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13  Therapeutische Implikationen des Konzepts der Bewußtseinsebenen: 

 

  Gefahren bei Mißbrauch der Primärtherapie   

 

Von Arthur Janov

 

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Primärtherapie ist eine Therapie für Urschmerz. Jeder Mensch hat ganz spezifische Urschmerzen, und deshalb gibt es für jeden Menschen eine spezifische Primärtherapie. Allerdings gibt es nicht für jeden Fall eine besondere Primärtheorie. Die Primärtheorie faßt all die unterschiedlichen Tatsachen und Beobachtungen zu einer einzigen, zusammen­hängenden Struktur zusammen und wird dann individuell angewandt. 

Eine zusammen­hängende Struktur ist nicht gleichbedeutend mit einer starren, rigiden; eine dynamische theoretische Struktur sollte so flexibel sein, daß sie eine Vielzahl verschiedener Techniken für den jeweiligen Einzelfall umfaßt.

Das Konzept der Bewußtseinsebenen hat unser Verständnis über die Patienten — über Diagnose, Behandlung und Prognose — sehr viel klarer gemacht. Es erleichtert die Orientierung darüber, wo sich ein Patient in jedem beliebigen Augenblick gerade befindet und welche Richtung er eingeschlagen hat.

Die Kenntnis des dominierenden Bewußtseinsmodus eines Patienten vereinfacht es, über ihn und die für ihn jeweils angemessene Behandlung Genaueres zu sagen. Wir können täglich beobachten, wie die Ebenen bei den Patienten arbeiten. Ein fortgeschrittener Patient kann zum Beispiel ein oder zwei Stunden mit Material zweiter Ebene verbringen, und wenn er dann eine besondere Szene oder ein besonderes Gefühl der zweiten Ebene aufgelöst hat, kann er automatisch die Verknüpfung dieses Gefühls mit der ersten Ebene herstellen.

Das wird dann zwar ein Primal anderer Art sein als das anfängliche, gleichwohl ist die Beziehung zwischen den beiden sowohl für den Patienten als auch für den Therapeuten offensichtlich. Sollte der Patient zu schnell in die erste Ebene geraten, läßt sich das sehr leicht nachweisen, weil es sich um eine Abwehr und nicht um ein wirklich verknüpftes Gefühl handelt. Die Bewußtseinsebenen sind eine Struktur, die uns einen ständigen Überblick über den Patienten und seine Behandlung ermöglicht.


Ziel der Primärtherapie ist es, zu frühen schmerzhaften Gefühlen vorzudringen, sie wiederzuerleben und aufzulösen, und so zu verhindern, daß sie weiterhin als Triebkraft für symbolisches Verhalten tätig sind. Jedes Versagen, dieses Ziel zu erreichen, ist ein Versagen der Therapie und wird dazu führen, daß der Patient weiterhin in einem gewissen Maße neurotisch bleibt. Es ist daher entscheidend, daß Schlüsselschmerzen erlebt werden und nicht etwa unbemerkt im Innern verbleiben.

Ohne einen Überblick und ohne eine zusammenhängende theoretische Struktur ist damit zu rechnen, daß wesentliche, einer Neurose zugrunde liegende Schmerzen nicht erreicht werden; ich werde in diesem Kapitel erklären, warum das so ist.

Entscheidend an der Primärtherapie ist nicht, daß man schreit, um sich schlägt, sich krümmt und windet oder auf Kissen einschlägt oder seine Wut von sich schreit. Entscheidend ist vielmehr die Integration: das ist ein Schlüsselbegriff, auf den ich noch ausführlich eingehen werde. Jedes einzelne Gefühl muß verknüpft und integriert werden, andernfalls kann man nicht von einem Primal sprechen. Ich bin der Überzeugung, daß es bei dieser Therapie viele Möglichkeiten gibt, in die Irre zu gehen; das ist jedoch im großen und ganzen immer auf einen Mangel an Integration zurückzuführen.

Entscheidend ist des weiteren, daß man sich nicht einfach mit Verknüpfungen auf der dritten Ebene zufriedengibt, denn das bedeutet noch keine wirkliche Integration. Vielmehr ist eine systematische Integration der Schmerzen auf allen Bewußts­einsebenen entscheidend. Das heißt, jeder Schmerz muß auf der Ebene integriert werden, auf der er angesiedelt ist. Schmerz erster Ebene zu erklären bedeutet nicht, ihn zu integrieren; noch kann man von Integration sprechen, wenn man für ein Gefühl Worte benutzt, für das es ursprünglich keine Worte gab. Jedes Gefühl muß seinen eigenen Gesetzen entsprechend integriert werden. Mangelnde Integration ist genau das, was symbolisches Verhalten ursprünglich ausgelöst hat, denn wenn ein bestimmtes Gefühl blockiert wurde, mußte dessen Energie Umwege einschlagen. Integration setzt symbolischem Verhalten automatisch ein Ende; das ermöglicht es uns, zu prüfen, ob tatsächlich Primals stattfinden.

Integration kann auf verschiedene Art vereitelt werden, durch Fehler seitens der Patienten ebenso wie durch Fehler seitens des Therapeuten. Als einen Fehler des Patienten bezeichne ich den bewußten Verstoß gegen die Regeln der Therapie, die erstellt wurden, um Menschen zu helfen, zu ihren Gefühlen zu gelangen. Wenn also ein Patient Drogen nimmt, raucht und trinkt, wird er nicht primärtherapeutisch behandelt werden. Ein Fehler seitens des Therapeuten ist jedoch wesentlich schwerwiegender, denn darunter hat nicht nur der augenblickliche Patient zu leiden, sondern auch alle späteren Patienten werden dann unter Umständen von ihm primärtherapeutisch nicht korrekt behandelt worden.

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Ich werde auf Fehler der Therapeuten näher eingehen und verdeutlichen, wie die Primärtherapie falsch durchgeführt werden kann. Des weiteren werde ich darauf eingehen, wie ein Verständnis der Struktur der Bewußtseinsebenen bei der therapeutischen Integration hilft. Ich werde auch auf andere Techniken eingehen, die von Therapeuten angewandt werden, die glauben, sie betrieben eine Art Primärtherapie (von mir als Pseudo-Therapeuten bezeichnet), und ich werde zeigen wie diese Techniken die Integration vereiteln. Zunächst einmal beginne ich mit Fehlern der Therapeuten.

Es gibt viele Möglichkeiten für einen Therapeuten, dem Primärprozeß zu schaden und den Patienten seiner Gefühle zu berauben. Dazu zählt zum einen die sogenannte »harte« Methode, bei der der Patient so hart »angeschossen« wird, daß er überlastet wird und den Faden verliert. Das bedeutet normalerweise, daß dem Patienten irgend etwas brutal und schonungslos gesagt wird, so daß in ihm Schmerzen hochkommen lange bevor er fähig und bereit ist, sie zu verkraften. Er ist dann noch gar nicht in der Lage, den Schmerz zu fühlen und zu integrieren, und wenn er nicht fühlen kann, ist der Primärprozeß vereitelt.

Ein frühzeitiger »Vorstoß« bedeutet, daß die Abwehrmechanismen zu schnell eingerissen werden, so daß der Patient für zu viel Schmerz offen ist. Das führt zu Überlastung und Abblocken, also zum genauen Gegenteil eines allmählichen Offenwerdens. Ein solcher Vorstoß bedeutet nicht, daß der Therapeut dem Patienten Dinge an den Kopf wirft wie: »Ich hasse Sie; Sie sind abstoßend; Ihre Nase ist zu lang und Sie sind genau der Typ, den ich noch nie gemocht habe ...« — das wäre nichts als Grausamkeit im Gewand der Therapie.

Ein leichter Vorstoß bedeutet lediglich, daß man dem Patienten eine Wahrheit über ihn selbst sagt, zum Beispiel: »Sie reden zuviel. Sie reden ständig von sich selbst.« Wenn der Patient permanent redet, um einem Gefühl davonzulaufen, hält er dann vielleicht inne und versucht, dahinterzukommen. Wenn er das Abwehrverhalten einstellt und zu fühlen beginnt, könnte er vielleicht sagen: »Ich habe ständig geredet, um Ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, weil ich immer das Gefühl hatte, Sie wollten fortgehen.« Von dort ist er dann schnell in dem Schmerz, der seiner Abwehr zugrunde liegt. Ein solcher Vorstoß kann durchaus zur Integration beitragen.

Manchmal ist ein Vorstoß notwendig. Patienten wissen oft nicht, wann sie abwehren; es ist die Aufgabe des Therapeuten, Abwehrverhalten zu durchschauen und dem Patienten bewußt zu machen — allerdings nur zum rechten Zeitpunkt und nur wohlvorbereitet. Aber es sind nicht immer nur die Patienten, die nicht wissen, wann sie abwehren. Jeder Primärtherapeut ist gleichzeitig Patient und Therapeut, und somit ist er von dieser Grundregel nicht ausgenommen. Therapeuten müssen wissen, wann sie abblocken, abwehren und falsche Gedanken entwickeln. Die beste Voraussetzung dafür ist ein heterogenes Therapeutenteam mit unterschiedlichen Charakteren und Anlagen, ein Team, in dem genügend Offenheit und Ehrlichkeit herrscht und in dem man sich untereinander unbedenklich alles sagen kann.

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Wenn ein Therapeut selbst schwerwiegende ungelöste Gefühle hat, ganz besonders wenn sie mit denen des Patienten zusammenfallen oder in Konflikt geraten, dann wird es Probleme geben. Wenn zum Beispiel der Patient ein Vielredner ist und der Therapeut eine ständig redende Mutter hatte, dann mag der Therapeut dem Patienten gegenüber eine gewisse Feindseligkeit empfinden und ihn wegen seiner Vielrednerei »anschießen«, selbst wenn die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Wenn der Patient auf den »Primärknopf« des Therapeuten drückt, seine Fähigkeit, Ernsthaftigkeit, Liebe, Intelligenz etc. herausfordert und der Therapeut in diesen Bereichen ungelöste Gefühle hat, dann wird es der Patient schwer haben. Ein Therapeut, dem zu Hause das Gefühl vermittelt wurde, er sei dumm, und der an einen Patienten gerät, der seine Intelligenz in Frage stellt, könnte dem Patienten Schwierigkeiten machen, defensiv sein und dem Patienten jegliche Aggression untersagen, die für dessen Heilung vielleicht ungemein wichtig wäre. Kurz gesagt, der Therapeut kann den Patienten genauso behandeln, wie seine Eltern es taten, und so die Neurose verstärken. 

Wenn einem Therapeuten in der Kindheit immer alle Motivationen hinterfragt wurden, dann kann jedes Hinterfragen seiner Absichten durch den Patienten eine Vielzahl von Abwehrmechanismen auf den Plan rufen; auf diese Weise kann der Patient, der vielleicht etwas Reales an dem Therapeuten bemerkt hat, von dieser Realität zurückgescheucht werden und dann nur noch tiefer in Irrealität geraten. All das soll sagen, daß kein Therapeut vollkommen ist, daß man aber, um Primärtherapeut zu sein, ein Großteil seiner schmerzhaften Gefühle bereits aus dem Weg geräumt haben muß.

Es gibt noch einen anderen Weg, den Patienten seiner Gefühle zu berauben, einen so subtilen und unmerklichen Weg, daß der Patient überhaupt nicht wahrnimmt, was mit ihm geschieht. Immerhin kann ein Patient einen harten Vorstoß innerhalb gewisser Grenzen noch einsehen, und wenn er hinreichend kräftig ist, kann er versuchen, auf die eine oder andere Art etwas daran zu ändern. Diese subtile Art besteht darin, daß der Therapeut sich dem Patienten gegenüber extrem sanft und beschützend verhält. Das wird einfach deshalb nicht wahrgenommen, weil es, im Gegensatz zum »Anschießen«, ein gutes Feeling vermittelt.

Der Therapeut kann diese Methode rationalisieren, indem er sich sagt, er wolle den Patienten zunächst da lassen, wo er ist. Dieser freundlich klingende Satz kann aber eine Rationalisierung für die Unfähigkeit sein, es zu einer Konfrontation mit dem Patienten kommen zu lassen. Den Patienten gewähren lassen heißt nur allzu oft, ihn neurotisch sein lassen. 

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Der Patient erhält von seinem Therapeuten statt seines eigenen Schmerzes Liebe und Anerkennung, und Hand aufs Herz, wer will schon Schmerz, wenn er die Möglichkeit hat, das zu bekommen, was er nie hatte ... eine alles gewährende, bedingungslos liebende Autorität. Es besteht die Gefahr, daß ein Patient zu lange in dieser vermeintlich sicheren therapeutischen Atmosphäre schwelgt, anstatt zu fühlen, daß es in seinem ganzen Leben niemals wirklich Sicherheit gegeben hat. 

Therapeuten, die die sogenannte sanfte Methode benutzen, betreiben in Wirklichkeit oft Psychoanalyse und nicht Primärtherapie. Sie geben dem Patienten aufgrund ihres eigenen unbewußten Bedürfnisses (anderen zu geben, was sie selbst nie bekamen, aber brauchten), so daß der Patient seine lebenslangen Entbehrungen in all ihrer Qual nie fühlt. Ein solcher Therapeut fördert Übertragung, um einen Freudschen Terminus zu gebrauchen. Der Psychoanalytiker ist normalerweise warmherzig, gewährend, freundlich und verständnisvoll, und seine Patienten werden nie wirklich gesund, gerade weil er all das ist, weil er nie in das Abwehrsystem seines Patienten eindringt. 

 

Die sogenannte sanfte Methode wird von dem passiven Therapeuten befürwortet, der Konfrontationen eher meidet. Er hat es nie auf eine Konfrontation mit seinen Eltern oder mit seinen Spielgefährten ankommen lassen und hat Angst vor einer Konfrontation mit dem Patienten, und zwar aufgrund einer tiefen Primärangst, er könne Feindseligkeit auslösen. Dieser Therapeut hat oft Angst davor, er könne in der Gegenwart etwas auslösen, was die auf elterlichen Zorn zurückzuführende Überlastung in ihm hochbringen könnte. Er wird der »nette« Therapeut (und Sohn oder Tochter), der nie das Risiko eingeht, Haß auf sich zu ziehen (dabei geht es nicht um gegenwärtigen Haß, sondern um den Haß seiner Eltern, den zu fühlen er nie wagen konnte). Und weil er gezwungen war, »nett und lieb« zu sein, um elterlichen Haß zu beschwichtigen (und nicht fühlen zu müssen), wird er dieser nette Mensch - zu nett, weil unwirklich. Aber er ist verführerisch, weil er wie ein guter Mensch auftritt und handelt. Sein Charme und seine Freundlichkeit sind unglaublich verführerisch, gleichwohl hat er es nicht vermocht, eine sehr tiefe Schicht von Angst und Feindseligkeit aufzulösen — Weggefährten, die aus einer Familie voller Haß, Streit und allgemeiner Atmopshäre des Mißtrauens und der Bitterkeit erwuchsen. 

Die sanfte Methode ist deshalb so subtil und infolgedessen doppelt gefährlich, weil sich der Therapeut einer Technik bedient, die offensichtlich gelegentlich notwendig ist, nur hat er sie abstrahiert und zum Prinzip erhoben. Dieses Prinzip wird dann generell einem breiten Spektrum von Situationen aufgepfropft, statt nur dann angewandt zu werden, wenn es angemessen ist. Es verhüllt Realität eher, als daß es sie enthüllt. Diese Philosophie ist eine Erfindung des Therapeuten, mit Hilfe derer er sein eigenes Fühlen umgehen kann. Anstatt zu fühlen, »ich konnte auf meinen Vater nie wütend werden« oder, »Mutter ängstigte mich so, daß ich nie wütend werden konnte«, wird eine Philosophie ersonnen, die all das überflüssig macht.

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Der vorzeitige harte Vorstoß wie auch die ständig sanfte Methode sind offensichtlich neurotisch und unreal, einfach weil es bei dieser Therapie keine »endgültigen Wahrheiten« gibt — sie verändern sich entsprechend der Bedürfnisse der Patienten und der Realität des jeweiligen Zeitpunkts. Wenn ein Therapeut eine immer gleichbleibende Methode hat, so bedeutet das, daß er in einem bestimmten Reaktionsmuster erstarrt ist — erstarrt aufgrund ungelöster alter Gefühle, die ihn daran hindern, flexibel zu sein und sich auf die jeweiligen Bedürfnisse seiner Patienten einzustellen. Es gibt Situationen, in denen man sanft sein muß, und Fehler in beiden Richtungen Können den Patienten ernsthaft seiner Gefühle berauben.

 

Wenn ein Therapeut kein persönliches Interesse daran hat, für seinen Patienten der »nette, warmherzige Kerl« zu sein, dann kann sich der Patient bei ihm sicher fühlen, und das ist äußerst wichtig. Es ist ungemein wichtig, daß sich Patienten bei ihrem Therapeuten sicher fühlen. Allerdings gibt es zwei Arten von Sicherheit: die eine ist real, die andere unreal. Reale Sicherheit heißt, in den Händen eines Menschen zu sein, der gesund ist, der kaum noch ungelöste Gefühle hat, die dann stillschweigend auf den Patienten geschoben werden. Unreale Sicherheit heißt, in den Händen eines Menschen zu sein, der die Neurose des Patienten unweigerlich verstärken wird, weil er (der Therapeut) mit seinem eigenen frühen Schmerz noch nicht fertig geworden ist. Unreale Sicherheit kann dem Neuling ein Gefühl vermeintlich großer Sicherheit geben, gerade weil seine Abwehr toleriert, wenn nicht gar verstärkt wird; dadurch vermindern sich seine Spannung und seine Angst; doch im Grunde geschieht dabei nichts anderes, als daß eine Atmosphäre geschaffen wird, in der es für den Patienten sicher ist, neurotisch zu sein. Wir müssen Sicherheit für den realen Menschen, nicht für seine Neurose schaffen. Der größte Schutz, den ein Patient haben kann, ist ein Therapeut, der im Hinblick auf sich selbst und seine Gefühle ehrlich ist, der seinem Patienten eingesteht, wenn er einen Fehler gemacht hat, der seinem Patienten seine eigenen Schwächen und gelegentlichen Fehlleistungen nicht vorenthält — kurzum jemand, der nicht abgewehrt ist.

All das soll selbstverständlich nicht bedeuten, daß der Therapeut seinen Patienten gegenüber nicht warmherzig, gewährend, tolerant und freundlich sein sollte. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, daß sich der Patient in seiner Therapie wirklich sicher fühlt; ich versuche lediglich darauf hinzuweisen, daß man sich allzu leicht durch die zuckersüße Scheinwärme eines Menschen, der selbst in seinem frühen Leben nie etwas anderes als eben nett hatte sein dürfen, zu einer Scheinsicherheit verführen lassen kann.

So kann zwischen Therapeut und Patient ein unbewußter Pakt entstehen, sich gegenseitig Sicherheit zu geben: »Ich werde freundlich sein und dich nie anschießen, wenn du mir gegenüber nicht aufbrausend bist.«

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Das veranschaulicht, was ich meine, wenn ich sage, daß ein Therapeut mit seinem Patienten sein frühes Leben unverändert fortsetzt Die Gefahr dabei ist die, daß ein derartiges neurotisches Agieren zum Prinzip erhoben wird, daß dieses Prinzip als philosophische Einstellung ausgegeben wird, so daß man dann von philosophischen Differenzen mit seinen Kollegen sprechen kann. Teil dieser philosophischen Einstellung ist dann unter Umständen, daß man den Patienten dort läßt, wo er ist, und das bedeutet implizit, ihn nie zu konfrontieren, und eine Konfrontation ist genau das, was der Therapeut nie vermocht hat, was er bei seinen Eltern nie gedurft hat. So wird seine Neurose eine Sache des Prinzips. Er hat seine Unfähigkeiten und Schwächen rationalisiert, hat aus verdrängtem Schmerz ein unreales Gedankengebäude entwickelt und bezeichnet dieses Gedankengebäude als Philosophie. 

Der passive Therapeut, der die Gefühle, von seinen Eltern nie geliebt worden zu sein, dadurch abgeblockt hat, daß er ständig nett und freundlich war, der all seine Aggressionen abgeblockt hat, um den Haß seiner Eltern nicht zu wecken, gelangt so zu der Überzeugung, die passive Methode sei objektiv und habe mit seiner eigenen Person nichts zu tun. Das Problem liegt darin, daß die Begründung für eine solche Methode so elegant, so ausgeklügelt, so intellektuell sein kann, daß es kaum möglich ist, zu dem Gefühl vorzudringen, das dem zugrunde liegt. Ein solcher Mensch kann einen unerbittlichen philosophischen Standpunkt einnehmen, mit der Begründung, er wolle sich hinsichtlich seiner Prinzipien auf keine Kompromisse einlassen, während er sich in Wirklichkeit gegen diese unterschwelligen Gefühle wehrt, denen er gegenübertreten müßte, würde man die philosophische Hülle beseitigen. 

Über Realität kann es keine philosophischen Differenzen geben. Und wir beschäftigen uns hier mit Realität, nicht mit Philosophien. Zum Beispiel könnte jemand sagen, seiner Philosophie zufolge seien Geburtsprimals für eine Genesung ausschlaggebend, und ein Patient müsse Geburtsprimals erleben, wenn die Therapie erfolgreich sein soll. Tatsache ist aber, daß einige Menschen wirklich eine unproblematische Geburt gehabt haben können und daß ihre Traumata erster Ebene woanders liegen können. Diese philosophische Differenz kann den Therapeuten veranlassen, den Patienten zu etwas zu drängen, was für ihn gar nicht angebracht ist, und der Patient mag sich vielleicht große Mühe geben, um dem Therapeuten, der selbst in diesem Schmerz steckengeblieben ist, zu gefallen. Oder eine andere Differenz: es kann jemand glauben, Patienten brauchten Unterrichtsstunden, wie sie ihr gegenwärtiges Leben führen sollten, weil sie meinen, Primals hätten eine desintegrierende Wirkung. Tatsache ist jedoch, daß Primals Schmerz integrieren, sofern der Patient nicht gedrängt wird und in seiner Therapie natürlich fortschreiten darf. Es gibt keine philosophischen Differenzen hinsichtlich der Tatsache, daß das Gras grün und der Himmel blau ist.

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Die größte Gefahr liegt darin, in der Therapie an den kritischen Punkt zu gelangen, an dem der Schmerz gewaltig ist, und dann — subtil oder direkt — durch einen bemutternden Therapeuten, der sich selbst davor fürchtet, ermuntert zu werden, sich von dem Schmerz zurückzuziehen. Die Gefahr besteht darin, daß der Patient neurotisch bleiben wird, allerdings unter der irrigen Annahme, er sei auf dem Weg zur Besserung. Es ist für den Therapeuten leicht, seinen Patienten an diesem Punkt psychologisch zu verführen; er kann ihn in »Sicherheit« wiegen, ihm beteuern, er, der Therapeut, wisse schon, worauf das hinauslaufe etc. Es ist leicht, weil keiner von uns ohne etwas Nachhilfe und ohne einen gelegentlichen kleinen Anstoß von außen ganz in die tiefsten Tiefen vorzudringen vermag. Oft ziehen wir diese vermeintliche Sicherheit vor, eben weil wir neurotisch sind. Wären wir völlig real, wüßten wir es besser.

 

Ich habe dieses Kapitel mit einigen Sätzen über die Integration eingeleitet und möchte darauf jetzt näher eingehen. Zu viel Schmerz kann nicht integriert werden. Es kommt dann zu einer Überlastung, und das Zuviel wird vom Patienten symbolisiert. Es kann in einem Traum, in dem der Patient von großer Angst, Mord oder ähnlichem träumt, Ausdruck finden. Oder der Patient kann sich auf den Therapeuten fixieren, unangemessene Ängste oder Feindseligkeit entwickeln, die er ohne behutsame Hilfe vielleicht nicht überwinden wird. Desgleichen kommt es nicht zur Integration, wenn der Patient seiner Gefühle beraubt wird — das kann völlig unmerklich geschehen, in seinem Beisein, ohne daß er dessen gewahr wird (zum Beispiel wenn der Patient in der Nachgruppe bemuttert und in den Arm genommen wird, obwohl er jemanden konfrontieren müßte, oder wenn ein Patient, der gerade im Begriff ist, aufzustehen und über seine Gefühle zu sprechen, dazu gedrängt wird, so daß er diesen wichtigen Schritt nicht von selbst vollzieht). Ohne diese Konfrontation bleibt der Patient mit ungelösten Gefühlen zurück, er kann sie nicht integrieren, weil er keine Gelegenheit hatte, sie zu erleben.

Integration bedeutet, daß das Bewußtsein bereit ist, ein aufkommendes Gefühl zu akzeptieren und zu absorbieren. Das Gefühl muß von allein aufkommen, es darf nicht durch eine zu harte oder zu sanfte Methode beeinflußt werden; durch beides würde es verschüttet werden. Desintegration bedeutet, von Gefühlen derart überlastet sein, daß sie nicht voll erlebt werden können. Wenn die primärtherapeutische Behandlung langsam und methodisch durchgeführt wird, gibt es keinen Grund, warum ein Gefühl, zu dem der Patient von selbst gelangt, desintegrierend sein sollte. Wir müssen allerdings berücksichtigen, daß wir Gefühle, die uns fremd sind, nicht integrieren können; der willkürliche Beschluß, ein Patient müsse bestimmte Gefühle vermeiden, hieße, ihn entscheidender Erfahrungen berauben. 

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Es bedeutet, daß der Patient weiterhin von Gefühlen angetrieben wird, zu denen er nie vorgedrungen ist, weil irgend jemand beschlossen hat, er wisse mehr als der Patient und dessen Realität. Ein Primärgefühl erleben bedeutet automatisch, daß es integriert und daß anschließend die Neurose geringer wird. Es bedarf keiner besonderen Integrationsübungen, sofern man verstanden hat, daß neurotisches Verhalten durch Gefühle angetrieben wird und nicht durch Anweisungen oder Belehrungen. Veränderungen des Verhaltens sind abhängig von Veränderungen der Gefühle, nicht von Anweisungen oder Belehrungen auf der dritten Ebene. 

Es läßt sich nicht durch Anweisungen, Belehrungen oder Lektionen lernen, wie man zu leben hat. Jeder von uns muß seinen eigenen Weg finden. Es ist nicht nur eine arrogante Anmaßung, einem anderen Menschen zu sagen, wie er sein Leben führen solle, es ist einfach unkorrekte Therapie. Ein Therapeut, der seine eigene frühe Machtlosigkeit und Hilflosigkeit abgeblockt hat, kann seinem Patienten gegenüber agieren, indem er über den Patienten Macht ausübt, dessen Leben lenkt, und auf diese Weise die unterschwellige Hilflosigkeit des Patienten aufrechterhält. 

So lernt der Patient nicht aus seinen eigenen Gefühlen und Erfahrungen; er lernt vielmehr (oft unbewußt), wie er es einer weiteren Elternfigur recht machen kann — und verleugnet sich selbst. Wenn die Neurose des Patienten gerade auf seiner Passivität und seiner Hilflosigkeit beruht, mag er es sogar (neurotischerweise) willkommen heißen, daß ihm gesagt wird, was er zu tun habe. Wenn der Therapeut das alte Bedürfnis hat, seine eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht zu vermeiden, indem er über andere Kontrolle gewinnt (und dadurch symbolisch Macht über seine Eltern), dann wird er an der ganzen Interaktion, die sich zwischen ihm und dem Patienten abspielt, vorbeigehen, er wird die Abwehrmechanismen des Patienten nicht aufdecken (weil sie mit seinen eigenen Bedürfnissen genau übereinstimmen) und bewirkt so, daß der Patient krank bleibt; das heißt, er hindert den Patienten daran, sich hilflos und machtlos zu fühlen. Statt dessen wird der Patient diese Gefühle weiterhin agieren.

Ein solcher Therapeut kann zum Beispiel dahingehend rationalisieren und dadurch seine Gefühle vermeiden, daß er sich ausdenkt, Primals seien desintegrierend, und deshalb brauche der Patient, um sein gegenwärtiges Leben integrieren zu können, Hilfe und Anleitung. Er erstellt ein Programm für den Patienten, das den Patienten anweist, bestimmte Dinge zu unternehmen — Rendezvous vereinbaren, eine Party geben, einer bestimmten Arbeit nachgehen und so weiter. Der Therapeut macht damit nichts anderes, als daß er nur wieder ein weiteres Programm für den Patienten aufstellt (genau wie es die Eltern taten), unter Berufung auf den Satz, den wir alle aus der Kindheit kennen: »Laß nur, wir wissen schon, was für dich das Beste ist.« 

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Patienten werden auf ihre eigene Art, entsprechend ihrer eigenen Realität funktionieren, wenn man sie läßt, wenn der Therapeut mit sich selbst im reinen ist und Vertrauen in den Primärprozeß hat. Der Neu-rotiker lebt ständig aus der Vergangenheit heraus, und er wird in die Gegenwart versetzt, wenn er diese Vergangenheit Schritt für Schritt wiedererlebt. Wenn man sich über diese elementare Dialektik hinwegsetzt, geht man in die Irre. Ja, von der elementaren Dialektik in irgendeiner Situation abgehen heißt immer, an der Realität vorbeigehen, denn sie ist das zentrale Lebensgesetz.

Diese sogenannten Integrationsübungen sind gerade das, was den Patienten in der Vergangenheit verharren läßt. Konzentration auf gegenwärtiges Verhalten (obwohl das Verhalten des Patienten in Wirklichkeit auf seine Vergangenheit bezogen ist) heißt, die Vergangenheit weiterhin als Triebkraft für gegenwärtiges Verhalten beizubehalten. Wenn sich ein Patient auf Anweisung eines anderen Menschen entgegen seinen eigenen Gefühlen verhält, begräbt er unweigerlich seine Realität. Es gibt in dieser Therapie bestimmte Phasen, in denen der Patient nicht funktionieren sollte (insbesondere wenn seine Neurose darauf beruhte, daß er zu glatt, zu reibungslos funktionierte), und wir müssen dem Patienten vertrauen, daß er selbst spürt, wann das der Fall ist. Durch das Fühlen wird er mit seinem eigenen Rhythmus im Einklang stehen; den Patienten gewähren lassen heißt, in diesen Rhythmus nicht eingreifen.

 

Es gibt noch einen weiteren philosophischen Fehler — er ist letztlich auf die Auseinandersetzung zwischen Otto Rank und Freud zurückzuführen —, der auf der Auffassung beruht, daß Geburtsprimais die sine qua non der Primärtherapie seien. Geburtsprimais sind so dramatisch, daß es für viele den Anschein haben mag, sie seien das Wesentliche, der eigentliche Kern der Primärtherapie. Doch das ist keineswegs der Fall. Diejenigen, die sich fast ausschließlich auf die erste Ebene konzentrieren, machen den umgekehrten Fehler derer, die meinen, der Patient müsse auf der dritten Ebene bleiben und in der Gegenwart gut funktionieren. Therapeuten dieser Richtung macht es nichts aus, wenn ein Patient sich in einem permanenten Zustand der Desintegration befindet — der normalerweise dadurch erzielt wird, daß er sich mit zuviel Schmerz auseinandersetzt, für den er noch nicht bereit ist. Einige Pseudo-Therapeuten leiten jede Sitzung damit ein, daß sie die Patienten auffordern, sich in die fötale Lage zusammenzurollen, und erst dann beginnen sie mit der eigentlichen Behandlung. Dabei wird gelegentlich ein Geburtsprimal ausgelöst, das dann in seinen Konsequenzen besonders gefährlich sein kann.

Dieser Fehler wird aus mehreren Gründen begangen — und auch in unserer eigenen Klinik ist er uns einige Male unterlaufen. Normalerweise unterläuft das Therapeuten, die selbst auf der ersten Ebene feststecken oder ihr nahe sind; sie drängen den Patienten, sich dorthin zu begeben, wo sie, die Therapeuten, selbst hingehen müßten. Sie drängen den Patienten dazu, den Schmerz des Therapeuten symbolisch zu agieren. Ein solcher Patient verfügt in der Situation dann nicht über genügend Realität dritter Ebene und ertrinkt in nichtintegriertem, sehr frühem Schmerz.

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Und genau an diesem Punkt bedarf es eigentlich besonders sorgfältiger Beaufsichtigung, denn die Konsequenzen dieses Problems sind äußerst subtil und für den Patienten von großer Tragweite. Diese Therapeuten sind auf eine einzige Bewußtseinsebene fixiert und vernachlässigen die wechselseitigen Verknüpfungen. Sie können eine Philosophie entwickeln (wie Rank es getan hat), derzufolge Geburtsprimals das eigentliche Ziel der Therapie sind, ohne die jede Behandlung unvollständig sein müsse.

Die Ideologie wird zu einem Käfig und ist irreführend, weil andere gezwungen werden, sich mit der Ideologie auseinanderzusetzen anstatt mit den Gefühlen des Therapeuten, die zu dieser Ideologie geführt haben. Es wäre gefährlich, wenn ein Lehrer die Gefühle des Therapeuten überginge und sich darauf konzentrieren würde, ihn von seinen ideologischen Fehlern zu überzeugen. Er würde sich dann nur mit einem Abwehrverhalten des Therapeuten gegen eine Überflutung erster Ebene auseinandersetzen, und es gibt beim besten Willen keinen Weg, einen anderen Menschen aus seinem Schmerz herauszureden. Die Fehlwahrnehmung des Therapeuten hat ihren guten Grund, nämlich den, daß er es auf diese Weise vermeidet, selbst in den Schmerz hineingehen zu müssen. Statt dessen treibt er den Patienten dort hinein, und das kann dazu führen, daß der Patient beginnt, die erste Ebene als Abwehr gegen Fühlen späterer Schmerzen zu benutzen, weil ihm Primals erster Ebene inzwischen vertraut und nichts Beunruhigendes mehr sind.

Fast alle unsere Therapeuten im Primärinstitut haben viele Male Primals erster Ebene gehabt. Die meisten von ihnen haben diese Ebene inzwischen überwunden und haben über alle drei Ebenen wechselseitig verknüpfte Primals. Das heißt, daß sie jetzt voll fühlende Menschen sind. Und gerade diese wechselseitige Verknüpfung ermöglicht es ihnen, eindeutig zu sehen, ob jemand auf einer bestimmten Ebene steckenbleibt. Sie haben einen Blick dafür, gerade weil sie selbst dort waren und wieder zurückgefunden haben. Sie haben eine Realität dritter Ebene.

Patienten, die bereits in den ersten drei Therapiewochen zur ersten Ebene gelangen, sind die Ausnahme. Es sind diejenigen, die generell hochgradig gestört sind und offensichtlich kaum noch über Abwehrmechanismen zweiter oder dritter Ebene verfügen. Das können Borderline-Psychotiker sein (d. h. Patienten, die an der Grenze zur ersten Ebene stehen) oder auch ehemalige Drogensüchtige. 

Auf der einen oder anderen Ebene verharren hat schwerwiegende Konsequenzen. Auf der dritten Ebene verharren bedeutet, daß das Verhalten weiterhin durch die erste Ebene angetrieben wird. Auf der ersten Ebene verharren bedeutet, daß der Patient Primals hat, die nicht zur Auflösung führen, und die in ihm so viel Schmerz und Durcheinander auslösen, daß er mit dem Alltagsleben nicht mehr fertig wird. 

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Die meisten Patienten fangen mit der dritten Ebene an (unmittelbare Gegenwart oder jüngste Vergangenheit) und gehen dann schrittweise zurück, wobei sie Schritt für Schritt integrieren. Manchmal allerdings gerät ein Patient bereits in den ersten drei Wochen mit seinem Körper in Primals erster Ebene, während sein Kopf noch nicht dort angelangt ist. Das heißt, während der Patient von einem Vorfall erzählt, den er als Acht- oder Neunjähriger erlebt hat, beginnt er plötzlich zu stammeln, zu erbrechen, sich zu krümmen, zu zittern etc. Wenn man das einige Tage lang unterstützt, kann der Patient tatsächlich seinen Weg zur ersten Ebene finden ...... lange bevor er wirklich so weit ist. 

Er hat seine normale Abwehr durchstoßen und ist nicht dort gehalten worden, wo er war, und das mit Hilfe eines Therapeuten, der den Patienten vielleicht überzeugt hat, er wisse, was zu tun sei. Dadurch wird der Patient überlastet und aufgesplittert. Er ist noch nicht so weit, daß er die erste Ebene integrieren könnte, und müßte eigentlich auf der zweiten Ebene gehalten werden, bis sein Bewußtsein (nicht nur sein Körper) bereit ist. Weil der Patient in den ersten Wochen, in denen seine Abwehrmechanismen abgebaut werden, so offen und verletzlich ist, ist er durch derartige Fehler seitens des Therapeuten besonders gefährdet. Er versinkt dann in der ersten Ebene und entwickelt keine Realität dritter Ebene, um sich mit seinem gegenwärtigen Leben auseinanderzusetzen.

Natürlich zieht sich der Körper gegen allen möglichen Schmerz zusammen und rollt sich zu einer fötal erscheinenden Haltung ein, die durchaus tatsächlich fötal sein kann. Oft aber ist das eine Abwehr gegen gegenwärtigen Schmerz oder gegen Schmerz zweiter Ebene, und gerade diesen Schmerz gilt es zu erkennen und zu fühlen, die fötale Haltung darf nicht noch bekräftigt und unterstützt werden. 

Es gibt fraglos einige Patienten, die sich uneingeschränkt auf der ersten Ebene bewegen, die es sogar müssen. Wenn sich ein Patient aber monatelang dort bewegt, ohne daß er Spannung auflöst, Fortschritte macht und ohne daß er die Fähigkeit zeigt, sich mit dem gegenwärtigen Leben auseinanderzusetzen, dann ist irgend etwas äußerst verdächtig. Und unsere Aufgabe ist es, diesem Verdacht nachzugehen. Ich möchte den Leser an die Schmerzkette erinnern, die ich an anderer Stelle diskutiert habe, die alle drei Bewußtseinsebenen miteinander verbindet. 

Jedes »Jetzt«-Gefühl ist unser ganzes Leben hindurch mit Erlebnissen verknüpft, die zu diesem Gefühl in Beziehung stehen; so kann ein gegenwärtiges Gefühl des Alleinseins darauf bezogen sein, daß man sich die ganze Kindheit und Jugend über allein gefühlt hat (ein gewaltiges Gefühl der zweiten Ebene), und das kann mit dem prototypischen Gefühl verbunden sein, daß man unmittelbar nach der Geburt in einen Brutkasten gesteckt wurde und allein war, fort von der Mutter.

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Jedesmal wenn ein solcher Patient sein Alleinsein oder ein ähnliches Gefühl in der Gegenwart fühlt, kann das die ganze Gefühlskette einschließlich des prototypischen Gefühls reaktivieren. So kann es geschehen, daß der Patient stammelt, sich krümmt, erbricht, würgt, sich zusammenrollt, konvulsivische Zuckungen hat etc., sobald er überhaupt etwas zu fühlen beginnt. Der Therapeut kann dann leicht in den Fehler verfallen, daß er daraus schließt, der Patient sei zur ersten Ebene bereit. Schon ein beängstigender Film kann Panik (und Symptome) der ersten Ebene hochbringen, wenn der Betreffende nahe daran ist. Aber es kann noch Monate dauern, ehe er in der Lage ist, auf dieser Ebene Primals zu haben; und das muß ein erfahrener Therapeut wissen und berücksichtigen. Das gilt insbesondere bei hochgradig gestörten oder psychotischen Patienten, die ständig Kontakt zu ihrer Panik auf der ersten Ebene haben. Er ist so präsent, daß jede gegenwärtige Furcht ihn auszulösen vermag. Was sie zunächst einmal brauchen, ist eine Kräftigung der integrierenden dritten Ebene. 

Wenn ein Patient nach Monaten in der Therapie noch immer nicht beginnt, zu integrieren, und noch immer keinerlei Einsichten hat, dann war er, meiner Ansicht nach, für die erste Ebene noch nicht bereit. Und wenn er es doch war, dann hat der Therapeut sie zu stark in den Mittelpunkt gestellt, und das auf Kosten der Realität der dritten Ebene. Der Patient wird in seine erste Ebene verstrickt, verwirrt, anstatt dort herausgeholt zu werden, so daß er sich ausruhen und Ordnung in seinem Kopf schaffen kann. Therapeuten, die auf die erste Ebene fixiert sind, treiben den Patienten ständig dorthin zurück und bewirken eine fortschreitende Aufsplitterung und einen permanenten Zustand frei flottierender, nicht verknüpfter Angst. Diese Methode treibt Patienten jenseits ihrer Gefühle.

Das ist nicht eine Frage philosophischer Differenzen. Eine unreale Idee einfach eine Philosophie zu nennen und sie dadurch in eine intellektuelle Hülle zu kleiden, macht sie nicht real.

Der Hysteriker (um einen Freudschen Terminus zu benutzen), jener Patient, bei dem Spannung und Schmerz ständig durchbrechen, der ständig nahe an seiner ersten und zweiten Ebene ist, braucht Hier-und-jetzt- Abwehrmechanismen, er darf sich nicht auf der ersten Ebene aufreiben. Er muß viel über seine gegenwärtige Realität sprechen. Es tut nicht gut, sich auf der ersten Ebene zu bewegen, wenn man sie nicht integrieren kann. Einsichten sind ein sehr wichtiges Anzeichen dafür, daß Integration stattfindet.

Es ist wichtig, daß man die Verletzlichkeit eines Menschen erkennt, der seine Abwehr zu verlieren beginnt. In den ersten Wochen der Therapie hängt alles vom Therapeuten ab; in dieser Zeit kann der Patient auf subtile Weise von dem richtigen Weg abgebracht werden. Denn in den ersten Wochen der Therapie lernt der Patient seinen Primärstil, und dieser Stil kann ihn lange Zeit begleiten. Solange es sein Stil ist, ist alles in Ordnung. Ist es aber der des Therapeuten, dann wird es zu Schwierigkeiten kommen.

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Es ist zum Beispiel möglich — um das vorhin angeführte Beispiel aufzugreifen —, den Patienten auf jeder Sitzung zu ermutigen, er solle mit seinem Körper gehen, und so ein Vordringen zur ersten Ebene zu beschleunigen. Der Patient kann dann dahin geraten, daß er beim ersten Anzeichen jeglichen Fühlens zur ersten Ebene geht, und das bedeutet, daß Gefühle anderer Ebenen zu dieser Ebene umgelenkt werden. Die Körperbewegung wird zu einer Abwehr, und der Patient integriert nicht mehr und hat somit keine wirklichen Primals mehr. Er erweckt den Anschein, als habe er spektakuläre Primals, weil er sich windet und krümmt, erbricht, schreit und weint, und das kann sich über mehrere Stunden erstrecken, weil alle Ebenen auf die erste komprimiert sind. Anschließend fühlt er sich jedoch noch immer schlecht, genauso schlecht wie zu Beginn. Er hat nichts integriert und nichts aufgelöst; er hat eine Katharsis gehabt. Und selbst wenn er sich anschließend besser fühlt, so geschieht das nur infolge einer Spannungsentladung. 

Dieser unkorrekte Primärstil besteht darin, den Patienten zu überlasten, so daß er, nachdem er seine Sitzung hinter sich gebracht hat, Gefahr läuft, draußen, auf der Straße oder bei seinen Freunden zu agieren. Er wird von dem restlichen, unaufgelösten Schmerz schlechte Träume haben. Es ist auch möglich, daß ein Patient nach richtigen Primals Alpträume hat, insbesondere wenn diese Primals katastrophal sind und nur jeweils Stück für Stück gefühlt werden können. Auch hier ist es wieder die Sache des geübten Therapeuten, den Unterschied zu bemerken.

Den Patienten verfrüht auf der ersten Ebene zu halten, ist gefährlich, weil das ein zutiefst desintegrierendes Erlebnis ist; der Patient fühlt sich schlechter, oder er fühlt, daß er der Therapie nicht gewachsen ist, und möchte davonlaufen. Er kann zu der Auffassung gelangen, er sei ein besonderer Fall — die Therapie sei zu hart für ihn, er sei für diese Methoden zu krank etc. Solche Fehler des Therapeuten können den Patienten aus der Therapie vertreiben und bewirken, daß er sein Leben lang neurotisch bleibt; denn diese Therapie ist wirklich eine Einbahnstraße, die mit der vollen Kenntnis all ihrer Implikationen betreten werden muß.

Ist ein Mensch erst einmal geöffnet worden, so ist es nicht leicht, ihn wieder zu verschließen. Sollte er die Therapie zu früh abbrechen, kann er anschließend kranker sein als zuvor, und zwar insofern, als er dann ängstlicher ist, mehr agiert, weniger Kontrolle hat und weniger funktionsfähig ist. Es ist dann durchaus denkbar, daß er die Schuld der Therapie und nicht dem Therapeuten zuschreibt, da er normalerweise ja nicht weiß, was genau mit ihm geschehen ist; darin liegt die Gefahr, wenn man sich in die Hände jener Therapeuten begibt, die für diese Therapie nicht richtig ausgebildet wurden. Das ist anders als bei anderen Behandlungsmethoden, die man fast jederzeit ohne Schaden zu nehmen abbrechen kann.

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Der Patient erster Ebene ist oft derjenige, der die zweite Ebene übersprungen hat, die das Bindeglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit darstellt und beim Prozeß der Integration eine wichtige Rolle spielt. Ich habe in dem Kapitel über die Natur des Schmerzes erklärt, daß die Gewichtung des Schmerzes zunimmt, je weiter man die Bewußtseinskette hinabsteigt, weil immer weniger Gehirn (Kortex) da ist, die Last in den ersten Wochen des Lebens zu verarbeiten. Deshalb ist es verständlich, daß man in der Anfangsphase der Therapie (bei sonst gleichen Voraussetzungen) natürlicherweise zunächst mit den weniger gewichtigen Schmerzen anfangen würde; und das hieße von drei zu zwei zu eins voranschreiten.

Und genau so wird sich der durchschnittliche Neurotiker tatsächlich verhalten, wenn man ihm zubilligt, daß er dem natürlichen Verlauf folgt, mit dem der Körper Schmerz erlebt. Den Patienten in eine Überlastung treiben bringt noch weitere Komplikationen mit sich. Wenn der Patient zunehmend verletzlich, erschüttert und aus der Fassung gebracht wird, muß er all seine Hoffnung und sein Vertrauen auf den Therapeuten konzentrieren. Die Übertragung auf den Therapeuten wird unüberwindlich, gerade weil der Patient von Schmerz, den er nicht zu integrieren vermag, überwältigt ist, und das wiederum macht es dem Therapeuten nur noch leichter, seine Gehirnwäsche weiter zu betreiben. Der Patient macht keinen merklichen Fortschritt, obwohl er doppelt so viele Primals zu haben scheint wie jeder andere.

Primärtherapie ist ein natürlicher Prozeß. Fühlen findet die angemessene Ebene von allein, wenn nicht ein anderer eingreift und den Patienten in die eine oder andere Richtung lenkt. Wenn einem Patienten nicht ständig der Mund mit einem Kissen zugestopft wird, wenn er nicht ständig mit dem Kopf auf dem Boden sein muß, wenn er nicht ständig fälschlich dazu angehalten wird, über seine Gefühle zu reden, wenn er von einem wohlmeinenden Therapeuten nicht zu oft in die Arme genommen wird, dann werden seine Gefühle ihm schon sagen, wohin er zu gehen hat. Gefühle sind die einzige Autorität. Die erste Ebene als Abwehr kann sehr subtil funktionieren, so daß zum Beispiel in einer Nachgruppe, bei einem Patienten, der gerade im Begriff ist, sich mit jemandem auseinanderzusetzen, plötzlich die ganze Schmerzkette hochkommt und er stammelnd auf den Boden fällt und sich in Krämpfen windet, statt diese für ihn wichtige Konfrontation durchzustehen und abzuschließen. Oder auch wenn er sie abschließt, lenkt er vielleicht noch immer ein Gefühl zweiter oder dritter Ebene zur ersten um. Er benutzt die erste Ebene nicht bewußt als Abwehr; er hat vielmehr in der Therapie gelernt, sich beim ersten Anzeichen von Schmerz dort hinzubegeben. Folglich konfrontiert der Patient nicht mehr seine Mitpatienten, seinen Therapeuten oder andere Menschen, sondern er versteckt sich statt dessen hinter seinem Stil, und gerade das bewirkt, daß er weiterhin krank bleiben wird. Er ist und bleibt in seiner Vergangenheit.

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Viele von uns haben sich von Geburt an ihr Leben lang allein gefühlt. Aber es gibt verschiedene Ebenen dieses Gefühls und verschiedene mit diesem Gefühl verbundene Schmerzebenen. Je tiefer wir die Schmerzkette hinabsteigen, um so mehr erleben wir den Schmerz dieses Gefühls. Eines Tages sind wir dann so weit, daß wir die ganze Kette hinab- und wieder hinaufsteigen, und erst dann haben wir ein volles Primärbewußtsein. Man kann nicht erwarten, in den ersten Therapiewochen zu dem ungeheuren, prototypischen Alleinsein vorzudringen.

Die große Gefahr für uns alle besteht natürlich darin, Feeling zu hemmen und anzuhalten und die Therapie zu beenden, noch ehe ein voll integriertes, drei Ebenen umfassendes Bewußtsein vorhanden ist. Weil Abwehr eine Sache des »Alles-oder-nichts« ist, ist damit zu rechnen, daß der verbleibende, nicht integrierte Restschmerz uns weiterhin genau so neurotisch sein läßt wie vor der Therapie. Wir können lange Zeit in der Therapie sein und glauben, wir seien noch genauso krank wie vor der Therapie, und zwar aufgrund ungefühlten Restschmerzes. Das heißt nicht, daß die Therapie versagt, sondern daß der Schmerz ungemein große Tiefen hat, und wir erfassen erst jetzt das volle Aus-> maß dieser Tiefe und der Zeit, die es dauert, um dort hinzugelangen. Wir alle werden auf diesem Weg agieren wollen, wenn wir eigentlich innehalten und fühlen müßten. Denn Abwehrmechanismen, die unseri Leben überlagern, schleifen sich im Laufe der Zeit so ein, daß sie bei Schmerz jeglichen Ursprungs in Aktion treten. Selbst nach zwei Jahren Therapie können Homosexuelle Sex mit anderen Männern vollführen oder Transvestiten Frauenkleider anziehen wollen, und das nicht etwa, weil sie nicht weitergekommen wären, sondern weil Abwehrmechanismen zwischen verschiedenen Arten von Schmerz nicht unterscheiden. Jeder Schmerz kann sie in Gang setzen. Sicherheit ist Fühlen lernen. Sicherheit ist Feeling und nicht ein anderer Mensch.

 

Deshalb möchte ich Menschen, denen es nicht möglich ist, zum Primal Institute zu kommen, eher raten, einander informell bei Primals zu helfen. Die eigentliche Gefahr sind die »selbsternannten« Experten, die mit ihren Patienten Pseudo-Primärtherapie betreiben und das dann als »Urschrei-Therapie« ausgeben. Ich verstehe nicht, warum andere nicht das betreiben, was ich richtige Primärtherapie nenne. Wir hatten bei uns Therapeuten aus vielen Ländern der Welt in Behandlung, die angaben, sie hätten vorher selbst Primärtherapie betrieben. Für uns war es offensichtlich, daß sie die Primärtherapie nicht richtig verstanden hatten, und auch ihnen wurde bald klar, daß das, was sie zuvor betrieben hatten, wenig Ähnlichkeit mit der fachmännischen Therapie hatte, die sie hier bei uns im Institut kennenlernten.

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Uns liegt nichts daran, die einzigen zu sein, die Primärtherapie betreiben, doch wir wissen, wie ungemein gefährlich sie in ungeschulten Händen sein kann, und wir werden alles tun, um die Öffentlichkeit vor diesen Gefahren zu bewahren. Ich glaube, daß eine unkorrekt durchgeführte Primärtherapie gefährlicher sein kann als gar keine Therapie. Ein Mensch mag ohne Therapie unter Ängsten leiden, aber noch immer funktionsfähig sein; wir haben aber erlebt, daß eine unkorrekt durchgeführte Therapie zu psychotischen Zuständen, zu Selbstmord und zu Unfähigkeit geführt hat, im Hier-und-Jetzt noch zu funktionieren. 

Es kann deshalb so gefährlich sein, weil man die Schmerzbüchse der Pandora öffnet, und wenn dieser Schmerz dann nicht sicher integriert werden kann, ist das Resultat eine Überlastung und ein noch stärkeres Abblocken in Verbindung mit körperlichen und geistigen Symptomen.

Wir alle wollen bekommen, was wir nicht bekommen haben. Wir alle wollen gute, liebende Eltern, und wir alle können verführt werden, wenn es den Anschein hat, als bekämen wir einen Abglanz dessen in der Gegenwart. Wir alle wollen einen sicheren Platz. Und ich bin der Auffassung, daß die einzig letztliche Sicherheit darin liegt, sich an einem sicheren Platz zu befinden, so daß man die Therapie nicht halbfertig verläßt. Wenn ich heute vor die Wahl gestellt würde, zwischen einem liebevollen Therapeuten und einem, der mich in meinen Schmerz hineinzwingt, zu entscheiden, dann würde ich mich sicherlich gegen letzteren entscheiden, selbst wenn ich wüßte, daß er derjenige wäre, der mir helfen könnte, gesund zu werden. Wir alle hatten in unserem Leben so viel Schmerz, daß wir mehr nicht wollen. Wir alle hatten davon mehr als genug. Wir haben all diesen Schmerz erlitten, und um ihn loszuwerden, müssen wir ihn nun noch einmal durchmachen. Das ist absolut unfair. Aber wir haben den Schmerz nicht herbeigeschafft. »Sie« haben es getan. Es ist nicht eine Frage der sanften oder harten Methode. Es ist eine Frage des Realseins und des für den Patienten im jeweiligen Augenblick angemessenen Handelns. Es ist irgend etwas grundfalsch, wenn der Therapeut immer nur eine einzige Methode anwendet. Wenn der Therapeut immer nur hart ist, hat er alte Gefühle, die er verarbeiten muß; er blockiert seine Weichheit und Zärtlichkeit. Und wenn er zu behutsam und sanft ist, blockiert er seine Härte und seine Aggressionen.

Wenn Therapeuten den Überblick haben, wenn sie das eigentliche Endziel der Therapie klar vor Augen haben, werden sie all die erforderlichen Veränderungen herbeiführen. Wir sind offen für Veränderungen, und deshalb ziehen wir auch die Patienten zur Besprechung hinzu, wenn unter den Therapeuten Differenzen aufkommen; wir sind die einzige psychiatrische Klinik der Welt, die so verfährt. Wir wollen die Gedanken und Gefühle der Patienten hören, und wir haben uns aufgrund ihrer Aussagen und Ratschläge im Laufe der Jahre drastisch gewandelt.

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Wirklich gefährlich wird es bei der Primärtherapie, wenn Patienten aufhören, eigenständige Persönlichkeiten zu sein, wenn sie aufhören, sie selbst zu sein. Wenn sie überlastet sind, kommt es gelegentlich vor, daß sie sich mit anderen, die in einer ähnlichen Lage sind, verbünden wollen und gemeinsame Vorstellungen entwickeln, die im Grunde symbolisch sind.

Dafür ein Beispiel: Ein in der Ausbildung befindlicher Therapeut arbeitete gerade an seinen Geburtsprimais und begann an einem bestimmten Punkt, sonderbare Vorstellungen zu entwickeln. »Wir brauchen hier Offenheit! Es ist alles eingeschlossen, eingeengt. Es gibt hier keinen Raum, um uns selbst auszudrücken.« Viele von uns wußten, daß er seinen Schmerz erster Ebene symbolisch auf die Belegschaft projizierte. Wir versuchten, ihm seine paranoiden Vorstellungen auszureden, aber wir kämpften gegen die Primärflut. Er fand dann zwei andere, die in einer ähnlichen Lage waren, und gemeinsam entwickelten sie ein kompliziertes, verzahntes neurotisches Gerüst, das unzugänglich wurde. Sie bekräftigten sich gegenseitig in ihrer Irrealität, und so verfestigte sie sich. Sie hatten keine Realität dritter Ebene, sondern Realität erster Ebene, die sie auf die Gegenwart projizierten. Und sie gelangten zu der Überzeugung, daß sie unbedingt raus müßten; leider, denn was sie eigentlich brauchten, war nichts anderes, als aus der falschen Sache herauszukommen. Hier ging es nicht um die Klinik, sondern um den Mutterleib. Aber wenn man in der Vergangenheit übermäßig überlastet wurde, dann wird die Gegenwart nur zu einem Symbol dafür — und das ist die Gefahr bei Primärtherapie.

Der Fehler des Patienten besteht somit darin, sich zu Cliquen zusammenzuschließen. Es spielt keine Rolle, vor welchem Gefühl er davonläuft; wenn er sich mit anderen verbündet, die in der gleichen Lage sind, können sie wechselseitig bestärkte Abwehrmechanismen entwik-keln. Wenn sie zum Besipiel mit Feindseligkeit nicht fertig werden, werden sie davonlaufen wollen — an einen »sicheren Ort«. Sie versuchen dann vielleicht, sich anderen anzuschließen und suchen eine ruhige, ländliche Umgebung oder eine Therapie, die sich nicht mit Schmerz auseinandersetzt. Es ist einerlei, wohin sie entfliehen; sie fliehen vor Gefühlen. Im Grunde wollen sie nichts anderes, als die letzten Überreste ihrer Neurosen beibehalten, einfach weil es so schmerzhaft ist, sich in Gefühle der Feindseligkeit zu begeben, Gefühle, die den Zorn ihrer Eltern über sie gebracht hätten, wenn sie ihnen in ihrer Kindheit Ausdruck gegeben hätten. In Feindseligkeit zu geraten bedeutet, überwältigende Ablehnung im frühen Leben zu fühlen Es ist daher für den Neurotiker natürlich, fliehen zu wollen, und der erfahrene Therapeut muß ihm helfen, es nicht zu tun.

Zu sagen, es gäbe eine spezifische Art, Primärtherapie zu betreiben, ist nichts anderes, als sagte man, es gäbe eine spezifische Art, Herzoperationen durchzuführen. 

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Wir haben ganz offensichtlich nicht die Präzision des Chirurgenmessers, aber die Primärtherapie in den richtigen Händen ist präzise. Sie ist nicht präzise in dem Sinne, daß ein starrer Satz mechanischer Regeln zu befolgen wäre; es gibt vielmehr präzise Hinweise, die bei jedem Patienten variiert werden müssen, die den Gebrauch spezifischer Techniken diktieren, und diese Techniken haben sich aus einer sorgfältig ausgearbeiteten Theorie entwickelt, die auf Erfahrungen und Beobachtungen beruht.

Ich gehe auf diesen Punkt deshalb so ausführlich ein, weil ich deutlich machen möchte, daß es nicht möglich ist, andere Methoden mit der Primärtherapie zu verbinden, um so zu einer Art gesteigerter Primärtherapie zu gelangen. Wir glaubten eine Zeitlang, es sei möglich, eine Vielzahl von Techniken anzuwenden, um Patienten in ihre Gefühle zu helfen; das betraf insbesondere Rolfing und bioenergetische Techniken, da in der Belegschaft Therapeuten waren, die früher mit diesen Techniken gearbeitet hatten. Bei einigen Patienten wurden in der primärtherapeutischen Behandlung Rolfing-Techniken angewandt, und die Ergebnisse waren zwiespältig, teilweise sogar gefährlich. Wir haben seither von den anderen Techniken Abstand genommen, weil sie sich als überflüssig erwiesen haben. Der natürliche Weg ist offenbar der beste. Versuche, diesen Prozeß zu beschleunigen, führen letztlich doch zu nichts. Der Körper gelangt gemäß seiner eigenen Zeit zu den Gefühlen, und genau so sollte es auch sein.

Einer unserer Patienten hatte nach fünfmonatiger Primärtherapie fünf Rolfing-Sitzungen außerhalb des Instituts. Er wurde dabei weit geöffnet, doch diese Manipulation des Körpers beeinträchtigte die Körperabwehr, so daß er zu offen wurde, und das führte zu einer Überlastung und zu einem fast permanenten Schmerzzustand. Sein Rolfing-Therapeut kannte und verstand die Primär­therapie, doch da er darin nicht geschult war, wußte er einfach nicht, wie er mit dieser Situation fertig werden sollte. Wir waren ursprünglich allen Vorschlägen gegenüber sehr aufgeschlossen, gerade weil wir Therapeuten fast aller Schulrichtungen bei uns hatten. Sie haben aber sehr schnell selbst entdeckt, daß alles Unnatürliche sinnlos ist.

Wir haben im Laufe der letzten sechs Jahre herausgefunden, daß Drogen, Beatmungstechniken und dergleichen kaum erforderlich sind, und das nicht etwa weil wir grundsätzliche theoretische Einwände dagegen hätten, sondern weil sie entweder nicht funktionierten, überflüssig oder, schlimmer noch, gefährlich waren. Vor allem sind so gut wie fast gar keine Medikamente erforderlich, denn entweder halten sie den Patienten zurück, indem sie Gefühle blockieren, oder sie bewirken, daß er die eine oder andere Bewußtseinsebene überspringt. Fast immer verhindern sie das Zustandekommen voller Verknüpfungen. 

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Es gibt Menschen, die glauben, daß die Primärtherapie eine Schreitherapie sei; daß die Patienten nichts anderes tun müssen, als zu schreien oder ihre Wut oder ihre Tränen herauszulassen. 

Weinen ist keineswegs gleichbedeutend mit Feeling, es kann oft einfach eine Befreiung oder eine Katharsis bedeuten. Schreien läßt sich kaum als Primärtherapie bezeichnen. Bei einigen Patienten können manchmal Monate vergehen, ohne daß sie schreien, Monate, in denen sie nur viel fühlen und weinen oder nur stammeln und erbrechen oder nur sich winden und jammern oder was immer. Nicht alle Menschen reagieren auf Schmerz mit Schreien. In jedem Falle aber verläuft der Prozeß von innen nach außen; so muß der eine Patient infolge gefühlter Schmerzen schreien, während ein anderer auf ganz andere Weise reagiert. 

Bei der Pseudo-Primärtherapie wird dem Patienten jedoch oft vorgeschrieben, ob und wann er zu schreien hat, oder ob und wann er nicht schreien darf, um zu seinen Gefühlen zu gelangen. Ja, das eigentliche Kennzeichen der Pseudo-Primärtherapie ist gerade die autoritäre Struktur, mit Hilfe derer Therapeuten den Patienten auf die eine oder andere Weise manipulieren, um ihn unter Kontrolle zu haben. Sie können ihn zum Beispiel öffnen und ihm sagen, er sei ungeheuer wütend und müsse seine Wut ausdrücken. Oder sie veranlassen ihn, sich hinzulegen und so lange zu schreien: »Es tut weh«, bis er schließlich tatsächlich weint, oder sie veranlassen ihn, nach »Mami« zu rufen, alles jeweils entsprechend den Vorstellungen der Therapeuten (»Sagen Sie ihr, daß Sie ihre Hilfe brauchen oder wollen«).

Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß alles Mechanische, das sich nicht aus dem Patienten selbst heraus entwickelt, falsch ist. Gewiß, das ist eine subtile Angelegenheit, weil der Patient, der bereit ist, zu weinen, tatsächlich weinen und vor Schmerz schreien wird, wenn er in einer Sitzung zu seiner Mutter spricht; doch das ist keine systematisch betriebene Primärtherapie. Es ist zum Beispiel durchaus möglich, daß der Schmerz des Patienten seinem »Papi« und nicht seiner »Mami« gilt, oder auch keinem von beiden. Es kann sich um etwas Körperliches handeln, zum Beispiel um eine Operation oder um Prügel, die er von einem sadistischen Bruder bezogen hat. Der Patient wird von seinem Therapeuten in die Irre geführt.

Ist ein Patient erst einmal bei seinen Gefühlen angelangt (normalerweise ist das nach einigen Monaten Behandlung der Fall), dann ist er in der Lage, zwischen sich und dem Therapeuten zu unterscheiden. Und darin liegt die Sicherheit für ihn selbst und für die Therapie. Sie ist selbstregulierend. Je mehr er fühlt, um so besser fühlt er, wenn die Therapie unkorrekt ausgeführt wird; er würde das einfach nicht zulassen. Und wenn der Therapeut offen ist, wird er den Hinweis beachten und fühlen, warum er gerade diesen Fehler mit dem Patienten begangen hat. Besondere Arten von Fehlern weisen in der Regel auf besondere Arten blockierter Gefühle hin.

Es ist wichtig, daß der Therapeut nicht defensiv wird und den Patienten und dessen Kritik nicht angreift. Denn das würde den Patienten, der ein Stück Realität erkannt hat, nur verwirren; es würde den Patienten in die gleiche Situation versetzen, in der er sich als Kind seinen Eltern gegenüber befand, sobald er ehrliche Gefühle hatte und dann nur auf ihre Mißbilligung stieß und angegriffen wurde.

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Mir ist bei Patienten, die zuvor als Therapeuten tätig waren, aufgefallen, daß sie zunächst in der Ausbildung zum Primär­therapeuten dazu neigen, ihre alten Techniken anzuwenden. Mehr als einer von ihnen hat die Frage gestellt, warum er nicht seine alten Vorstellungen und Techniken mit den neuen verbinden und von beidem das Beste nehmen könne. Wenn sie dann eine Zeitlang Primärtherapie betrieben haben (und die in der Ausbildung befindlichen Therapeuten haben ihre eigenen Gruppen), geben sie das jedoch auf; sie stellen fest, daß die alten Vorstellungen und Techniken von einem Neurotiker adaptiert worden waren (und sie waren zuvor neurotisch) und Teil ihrer Abwehrstruktur waren. Sie haben sich an diese Vorstellungen und Techniken geklammert, wie sie sich an jeden Teil ihrer alten Abwehrmechanismen geklammert haben — so lange, bis sie voll fühlten. Sind sie erst einmal völlig offen, greifen sie nur noch zu den besten und ausgefeiltesten Techniken, um den Patienten in seine Gefühle zu bringen, und lehnen alles andere ab. 

Wir haben im Laufe der Zeit unsere Techniken ausgefeilt und geschliffen, um effektiver zu arbeiten. Wir haben das Überflüssige wegfallen lassen, eben weil es überflüssig ist. Wenn ein Therapeut von seinem alten Stil nicht abläßt, klammert er sich in der Regel noch immer an einen Teil seiner Neurose. Man kann den geregelten Prozeß, durch den der Körper sich von Schmerz befreit, auf subtile Weisen unterbrechen. Wenn zum Beispiel ein Therapeut, der mit bioenergetischen Techniken arbeitet, seinen Finger auf einen Muskelkomplex legt, so trifft er damit gleichzeitig eine Erinnerung. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Körpererinnerung, mit der er sich dann befaßt, zu diesem Zeitpunkt für das Bewußtsein noch nicht bereit sein. Es sei daran erinnert, daß es für unsere Erinnerungen normalerweise physische Korrelate gibt, insbesondere bei Material erster Ebene. Anders ausgedrückt heißt das, daß Körper und Gehirn miteinander verkoppelt und nicht zwei getrennte eigenständige Entitäten sind. Man betreibt mithin keine reine Körpermanipulation, sondern gleichzeitig auch eine Gehirnmanipulation. 

Bei allen Methoden der Körpermanipulation trifft der Therapeut die Entscheidung, welcher Muskelkomplex als nächster zu bearbeiten sei; und damit wird wiederum für den Patienten entschieden, wohin er zu gehen habe. In den meisten Fällen sollte der Patient zumindest in den ersten Monaten von allen körperlichen Techniken verschont werden, wenn nicht überhaupt ganz. Eine körperliche Methode kann den Patienten zu schnell zur ersten Ebene vordringen lassen und ihn zu lange dort festhalten. Zu früher Körperkontakt kann beim Patienten auch Abwehrverhalten aufbauen, wenn er großen Schmerz aufgrund der Tatsache hat, daß er nie Körperkontakt hatte.

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Eine subtilere Form all dessen ist jede Interpretation, die ein Therapeut dem Patienten über seine Gefühle gibt. Zum ersten kann er sich gründlich irren, denn die Interpretation muß immer von dem Patienten kommen, und zum zweiten kann das Erlebnis dadurch auf die erklärende dritte Ebene gehoben werden, statt daß man den Patienten sein Erlebnis auf den unteren Ebenen haben läßt. Auf diese Weise wird die Abwehr dritter Ebene unterstützt und Zugang zu den unteren Ebenen verhindert.

 

Es gibt auch Menschen, die meinen, jede Methode habe etwas zu bieten. Ich teile diese Auffassung nicht. Wenn wir von Verhaltensveränderungen sprechen, dann ist dazu jede Methode auf die eine oder andere Weise fähig, mag es sich dabei um Verhaltenstherapie, um Psychoanalyse oder um Stockschläge handeln.* 

Wenn wir jedoch von tiefgreifenden Veränderungen sprechen, dann sieht die Sache anders aus. Wie zum Beispiel ließe sich wohl die Psychoanalyse mit der Primärtherapie verbinden? Wenn wir wissen, daß die Psychoanalyse in einigen Fällen Abwehrmechanismen kräftigt, warum sollten wir sie dann mit einer Methode wie der unseren verbinden, die Abwehrverhalten gerade abbaut? Ganz zu schweigen von den tiefgreifenden gegensätzlichen Auffassungen im Hinblick auf die Notwendigkeit von Abwehrverhalten und auf die Natur des Unbewußten. Die Analytiker glauben im großen und ganzen, es sei grundsätzlich desintegrierend, in Schmerz zu geraten, und wir glauben genau das Gegenteil, nämlich daß es integrierend ist. 

Oder wie verhält es sich mit der Gestalttherapie? Bei der Gestalttherapie ist die Konfrontation oft eine zentrale Technik, vor allem bei gestalttherapeutischen Gruppensitzungen. Die Menschen werden dort ermutigt, sich untereinander ungehemmt auszudrücken; sie rotieren und agitieren unter der Maske ihrer wahren Gefühle. Aber da hört es dann fast immer auf. Der eigentliche Ursprung ihrer Wut, Angst etc. wird nicht erreicht. Der Patient wird nicht — zeitlich gesehen — zu den Ursachen seiner Gefühle zurückgebracht; so kommt es nur zu einer Katharsis, nicht zum Feeling. Er hat ein nicht verknüpftes Erlebnis, in dem alte Gefühle auf die unmittelbare Gegenwart verschoben werden. Kurz gesagt, er wird ermutigt, zu agieren, und normalerweise wird sich mit seinem Verhalten (selbst wenn er in ein Primal gerät) auseinandergesetzt. Sein Verhalten wird von den anderen Gruppenmitgliedern entweder interpretiert oder es löst Gegenreaktionen aus Dem Patienten wird nicht die Möglichkeit gegeben, voll in seine eigenen Gefühle hineinzufallen.

 

*  In diesem technischen Zeitalter sieht man offenbar etwas Geheimnisvolles darin, jemanden an ein Stromnetz anzuschließen; das vermittelt ihm das Gefühl, es geschehe etwas wirklich Wissenschaftliches mit ihm. Dabei wird übersehen, daß via Verhaltenstherapie einem Menschen einen elektrischen Schock zu verabreichen, während ihm ein bestimmter Reiz dargeboten wird, nichts anderes ist, als würde er jedesmal mit einem Stock geschlagen; das ist lediglich eine abgewandelte Form dessen, was neurotische Eltern mit ihrem Kind gemacht haben; beide Male geschieht es »zum Besten« dieses Menschen. Der einzige Unterschied liegt in der Definition dessen, was das »Beste« ist.

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Wir wissen durch die Primärtherapie, daß Konfrontation in und für sich selbst nichts ändert; Neurose ist eine innerliche Angelegenheit, keine zwischenmenschliche. Konfrontation ist nur insofern sinnvoll, als daß man dadurch in Kontakt zu alten Gefühlen geraten kann. Also auch hier wieder die Frage: Warum sollte man bei der Primärtherapie Gestalttherapie betreiben, wenn Gestalttherapie nicht weiterhilft? Gewiß, es kann bei Gestalttherapie geschehen, daß ein Patient ein Primal hat, aber das sind zufällige und nicht gezielte Ergebnisse der Therapie. Desgleichen hat das Rollenspielen wie zum Beispiel beim Psychodrama wenig mit Primärtherapie zu tun. Warum Zeit darauf verwenden, verschiedene Rollen zu spielen, wenn der Patient sein ganzes Leben lang eine Rolle gespielt hat, die der eigentliche Grund seiner Neurose ist? Er ist niemals er selbst gewesen. Warum also nicht die Techniken anwenden, die ihm dazu verhelfen, er selbst zu sein und nicht sein Vater oder seine Mutter?

 

Ich habe nicht die Absicht, auf jede einzelne therapeutische Methode einzugehen; ein Buch über diesen Gegenstand wird gerade von einem unserer Therapeuten vorbereitet. Ich wollte nur zeigen, wie unlogisch es ist, Methoden anzuwenden, die in der Vergangenheit nicht zu Urschmerz geführt haben und die die Notwendigkeit, dort hinzugelangen, offenbar nicht erkannt haben. Oder die, wenn sie einräumen, daß ein Wiedererleben alter Schmerzen heilende Wirkung hat, darin nur eine Begleiterscheinung oder ein Nebenprodukt sehen. Und wenn ein Therapeut nicht der Auffassung ist, daß das Erleben der Schmerzen entscheidend ist, warum dann überhaupt die Primärtherapie anwenden, die ja gezielt daraufhin angelegt ist?

Ich glaube, daß es — zumindest in Amerika — einen regelrechten Boom von Pseudo-Therapien gegeben hat, im Rahmen dessen viele Menschen oft ohne fachliche Ausbildung oder Lizenz eine Praxis eröffnet haben, weil sich in der Öffentlichkeit stillschweigend die Auffassung durchgesetzt hat, daß Psychotherapie keine Wissenschaft sei und daß der eine die Sache genau so gut mache wie ein anderer. Daraus wird gefolgert, daß »jeder mit einer gesunden Intuition« dafür geeignet sei; daß man nur ein paar Bücher gelesen haben und mit den wesentlichen psychologischen Theorien vertraut sein müsse, und schon sei man so gut wie jeder andere in der Lage, psychische Störungen zu behandeln.

Die Tatsache, daß es so viele psychologische Schulen gibt, ist ein Zeichen dafür, daß es viele Auffassungen gibt, wie eine richtige Psychotherapie auszusehen habe; es gibt fast ebenso viele Schulen, wie es Auffassungen gibt. Und wer wollte sagen, welche dieser Schulen besser ist als andere, zumal nur wenige dieser Schulen einen systematischen Unterbau haben und überprüfbare Hypothesen hervorgebracht haben? 

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Alle Schulen berufen sich auf ihren Erfolg (der normalerweise an Verhaltensveränderungen bemessen wird), so daß es für einen angehenden Therapeuten inzwischen ganz natürlich ist, sich eine Schule auszusuchen, so wie man sich irgendwelche Gegenstände in einem Kaufhaus aussucht. Würde man so in einem anderen Fachbereich verfahren, würde sich sofort zeigen, was für ein Unfug das ist. 

Man stelle sich vor, ein Chemiker wollte Salz nach einer anderen als der üblichen Formel herstellen. Oder man stelle sich vor, ein Mediziner beschlösse, eine Infektion mit Tetracycline und zusätzlich mit diversen anderen Medikamenten zu behandeln, die sich bislang als unwirksam erwiesen haben. Warum um alles in der Welt sollte er anwenden wollen, was sich als unwirksam erwiesen hat, wenn er über das exakte und wirksamste Mittel verfügt, um den gewünschten Effekt zu erzielen? 

Eklektizismus hat eine gewisse Anziehungskraft, nicht zuletzt weil er für einen »aufgeschlossenen Geist« spricht. Manchmal jedoch kann ein aufgeschlossener Geist zu einem Sieb werden, durch das alles Wichtige absickert, weil der Geist keinen Verschluß hat, keine Fähigkeit, sich auf einen Brennpunkt auszurichten und zu organisieren. Mangel an Kohärenz wird Aufgeschlossenheit genannt und zum Prinzip erhoben. Sehr oft hat es den Anschein, als stimmten andere Therapeuten mit der Primärtherapie überein, als wollten sie nur gleichzeitig auch ihre früheren Techniken beibehalten. Und wenn man mit den primärtherapeutischen Techniken nicht voll und ganz vertraut ist, ergibt es wirklich Sinn, an anderem festhalten zu wollen. Derartige Therapeuten sind offenbar recht »katholisch«, wenn es darum geht, sich einer Sache voll und ganz zu verschreiben.

 

Eine weitere Art, die Primärtherapie zu mißbrauchen, ist das, was ich das »Trickkasten«-Syndrom nenne, bei dem sich jemand für ein paar ausgewählte Techniken spezialisiert und sich einbildet, er betreibe jetzt »die Therapie«.

Dafür zwei Beispiele: Ich erhielt kürzlich einen Brief von einem Pseudotherapeuten (der früher Encounter-Gruppen leitete); er teilte mir mit, er habe die Beatmungstechniken (die wir äußerst selten benutzen) bei einem Borderline-Psychotiker angewandt, um dessen Abwehrsystem »aufzubrechen« und um ihn in seine Gefühle zu bringen. Das Ergebnis war eine offene und jetzt (zumindest durch jenen Therapeuten) nicht mehr zu behandelnde Psychose. Dieser Pseudotherapeut wandte die Beatmungstechniken an, ohne zu differenzieren, ohne zu wissen, wann sie angebracht sind und wann nicht, und der Patient kam dabei zu Schaden.

Auf ähnliche Weise hatte sich ein Mann in England auf Isolierung spezialisiert. Er versetzte ein labiles, zartes, knapp zwanzigjähriges junges Mädchen in Isolation, und das Ergebnis war wiederum eine offene Psychose. 

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Man muß zunächst immer erst einmal das Allgemeine und Wesentliche verstehen, ehe man spezifische Techniken anwendet; andernfalls werden die Techniken aus dem Zusammenhang gerissen und nicht mehr systematisch innerhalb einer umfassenderen theoretischen Struktur angewandt. Sie werden weniger im Hinblick auf die Bedürfnisse des Patienten, sondern weit mehr im Hinblick auf die Bedürfnisse des Therapeuten angewandt.

Die Primärtherapie geht davon aus, daß alle Menschen unterschiedlich sind; deshalb müssen die Techniken jeweils unterschiedlich angewandt werden. Und das macht es so schwierig, diese Therapie zu erlernen. Bei der Verhaltenstherapie behandelt man die Menschen nicht, als seien sie unterschiedliche Wesen. Die gleichen Techniken können in ähnlicher Weise auf eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen angewandt werden. Sie werden nicht entsprechend der jeweiligen Struktur des Patienten entwickelt, sondern entsprechend einer theoretischen Struktur ihm aufgepfropft, wobei die Psyche des Patienten selbst wenig in Betracht gezogen wird. Es bedarf eines mit Fachkenntnis ausgestatteten, fühlenden Menschen, um zu wissen, wann ein Mensch beatmet werden sollte und bei welcher Art Patient Beatmungstechniken überhaupt angebracht sind. Und nur Menschen, die selbst gespalten und aufgesplittert sind, wenden aus dem Zusammenhang gerissene Techniken isoliert an; sie sind unfähig, das Ganze zu sehen, eben weil sie innerlich aufgespalten sind.

Die primärtherapeutischen Techniken sind aus mehreren Gründen nicht veröffentlicht worden. Der Hauptgrund ist der, daß nichtfühlende Menschen keine fühlende Therapie betreiben können. Man kann alles über die Bewußtseinsebenen wissen und dennoch unfähig sein, Patienten entsprechend diesem Wissen zu behandeln. Ich bin überzeugt, daß jede Technik, die publik gemacht wird, unweigerlich der neurotischen Struktur des Therapeuten einverleibt wird; ich habe gerade beschrieben, wie dabei verfahren wird, wie einige der in dem Buch Der Urschrei erwähnten Techniken mißbraucht wurden (die undifferenzierte Anwendung von Beatmung, Schreien und Isolierung, um nur einige Beispiele zu nennen).

Gelegentlich kann ein Therapeut mit diesen Techniken zeitweilig Glück haben. Aber früher oder später wird der Patient überlastet sein, und dann werden sich mehr Schwierigkeiten einstellen, als der Therapeut verkraften kann. Wir erhalten täglich Briefe über Selbstmordversuche von Patienten, die in schweren Schmerz geraten sind und einen Therapeuten hatten, der dann nicht wußte, wie er diesen Zustand beenden sollte.

Es wäre unverantwortlich von uns, wollten wir nur der Zweckmäßigkeit wegen unsere Ausbildungszeit verkürzen (die Ausbildung dauert zwei Jahre, einerlei welche berufliche Vorbildung man mitbringt). 

Wir wissen, welche Arbeit es ist, einen verantwortungs­bewußten, fähigen Therapeuten heranzubilden; auch wenn wir gern mehr Therapeuten hätten, um all die Patienten zu behandeln, die darauf warten, so wissen wir doch, wie unsinnig ein solcher Kompromiß wäre. Primärtherapie darf nicht verfälscht werden. Deshalb veranstalten wir auch keine Wochenendseminare; die Primärtherapie läßt sich nicht an ein oder zwei Wochenenden erlernen.

Was uns im Primär-Institut und in der Primär-Stiftung vorantreibt, ist die Suche nach Realität. Wir haben eine Atmosphäre geschaffen, in der jeder Therapeut seines Bruders Hüter ist; wir haben den gemeinsamen Pakt geschlossen, einander zu helfen, fühlend zu bleiben. Das ist die einzige Art, wie wir uns dagegen absichern können, in die Irre zu gehen und Patienten Schaden zuzufügen. Wir sind hier sicher, weil hier niemand die Freiheit hat, neurotisch zu sein.

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