Physiologie nicht und verändern umgelenkte neurale Schaltkreise nicht, indem wir uns einfach eine bessere Einstellung zulegen.

Die Patienten ohne Verknüpfung zu ihren inneren Kräften akzeptieren idealistische Vorstellungen gerade aufgrund dieser mangelnden Verbindung zu dem, was real ist. Sie suchen nach unwirklichen Lösungen; sie verfallen auf das Mystische, weil sie abgespalten von innerer Realität an wundersame Ursachen und damit an wundersame Heilmethoden glauben müssen. Und so steigen im Traum natürlich eigenartige Schattenkräfte auf, und die Ergebnisse ihrer sogenannten Therapien werden natürlich mystisch sein und Höhepunktserlebnisse, Glückseligkeit, kosmisches Bewußtsein und dergleichen mit sich bringen. Die Ergebnisse ihrer Therapien werden ebenso vergänglich sein wie die Ursachen, die sie für ihre Probleme postulieren. Sie werden entweder von tiefgreifender Veränderung überzeugt werden, oder sie werden sich selbst davon überzeugen; sie werden sich jedenfalls eine tiefgreifende innere Wandlung einbilden, ohne jene Kräfte, die allein diese Wandlung ermöglichen, je zu lösen. Wenn man den Schmerz nicht anerkennt, muß man sich auf die eine oder andere Art in irgendeinen trügerischen Seinszustand über sie erheben. Und das ist das Erbe idealistischer, nicht dialektischer Therapien. Die Dialektik ist alles.

Die Dialektik bestimmt, daß nichts ohne Ursache oder Grund und nichts für sich allein besteht. Jede neue Größe bringt ihr Gegenteil mit sich; Schmerz bringt Verdrängungsmechanismen mit sich, und Verdrängung hält die Kraft des Schmerzes aufrecht. Alles hat einen allgegenwärtigen Begleiter, und beide zusammen bilden eine Einheit. 

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Die Stärke der Verdrängung zeigt die Stärke des zugrunde liegenden Schmerzes an, und umgekehrt bestimmt das Maß vergrabenen Schmerzes das Ausmaß der Verdrängung. Ein physikalisches Gesetz besagt, daß es für jede Aktion eine gleichwertige entgegengesetzte Reaktion gibt, und deshalb müssen wir, wenn wir uns mit Psychotherapie befassen, immer die Dialektik im Auge behalten. Wir behandeln Verdrängung nicht mit weiterer Verdrängung, in der Hoffnung, so eine Lösung zu finden. Wir verstehen, daß ein verdrängender Mensch unter Schmerz steht, und wir erhalten von seinem Schmerz nicht durch das Kenntnis, was er sagt (denn oft kann er nichts fühlen und leugnet das Vorhandensein von Schmerz), sondern durch den Grad seiner Verdrängung. Wenn er ohne Affekt ist, wissen wir, daß sein Affektleben mit dem Schmerz vergraben ist.

Das Wechselspiel der Kräfte zwischen Schmerz und Verdrängung schafft die Möglichkeit für eine Lösung — für eine neurotische Lösung, die zu Symptomen oder anderen Phänomenen führt. Die Lösung ist neurotisch, weil katastrophaler Schmerz eine nicht neurotische Lösung unmöglich macht. In jeder Neurose gibt es mithin zwei Elemente — das Eigentliche und die äußere Erscheinungsform. Die äußere Erscheinungsform ist eine Manifestation des inneren dialektischen Wechselspiels. Sie ist ein offenes äußeres Zeichen eines verdeckten Inhalts. Offensichtlich sollte die äußere Erscheinungsform nicht behandelt werden, als sei sie eine eigenständige, lebensfähige Größe. Aber genau das ist der Stand der heutigen Psychologie und Psychotherapie: man befaßt sich eher mit der äußeren Erscheinungsform als mit dem Eigentlichen. Das entspricht noch immer dem aristotelischen Denken. 

So sind Akupunktur, Traumanalyse und Sexualtherapien Behandlungsmethoden, die sich nicht auf die spezifischen Ursachen beziehen. Sie sind deshalb Therapien der äußeren Erscheinungsform, und eine durch sie bewirkte Heilung wird im Hinblick darauf bewertet, was mit dieser äußeren Erscheinungsform geschieht. Wenn das Symptom verschwindet, ist die Behandlung ein Erfolg.

Manchmal ist die äußere Erscheinungsform ungemein subtil; wie beispielsweise bei erhöhter Hirnstromfrequenz und -amplitude bei bestimmten Geisteszuständen. Es ist möglich, durch Biofeedback (an anderer Stelle näher erörtert) diese äußeren Erscheinungsformen zu reduzieren, aber das ist fraglos eine undynamische, nichtdialektische Methode. Der springende Punkt ist der, wenn die Dialektik nicht berücksichtigt wird, wird man in der Realität entwurzelt, und dann betritt man den Bereich des Mystischen, der Seinszustände postuliert, die ewig, nicht nachweisbar und ohne Kausalbezüge sind. Bei nichtdialektischen Methoden geht alles, weil äußere Erscheinungsformen im Mittelpunkt stehen; und es gibt viele Wege, gegen äußere Erscheinungsformen anzukämpfen — selbst Stockschläge können so manches sogenannte neurotische Verhalten vertreiben.

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Die Erwiderung der Vertreter nichtdialektischer Methoden ist die, daß ihre Therapie »funktioniert«. Und in einer pragmatischen Gesellschaft wird der Satz, »es funktioniert«, zur Apotheose, in der Pragmatismus in den Himmel gehoben und endlos gepriesen wird ..... und all das nur, weil die Psychologen und Psychiater ein einziges kleines Wort übersehen haben — »Warum?«.

 

Weitere Anhaltspunkte 

 

Vielleicht ist dies ein günstiger Augenblick, um auf Erinnerung als einem holistischen Zustand und dessen Beziehung zum kollektiven Unbewußten Jungs zu sprechen zu kommen. Ich habe bisher gesagt, das Unbewußte bestehe aus den Schmerzen, die wir verdrängt haben; aber vielleicht ist das noch nicht alles. Es könnte ein »genetisches Unbewußtes« geben, das unser allgemeines Erwachsenenbewußtsein ebenfalls formt und mitbestimmt, wie wir auf das Leben reagieren. 

Wir alle stimmen vermutlich darin überein, daß wir Züge unserer Eltern, Großeltern und deren Vorfahren ererben. Wir haben die gleiche Nase, die gleichen krausen Haare, das gleiche Gebiß, die gleiche Augenfarbe wie sie. Die einen sehen ihren Vätern sehr ähnlich, die anderen ihren Müttern. Warum sollte ein ererbtes Nervensystem diesem Prozeß entgehen? Warum könnte unser allgemeines Nervensystem nicht ebenfalls dahin tendieren, wie das väterliche oder wie das mütterliche oder wie das entfernterer Vorfahren zu funktionieren? Bestimmt hat die Natur nicht beschlossen, es bei Haaren, Augen und Zähnen zu belassen und beim Zentralnervensystem eine Grenze zu ziehen. Ich vermute, daß ein Teil des Unbewußten genetisch determiniert ist, weniger inhaltlich als im Hinblick auf allgemeine neurale Steuerungsmuster (zum Beispiel schnell oder langsam) und auf allgemeine Dispositionen. Es wäre möglich, daß eine allgemein ängstliche Veranlagung einen Teil des Systems erster Ebene bildet. Wenn die Mutter ein ängstlicher Mensch war, während der Schwangerschaft ständig unter Angst litt, warum könnte sich das nicht auf unsere physische Struktur übertragen? 

 

Das ist durchaus keine ausgefallene Spekulation. Man hat bei Ratten ein Peptid gefunden und synthetisiert, das den Namen Scotophobin trägt. Extrakte aus Gehirnen von Ratten, die daraufhin konditioniert waren, Dunkelheit zu meiden (vor Dunkelheit Angst zu haben), wurden nicht konditionierten Ratten injiziert. Diese Injektionen führten zu einem Vermeidungsverhalten gegenüber Dunkelheit. Das besagt, daß es eine chemisch erzeugte »Übertragung von Erlerntem« gibt. Ich glaube, daß diese Übertragung auf subtile Weise auch zwischen Mutter und Fetus stattfinden kann. Die Darwinsche Theorie besagt, daß im Laufe der Evolution entstandene Struktur- und Funktionsveränderungen eher artspezifisch als individuell sind.

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Ich vermute, daß im Laufe der Jahrmillionen nicht nur artspezifische Veränderungen stattgefunden haben, sondern auch individuelle Veränderungen. Es wäre beispielsweise möglich, daß die Eigenschaft, vorwiegend in Bildern zu denken, ein »Familienzug« ist. Solche Familien gibt es. Es sind die Künstler und Dichter. Der Sohn einer solchen Familie wird vielleicht nicht gerade ein Dichter, vielleicht wird er Architekt oder Ingenieur; aber die Eigenschaft, Dinge räumlich oder in Bildern zu sehen, kann ein genetischer Faktor sein, der dem Unbewußten von Mutter und Sohn innewohnt. Musikalität wäre ein anderes Beispiel. Lieder selbst sind im Gedächtnisspeicher natürlich nicht von vornherein kodiert; wir lernen die Lieder, die die Mutter als Kind kannte, nicht aufgrund von Vererbung. Aber Tonlage, Metrum und Rhythmus könnten ererbt sein, und dieser genetische Faktor kann unbewußt mitbestimmen, wie das Kind auf seine Umwelt reagiert. Bei einer halbwegs musikalischen Umwelt wird es vielleicht Musiker, während ein anderer unter den gleichen äußeren Bedingungen es nicht würde.

Es besteht eine Kontroverse über den natürlichen Rhythmus der Farbigen. Ohne auf dieses Problem an dieser Stelle ausführlich eingehen zu wollen, möchte ich doch zumindest soviel sagen, daß es Untersuchungen gibt, denen zufolge insbesondere schwarze afrikanische Babys sehr viel früher als weiße motorische Fähigkeiten erwerben. Es stellt sich die Frage, ob eine natürliche Geburt bei Schwarzen (die weniger katastrophalen Schmerz erster Ebene erzeugt) ihnen nicht größeren Zugang zu ihren Körpern ermöglicht als die artifiziellen Bedingungen, unter denen weiße Kinder geboren werden.

Das Gehirn ist keine tabula rasa, auf der das Leben sein Lied spielt. Es hat Eigenschaften, die mitbestimmen, wie auf das Leben reagiert wird. Es gibt Eigenschaften, die von der Spezies ererbt werden — andernfalls hätten wir noch immer das Gehirn des Neandertalers —, und Eigenschaften, die auf individueller Ebene ererbt werden. Unsere gesamte Gehirnstruktur hat sich im Verlauf der Evolution verändert, und wir müssen davon ausgehen, daß diese Struktur aufgrund der Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt allmählich verändert wurde. Selbst die Art der Spaltung des Gehirns hat sich mit der Evolution verändert, denn der unterste Teil des Gehirns (der Hirnstamm), den wir mit den Vögeln und Fischen gemein haben, ist nicht gespalten. 

Ich bin auf die Forschung auf dem Gebiet des »splitbrain« im ersten Kapitel ausführlicher eingegangen. Ich sagte dort, daß die eine Hemisphäre sich hauptsächlich mit intellektuellen Angelegenheiten befaßt, während die andere (die rechte) vorwiegend Fühlen vermittelt. Das ist für die gegenwärtige Diskussion insofern von Bedeutung, als das Verbindungsglied zwischen den beiden Hemisphären, der Corpus callosum, erst nach dem zweiten Lebensjahr voll funktionsfähig ist. Ab diesem Zeitpunkt wird alles, was auf der einen Seite auftritt (wie zum Beispiel ein Gefühl) sofort auch der anderen Seite verfügbar.

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Das bedeutet, daß das Kind fähig zu sein beginnt, in seinen Erlebnissen Sinn zu sehen. Es kann anfangen, über seine Erlebnisse und seine Gefühle nachzudenken; es kann emotional leiden.

Gazzaniga hat einige interessante Untersuchungen über »split-brain« gemacht, die im Hinblick auf die Bewußtseinssysteme von Bedeutung sind.* Er arbeitete mit Patienten, die auf Tumoren hin untersucht wurden. Er injizierte ihnen in die linke Hemisphäre kleine Dosen eines Anästhetikums und versetzte so diese Hälfte in Schlaf. Das Ergebnis war eine Lähmung der rechten Seite, selbst wenn die andere Hälfte wach blieb. 

»Wir legen einen Gegenstand, zum Beispiel eine Zigarette, in seine linke Hand. Er fühlt sie. Wir nehmen die Zigarette wieder fort. Dann läßt die Wirkung des Amytal nach, und die linke Hemisphäre wacht auf. Wir fragen den Patienten, wie er sich fühlt. >Gut<, antwortet er. >Was habe ich Ihnen in die Hand gelegt?< >Weiß ich nicht< sagt der Patient. Dann zeigen wir ihm eine Reihe von Gegenständen, seine linke Hand weist sofort auf die Zigarette.« 

Gazzaniga sagt, das sei der Traum eines Psychiaters, denn es sei etwas vorhanden, was das Verhalten beeinflußt, woran der Patient nicht herankommen könne. »Das könnte erklären, warum Gedächtnisaufzeichnungen der frühesten Kindheit nicht zugänglich sind.« Sie können künftiges Verhalten kontrollieren. Aber da sie gebildet wurden, ehe das Kind sprechen lernte, können sie nicht mit Hilfe des Sprachsystems erinnert werden. 

All das weist erneut darauf hin, daß es unabhängige Erlebnisebenen gibt. Split-brain-Forschung befaßt sich nur mit einer Dimension des Problems, denn die Spaltung im Bewußtsein verläuft nicht nur horizontal, sondern auch vertikal. Es hat den Anschein, als umfaßten die Systeme erster, zweiter und dritter Ebene auf äußerst komplizierte Weise beides, vertikale und horizontale Aspekte. Wir werden es den Neurologen überlassen, dieses Problem zu lösen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur die Forschungsergebnisse zitieren, die mit dem übereinstimmen, was wir in der Primärtherapie immer wieder haben feststellen können, nämlich daß es Schmerz- und Bewußtseinsebenen gibt und daß beide in Beziehung zueinander stehen und entweder Neurose oder Gesundheit erzeugen.

* Pines, S. 157.

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Schlußbetrachtung  

 

Ich habe weiter oben bereits gesagt, daß ich der Überzeugung bin, daß Schmerz einer der entscheidenden Faktoren in der Evolution der dritten Ebene, dem menschlichen Neokortex, ist. Es ist keineswegs der einzige Faktor, da die Veränderung der Umwelt allem anderen voran-

geht; aber diese Veränderungen verursachen sehr oft Schmerz. Und wenn wir andere Lebensformen, selbst Pflanzen, betrachten, sehen wir, daß die Entwicklung um widrige Ereignisse herum verläuft. Wenn man das Wachstum einer Pflanze blockiert, wird sie versuchen, um dieses Hindernis herumzuwachsen; und wenn wir nicht andere Pflanzen derselben Art kennten, könnten wir glauben, dieser eigenartige Wuchs sei normal. Ich glaube, der Mensch ist um seinen nicht umgehbaren Schmerz »herumgewachsen«; er hat einen höheren Kortex entwickelt, um diesen Schmerz verarbeiten und symbolisieren zu können. Das hat ihn befähigt, relativ unbeschadet zu überleben. Der Preis, den er dafür zahlen mußte, ist Neurose.

Schmerz hat im menschlichen Leben gewundenes Verhalten hervorgerufen, und das kann im Laufe der Zeit zu einem im wahren Sinne des Wortes gewundenen Gehirn geführt haben. Ich will damit sagen, daß wir ein Großteil des Neokortex einfach brauchten, um mit Überlastungen fertig zu werden; und weil die Systeme der unteren Ebenen recht verletzlich sind, haben wir offenbar einen höheren Kortex entwickelt, um all den inneren Druck umzulenken. So gesehen, braucht es viel mehr, um die dritte Ebene zu überlasten, weil sie sich buchstäblich vergrößert hat, um mit dem Leben fertig zu werden (um zu symbolisieren, zu rationalisieren etc.).

*

Wir müssen uns fragen, warum der Mensch seinen Schmerz in seiner ursprünglichen Form sein Leben lang »konserviert«. Warum ändert er nicht — ähnlich der Pflanze — einfach die Richtung seines Wachstums, anstatt all diese Erinnerungen zu speichern, die in seinem System nachwirken? Ich glaube, einer der Gründe ist darin zu finden, daß das der einzige dem Menschen mögliche Weg ist, »sich aufzurichten« und so seine Evolution als stabile Form fortzusetzen.

Der Kortex hat es dem Menschen ermöglicht, in der Zeit zurückzugehen, und das nicht nur in der persönlichen Zeit, sondern auch in geologischer. Wenn ein Patient die Primärkette hinabsteigt und ein Primal auf der ersten Ebene hat, wendet er sich in gewissem Sinne zurück und stellt Kontakt zu seinen prähistorischen Vorfahren her; er stellt den Kontakt zu einem Gehirnsystem her, das vor Jahrmillionen in seinen Vertebratenvorfahren existierte. Er klopft an ein Vermittler- und Speichersystem, das Jahrmillionen der Geschichte von dem Sprachsystem entfernt ist, das dazu dient, solche Ereignisse zu erklären. Kein Wunder, daß es dem modernen Menschen mit seinem gigantischen Neokortex unverständlich erscheint, daß er mit einem uralten Erbe in seinem Gehirn in Kontakt steht. Kein Wunder, daß wir nie glaubten, daß Ereignisse der ersten Ebene diesem Gehirn eingeprägt bleiben. Wir haben uns auf Sprache verlassen, auf die Sprache des Neokortex, um Ereignisse zu erklären, die weit unterhalb dieser Fähigkeit liegen. 

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Daß etwas von der Geschichte unserer Spezies in unserem persönlichen Leben verbleibt, sollte uns nicht überraschen, wenn wir bedenken, daß der Fetus Kiemen entwickelt, wie sie unsere fernen Vorfahren, die Fische, hatten. Der Mensch scheint die erstaunliche Fähigkeit zu haben, Aspekte seiner persönlichen und anthropologischen Geschichte beizubehalten. Kiemenspalten sind nur eines von vielen Anzeichen dafür, daß wir unsere Geschichte nicht transzendieren, sondern daß wir uns aus ihr heraus entwickeln. Es ist immer ein Element der Vergangenheit in uns. Wir bewahren nicht nur Aspekte des historischen Organismus, sondern auch die seiner Umwelt. Der junge Fetus befindet sich in einem flüssigen Milieu, und dieses Milieu ist eine salzige Lösung, dem Ozean nicht unähnlich. Mit fortschreitender persönlicher Entwicklung »konservieren« wir unser frühes Milieu als eine physiologische Erinnerung. Die Szene in unserem Geist ist ein Duplikat jener frühen Umwelt mit all ihren ursprünglichen Anblicken, Gerüchen und Klängen.

Alles, was wir psychisch und evolutionär durchmachen, bleibt uns erhalten. Die Erinnerung an unser Klassenzimmer im sechsten Schuljahr ist physiologisch. Sie ist Teil unseres Körpers, genau wie die Kiemen. Der Körper wird durch psychische Ereignisse entstellt, weil diese Ereignisse zum Körper gehören.

 

Wir müssen verstehen, daß Schmerz (und der den Schmerz erzeugende Neokortex) für die Gesundheit unerläßlich ist; denn behielten wir ihn nicht bei, könnten wir unsere Geschichte nicht lösen und Neurose nicht heilen. Auch hier zeigt sich wieder die Dialektik. Schmerz half den Neokortex entwickeln, und dieser Kortex wiederum ist eben jener Mechanismus, durch den Schmerz aufgelöst wird. Schmerz trug also dazu bei, jenen Mechanismus zu erzeugen, der für die Auflösung des Schmerzes selbst erforderlich ist. Das Gehirn ist die einzige Materie im Universum, die sich ihrer selbst bewußt sein kann. Wenn ich mir den Neokortex bildhaft vorstelle, sehe ich eine komplizierte, verschlungene Masse von Windungen, die in einen engen, kleinen Kasten eingesperrt ist.

Mir erscheint es »unnatürlich«, daß eine so ungeheure Masse so wenig Raum hat; und ich glaube, es war zu einem wesentlichen Teil Schmerz, der das Gehirn ständig aktiviert hat, mehr Kortex zu entwickeln, um damit fertig zu werden. Dieser Neokortex ist den beiden alten Bewußtseinssystemen übergestülpt wie der Deckel auf einen Topf; nur ist der Deckel im Laufe der Geschichte der Menschheit gewaltig angewachsen und hat den Topf überwuchert. Für mich steht eines fest, daß nämlich Schmerz ein Überlebensmechanismus ist, und einer der entscheidenden Gründe dafür, daß Schmerz gespeichert wird, ist darin zu finden, daß wir dadurch mit einem eingebauten Gedächtnissystem versehen werden, das uns sagt, was wir in Zukunft vermeiden sollen. 

Was hat dem Menschen all diesen Schmerz eingebracht? Widrigkeiten, Mängel, die Bildung sozialer Strukturen, strukturelle Veränderungen der Erde und des Klimas — eine enorme Vielzahl verschiedener Faktoren. Allein die Bildung sozialer Strukturen bedingt, daß sich das Individuum zum Wohle der Gesamtheit zurückstellt.

Es bedingt Hierarchie, Kontrolle und Autorität. Es bedingt Spezialisierung und Einengung der eigenen Interessen und der eigenen Einflußsphäre. Es bedingt soziale Ausbeutung. Andere Lebewesen, die den Menschen überfielen, waren der Grund, daß einige frühzeitig sterben mußten und ihre Kinder elternlos zurückließen. Naturkatastrophen, Überschwemmungen und Erdbeben führten zu den gleichen Auswirkungen. Und unser Gehirn mußte sich so entwickeln, daß es sich diesen Aufgaben gewachsen zeigen konnte. Und das tat es. Es speicherte all diese Katastrophen der Kindheit, schob zunächst die Zeit hinaus, in der sie verarbeitet werden sollten, um sie später im Erwachsenenalter wieder hervorzuholen, zu einem Zeitpunkt, da genügend Stärke und Unabhängigkeit vorhanden wäre, sie wiederzuerleben.

Ich glaube, das Unbewußte im primärtherapeutischen Sinne unterscheidet sich von nahezu allen bisherigen Konzepten über das Unbewußte. Es ist nicht eine von vornherein »gegebene« Entität. Es ist weder böse noch destruktiv. Es ist weder unüberwindlich noch ewig, noch unveränderbar. Wir werden mit einem Bewußtsein geboren, nicht mit dem Unbewußten im Sinne Freuds, Jungs oder Adlers. Der Mensch ist am Anfang seines Lebens wahrhaft bewußt und potentiell rational. Erst Schmerz und Verdrängung machen ihn sowohl unbewußt als auch irrational. Erst Schmerz macht das Freudsche Unbewußte zeitlos, weil Schmerz immerwährend ist, sofern er nicht gefühlt und aufgelöst wird.

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