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11. Die Verlängerung der Lebenserwartung 

Arthur Janov

 

 

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Gehirn und Körper altern nicht nur einfach so, sie altern aufgrund bestimmter innerer und äußerer Bedingungen; und sie altern auf recht geregelte Weise. Offensichtlich altern sie unter dem Einfluß von Krankheiten schneller, und ich werde zeigen, daß Neurose eine Krankheit ist, die das Altern von Körper und Gehirn merklich beeinflußt. Dieser Prozeß des Alterns bestimmt letztlich, wie lange wir leben — wie lange wir damit rechnen können, auf dieser Erde zu sein; je schwerer die Neurose, um so kürzer die Lebenserwartung. 

Ich glaube, es gibt einen Weg, den Prozeß des Alterns zu verlangsamen, katastrophale Krankheiten, die ihn beschleunigen, zu reduzieren und unsere Chance zu vergrößern, wesentlich länger zu leben, als wir es für möglich gehalten haben. Des weiteren bin ich der Überzeugung, daß die Lebenserwartung des Menschen erheblich unterschätzt wurde. Ich glaube, daß der Mensch heute selbst bei all dem vorhandenen Umweltstreß im Schnitt über hundert Jahre alt werden könnte.

Der Weg, all das zu erreichen, ist zugestandenermaßen mit der Primärtherapie verbunden. Das ist weder ein esoterisches Theoretisieren, noch utopisches Tagträumen, noch eine bloße Vermutung. Unsere wissenschaft­lichen Untersuchungen deuten darauf hin, daß eine erhöhte Lebenserwartung sehr wohl möglich ist, und das nicht im Hinblick auf ein theoretisches Bild des Menschen, sondern auf jene Menschen, die sich heute in der Primärtherapie befinden. Um das verständlich zu machen, werde ich die Faktoren diskutieren, aufgrund derer wir altern und sterben, und darauf eingehen, wie sie verändert werden können. Zunächst einmal ein kurzer Rückblick auf den primärtheoretischen Standpunkt.

Wie ich bereits gesagt habe, perlen all die Dinge, die uns in unserem Leben zustoßen, nicht wie Regentropfen von uns ab. Sie werden in Gehirn und Körper registriert und gespeichert. Ist ein Ereignis zu schmerzhaft, so wird es als Trauma registriert. Ein Trauma bedeutet, daß mehr Schmerz — körperlicher oder psychischer Art — vorhanden ist, als das System integrieren kann. Dadurch wird das System überlastet und versucht automatisch, sich gegen den Schmerz abzublocken. Zum Glück gibt es eine Reihe im Gehirn operierender Schleusen, die uns helfen, Schmerz abzublocken oder zu verdrängen.

Wenn sich die Schleusen gegen ein Trauma verschließen, kommt es zu einer Spaltung oder zu einer Durch­trennung der Verknüpfung zwischen dem Affekt oder dem Gefühl der schmerzhaften Erfahrung einerseits und dem Wissen davon andererseits. Der unverknüpfte Schmerz bleibt als Rückkoppelungs­schleife bestehen, die das System auf die eine oder andere Weise permanent beeinflußt. Sie wird damit für den Rest unseres Lebens fortfahren, sofern sie nicht aufgelöst wird, das heißt, sofern die Verknüpfung zu dem kognitiven Gegenstück nicht hergestellt wird. 

Es ist ein permanenter Energiefluß erforderlich, um diesen Schmerz im Schach zu halten. Je größer der Schmerz und je höher sein Spannungsgehalt oder seine Gewichtung, um so mehr Energie bedarf es, ihn zu unterdrücken. Wenn man all die möglichen Schmerzen in unserem Leben betrachtet — eine traumatische Geburt, frühe Operationen, Kinderkrankheiten und all die tagtäglichen psychischen Traumata, die wir mit unseren Eltern erleiden —, dann wächst der Urschmerz fast geometrisch an. Mit jedem Mal, bei dem unsere Bedürfnisse in unserer Kindheit übergangen werden, wächst das Gewicht der Verdrängung. Wenn wir vernachlässigt werden, uns als Säugling die Seele aus dem Leib schreien können, ohne daß jemand kommt, mit unseren Eltern keinen zärtlichen Körperkontakt haben, zu früh laufen lernen müssen, unsere Gefühle nicht ausdrücken, beim Essen nicht reden dürfen, gedemütigt, verlacht und ständig kritisiert werden etc., zwingen wir das System, mehr Energie für Verdrängung zu investieren.

Solange wir jung sind, scheint der Körper diesem zusätzlichen Energiebedarf nachzukommen. Das Kind erlebt seinen Schmerz nicht; es scheint vielmehr über »unbegrenzte Energie« zu verfügen. Ja, es kann kaum stillsitzen. Bei dieser Energie des Kindes handelt es sich normalerweise um nichts anderes als darum, daß der Körper durch Urschmerz aktiviert wird; nur bleibt das aufgrund der Schleusung ein unbewußter Prozeß.

Es gibt physiologische Anzeichen für diesen Zustand hohen Energieverbrauchs, für den hypermetabolen Zustand, wie wir es nennen. Da das Körpersystem in diesem Zustand stärker arbeitet, wird normalerweise mehr Wärme erzeugt, und dadurch entsteht ein leichter Anstieg der Grundtemperatur. Auch der Blutdruck steigt etwas an, wenn auch nicht so, daß er medizinisch behandelt werden müßte; er ist jedoch höher, als er sein sollte. Um dem Energiebedarf zu entsprechen, arbeitet das Herz etwas stärker, und der Puls geht etwas beschleunigt. Ein Arzt würde diese leicht erhöhten Werte höchst selten als so ernst bewerten, daß er eine Behandlung empfehlen oder sie überhaupt nur in Erwägung ziehen würde. Ja, nachdem er so viele Menschen mit diesen Meßwerten erlebt hat, wird er zu der Annahme gelangen, das sei ein normaler Zustand. So sind 98,6° Fahrenheit zur Norm für die »normale« Körpertemperatur geworden. Wir lernen gerade, daß das durchaus nicht der Fall sein muß.

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Es hat den Anschein, als sei alles so von Neurose durchdrungen, daß neurotische Normen der vitalen Körperfunktionen zum Standard für Normalität geworden sind. Puls, Blutdruck, Körpertemperatur werden als vitale Körperfunktionen bezeichnet, weil man nicht gerade vital (wörtlich: lebendig) sein wird, wenn sie versagen. Sie sind normalerweise die Meßwerte, anhand derer Ärzte unser körperliches Befinden bemessen, um festzustellen, ob wir krank oder gesund sind.

Nehmen wir einmal an, eine Körpertemperatur von 98,6° Fahrenheit sei nicht normal, was meiner Ansicht nach der Fall ist. Und nun würde ein Arzt, der bei seinem Patienten diese Temperatur feststellt, annehmen müssen, er sei krank. Wie ließe sich das beweisen, wenn der Patient behauptet, er fühle sich großartig und sei absolut gesund? Sie beide davon zu überzeugen, daß tatsächlich eine Krankheit vorliegt, wäre ein äußerst mühsames Unternehmen.

Diese Krankheit heißt Neurose. Sie ist subtil und heimtückisch. Sie hat keinen feststellbaren Geruch oder Geschmack. Sie ist kaum sichtbar, und, was noch schlimmer ist, der Träger ist sich der Tatsache, daß er krank ist, oft absolut unbewußt. Es kommt zu einer Neurose, wenn die Last der Urschmerzen einen bestimmten kritischen Punkt erreicht, an dem das System damit nicht mehr fertig wird. Das System ist überfordert und beginnt allmählich, auf sehr subtile Weise zu versagen. Der Neurotiker geht dann zum Arzt, um das behandeln zu lassen, was er für seine »wirkliche Krankheit« hält. Das kann ein Nierenleiden, Migräne, ein Magengeschwür, Asthma, eine Allergie oder sonstwas sein, doch die eigentliche Krankheit ist eine Neurose. 

Das erklärt, warum die Behandlung der nach außen hin in Erscheinung tretenden Krankheit oft ein ganzes Leben dauert. Das Beste, was man mit diesen sichtbaren Leiden machen kann, ist eine Symptombehandlung — Tabletten, Medikamente und noch mal Tabletten —, die nur darauf angelegt ist, das Auftreten des Symptoms zu unterdrücken, nicht aber dessen Ursache zu behandeln. Dabei arbeiten diese Ursachen unaufhörlich unterhalb der Oberfläche und beschleunigen unser Altern und letztlich unseren Tod.

Woher wissen wir das? Woher wissen wir, daß unterhalb der Oberfläche Urschmerzen arbeiten? Und selbst wenn dem so wäre, wie können wir dann sicher sein, daß sie etwas mit Krankheit, Altern und Tod zu tun haben? Abgesehen von der Tatsache, daß wir im Primärinstitut in Los Angeles viele Hunderte von Patienten aus allen Bereichen des Lebens und aus fast allen Ländern der Welt behandelt haben und bei ihnen permanent auf diese Traumata gestoßen sind, gibt es zusätzlich eine ganze Reihe diesbezüglicher wissenschaftlicher Untersuchungen; und diese Untersuchungen werden in diesem Buch immer wieder angeführt. 

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Dazu gehören unter anderem die bekannten Untersuchungen des berühmten Neurochirurgen Wilder Penfield, der mit Hilfe einer an bestimmten Hirnzellen angebrachten elektrischen Sonde bei seinen Patienten ein unmittelbares Wiedererleben einer frühen Kindheitsbegebenheit mit unglaublicher Klarheit und absoluter Erinnerung erzeugte. 

Sobald die Sonde beseitigt wurde, brach das Erlebnis ab. Das heißt, er konnte eine alte, gespeicherte Erinnerung im Gehirn tatsächlich elektronisch stimulieren.

 

Es gibt Tausende von Untersuchungen über Altersregression unter Hypnose, bei denen Probanden in die ersten Monate ihres Lebens zurückversetzt wurden und Begebenheiten mit absoluter Klarheit wiedererlebten. Wir wissen heute, daß es eine Art von »Gedächtnis« oder »Erinnerungen« gibt, die mit unseren früheren Auffassungen nicht übereinstimmen; »Erinnerung« ist nicht identisch mit »bewußtem« Abruf. 

Dieses neue Gedächtniskonzept ist bedeutsam, weil es besagt, daß frühe Begebenheiten im System registriert und systematisch »erinnert« werden können; des weiteren üben diese »Erinnerungen« permanent eine Wirkung auf das System aus. So kennen wir zum Beispiel eine Frau, die in einem Primal wiedererlebte, wie sie von ihrem Vater geschlagen wurde, woraufhin die alten Blutergüsse und Beulen wieder auftraten. Die Körperzellen »erinnerten« die Blutergüsse und brachten sie wieder zum Vorschein, als fände das Geschehen in der Gegenwart statt; das ist ein erneuter Hinweis darauf, daß der Körper im Umgang mit Urschmerz zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht unterscheidet. Die Erinnerung dieser Schläge waren nicht nur passive Engramme. Sie hatten eine Vitalität, eine Lebenskraft, die sich auf die eine oder andere Weise anhaltend auf das System ausgewirkt haben mußte. Das ist die Kraft, die dem System im Laufe der Jahre die Vitalität nimmt.

Wir haben aufgezeigt, wie sich die vitalen Körperfunktionen unserer Patienten im Verlauf der Therapie verändern. Um kurz zu wiederholen: Wir haben eine Senkung der Körpertemperatur bis zu zehn Grad Fahrenheit festgestellt, gemessen unmittelbar vor und unmittelbar nach einem Primal — also in einem Zeitraum von etwa zwei Stunden. 

Man könnte den Einwand bringen: »Diese Veränderungen können durch all das Schreien und Umsichschlagen verursacht werden«, aber genau das Gegenteil ist der Fall, vermehrte Aktivität bewirkt, daß die vitalen Körperfunktionen ansteigen, nicht abfallen. Außerdem haben Kontrollgruppen, die Primals simulierten und keine Verknüpfungen herstellten, keine niedrigeren Werte ergeben. Das Gehirn hat sozusagen seinen eigenen Puls und ein Maß für Aktivität, das seine Amplitude genannt wird. Die Amplitude ist für gewöhnlich ein Maß dafür, wie viele Neuronen im Gehirn zum jeweiligen Zeitpunkt aktiv sind, und dieses Maß sagt uns, wie intensiv das Gehirn arbeitet. So gesehen kann sie als eine weitere vitale Körperfunktion betrachtet werden. Das Gehirn hat einen optimalen Arbeitsausstoß; wird er überschritten, so ist das ein Anzeichen dafür, daß es überarbeitet ist. Da es mit jedem System des Körpers in Verbindung steht, bedeutet ein hyperaktives Gehirn, daß auch andere Teile von uns unter Streß arbeiten.

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Wir erarbeiten jetzt erstmalig, was die durchschnittliche Arbeitsleistung des Gehirns ist, und wir entwickeln Normen, die uns sagen, wann ein Gehirn zu hart arbeitet. Da wir früher bei unseren Arbeiten nicht von einer wirklich normalen, entspannten Population ausgehen konnten, war es nicht möglich, Normen zu erarbeiten. Wir sind jetzt allmählich so weit, daß wir eine recht gute Vorstellung davon haben, wann und wie Neurose im Gehirn vorhanden ist.

Wir haben mehrere sich über ein Jahr erstreckende Untersuchungen an Patienten durchgeführt und haben des weiteren Messungen an jenen Patienten vorgenommen, die vor mehr als fünf Jahren mit der Therapie begonnen haben. Die Ergebnisse sind von großer Tragweite für eine Verlängerung der Lebenserwartung.

 

Ein Primal ist ein einzigartiges physiologisches Geschehen. In den Annalen der Medizin scheint kein gleiches Phänomen vorzukommen. Der Patient liegt unter Beisein seines Therapeuten im Labor und ist sich normalerweise der vielen Drähte, die an den verschiedenen Bereichen seines Körpers befestigt sind, gar nicht bewußt. Sein Therapeut ist bei ihm, um ihm zu helfen, ein frühes Primärgefühl zu fühlen. 

In jedem Fall ist der so untersuchte Patient auch ein klinischer Patient. Wenn er sich dem Gefühl nähert, steht er offensichtlich unter Schmerz. Sein Puls kann um siebzig Prozent oder mehr ansteigen, die Körpertemperatur steigt ebenfalls an, und die Alpha-Amplitude des Gehirns kann sich im Vergleich zu dem Wert im Ruhezustand um 1000 Prozent vergrößern. Würden wir diese Vergrößerung auf andere vitale Körperfunktionen übertragen, so hieße das, daß der Puls über 250 Schläge pro Minute und der Blutdruck 400/200 betragen würde. Ich nenne diese Steigerungen »präprimäre Höhepunkte«, denn sie sind ein Beweis dafür, daß das gesamte Abwehrsystem des Körpers mobilisiert ist, um den Schmerz unten zu halten. An einem bestimmten kritischen Punkt wird das Abwehrsystem überfordert und versagt; der Patient fällt in das Gefühl hinein und wird gewissermaßen in die Vergangenheit eingeschlossen. Es kommt dann zu einer drastischen Verlagerung der Dominanz des sympathischen Nervensystems zu der des parasympathischen. Alle vitalen Körperfunktionen verändern sich, und zwar fortlaufend, bis zum Ende des Fühlens, etwa eine Stunde später. Was dann geschieht, ist ebenso dramatisch wie das Geschehen vor dem präprimären Höhepunkt. Die Körpertemperatur kann bis zu zehn Grad Fahrenheit sinken. Der Puls kann um neunzig Prozent von dem Höhepunkt fallen, der systolische Blutdruck kann um vierzig bis fünfzig Prozent und mehr sinken, und die Alpha-Amplitude kann um mehr als 1500 Prozent vom Höhepunkt bis zum Ende des Primals abnehmen. Diese Veränderungen treten nicht nur vereinzelt auf. Sie sind vielmehr die Regel (die Körpertemperatur allerdings fällt im Durchschnitt meistens um etwa ein Grad Fahrenheit).

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Was bedeutet all das? Zunächst einmal, daß Schmerz und Neurose meßbar sind; daß Neurose eine tiefgreifende Auswirkung auf nahezu alle Systeme des Körpers hat und daß die vitalen Körperfunktionen auf Schmerz reagieren. Sie steigen in Anwesenheit von Urschmerz an und fallen mit dessen Auflösung. Das bedeutet, daß etwas unglaublich Bedrohliches in uns ist; und dieses Etwas ist nichts anderes als ein altes Gefühl oder Geschehen. Der Anstieg der vitalen Körperfunktionen, sobald Gefühle nahen, ist ein gewichtiges Beweismaterial für die Tatsache, daß frühe Schmerzen in unserem Körper ein Leben lang gespeichert bleiben. 

Die chronische Erhöhung vitaler Lebensfunktionen der durchschnittlichen Bevölkerung besagt für mich, daß der durchschnittliche Neurotiker nicht so lange lebt, wie er sollte; daß er zu schnell altert, und daß Primärmenschen sehr lange leben müßten. Wir wissen jetzt, daß die Vitalität des menschlichen Systems mit dem jeweiligen Ausmaß gespeicherter und ungelöster Schmerzen in Beziehung steht. 

Die Alarmreaktionen, die wir während der präprimären Höhepunkte beobachten, sagen uns, daß dort ein Abwehrsystem am Werk ist, das uns normalerweise von Schmerz abschirmt; allerdings läßt das die Frage offen: »Was geschieht mit dem Schmerz in unserem Leben, wenn wir ihn nicht fühlen?« Wohin geht er und was macht er? Was er macht ist, daß er uns zu früh tötet; und das Wohin läßt sich dahingehend beantworten, daß er zirkuliert. Das heißt, ist die Verknüpfung einmal durchbrochen, bildet sich eine Rückkoppelungsschleife, die in den tieferen Gehirnzentren zirkuliert und den Körper innerviert, die Hormonproduktion überstimuliert, Lebensenergie verbraucht, Druck gegen das Organsystem ausübt und die richtigen Sekretionen im endokrinen System hemmt; all das nutzt uns ab und läßt uns altern. Mehr noch, wir glauben, eine Vorstellung davon zu haben, welche Strukturen im Gehirn für all diese Prozesse zuständig sind, und ich werde darüber demnächst noch weiteres zu sagen haben. Wir sehen, daß Schmerz eine enorme Energie verbraucht. Beim gewöhnlichen Ablauf der Dinge bemerken wir das gar nicht, weil es ein Reglersystem gibt, das die vitalen Körperfunktionen und den Energieverbrauch moduliert und ausgleicht, so daß jedes System von der Belastung etwas übernimmt; die einzige Art, das überhaupt zu erkennen, liegt in dem leichten Anstieg der vitalen Körperfunktionen, den die Mediziner inzwischen leider als normal bezeichnen. Es ist keineswegs so, daß der Körper nur dann Energie investiert, wenn die Gefühle im Aufsteigen begriffen sind; er tut es vielmehr unbemerkt und unbewußt permanent, um die Verdrängung der Gefühle aufrechtzuerhalten. Das ist ein vollautomatischer Prozeß. Aber gerade dieser chronische Energieverbrauch macht uns letztlich fertig; er ist ein grundlegender und entscheidender Faktor im Prozeß des Alterns.

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Bislang bin ich noch nicht weiter darauf eingegangen, daß jene Leiden, die unseren Tod beschleunigen oder uns dazu bringen, Gewohnheiten zu entwickeln wie Rauchen oder Trinken (um den Schmerz zu dämpfen), und die dann ihrerseits zu verhängnisvollen Krankheiten führen, durch Urschmerz erzeugt werden. Die Beziehung zwischen Rauchen und Lungenkrebs ist zu bekannt, als daß sie hier ausführlich wiederholt werden müßte; das gleiche gilt für die Beziehung zwischen Trinken und Leberzirrhose. Zwanghaftes Essen und Fettleibigkeit sind ein weiterer Weg, den Tod zu beschleunigen. Wenn der Schmerz uns nicht direkt erledigt, wird er uns indirekt durch die diversen Angewohnheiten töten, die wir uns aneignen, um ihn zu unterdrücken. Fast jeder weiß, daß Rauchen und starkes Trinken zu einem frühen Tod führen. Ist daraus zu folgern, daß all die Menschen, die es dennoch tun, masochistisch sind? Ich glaube nicht. Sie wollen nur nicht unter Schmerz stehen. Sie haben einen unbewußten Pakt mit sich selbst geschlossen: sie nehmen auf lange Sicht den Tod in Kauf, um auf kurze Sicht Schmerz zu vermeiden.

Es kommt nicht nur unmittelbar nach einem Primal zu einer Senkung der vitalen Körperfunktionen. Unsere Untersuchungen weisen auch nach, daß bei unseren fortgeschrittenen Patienten nach acht Monaten in der Primärtherapie ständig niedrigere Meßwerte zu verzeichnen sind. Das ganze System scheint sich etwas zu »beruhigen« — geringerer Energieverbrauch, langsamerer Stoffwechsel und erheblich reduzierte Gehirnaktivität. Wie den in diesem Buch wiedergegebenen Fragebögen zu entnehmen ist, verschwinden die vorhin genannten Leiden und viele Dutzende weitere, ohne — zumindest bislang — später wieder aufzutreten. Die Skala reicht von Hämmorhoiden bis zu Asthma. Die schwächsten Systeme werden die anfälligsten sein, sie werden als erste nachgeben; aber solange Urschmerz ungelöst im System verbleibt, arbeiten alle Systeme unter Streß. Die Auflösung dieser Schmerzen ist mithin eine Frage von Leben und Tod; und jede therapeutische Methode, die Krankheiten - psychischer wie physischer Art — wirksam bekämpfen will, muß sich mit dem Schmerz auseinandersetzen.

Schmerz beschleunigt den Prozeß des Alterns und des Verfalls nicht nur generell, sondern auch höchst selektiv. Zum Beispiel altert das Gehirn nicht einheitlich. Es altert von innen nach außen; die inneren Bereiche werden als erste beeinträchtigt, dann die mittleren und zuletzt die äußeren.* Das ist, wie wir noch sehen werden, aus vielen Gründen bedeutsam; ermutigend ist jedoch, daß der äußerste Bereich unseres Gehirns, der Neokortex, von diesem Prozeß nur sehr geringfügig und nur sehr allmählich betroffen wird; so daß unsere höheren Denkprozesse relativ unbeeinträchtigt bleiben, selbst wenn wir die Hundert überschritten haben.

 

* Eine technisch und neurologisch ausführlichere Diskussion über den Alterungsprozeß des Gehirns findet sich in: Dr. Michael Holden, »Primal Pain and Aging«, Journal of Primal Therapy, II, Nr. 2, 1974.

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Das ist ungemein wichtig, denn wenn Primärmenschen länger als hundert Jahre leben, wäre es für sie gleichwohl wenig erstrebenswert, wenn sie sich dann in der Welt nicht mehr richtig zurechtfänden. Wenn die Denkprozesse getrübt sind, wenn man zum Beispiel keine Bücher mehr lesen oder einen Film im Fernsehen nicht mehr verstehen kann, wäre das Leben kein großer Spaß mehr. Aber zum Glück gehen diese Fähigkeiten nicht verloren. Was aber dann geht verloren? Warum altert das Gehirn von innen nach außen? Könnte man diesen Prozeß des Alterns verändern? Wir glauben, ja.

Das Gewicht oder der Spannungsgehalt von Schmerzen erster Ebene ist groß, und sie erzeugen eine enorme, lebenslänglich im System verbleibende Spannung. Weil alle späteren Schmerzen dieses Substrat überlagern, sind diese Traumata äußerst schwer zugänglich. Der Schleusenprozeß ist von vornherein funktionsfähig, selbst vor der Geburt, so daß auch die frühesten Schmerzen schon geschleust und vom Bewußtsein getrennt werden. 

 

Das Neugeborene mit einer problematischen Geburt kann deshalb eine Vielzahl von Leiden haben, wie zum Beispiel Koliken oder Ekzeme, aber es hat mit Sicherheit keine Bewußtheit von dem, was es durchgemacht hat. Es verfügt einfach noch nicht über genügend Bewußtsein dritter Ebene, um irgendwelche Unterscheidungen hinsichtlich des Ursprungs seiner Schmerzen machen zu können. Aber die Tatsache, daß es sie nicht einordnen und wahrnehmen kann, besagt noch keineswegs, daß sie nicht vorhanden sind. Sie sind durchaus vorhanden, und ihr Schmerz ist intensiv. Wir wissen das deshalb, weil die Meßwerte der vitalen Körperfunktionen enorm abfallen, wenn ein Patient Zugang zu seinen Schmerzen erster Ebene gewinnt und die Traumata auf dieser Ebene aufzulösen beginnt. 

Das ist einer der Wege, durch die wir von der Existenz sehr früher Traumata, von ihren Auswirkungen und ihrem Spannungsgehalt wissen. Wenn wir es mit einem starken Anstieg der vitalen Körperfunktionen vor einem Primal erster Ebene und mit einem gewaltigen Abfall dieser Meßwerte zu tun haben, wissen wir, daß es um Ereignisse mit hohem Spannungsgehalt geht. Und das ist noch nichts im Vergleich zu der subjektiven Erleichterung, die der Patient anschließend empfindet. Er weiß wie kein anderer, welchen Spannungsgehalt das Trauma hatte und was es bedeutet, es allmählich aufzulösen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Patient unmittelbar vor einem starken Primal erster Ebene unter seinen Symptomen ganz besonders zu leiden hat. Mit der Auflösung und der Verknüpfung verlieren sie sich. Verknüpfung heißt, daß das Trauma nun nicht mehr geschleust wird, sondern Zugang zur höchsten Bewußtseinsebene hat, die es jetzt einbeziehen und integrieren kann. Diese Verknüpfung läßt sich beobachten und kann jetzt sogar gemessen werden. Wenn es anschließend zu keinen oder keinen nennenswerten Veränderungen der vitalen Körperfunktionen kommt, wird der Patient für gewöhnlich weiterhin unter seinem Symptom leiden.

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Für uns steht fest, daß Druck erster Ebene oft der größte und daß Schmerz erster Ebene kaum zu übertreffen ist. Ebenfalls evident ist, daß dieser Schmerz ein Leben lang in eben jenem Bereich des Gehirns verbleibt, der als erstes altert. Wir vermuten, daß dieses Altern des innersten Kerns des Gehirns zum großen Teil auf Traumata erster Ebene und auf den Druck, den sie auf diese empfindlichen Zellen des inneren Gehirns ausüben, zurückzuführen ist. Die Unterschiede in der Alphaaktivität des Gehirns vor und nach einem Primal um viele hundert Prozent zeigen unmißverständlich, welche enormen Auswirkungen Schmerz auf das Gehirn hat.

Auf der ersten Ebene verbleibt nicht nur der Schmerz. Jede Bewußtseinsebene vermittelt bestimmte Aktivitäten des Körpers. Wenn ein Neugeborenes ein Trauma hat, wird seine daraufhin erfolgende Reaktion den derzeit angemessenen funktionsfähigen Systemen des Körpers und Gehirns entsprechen. Das Neugeborene wird kaum aufstehen und umherlaufen, um seine Spannung abzublocken. Noch wird es sie rationalisieren oder erklären, und es wird auch nicht zum Eisschrank gehen und sich ein Bier holen. Es ist hauptsächlich im viszeralen Bereich angemessen funktionsfähig und wird deshalb eher vermehrte Magensekretion oder auch Atmungsprobleme entwickeln. In der Regel werden seine Reaktionen innerlich sein und die Mittellinie des Körpers betreffen, die durch das innere Gehirn vermittelt wird. Wenn ein Säugling viel zu stramm in eine Decke eingewickelt wird und es Stunden dauert, ehe jemand kommt und ihn befreit, bleibt ihm nicht viel anderes übrig, als zu weinen und nach innen zu reagieren. Diese Reaktion — zum Beispiel vermehrte Salzsäurebildung des Magens — kann prototypisch werden. Das bedeutet, daß er bei allen späteren Streßsituationen zu gastrischer Hypersekretion neigen wird. Er arbeitet bereits in seinem zarten Alter an einem Magengeschwür. Alles, was es dann noch braucht, sind einige Jahre Streß und Alltagsprobleme, und schon entwickelt sich eine Läsion der Magenwände. Und diese prototypische Reaktion wird er nicht beseitigen können, ehe er nicht das prototypische Trauma auf eben jener Ebene auflöst, auf der es sich ereignete.

Eine der häufigsten Reaktionen der ersten Ebene ist fraglos erhöhte Herztätigkeit. Das Herz beschleunigt sich als Reaktion auf Schmerz, und diese Beschleunigung kann ebenfalls prototypisch sein. Auch hier wieder ist es wichtig zu verstehen, daß eine schnelle Herzfrequenz, später Herzklopfen und -arrhythmie prototypische Reaktionen auf spezifische frühe Ereignisse in unserem Leben sind, die im System noch immer leben. Diese Begebenheiten innervieren das System permanent und bewirken, daß es Energie für deren Verdrängung investiert. Wir wissen davon nichts, weil sie verdrängt oder durch Schleusen abgeblockt wurden, lange bevor wir einen voll funktionsfähigen Kortex hatten, der sie uns hätte erklären können.

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Kein Wunder also, daß es uns schwerfällt zu glauben, daß es so etwas wie ein Geburtstrauma, das uns ein Leben lang begleitet, tatsächlich gibt. Aber es ist so, und es fordert seinen Tribut von unserem Leben. Es bewirkt, daß das Herz ständig etwas schneller schlägt und schon bei geringem Streß dazu neigt, sich erheblich zu beschleunigen. Das ist so, weil spätere streßbeladene Ereignisse die Tendenz haben, das vergrabene prototypische Trauma zu reaktivieren und so die prototypische Reaktion in Gang setzen.

 

Man könnte also sagen, daß viele von uns bereits mit dem Augenblick der Geburt oder noch früher beginnen, an ihrem Herzversagen zu arbeiten. Nicht alle Menschen neigen unter Streß zu beschleunigter Herzfrequenz und erhöhtem Blutdruck. Es gibt prototypische Ereignisse, die dahin tendieren, die Herzfrequenz zu senken. Einer unserer Patienten wurde bei seiner Geburt, nachdem er tot geboren wurde, zur Wiederbelebung sofort in Eiswasser gesteckt. Seine prototypische Reaktion war eine Senkung von Blutdruck und Puls, und diese Reaktion auf Streß hatte er sein Leben lang beibehalten. 

In seinem Falle also waren niedrigere Meßwerte der vitalen Körperfunktionen kein Zeichen von Gesundheit oder langer Lebenserwartung. Sein Gehirn war hyperaktiv, nur betraf seine Hyperaktivität andere Systeme als das Herz- und Blutsystem, und diese Systeme hätten letztlich versagt, und das hätte zu schnellem Altern und schließlich zum frühzeitigen Tod geführt. Es ist schwer, den gewaltigen Druck von Schmerz erster Ebene zu begreifen, denn bislang verfügten wir über keine Techniken, um Menschen auf dieser Bewußtseinsebene zu öffnen. Wir hatten einfach keine Vorstellung von der Größenordnung inneren Drucks, ehe wir ihn nicht herausließen, und jetzt stellen wir fest, daß ein Mensch ein oder zwei Jahre lang Primals haben kann, und das wegen eines einzigen Ereignisses, das zu Beginn seines Lebens vielleicht eine Sache weniger Minuten war. Er wird wegen dieses Traumas täglich mehrere Stunden schreien, weinen, um sich schlagen, sich winden und krümmen; und dadurch entlädt er ständig etwas mehr von diesem ungelösten Schmerz und Druck. Kein Mensch könnte derartige Schmerzen Monat für Monat vortäuschen; niemand würde das auch nur wollen. Und niemand würde sich einem solchen Prozeß unterwerfen, einerlei was Fachleute ihm sagen mögen, wenn er nicht selbst davon überzeugt wäre, daß sich dabei etwas Positives in ihm abspielt. Und dieser positive Prozeß verlängert das Leben.

Es ist verlockend, sich vorzustellen, nur sogenannte Hysteriker hätten derartige Erlebnisse. Doch das trifft einfach nicht zu. Wir hatten Wissenschaftler bei uns, darunter auch eine Reihe erfahrener Psychotherapeuten, die Ereignisse erster Ebene wiedererlebt haben, und sie alle waren davon recht überzeugt. Viele von ihnen hatten früher jahrelang Psychoanalyse praktiziert und fühlten sich recht gut integriert und waren, ehe sie zu uns kamen, schwerlich als Hysteriker zu bezeichnen. 

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Es hieße Logik ins Extrem treiben, wenn man davon ausginge, daß mehr als siebenhundert Patienten allesamt Hysteriker waren oder daß alle für eine bestimmte Art von Erlebnis besonders prädestiniert waren. Unser Ergebnis — nämlich eine Senkung der vitalen Körperfunktionen nach einem solchen Primal — kann nicht vorgetäuscht werden. Es ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Auflösung von Schmerz. Diese physiologischen Meßwerte sagen uns, ob und welche Fortschritte ein Patient macht; ob er wirklich fühlt und auflöst, oder ob er nur abreagiert.

Es gibt eine Vielzahl von Menschen außerhalb des Primärinstituts, die sich einbilden, sie hätten Primals, und die dann später in unserem Labor feststellen müssen, daß sie nur abreagiert haben. Abreagieren löst Schmerz nicht auf, es schafft allenfalls Erleichterung und eine vorübergehende Linderung. Ohne Auflösung des Schmerzes wird alles Weinen und Schreien der Welt den Prozeß des Alterns auch nicht um einen Deut ändern.

Neben subjektiven Berichten verfügen wir jetzt über objektive Maßstäbe, um Fortschritte in der Therapie zu überprüfen. Das ist wichtig, denn Patienten können sich ebenso leicht wie jeder andere Mensch täuschen. Subjektive Berichte sind nur in Verbindung mit objektiven Messungen überzeugend. Menschen beispielsweise, die Meditation betreiben, behaupten, einen Zustand entspannter Glückseligkeit zu erlangen. Untersuchungen zeigen jedoch, daß sich die Amplitude der Hirnströme bei Meditation vergrößert. Wir ziehen daraus die Schlußfolgerung, daß dieser Zustand der Glückseligkeit eine Täuschung ist, eine Selbst­täuschung, die eintritt, weil Meditation die Menge der für Schleusung und Verdrängung erforderlichen Gehirnaktivität vermehrt; und das Ergebnis effektiver Verdrängung ist ein subjektives Gefühl der Entspannung. Diese Art der Entspannung kann den Tod nur beschleunigen. Da ist keine Zauberei, kein Wunder am Werk. Bei jeder therapeutischen Methode muß man die Frage stellen: »Was ist mit dem Schmerz geschehen?« Wenn eine Methode — ob medizinischer oder psychotherapeutischer Art — diese Frage übergeht, übergeht sie damit auch die eigentliche Ursache der jeweiligen Störung. Sie wird das Symptom unterdrücken, die Krankheit jedoch intakt lassen. »Operation geglückt, Patient tot«, ist ein beredter Beleg dafür. Es gibt viele Neurotiker, die das Leben so unerträglich finden, daß eine Verlängerung des Lebens das Letzte wäre, was sie wollten. Aber sie müssen verstehen, daß die Auflösung der Schmerzen auch ihr Elend auflöst, so daß das Leben dann zu einem ungemein kostbaren und wichtigen Gut wird.

Ich möchte keineswegs den positiven Einfluß einer streßfreien Umwelt in Abrede stellen. Fraglos gibt es äußere Faktoren, die selbst bei Neurose das Leben verlängern können — richtige Ernährung, saubere Luft, weniger Leistungsdruck bei der Arbeit, eine weniger auf Konkurrenzdenken ausgerichtete Gesellschaft; das alles sind ungemein wichtige Faktoren, aber bei einer einmal vorhandenen Neurose können sie allenfalls eine gewisse Verzögerung bewirken.

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Vielleicht ist es an der Zeit, Leben und Tod etwas genauer zu präzisieren; denn wenn man schon über den Tod spricht, sollte man auch ein gewisses Konzept vom Leben haben. Das wesentliche Merkmal allen Lebens ist Organisation, und das wesentliche Merkmal des Sterbens ist Desorganisation. Alles in uns ist organisiert — aus einzelnen Systemen, die alle aufeinander abgestimmt arbeiten. Wir sind lebensfähig, wenn die Organisation effizient ist und die Arbeitseinteilung der Lebenssysteme reibungslos verläuft. Das Maximum an Energie, die verbraucht wird, um Organisation sicherzustellen, ist die Lebensfähigkeit des Gesamtsystems. 

Zerfallserscheinungen treten ein, wenn an ein System Anforderungen gestellt werden, die seine Kapazität überschreiten. Wenn das über längere Zeit hinweg geschieht, verliert das System seine Fähigkeit, sich zu regenerieren. Und genau das ist bei Neurose der Fall — eine permanente Anforderung an das System, die Schmerzen im Schach zu halten, mit der das System nicht mehr Schritt zu halten vermag. Schmerz hat desorganisierende Wirkung. Er verursacht einen massiven Umlenkprozeß im Gehirn, so daß Gedanken und Gefühle nicht mehr Hand in Hand arbeiten und aufeinander abgestimmt sind. Das zeigt sich manifest bei einer Psychose — die Kohärenz geht verloren, es erfolgt eine Aufsplitterung des Denkens, und der Betreffende ist allgemein unkonzentriert und zerstreut. Wir sind dann Zeuge eines desorganisierten Geistes; was wir dabei möglicherweise übersehen, ist, daß der »Geist« nichts anderes ist als eine Ansammlung auf bestimmte Weise organisierter Nervenzellen. Ich führe den Begriff der zellularen Desorganisation ein, weil es für uns im allgemeinen zwei entscheidende Wege gibt, die unserem Leben ein Ende setzen: Herzversagen und Krebs.

Ich werde auf Herzversagen später eingehen. Krebs ist ein eindeutiges Beispiel zellularer Desorganisation, und jahrelange Forschung der berühmtesten Wissenschaftler hat dieses Rätsel nicht zu lösen vermocht. Ich meine, daß Krebs (zumindest viele Arten von Krebs) psychosomatisch bedingt ist. Es kann sein, daß wir einfach deshalb noch keine Lösung gefunden haben, weil wir diese Möglichkeit außer acht gelassen haben. Statt immer nur Zellen unter dem Mikroskop zu studieren, sollten wir die Menschen studieren, die diese Zellen mit sich herumtragen; denn letztlich sind diese Zellen eine Widerspiegelung eines inneren Zustands. Wenn dieser Zustand hypermetabol ist, wenn der innere Druck gigantisch ist, so wird sich das gezwungenermaßen auch in den Zellen widerspiegeln.

Bei Krebs verlieren die Zellen ihre ursprüngliche Struktur, und es setzt eine ungeheure Wucherung abnormaler Zellen ein. In der primärtheoretischen Terminologie würde ich das alles als den Wahnsinn der Zelle bezeichnen. Sie hat ihre Organisation und ihre Kohärenz verloren.

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Es ist kein Zufall, daß eine kürzlich durchgeführte Untersuchung von einem Team der Northwestern University Medical School (laut Medical Tribune Report) eine hohe Korrelation zwischen Hypertension (hoher Blutdruck) und Krebs festgestellt hat; beides sind Krankheitszustände erster Ebene. Aber wenn Blutdruck so eindeutig in Beziehung zu Schmerz steht, warum sollte Krebs es dann nicht auch? Ist es möglich, daß eine so hohe Korrelation bedeutungslos ist? Das bezweifle ich. Sie korrelieren meiner Meinung nach deshalb, weil beide inneren Schmerz widerspiegeln. Und es ist kein reiner Zufall, daß die Korrelation zwischen hohem Blutdruck und Dickdarmkrebs am höchsten ist — beide sind auf der Mittellinie angesiedelt, wo die tiefsten Schmerzen und Verdrängungen liegen.

Hoher Blutdruck zeigt einen Druck im Körperinnern an. Wir haben Krebspatienten in der Primärtherapie beobachtet. Wenn sie zu den Schlüsselschmerzen ihres Lebens vordringen, zeigt sich unmißverständlich, wie gigantisch der Druck ist. Patienten mit Magenkrebs fühlen bei Primals einen unglaublichen Druck im Magen; und das macht ihnen klar, wie sie sich jahrelang tagaus, tagein da unten geschunden haben. Erst wenn die Schinderei des Magens aufhört, werden sie sich wirklich bewußt, was sie sich selbst angetan haben. Ich behaupte nicht rundheraus, daß der Krebs bei ihnen durch Urschmerz erzeugt wurde. Ich sage nur, daß der Brennpunkt des Schmerzes in den Schlüsselbereichen zu liegen scheint und daß nach jahrzehntelanger Ausrichtung auf diesen Brennpunkt ein Zusammenbruch der Zellen und des Gewebes eintreten muß. Das ist fraglos ein Punkt, den zu erforschen sich lohnt; insbesondere jetzt, da wir Zugang zu den tiefsten Schmerzebenen haben und es uns somit möglich ist, diese Beziehung genauer zu untersuchen.

Wenn wir weiterhin nur die Zellen als eigenständige Größen untersuchen, dann können wir bestensfalls das Endprodukt des Schmerzes entdecken, und wir würden nicht einmal wissen, daß es sich nur um ein Endprodukt handelt. Wenn wir den Menschen und seine Zellen getrennt betrachten, übergehen wir einen äußerst wichtigen Faktor des zellularen Zusammenbruchs. Wir würden dann die vielen Arten zellularen Zusammenbruchs erforschen, ohne die Ursachen dieser Desorganisation zu berühren. Der Einfluß von Urschmerz ist unserer Aufmerksamkeit in all den Jahren nicht nur deshalb entgangen, weil wir keine Möglichkeiten hatten, Zugang zu den tieferen Tiefen unseres Geistes zu erlangen, sondern auch weil die Auswirkungen von Urschmerz systemisch sind und nicht präzise lokalisiert werden können. Es gibt nichts, worauf man den Finger legen könnte. Wir haben uns früher nicht mit dem ganzen Menschen befaßt, weil wir keine konkrete Möglichkeit dafür hatten; außerdem war der »ganze Mensch« nirgends zu finden. Jetzt aber,.da wir einen Weg gefunden haben, den Menschen »ganz« zu machen, das heißt Körper und Seele miteinander in Einklang zu bringen, können wir eine Vorstellung davon gewinnen, was es heißt, wirklich integriert zu sein.

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Doch zurück zum Krebsproblem. Kürzlich wurde an der University of Chicago eine Untersuchung durchgeführt, bei der an Leukämie erkrankte Ratten geheilt wurden, indem man die Hypophyse entfernte. Die Hypophyse beim Menschen ist eine in enger Beziehung zum Hypothalamus stehende Drüsenstruktur. Beide zusammen regulieren den Hormonausstoß und die vitalen Körperfunktionen. Weil der Hypothalamus den Blutdruck reguliert und weil Blutdruck wiederum mit Krebs korreliert, könnte man diese Struktur daraufhin untersuchen, ob sie einige Hinweise über diese Krankheit liefert. Das heißt, vielleicht hat der Hypothalamus etwas, was beides, Blutdruck und Krebs, beeinflußt. Der Hypothalamus beeinflußt das Immunsystem des Körpers, und es ist nachgewiesen worden, daß Krebs in Verbindung mit einem Zusammenbruch des Immunsystems auftritt. Das Immunsystem vermag die Wucherung der Zellen zu hemmen.

Der Hypothalamus ist eine äußerst wichtige Struktur, er ist einer der zentralen Schmerzvermittler. Er lenkt Schmerz um und leitet ihn in die diversen Organsysteme weiter. Er ist in vieler Hinsicht der viszerale Regulator des Körpers und übersetzt Schmerz in Symptome oder verändert die vitalen Körperfunktionen. Er ist eine Struktur der ersten Ebene, und Traumata auf dieser Ebene werden von ihm vermittelt. Hier entsteht in Zusammenarbeit mit der Hypophyse eine Überstimulierung oder Hemmung der Hormone. Er ist eine Schlüsselstruktur, weil er alle automatischen Funktionen reguliert, die uns am Leben halten — Atmung, Blutkreislauf, Temperatur und Herztätigkeit. Wir sollten aus den an Ratten und Mäusen durchgeführten Untersuchungen lernen, daß, wenn die Schmerz vermittelnden Strukturen entfernt werden und dadurch Leukämie geheilt wird, zwischen Schmerz und Krebs möglicherweise eine wichtige Beziehung besteht. 

Glücklicherweise bedarf es beim Menschen keiner operativen Eingriffe, um den Schmerz herauszu­schneiden. Es gibt einen Weg, die schwere Last des Schmerzes, die der Hypothalamus trägt, wiederzuerleben. Ich sage nicht, daß das kein schmerzhafter Weg sei, nur weisen unsere Untersuchungen und Beobachtungen darauf hin, daß Gefühle nicht in sich und aus sich selbst heraus schmerzhaft sind. Was weh tut, ist vielmehr die Blockierung dieser Gefühle. Deshalb senken sich alle vitalen Körperfunktionen, wenn ein Mensch sich in seine Gefühle begibt. Das System steht dann nicht länger unter Streß, es ist nicht länger bedroht. Es reagiert einfach. Oder sagen wir es etwas anders, Gefühle werden blockiert, weil sie zum Zeitpunkt des ursprünglichen Entstehens schmerzhaft sind. Sie können von Erwachsenen schließlich gefühlt werden, weil der Erwachsene nicht mehr daran sterben wird, wenn seine Mutter nicht an sein Bettchen kommt. Es hat seinen guten Grund, daß sich keine offensichtlichen Beweise für

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Schmerz erster Ebene haben erkennen lassen (wenngleich einige psychotische Schübe Beweise dafür liefern, allerdings werden sie nicht als solche erkannt). Sie sind am schwersten zugänglich. Der Grund dafür liegt unter anderem darin, daß von dem richtigen Funktionieren der ersten Ebene unser Überleben abhängt. Könnten Schmerzen erster Ebene sehr leicht freigesetzt werden, so daß sie sehr schnell aufsteigen, dann könnte nahezu jedes Ereignis unsere Systeme völlig durcheinanderbringen und drastische Schwankungen unserer vitalen Körperfunktionen auslösen. Es wäre nicht sehr gut, wenn das allzu oft geschähe, und zum Glück ist das ja auch nicht der Fall. Statt dessen aber bringt uns diese tiefe unbewußte Verdrängung möglicherweise Krebs ein. 

Primals sind ein erstaunliches Phänomen; sie sind nicht nur in ihrem äußeren Erscheinungsbild, sondern auch in ihrem Erleben katastrophal. Jeder Patient, der ein Primal auf der ersten Ebene hat, weiß zum Beispiel genau, daß er etwas sehr Tiefgreifendes durchmacht. Er weiß auch beim ersten Mal, daß tief in seinem Gehirn Kräfte verborgen sind, die ihm bislang unvorstellbar waren. Er ist sicherer als je zuvor, daß ihn diese Schmerzen auf die eine oder andere Weise getötet hätten, und ist zutiefst beeindruckt, mit welch erstaunlichen Methoden der Körper die häßliche Wahrheit vor uns verbirgt und uns funktionieren läßt.

Das Hormonsystem gilt normalerweise als der chemische Vermittler von Gefühlen. Hormone beeinflussen alles, sei es unsere Körpergröße oder die Menge der Muttermilch, die eine Frau für ihr Baby produziert. Sie bestimmen großteils unser Sexualleben und das Wachstum der Brüste einer Frau. Die hormonelle Interaktion bildet ein System, das als das endokrine System bezeichnet wird. Dieses System ist Gefühlen gegenüber äußerst empfindlich und kann durch sie drastisch verändert werden. Hormonell bedingte Krankheiten wie etwa Hyperglykämie oder Diabetes sind auch gefühlsbedingte Krankheiten. Emotionale Störungen wirken sich auf sie oft nachteilig aus. Dank unserer Kenntnis der prototypischen Traumata und prototypischen Reaktionen können wir jetzt sehen, wie hormonell bedingte Krankheiten, die im späteren Leben oft zum Tod führen, überhaupt entstehen. Schwere Traumata, die sich sehr früh im Leben ereignen, wenn das Hormonsystem noch im Aufbau begriffen ist, können das endokrine System schwerwiegend beeinträchtigen.

So kann zum Beispiel ein Urtrauma die Sekretion der Schilddrüsen dahingehend beeinflussen, daß bei späterem Streß mit einer Überproduktion oder Unterproduktion der Schilddrüsenhormone reagiert wird. Urtraumata können sich auf das System auf genau die gleiche Art auswirken wie extreme Wetterverhältnisse auf einen normalen Thermostat, der dann einfach überfordert ist. Bei ständiger Überlastung wird letztlich das Wärmesystem zusammenbrechen. Das kann zum Beispiel bei Hypothyreoidismus [Unterfunktion der Schilddrüse] der Fall sein. Das Trauma bewirkt, daß zu wenig Schilddrüsenhormone in den Körper gelangen.

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Ein solcher Mensch wird leicht müde und gereizt, ohne zu wissen, warum. Er kann sich chronisch deprimiert fühlen und mag seine Inaktivität und allgemeine Lebensunlust auf die eine oder andere Weise rationalisieren, weil er einfach nicht versteht, was eigentlich nicht stimmt. Selbst wenn er untersucht und seine Schilddrüsenunterfunktion schließlich behandelt wird, wird damit noch immer nicht die eigentliche Ursache behandelt. An dieser Stelle sei angemerkt, daß eine große Anzahl von Schilddrüsen-Patienten durch die Primärtherapie erfolgreich behandelt wurde, desgleichen viele andere hormonell bedingte Krankheiten. Wir hatten Fälle, bei denen Patienten täglich große Dosen schwerer Schilddrüsenpräparate einnehmen mußten, die aber schon nach viermonatiger Therapie weder Tabletten zu nehmen brauchten noch irgendwelche der vorherigen Symptome von Hypothyreoidismus zeigten. Und unsere Laboruntersuchungen bestätigen die von uns beobachteten Veränderungen.

Hypothyreoidismus gilt normalerweise nicht als lebensbedrohende Krankheit, doch ich glaube, daß alle Primärkrankheiten insofern lebensgefährdend sind, als daß sie uns sehr viel früher sterben lassen, als es eigentlich sein müßte. Auch das ist wiederum ein Zeichen dafür, daß das System nicht richtig arbeitet, daß es aus dem Lot ist und daß es nach jahrzehntelangen Funktionsstörungen in sich zusammenbricht. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß das bei den meisten Neurotikern normalerweise in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern eintritt. Es hat den Anschein, als könne dieses großartige menschliche System bis dahin nahezu jeden Mißbrauch verkraften. Es kann Funktionsstörungen im Körper über fünf Jahrzehnte lang gleichmütig absorbieren. Aber dann sind seine Grenzen erreicht, dann scheinen die verheerenden Auswirkungen des »Alterns« einzusetzen; aber dabei handelt es sich keineswegs um altersbedingte Leiden. Sie sind vielmehr das Endresultat der Tatsache, daß wir in all den Jahren eine gewaltige Schmerzenslast in unserem System mit uns herumgetragen haben. 

 

Es ist ein allgemeines Gesetz des Körpers, daß er sich gegen Schmerz abblockt. Das Blutsystem kontrahiert sich, die Muskeln spannen sich an, und selbst die Pupillen verengen sich angesichts schmerzhafter oder unangenehmer Ereignisse. Es ist mithin kein Wunder, daß viele von uns unter der Last vergrabener Schmerzen letztlich Kreislaufstörungen entwickeln. Bei Neurotikern kommt es mit zunehmendem Alter zu einer Steigerung des Blutdrucks (bei Postprimärpatienten ist das unseren bisherigen Untersuchungen zufolge nicht der Fall). 

Diese anhaltenden Konstriktionen belasten ihrerseits das Herz; und Funktionsstörungen des Herzens sind die häufigste Todesursache. Ein offenes, unbeeinträchtigtes Blutsystem ist mithin die Grundvoraussetzung für ein langes Leben. Wir hatten mehrere Fälle von Angina pectoris bei Männern in den Fünfzigern. Angina pectoris ist ein sehr weit verbreitetes Herzleiden, das sich durch einen intensiven, stechenden Schmerz in der Brust bemerkbar macht.

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Einer der zu Angina pectoris beitragenden Faktoren ist die Konstriktion der Blutversorgung des Herzens. Bei einem Angina-Anfall kommt es zu einer Gefäßverkrampfung, und die Sauerstoffversorgung bestimmter Herzzellen wird unterbrochen. Wenn diese Unterbrechung hinreichend lange anhält, kommt es zu Zellsterben (das wird normalerweise als »Herzattacke« erlebt). 

»Zellsterben« klingt ungemein klinisch, es bedeutet aber, daß Teile von uns absterben. Wir sind nichts anderes als eine organisierte Ansammlung von Zellen. Und dieser Teil stirbt, weil er nicht genügend Sauerstoff erhält. Meiner Meinung nach könnte das darauf zurückzuführen sein, daß das System versucht, durch die Konstriktion Schmerz abzuwehren. Wir haben Angina pectoris bei Männern verhindert, die bereits die ersten schweren Anzeichen eines Anfalls zeigten. Der Schmerz gelangte zu vollem Bewußtsein, anstatt in das Blutsystem umgelenkt zu werden. Daran erkennen wir eindeutig die Beziehung zwischen Schmerz und Krankheit und, wichtiger noch, die Beziehung zwischen Schmerz und Tod.

 

      Langzeituntersuchungen   

 

Es gibt weniger dramatische Todesarten als Herzversagen, das Ergebnis ist jedoch immer gleichermaßen endgültig und unwiderruflich. Zum Beispiel gibt es in der Vergleichenden Anatomie eine Theorie, der zufolge allen Spezies ein gewisses Quantum an Herzschlägen zur Verfügung steht, und wenn dieser Vorrat verbraucht ist, bedeutet das das Ende. Die Maus, die eine Lebenserwartung von drei Jahren hat, hat einen normalen Herzschlag von 200-300. Der Elefant, der gut sechzig Jahre alt wird, hat einen Herzschlag von 60-70. Mit anderen Worten, langsamerer Herzschlag und längere Lebenserwartung scheinen zu korrelieren.

Es ist von nicht unerheblicher Konsequenz, daß wir bei Primärpatienten in unseren Langzeituntersuchungen eine durchschnittliche Reduzierung der Herztätigkeit um zehn Schläge pro Minute haben feststellen können. Des weiteren ist ihr Blutdruck erheblich niedriger; in einigen Fällen von Hypertension vor der Therapie hat es eine Senkung des Blutdrucks nach der Therapie um 50 Prozent gegeben.

Ein USC-Biologe ist der Ansicht, der Mensch könnte sein Leben um mehrere Jahrzehnte verlängern, wenn es ihm gelänge, seine Körpertemperatur um etwa zwei Grad Fahrenheit zu senken. So weit sind wir noch nicht, aber Langzeitpatienten liegen im Durchschnitt um ein Grad Fahrenheit unter der allgemeinen Durchschnittstemperatur von 98,6° Fahrenheit. 

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Bei diesen Berechnungen muß angemerkt werden, daß Primärmenschen nicht rauchen. Und das bedeutet — von Lungenkrebs einmal abgesehen —, daß ihre Herzen weniger hart arbeiten; denn Rauchen und Nikotin neigen ganz besonders dazu, die Blutgefäße zu verengen, und das wiederum zwingt das Herz, wesentlich härter zu arbeiten, um die Sauerstoffversorgung des Blutes sicherzustellen. 

 

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor hinsichtlich der Verlängerung der Lebenserwartung. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß unverknüpfter Schmerz das System mobilisiert. Nur fühlen viele Neurotiker diese Mobilisierung einfach deshalb nicht, weil sie ihr Leben von vornherein so gestalten, daß es diesem Zustand der starken Aktivierung entspricht. Sie finden ständig neue Projekte und Auseinandersetzungen, so daß sie nie zur Ruhe kommen und entspannen müssen. Ihr Leben ist in gewisser Weise eine einzige Rationalisierung für ihre unbewußte Primäraktivierung. 

Sie mögen zwar glauben, all die Arbeit und die dringenden Termine seien äußere Faktoren, aber das können sie nur, weil ihr Leben von vornherein in diese Richtung gedrängt wurde. Das Endergebnis ist, daß ein solcher Mensch ständig herumeilt und dabei seine Herzschläge und seine Energie aufbraucht. Nicht das Überarbeiten selbst ist tödlich, sondern die Ursache, die einen Menschen dazu bringt, daß er sich überarbeitet. Tragisch ist nur, daß er nichts machen kann, um diesen Prozeß anzuhalten. Urschmerz ist genauso, als liefe der Motor ein Leben lang auf vollen Touren. Nichts in der Welt als die Auflösung der Schmerzen wird ihn abstellen können. Deshalb auch wird ein Mensch nicht selten von beiden Leiden, von Herzschwäche und Krebs, befallen. Die Aktivierung durch Krebs ist eine konstante und verliert nichts an Energie. Wir haben gesehen, wie neue Patienten manchmal über eine Stunde lang kämpften, um in ein Gefühl zu gelangen; und wir wissen genau, daß sie es oft nur deshalb nicht geschafft haben, weil es zu keiner Veränderung der vitalen Körperfunktionen kam. Schreien und Brüllen allein bewirken niemals eine wirkliche Veränderung; deshalb sprechen wir auch nicht von Schreitherapie, sondern von Primärtherapie. Schreien ist das, was wir machen, wenn wir unter Schmerz stehen; aber das eigentliche Ziel ist der Schmerz, nicht das Schreien.

Das Herz kann auf vielerlei Weise angegriffen werden. Eine der wohl häufigsten Formen ist Arteriosklerose [Arterienverkalkung]. Sie ist charakterisiert durch die Entwicklung von Fettablagerungen an der Arterienwand. Es kann aufgrund einer Vielzahl von Untersuchungen heute als erwiesen gelten, daß Streß Fettstoffe (Lipide) im Blut vermehrt; und viele Wissenschaftler glauben, daß das eine entscheidende Determinante für Arteriosklerose ist.

Für unsere Diskussion ist von Belang, daß es wiederum der Hypothalamus ist, der eine Schlüsselrolle in der Entwicklung von Arteriosklerose spielen könnte. Es gibt Untersuchungen an Kaninchen, die mit einer stark cholesterolhaltigen Diät gefüttert wurden. Anschließend wurden sie in zwei Gruppen aufgeteilt; die einen erhielten chronische elektronische Stimulierungen des Hypothalamus, die anderen nicht. Nach drei Monaten hatte die erste, stark stimulierte Gruppe im Blutplasma ein recht hohes Lipidniveau entwickelt und zeigte beim Tod erheblich stärkere Arteriosklerose in den Aorten.* 

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Ich bin überzeugt, daß unterdrückter Urschmerz genau wie ein elektronischer Stimulator auf den Hypothalamus wirkt; und viele Menschen, die an Arteriosklerose sterben, tun es vielleicht weniger deshalb, weil sie sich jahrelang stark fetthaltig ernährt haben, sondern aufgrund dessen, was der Körper mit dieser Ernährung gemacht hat. Um es anders auszudrücken, viele von uns müssen im späteren Leben sehr darauf achten, was sie essen, weil Schmerz den Hypothalamus veranlaßt, die Produktion von Blutlipiden zu stimulieren. Diät ist eine Gegenmaßnahme für inneren Streß. Und die Innere Medizin basiert ja zum Teil auf dieser Methode der Gegenmaßnahmen. Wir müssen ein Zuviel an Aufregung, ein Zuviel an körperlicher Anstrengung, ein Zuviel von diesem und jenem vermeiden, weil im Innern bereits zu viel geschieht. 

 

Um Mißverständnissen aus dem Weg zu gehen, sei noch einmal klar gesagt, daß all diese Krankheiten nicht durch Urschmerzen verursacht werden. Aber Urschmerzen schaffen mit Sicherheit eine lebenslängliche Belastung des Stoffwechsels, und diese Belastung führt letztlich, wenn das System geschwächt ist, zu einer Vielzahl von Krankheiten. Diese Belastung des Stoffwechsels verkürzt unser Leben meiner Ansicht nach erheblich. Es bedarf keiner komplizierten Instrumente, um diese Belastung zu messen; sie zeigt sich in den Gesichtern der Menschen. Unter Schmerz stehende Menschen sehen nicht gesund aus und altern nicht gesund. 

In den Vierzigern** beginnen sie, mitgenommen auszusehen, auch wenn sie es noch nicht unbedingt fühlen müssen. Wir neigen zwar zu der Annahme, das sei das unvermeidliche Ergebnis des Älterwerdens, gleichwohl ist es eher das Ergebnis der Tatsache, daß wir eine Schmerzenslast mit uns herumtragen. Ich bin überzeugt, daß wir ohne Urschmerz mit Schönheit und Anmut alt werden können, und das ist mehr als eine reine Vermutung. Wir haben selbst erlebt, daß unsere Patienten mit fortschreitender Therapie jünger und besser aussahen. Die Veränderungen der vitalen Körperfunktionen lassen sich aus einem ganz einfachen Grund auf ihren Gesichtern ablesen: sie sind vitaler.

Es gibt einen Weg, unsere Systeme von dem Schmerz zu befreien, und dazu bedarf es keiner Operation. Gespeicherter Schmerz bedeutet verdrängtes Feeling und unverknüpfte Schaltkreise. Die Lösung heißt Fühlen und Wiederverknüpfung. Fühlen gibt uns unsere Geschlossenheit, unsere einheitliche Organisation zurück und bewirkt, daß wir in fast wörtlichem Sinne lebendig werden, sowohl körperlich als auch seelisch. Das ist eine sichere Art, den Tod zu bekämpfen — den Tod unserer Gefühle, der das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen läßt, und den Tod unseres Körpers, der im Kampf gegen den Schmerz alle Energie verbraucht hat.

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*  Gunn Friedmann und Boyers, nach  J. Clin. Inv. 1960. 
**  Psychosomatische Krankheiten und Krebs treten selbstverständlich auch bei jungen Menschen auf, am häufigsten jedoch in der Mitte des Lebens, weil unser Körper unserer Ansicht nach in der Mitte des Lebens unter der Belastung von anhaltendem Streß zu versagen beginnt.

 

 

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