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Anhang
Teil 1
Die Bedeutung der Forschungsergebnisse
bezüglich der vitalen Körperfunktionen in der Primärtherapie
Michael Holden
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Primärtherapie geht einher mit der allmählichen Erlangung eines spannungsfreien Zustands, den man als »postprimären Zustand« bezeichnen könnte, da es kein vergleichbares, bereits vorhandenes Phänomen gibt, das diesen Zustand begrifflich erfaßt. Da mehrere Parameter der basalen Stoffwechselrate dem numerischen Wert nach gegenüber (neurotischen) Ausgangswerten vor der Therapie abfallen, ist es sinnvoll, zu folgern, daß Neurose ein energieintensiver oder hypermetaboler Körperzustand ist.
Verhaltensmäßig kämpft ein Postprimärpatient weniger als sein neurotisches Selbst vor der Therapie. Postprimärpatienten erreichen ein erhöhtes Empfinden des Wohlbefindens und der Wachheit, das mit einem niedrigeramplitudigen, langsameren EEG einhergeht. Das ist in der Tat ein ungewöhnliches und wahrscheinlich einmaliges Phänomen der Physiologie des Menschen.
In der klinischen Neurologie geht man gemeinhin davon aus, daß ein niedrigeramplitudiges, langsameres EEG (bei Neurotikern) mit Lethargie, Schläfrigkeit, metaboler Enzephalopathie oder mit diffusen kortikalen Störungen, wie beispielsweise der Alzheimer-Krankheit (Senilität), einhergeht. Bei Hypothyreoidismus [Unterfunktion der Schilddrüse] liegt ein niedrigeramplitudiges, langsameres EEG 1'2 vor, das mit der Lethargie und Hypothermie [abnorm niedrige Körpertemperatur] dieser Störung einhergeht. Es ist ebenfalls bekannt (Scott3, zitiert in 2), daß künstlich induzierte Hypothermie die Amplitude und Frequenz des EEG verringert. Diese Veränderungen bei Hypothyreoidismus reagieren mit Rückkehr zu höheramplitudigen, schnelleren EEG-Rhythmen, sobald Thyreoid-Extrakte oder Tri-Iodothyronin verabreicht werden.2 Umgekehrt erhöht sich die EEG-Frequenz bei Fällen von Hyperthyreoidismus [Überfunktion der Schilddrüse]1'2, und diese Hintergrundaktivität kehrt bei wirksamer Behandlung des Hyperthyreoidismus zu prä-hypertheroidischen Frequenzen zurück.1
So existiert in der nicht primärtherapeutisch behandelten Population ein Modell, das die EEG-Veränderungen bei Primärpatienten verständlich machen hilft; das heißt, Neurose stellt, wenn mit dem postprimären Zustand verglichen, wahrscheinlich einen hypermetabolen Zustand dar.
Beachtenswert ist, daß der postprimäre Zustand durch Wachheit und durch ein Empfinden von Wohlbefinden charakterisiert ist; denn würde man nur nicht-primärtheoretische Kriterien zugrunde legen, so würde man zu der Voraussage gelangen, daß ein langsameres niedrigeramplitudiges EEG, niedrigere Pulsfrequenz und Körpertemperatur mit Lethargie und Stupor korrelieren, und das ist bei den Beobachtungen des postprimären Zustands nicht der Fall. In Zukunft sollten Schilddrüsenstoffwechsel und basale Stoffwechselrate vor und während der Primärtherapie systematisch untersucht werden.
Von den niedrigeren Meßwerten der vitalen Körperfunktionen, die für den postprimären Zustand charakteristisch sind, ist die niedrigere Körperinnentemperatur der weitaus beachtenswerteste. Mag ein kritischer Einwand vielleicht noch lauten, die niedrigere Pulsfrequenz sei ein Trainingseffekt (»Sportler-Herz«), der auf eine oft mit beachtlichen körperlichen Anstrengungen verbundene Therapie zurückzuführen ist, so ist eine solche Erklärung für einen Rückgang der Körpertemperatur nicht mehr tragbar. Der Temperaturrückgang impliziert, daß die zentrale Kontrolle der Körpertemperatur im Hypothalamus durch die Primärtherapie beeinflußt wird.
Eine Zerstörung des vorderen Hypothalamus bei Tieren führt zu Hy-perthermie (Wärmestauung), und eine Reizung der anterior-präopti-schen Region führt zu Hypothermie (Abkühlung).4 Eine einfachere Art, das zu sagen, ist die, daß sich der »Thermostat« des Körpers im Hypothalamus anterior befindet. Der Hypothalamus anterior reguliert ebenfalls die Sekretionen der Drüsen für Adrenalin und Schilddrüsenhormone. Des weiteren ist nachgewiesen worden, daß der dorsome-diale Hypothalamus posterior für Zittern zuständig ist, während der ventrolaterale Teil für Hemmung der Wärmeerzeugung verantwortlich ist.4 Der Hypothalamus posterioris funktioniert als Zentrum für visze-romotorische Kontrolle und bringt die eigentliche Thermoregulation zustande.4
Wir sehen uns der Tatsache gegenüber, daß Primärtherapie bei Menschen die Körperinnentemperatur senkt, und zwar vermutlich durch eine Veränderung der physiologischen Mechanismen im Hypothalamus. Der Mechanismus dafür ist bislang noch nicht bekannt. Die Tatsache dieses Temperaturrückgangs stellt unsere Auffassung in Frage, daß 37° Celsius tatsächlich die normale, genetisch bestimmte Körpertemperatur des Menschen ist.
Die Veränderungen der vitalen Körperfunktionen während und nach der Primärtherapie unterstützen die Behauptung, daß der postprimäre Zustand physiologisch einzigartig ist, und die geringeren Werte dieser physiologischen Parameter sind Teil der Definition dieses Zustands. Das liefert uns objektive physiologische Parameter, die man als Index für den therapeutischen Fortschritt zugrunde legen kann, und befreit uns davon, daß wir uns ausschließlich an Verhaltensveränderungen orientieren.
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Wenn künftige Nachfolgeuntersuchungen an Primärpatienten zeigen, daß der durch die Primärtherapie gesenkte Blutdruck bis ins hohe Alter beibehalten wird, dann wird — wie bei der Temperaturänderung — die Auffassung, der systolische Blutdruck »müsse« mit zunehmendem Alter ansteigen, ebenfalls einer Revision bedürfen.
Wie Dr. Janov bereits dargelegt hat, wird eine der Folgeerscheinungen einer dauerhaften Senkung der Körpertemperatur angesichts der Beziehung zwischen Körpertemperatur und dem Tempo biochemischer Prozesse vermutlich eine Verlängerung der Lebensdauer sein. Fieber erhöht die Stoffwechselrate und erhöht die Erfordernis für Substrate. Es erscheint wahrscheinlich, daß die durch die Primärtherapie erzeugte leichte Hypothermie mit einer niedrigeren Stoffwechselrate und einer niedrigeren Erfordernis für Substrate einhergeht und infolgedessen als eine biologische Energie sparende Methode angesehen werden kann (verglichen mit dem Stoffwechsel von Nicht-Primärpatienten).
Die uns vorliegenden Daten unterstützen die Auffassung, daß Neurose ein hypermetaboler Zustand ist. Im Verlauf der Primärtherapie senkt sich die Körpertemperatur in dem Maße, wie die Annäherung an den nichtneurotischen Zustand erfolgt, und sie ist ein wesentlicher Teil der Definition dieses Zustands. Unseres Wissens ist die Primärtherapie in der Geschichte der Medizin der erste Prozeß, der die Meßwerte der vitalen Körperfunktionen dauerhaft zu senken vermag.
Primais sind physiologisch einzigartig und weisen nach deren Abschluß paradoxe Veränderungen der vitalen Körperfunktionen auf. Bei einem Primal kommt es zu strapaziösen Muskelanstrengungen und hochgradiger Wachheit, und doch sind Körpertemperatur, Blutdruck, Pulsfrequenz und EEG-Rhythmus im Anschluß an ein Primal niedriger, als sie vorher waren. Das impliziert, daß Urschmerz eine Kraft oder einen »Druck« ausübt, gegen den man dem Schmerz entgegengerichtete Energie einsetzt.
Uns ist die metabole Definition des »in den Zellen registrierten« Schmerzes bislang noch nicht bekannt, aber aufgrund der beobachteten Veränderungen der Energieverhältnisse im Anschluß an ein Primal kann man sicher sein, daß dieses Phänomen auftritt. Der Abfall der Meßwerte der vitalen Körperfunktionen ist mithin ein indirektes Maß der Auswirkungen von Schmerz auf Zellen. Hierbei gibt es auch einen praktischen Aspekt zu berücksichtigen. Primärpatienten kennen den Unterschied zwischen Primais mit »Verknüpfung« und abreagierten Gefühlen ohne Verknüpfung. Verknüpfte Primals werden von (Primär-)Einsichten und einem Rückgang der Meßwerte der vitalen Körperfunktionen gefolgt, abreagierte Gefühle hingegen nicht. Es ist mithin möglich, daß ein Mensch mehrere Stunden lang Gefühlen nahe ist, ohne daß sich die vitalen Körperfunktionen auch nur im geringsten verändern.
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Die Intensität des Urschmerzes, die Effektivität der Abwehr und der jeweilige »Primärstil« eines Menschen tragen gemeinsam dazu bei, zu bestimmen, wie oft jemand verknüpfte Primais hat. Praktisch sieht es so aus, daß die Therapie für einige Menschen schneller vorangeht als für andere, und das Tempo der Gesundung wird im Laufe der Zeit in einem stetigen Abfall der Meßwerte der vitalen Körperfunktionen widergespiegelt. Die jeweils individuelle biologische Regulierung und besondere Vergangenheit scheinen das Tempo zu bestimmen, in dem man von der Primärtherapie profitiert. Dieses Tempo kann in gewissem Maße durch primärtherapeutische Gruppensitzungen oder durch Wochen der Einzeltherapie beschleunigt werden (im Gegensatz zu Primais unter eigener Regie).
Die Diskussion stroboskopischer Lichtfrequenzen in Dr. Janovs Buch Anatomie der Neurose implizierte, daß die Therapie möglicherweise mit Hilfe bestimmter stroboskopischer Lichtfrequenzen beschleunigt werden könne. Die Hypothese lautet, daß größere Gefühlstiefen mit niedrigeren stroboskopischen Lichtfrequenzen schneller erreicht werden können. Diese interessante Hypothese ist bislang noch nicht genauer überprüft worden, doch werden wir uns in absehbarer Zukunft dieser Aufgabe zuwenden: wir werden, um zu sehen, ob die Zahl verknüpfter Primais erhöht werden kann, einen stroboskopischen »Lichtreiz« benutzen. Es müßte möglich sein, diese Beziehung objektiv zu testen, indem man die vitalen Körperfunktionen vor, während und nach Primais verfolgt. So wird die genaue Beobachtung der vitalen Körperfunktionen in der Primärtherapie objektive Beweise dafür liefern, daß diese Therapie Gehirnfunktionen verändert, und sie liefert gleichzeitig einen Weg für die Bewertung der Mechanismen und des Tempos der Therapie selbst. Gibt es einen schnelleren und »produktiveren« Weg, Primärtherapie zu praktizieren? Die genaue Beobachtung der vitalen Körperfunktionen bei Primärpatienten wird es uns ermöglichen, künftige Hypothesen, die eine Antwort auf diese Frage zu geben suchen, auszuwerten. »
Eine zusätzliche Bedeutung der Veränderung der vitalen Körperfunktionen bei Primärpatienten liegt darin, daß man nun andere therapeutische Methoden auswerten kann, und zwar unter Zugrundelegung vorwiegend physiologischer anstelle ausschließlich das Verhalten betreffender Kriterien zur Bewertung therapeutischer Effektivität. Dieser Aspekt ist jedoch noch nicht weiter erforscht worden. (Wir hoffen, in Zukunft die Primärtherapie mit anderen Therapien zu vergleichen. Ein »Therapievergleich« wird unweigerlich als Bedrohung oder zumindest als Herausforderung angesehen; ein solcher Vergleich könnte nur in einem Feld echten Interesses an Neurose, ungeachtet aller sonstigen Interessen angestellt werden. An dieser Stelle möge es genügen zu sagen, daß alle, denen wir uns deswegen genähert haben, wenig Interesse für Therapievergleiche gezeigt haben, bei denen man physiologische Kriterien als Maßstab für die Effektivität anlegen würde.)
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Gegenwärtig werden wir damit fortfahren, Senkungen der vitalen Körperfunktionen bei Primärpatienten zu dokumentieren, als objektive Bekräftigung der Primärtheorie und als Weg, die Therapie selbst auszu* werten.
Zu guter Letzt ist die genaue Beobachtung der vitalen Körperfunktionen bei Primärpatienten auch im Hinblick auf die Innere Medizin von Bedeutung. Es gibt Störungen, bei denen die Prognose der Krankheit eines Menschen und die vitalen Körperfunktionen aufs engste miteinander verbunden sind. Beispiele finden sich.in allen Formen von Herzkrankheiten, insbesondere bei Angina pectoris (Insuffienz der Koronararterien, die zu Brustschmerzen führt) und in jenen Störungen, die bei Menschen mit Hypertension (hohem Blutdruck) auftreten. Schlaganfälle, Herzanfälle, ein schweres Nierenleiden und vaskuläre Insuffiezienz in den Gliedmaßen (aufgrund von Arteriosklerose) treten bei hypertensiven Menschen häufiger auf.
Es gibt theoretische Gründe für die Annahme, daß die Primärtherapie den heimtückischen Prozeß von Arteriosklerose entweder anhält oder verlangsamt (siehe »Urschmerz und Altern«), aber abgesehen von aller Theorie liegt auch eine ungeheure praktische Bedeutung in einem Prozeß, der den Puls verlangsamt und den Blutdruck senkt. Eine Senkung dieser beiden vitalen Körperfunktionen wird den arteriosklerotischen Prozeß verlangsamen und die Arbeit des Herzens erheblich reduzieren. Diese Kombination ist für einen Menschen mit schwerer Hypertension oder mit schwerer Angina pectoris buchstäblich lebensrettend.
Hypertension und Angina pectoris sind häufig auftretende Störungen; die allgemeine Bedeutung der Primärtherapie für »Herz-Patienten« ist daher nicht zu unterschätzen. Es hat sich herausgestellt, daß Primais selbst für Patienten mit Angina pectoris und/oder Hypertension ungefährlich sind. Einer unserer Patienten hatte schwerwiegende Angina-pectoris-Anfälle, manchmal selbst im Ruhezustand. Am Ende seiner ersten drei Wochen der Primärtherapie hatte er ein Primal, bei dem er 10'/2 Minuten lang eine Pulsfrequenz von 132/min und einen Blutdruck von 156/110 hatte, ohne daß es zu Anginaschmerzen kam. Die Erfahrungen eines anderen Patienten mit Angina pectoris nach einem Herzanfall sind in The Journal of Primal Therapy, Bd. I, Nr. 3, S. 213 bis 222, wiedergegeben.
Zur Auswertung dieses ungewöhnlichen Zusammenhangs von hoher Herzfrequenz, die während eines Primais nicht mit Schmerz einhergeht, bedarf es weiterer Fälle. Die Implikationen der bisher gemachten" Beobachtungen laufen darauf hinaus, daß Angina pectoris mehr auf Vasospasmen der Herzarterien im Zusammenhang mit Streß und Urschmerz zurückzuführen ist und weniger, als die meisten Ärzte annehmen, auf eine Verengung der Koronararterien an sich.5
Diese Schlußfolgerung beruht zwar nur auf wenigen Fällen, doch müssen wir dabei berücksichtigen, daß die Primärtherapie mehr ein prädiktiver als ein postdiktiver Prozeß ist.
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Die Aussagekraft ihrer Voraussagen nimmt daher auch bei einer kleinen Anzahl von Fällen rapide zu. Postdiktive Prozesse erfordern in der Regel eine große Anzahl von Fällen, um Schlußfolgerungen zu rechtfertigen. Postdiktive Therapien beinhalten normalerweise ausgeklügelte statistische Manipulationen, weil sie sich mehr mit statistischen als mit biologischen Wahrheiten befassen.
Angina pectoris ist ein vorübergehendes Phänomen, folglich muß sich unser Hauptaugenmerk auf vorübergehend durchbrechende Ursachen richten. Wir haben gesehen, daß ein Patient, der zuvor häufig Angina-Anfälle hatte, bei einem Primal eine schnelle Herzfrequenz haben kann, ohne daß er Brustschmerzen hat. Das lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Zusammenhänge zwischen Urschmerz und Herztätigkeit. Patienten mit Erkrankungen der Atmungsorgane, insbesondere Asthmatiker, profitieren ebenfalls in starkem Maße von der Primärtherapie. Bei der bereits ausführlicher behandelten Fragebogenaktion hat eine große Mehrheit angegeben, infolge der Therapie tiefer und voller zu atmen, und einige Patienten haben von einer langsameren Atemfrequenz als vor der Therapie berichtet.
Das unterstreicht für unsere Betrachtung, daß die Trachea [Luftröhre] und die Bronchiolen der Lungen nicht anders als das Herz häufig »Zielscheibe« für Urschmerz sind. Für Patienten mit Erkrankungen der Atmungsorgane verbessert eine langsamere Atemfrequenz und Dilatation der Trachea und der Bronchiolen die Gesamtprognose erheblich. Die Wechselbeziehungen zwischen Krankheitszuständen und Urschmerz sind vielfältig und sollen ausführlich in späteren Publikationen behandelt werden. Die Veränderungen der vitalen Körperfunktionen bei Primärpatienten sind für Patienten mit bestimmten Herzschwächen und Erkrankungen der Atmungsorgane potentiell lebensrettend. Zusammenfassend glauben wir, daß die Veränderungen der vitalen Körperfunktionen bei Primärpatienten bedeutend sind und uns un-schätzbare.'Meßwerte über den Fortschritt eines Menschen in der Therapie liefern und letztlich bei fortschreitender Therapie eine stetige Verbesserung der Gesundheit dokumentieren.
Literaturverzeichnis
1. Kooi, Kenneth, A.: Fundamentals of Electwencephalography, Harper and Row,1971.
2. Kilch, L. C. und Osselton, J. W.: Clinical Electroencephalography, Butter-worths, London, zweite Auflage 1970.
3. Scott, J. W.: »The EEG During Hypothermia«, in Electroenceph. Clin. Neu-rophysiol., I: 466, 1966.
4. Myers, Robert, D.: »Temperature Regulation: Neurochemical Systems in the Hypothalamus«, Kapitel 14, in The Hypothalamus, hrsg. v. Haymaker, Anderson und Nanta, Charles Thomas Publisher, 1969.
5. Angina pectoris ist auch bei Patienten mit normalen Koronararterien nachgewiesen worden, s. The Lancet, 21. September 1974.
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ANHANG - TEIL II
EEG-Veränderungen in der Primärtherapie
E. Michael Holden
Eine ausführliche und gründliche Untersuchung des EEG einer kleinen Anzahl von Primärpatienten und entsprechende Kontrolluntersuchungen wurden durchgeführt von Dr. Martin Gardiner, einem Biophysiker, der am UCLA [University of California] Brain Research Institute in Los Angeles arbeitet.1 Die Untersuchung wurde mit modernen Techniken der Datenerhebung und -analyse an der UCLA durchgeführt. Die Auswertung der Daten dieser Untersuchung ist noch in Arbeit. Entwurf, Planung und Methoden der Datenauswertung sollen später erläutert werden. Die hervorstechendsten Befunde seien im folgenden zusammengefaßt:
a) Bei Primärpatienten mit acht oder weniger Monaten Primärtherapie wurden keine statistisch signifikanten Veränderungen im EEG verzeichnet.
b) Bei Patienten mit acht Monaten bis fünf Jahren Primärtherapie zeigte sich der Trend einer allmählichen Abnahme des EEG-Rhythmus (EEG-Aktivität zwischen 8-13 Schwingungen pro Sekunde). Dieser Trend erreichte das 0,05-Niveau statistischer Signifikanz.
c) Zwischen acht Monaten und fünf Jahren Primärtherapie zeigte sich ein ähnlicher Trend für »Nicht-Alpha«-Rhythmen in der Frequenzspanne von 2 bis 8 Hz. Dieser Trend war signifikant auf dem 0,05-Niveau statistischer Signifikanz.
d) Bei einem Vergleich der vorderen Quadranten des Gehirns mit den hinteren Quadranten lag ein durchgehender Trend in Richtung eines reduzierten Alpha-Rhythmus (8-13 Schwingungen pro Sekunde) in den hinteren Quadranten und ein gleichzeitig erhöhter Alpha-Rhythmus in den vorderen Quadranten vor: eine Verlagerung also des Alpha-Rhythmus von hinten nach vorn. Anders gesagt, zeigten alle Quadranten die Tendenz, einen Alpha-Rhythmus zu erzeugen, der sich dem mittleren Alpha-Rhythmus des gesamten Gehirns annäherte. (Ein »normales« EEG zeigt posterior einen stärkeren Alpha-Rhythmus und anterior einen geringeren Alpha-Rhythmus. Durch die Primärtherapie wurde diese sich von vorn nach hinten erstreckende Asymmetrie reduziert.)
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e) Ebenfalls zwischen acht Monaten und fünf Jahren Primärtherapie zeigte sich ein eindeutiger Trend in Richtung eines vermehrten Nicht-Alpha-Rhythmus (2-8 Schwingungen pro Sekunde) in dem linken vorderen Quadranten des Gehirns, auffallender als im rechten vorderen Quadranten.
f) Dr. Gardiner schreibt: »Die Aufzeichnungen zeigten eine auffallend niedrigeramplitudige Alpha-Aktivität bei Patienten, die in ihrer Therapie weit fortgeschritten waren.«
Dr. Gardiner und seine Kollegen haben in der EEG-Literatur nach Untersuchungen gesucht, die mit modernen Geräten durchgeführt wurden und die eine statistisch signifikante EEG-Veränderung im Zusammenhang mit irgendeiner anderen Form der Therapie für psychische Krankheiten (Neurose oder Psychose) nachweisen; sie haben jedoch nichts finden können. Wir glauben deshalb, daß seine Untersuchung von Primärpatienten die erste ihrer Art ist, die eine signifikante EEG-Veränderung nachweist, die mit einer Therapie für psychische Krankheit einhergeht - in diesem Fall mit der Primärtherapie.
Dadurch wird erstmalig nachgewiesen, daß ein psychotherapeutisches Verfahren Gehirnfunktionen tatsächlich verändert. Die anderen Indikatoren dafür sind die infolge der Primärtherapie eintretenden permanent niedrigeren Meßwerte der vitalen Körperfunktionen; im Gegensatz dazu wird von Zuständen der Meditation berichtet, daß sie die Pulsfrequenz und den Blutdruck nur vorübergehend senken. Die Reduzierung des Alpha- und des Nicht-Alpha-Rhythmus im EEG von Langzeitpatienten der Primärtherapie ist ein bedeutsamer Befund. Er legt nahe, daß die physikochemische Arbeit des Gehirns nach ein- oder mehrjähriger Primärtherapie reduziert wird, was, wenn es physiologisch zutrifft, mit unserer Hypothese übereinstimmt, daß Primärtherapie den Prozeß des Alterns verlangsamt.
Die exakte Bedeutung des reduzierten EEG-Rhythmus ist noch nicht bekannt. Bs mag lediglich die EEG-Entsprechung für eine niedrigere Körperinnentemperatur sein. Offensichtlich jedoch ist, daß sich mit fortschreitender Primärtherapie die Energieverhältnisse innerhalb des Körpers verändern und daß durch diese Veränderung für die homöostatische Regulierung weniger Energie erforderlich ist, als es vor der Therapie der Fall war. Im Verlauf eines einzelnen Primais findet man, wie bereits erwähnt, nach dem Primal durchgehend eine niedrigere Körperinnentemperatur als vor dem Primal. Es wurden Kontrollpatienten während extremer willensmäßiger Anstrengungen (Pseudo-Primals) untersucht; bei ihnen wurde kein Rückgang, sondern ein leichter Anstieg der Körpertemperatur unmittelbar nach der Anstrengung verzeichnet. Wie erklärt sich das? Die Details sind noch unbekannt. Es hat jedoch den Anschein, daß nach dem Wiedererleben eines frühen Schmerzes in einem unverknüpften Primal der Energieverbrauch des Körpers vorübergehend abnimmt.
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Der Rückgang der Körpertemperatur kann Minimalwerte von ein oder zwei Zehntel Grad Fahrenheit oder Maximalwerte von drei bis vier Grad Fahrenheit betragen. Wir interpretieren das dahingehend, daß, solange der Schmerz innerhalb des Körpers war, Energie erforderlich war, um ihm Widerstand w leisten, ähnlich wie es zusätzlicher Stoffwechselenergie bedarf, um einem normalen Erkältungsvirus oder einem staphylokokkalen Abszeß (beides Zustände, die die Temperatur ansteigen lassen) Widerstand zu leisten.
Frühe Schmerzen sind, wie bereits erläutert, äußerst schwerwiegend, und es ist eine erstaunliche Tatsache, daß die Körpertemperatur nach einem Primal zurückgeht, und sei es noch so geringfügig. Der leichte Temperaturrückgang ist jedoch selbst Gegenstand einer kybernetischen Feedback-Regulierung. Verhielte sich das nicht so, liefe der gesamte Organismus infolge des Wiedererlebens von Urschmerz Gefahr, zu sterben. Es ist ein Glück, daß der Temperaturrückgang geringfügig ist und nicht beispielsweise 10 oder 15 Grad Fahrenheit beträgt.
Der zentrale Punkt, den es hier zu betonen gilt, ist der, daß Urschmerz einen »Druck« oder eine »Kraft« auszuüben scheint, gegen die der Körper Energie aufwenden muß, um sie im Schach zu halten. Ebenso wie die Freisetzung von Urschmerz von einem leichten Rückgang der Körpertemperatur begleitet ist, so ist umgekehrt Neurose von einem leichten Anstieg der Körpertemperatur begleitet. (Was gegenwärtig als normale Körpertemperatur angesehen wird, ist der normale Wert für Neurotiker. Die niedrigeren Werte nach der Primärtherapie tendieren zu einem niedrigeren Durchschnittswert, der biologisch tatsächlich »normaler« ist.)
Neurotische Menschen sind entsprechend ihrem Gehalt an Urschmerz leicht hypermetabol. In dem Maße, wie sie diesen Schmerz in Primais freisetzen, verringert sich die metabole Belastung, die Körpertemperatur sinkt, und der EEG-Rhythmus verlangsamt sich. Der Trend zu einem weniger aktiven Metabolismus verläuft sehr allmählich, aber äußerst stetig, und vielleicht sind die Tiefstwerte bislang noch gar nicht erreicht worden; das heißt, hat ein Mensch, nachdem er zehn Jahre lang Primais gehabt hat, eine noch niedrigere Körpertemperatur und eine noch niedrigere EEG-Frequenz als jemand, der fünf Jahre lang Primais gehabt hat? Wir wissen bislang noch nicht, ab welchem Zeitpunkt dieser Trend nicht weiter fortschreitet.
Wenn sich später herausstellen sollte, daß die Verringerung der EEG-Frequenz von einem Rückgang der Körpertemperatur relativ unabhängig auftritt (zum Beispiel, wenn das eine Phänomen einige Monate vor dem anderen aufträte), dann würde sich die Hypothese herausschälen, daß die »Kraft« oder der »Druck« oder der »Angriff« von Urschmerz sich metabol auf direkte Weise ausdrückt und die Frequenz des EEG erhöht.
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Zusammenfassend sei gesagt, daß eine im Laufe der Zeit bei Primärpatienten entstehende Verringerung der EEG-Frequenz völlig im Einklang mit der Auffassung steht, daß Neurose ein hypermetaboler Zustand ist und daß Primärtherapie eine Umkehrung bewirkt und dabei vermutlich den Prozeß des Alterns verlangsamt.
Literaturverzeichnis
l. Gardiner, Martin: E EG Activity und Primat Therapy - I; Initial Tests for Possible Changes during Therapy, Manuskript vom 13. 9. 74 (noch nicht veröffentlicht); Dr. Gardiner ist Angestellter der UCLA, er ist weder Angehöriger noch Patient des Primal Institute.
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ANHANG - TEIL III
Urschmerz und Erleben auf zellularer Ebene
E. Michael Holden und Arthur Janov
Eine 56 Jahre alte Frau, die in Primals wiedererlebte, wie sie zwischen ihrem fünften und dreizehnten Lebensjahr regelmäßig mit einer Reitgerte geschlagen wurde, bekam Blutergüsse auf den Oberschenkel. Jeder Bluterguß, der während eines Primals auf ihrer Haut wieder aufr trat, ist spezifisch für die jeweiligen Schläge, die sie vor fast einem halben Jahrhundert erhielt. Eine junge Frau, die in einem Geburtsprimal wiedererlebte, wie sie an den Armen (aus dem Uterus ihrer Mutter) herausgezogen wurde, bekam Blutergüsse an den Armen. Diese Blutergüsse blieben im Anschluß an das Primal drei Tage bestehen.
Derartige Phänomene veranschaulichen deutlich das Prinzip, daß jede Körperzelle Schmerz zu fühlen und zu registrieren vermag und damit zur Gesamtheit des Bewußtseins beiträgt. Schmerz derartiger Größenordnung ist überwältigend und kann von einem Kind nicht völlig integriert und erlebt werden. Primais schaffen vollen Zugang zu diesen frühen, überwältigenden Schmerzen und ermöglichen es Erwachsenen, sie wiederzuerleben und sie letztlich zu integrieren. Wird ein solcher Schmerz nicht in Primais wiedererlebt, muß der Betreffende eine dem Schmerz entgegenwirkende permanente metabole Anstrengung aufwenden. Der hypermetabole Zustand, erzeugt als Reaktion auf viele Kindheitsschmerzen, ist Neurose. Nur Primais können den neurotischen Zustand umkehren.
An anderer Stelle* diskutierte Dr. Janov Blutergüsse an den Beinen einer Frau, die erstmalig auftraten, als sie geboren wurde und äußerst unsanft, mit dem Kopf nach unten, hochgehalten wurde, und diese Blutergüsse traten dann später in ihren Geburtsprimals wieder auf. Ein Teil jener Diskussion wird im Folgenden wiedergegeben:
»Es ist eine kaum zu bestreitende Tatsache, daß Schmerz (in diesem Falle körperlicher Schmerz), der in der frühen Kindheit nicht integriert werden kann, fortan dem System eingeprägt bleibt. Wenn ein Organismus nicht in der Lage ist, aufgrund einer Schmerzüberlastung das, was mit ihm geschieht, zu assimilieren, dann kommt es zu einer automatischen Trennung zwischen Geist und Erfahrungen. Aufgrund dieses Trennungsprozesses bleibt das traumatisierende Erlebnis als eine
* Das befreite Kind, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1975.
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ständig wirksame, dem Bewußtsein entzogene und darum unauflösbare Kraft erhalten. Wie gesagt, der Körper ist eine Datenbank, die alle ihre Erfahrungen speichert und nichts vergißt, auch wenn das Bewußtsein die Erfahrungen nicht abrufen kann. Nicht nur der >Geist< speichert oder >erinnert< Erfahrungen, sondern auch der ganze Körper. Da Körper und Geist eine Einheit bilden, reagiert der Körper ständig auf Erfahrungen, die abgespalten, kodiert und gespeichert worden sind. Mit anderen Worten, Schmerz (und unbefriedigte Bedürfnisse werden in Schmerz verwandelt) ist ein Zustand des Körpergewebes, und das Gewebe >erinnert sich< auf körperliche Weise. Es ist die gleiche Art von >Erinnerung<, deren sich unser Körpersystem bedient, wenn wir eine große Menge eines bestimmten Medikaments zu uns genommen haben und dann eine Immunität dagegen entwickeln.
Erfahrungen sind keine abgekapselten, einzig und allein im Gehirn gespeicherten Gebilde. Eine nicht integrierte frühe Erfahrung setzt im Gehirn einen sich selbst erhaltenden Kreislauf in Gang, der seinerseits den Körper als das sozusagen untrennbare Gegenstück zu jeder Erfahrung innerviert. Die Stärke der Innervierung hängt von der Art des Schmerzes ab. Wenn es sich bei dem frühen Schmerz um einen Bluterguß handelt, dann kann der Organismus später dazu neigen, leicht Blutergüsse zu bilden, wie es bei der erwähnten Frau der Fall war, die häufig unerklärliche Blutergüsse entwickelte. Besteht beispielsweise das Trauma in der Erfahrung, aus dem warmen Mutterleib in einen sehr kalten Kreißsaal zu gelangen, dann reagiert das Blutsystem darauf unter Umständen mit Verengung. Dieser Verengungsprozeß kann sich fixieren, so daß es in jeder Streßsituation, die geeignet ist, das frühere traumatische Erlebnis wachzurufen, zu einer unangemessen kardiovaskulären [Herz und Kreislauf betreffenden] Reaktion kommt. Der infolge frühen ungelösten Schmerzes in Gang gehaltene Kreislauf kann im späteren Leben zu Herz- und Kreislauferkrankungen führen.
In diesem Zusammenhang erfahren wir auch etwas über den Heilungsprozeß. In dem geschilderten Fall ging die Abheilung von Blutergüssen, die sich im Körper der Frau gebildet hatten, vor Einsicht in die entscheidenden Zusammenhänge stets ungewöhnlich langwierig vonstatten. Wir haben bei anderen zu Blutergüssen neigenden Patienten herausgefunden, daß die Aufdeckung früher Zusammenhänge im Verlauf von Primais nicht nur die Anfälligkeit für Blutergüsse ganz erheblich verringert, sondern auch den Heilungsprozeß bei jetzt selten auftretenden Blutergüssen um ein Vielfaches beschleunigt.
Wir erkennen mithin, daß der Körper Leitorgane besitzt, die besonders verletzlich sind, nicht nur aufgrund der genetischen Anlage (die wir nicht unterschätzen sollten), sondern auch aufgrund der Natur des frühen Traumas. Ein aufschlußreiches Beispiel ist der Zusammenhang zwischen früher Fütterung nach strengem Zeitplan, häufig verbunden mit Hungergefühlen des Kindes, und späteren gastrointestinalen [Magen und Darmtrakt betreffenden] Problemen. Diese Symptome sind >Erinnerungen< des Körpers. Dabei handelt es sich um >übersetzte< Erinnerungen.
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Bei dem geschilderten Fall müssen wir uns fragen: >Wo ist der Bluterguß in den achtundvierzig Jahren geblieben?< Zweifellos ist er irgendwo im Körpersystem kodiert, das heißt, als verschlüsselte Information gespeichert worden. Er war eine latente Anfälligkeit. Der Körper wurde buchstäblich, wenn auch allgemein; unablässig daran erinnert, daß es einen spezifischen Bluterguß gegeben hatte, mit dem er sich auseinanderzusetzen und den er zu beseitigen hatte. Das heißt, der Körper verallgemeinert sowohl physisch wie psychisch spezifische Schmerzen; dieser Prozeß der Verallgemeinerung bildet das Wesen der Neurose. Die Angst vor der Mutter wird unter Umständen verdrängt und später auf alle Frauen ausgedehnt.
Als der besagte Bluterguß auftrat, war das Großhirn womöglich noch nicht so weit entwickelt, als daß es das Erlebnis hätte richtig deuten können. Später bedarf es eines >erwachsenen< Gehirns, das dem >Baby-Gehirn< in begrifflichen Vorstellungen vermittelt, was mit ihm geschehen ist. Damit ist der Zusammenhang hergestellt, das heißt, es geht darum, die Schmerzquelle zu erkennen, den Schmerz spezifisch w machen, so daß er nicht mehr neurotisch verallgemeinert werden muß. Aufgrund unserer Beobachtungen können wir eine allgemeine Aussage über den frühen Schmerz formulieren: Körperliche Traumata scheinen physisch, psychische Traumata psychisch verallgemeinert zu werden. Offensichtlich gibt es aufgrund der Einheit von Körper und Geist gewisse Überlappungen.
Um den frühen Bluterguß beseitigen zu können, mußte er sich erneut zeigen. Es hätte nichts genutzt, sich lediglich bewußtseinsmäßig an ihn zu >erinnern<, ohne daß der Körper beteiligt worden wäre. Das beweist uns, daß nur eine psychophysiologische Erfahrung heilende Wirkung ausübt. Einsicht, Wahrnehmung oder lebhaftes Erinnern können unbewußte Tendenzen, welchen Ursprungs auch immer, nicht beseitigen;
sie können den Körper nicht wirklich kontrollieren. Nach diesen Überlegungen sollte der Unterschied zwischen Primal und Abreagieren oder Katharsis klargeworden sein. Unter Abreagieren versteht man gewöhnlich einen gefühlsmäßigen Ausbruch im Gefolge einer Erinnerung. Man müßte die Bedeutung des Begriffs schon überdehnen, wollte man damit auch Phänomene wie Blutergüsse bei der Geburt erfassen. Es geht um den Unterschied zwischen Erinnern und Wiedererleben. Wenn plötzlich Blutergüsse auftreten, während man ein früheres Ereignis wiedererlebt, dann ist das kein Abreagieren, sondern ein Urerlebnis.«
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BRIEF
Lieber Dr. Janov, 14. April 1975
ich möchte bezüglich Ihrer Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Primärtherapie und Drogensucht einige Anmerkungen machen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1972 und fast das ganze anschließende Jahr war ich als Gefängnisarzt in Philadelphia tätig. Das gab mir Gelegenheit, Menschen im akuten Zustand des Drogenentzugs zu beobachten. Ich war überrascht über die Intensität der Emotionen, die von diesen Menschen zum Ausdruck gebracht wurden. Daß sie unter Schmerz standen, war für mich keine Frage. Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Weinen, Atmungsverhalten und andere physiologische Reaktionen trugen starke Ähnlichkeit mit dem, was ich an Beschreibungen über jenen Zustand gelesen hatte, in dem sich ein Mensch befindet, der ein Primal hat.
Ich habe folgende Beobachtungen angestellt, für die ich in der Literatur keine Bestätigungen habe finden können: Körperlich traumatisierende Erlebnisse, die einem Menschen zustoßen, während er unter dem Einfluß eines Narkotikums steht, werden in diesem Zustand zunächst als nicht so schmerzhaft erlebt. Beispiele sind Verstauchungen, Fleischwunden und operative Einschnitte, die Monate oder Jahre zurückliegen können. Bei akutem Drogenentzug werden viele dieser oft weit zurückliegenden Traumata erstmalig als Schmerz erlebt. Besonders auffallend war der Fall eines Menschen, der, Monate ehe ich ihn mir ansah, einen Hauttest für Tuberkulose (PPD) gemacht hatte, ohne daß es zu einer positiven Reaktion gekommen war. Meine Hypothese war die, daß es, während er große Dosen intravenös verabreichter Narkotika nahm, zu einer Unterdrückung der physiologischen Reaktionen auf den Hauttest kam. Als er sich jedoch im Zustand des Entzugs befand, entwickelte sich eine klassische positive Hauttestreaktion genau a» der Stelle seines linken Armes, an der das Material induziert worden war.
Ich kann also nur bestätigen, daß meine Beobachtungen mit der primärtheoretischen Hypothese übereinstimmen, und ich bin der festen Überzeugung, daß der akute Zustand von Drogenentzug den Ausdruck sowohl psychischer als auch physiologischer Begleiterscheinungen präprimärer Erfahrungen erleichtert.
R. A. Lippin, M. D.
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ANMERKUNG VON DR. JANOV
Die Beobachtung dieses Mediziners ist eine weitere Bestätigung unseres Befunds. Wir sind der festen Überzeugung, daß Neurotiker oft unter katastrophalem Schmerz stehen, ohne ihn zu fühlen, weil das Körpersystem automatisch sowohl chemisch als auch durch das Schleusensystem narkotisiert ist. Der Süchtige hat für gewöhnlich ein nicht adäquates Schleusensystem und braucht Hilfe von außen - Drogen. Die Drogen helfen dem Körper, das zu tun, was er natürlicherweise von allein tun sollte. Die Tatsache, daß eine Hauttestreaktion auftritt, Monate nachdem der Test durchgerührt wurde, während der Betreffende unter Entzug steht (und deshalb seinem Schmerz und den entsprechenden Begleiterscheinungen gegenüber offen ist), ist genau das gleiche, was wir über Geburtsspuren gesagt haben, die, Jahrzehnte nachdem sich das Geburtstrauma ereignet hat, auftreten, wenn ein Mensch in einem Primal gegenüber seinem Urschmerz offen ist. Ein Mensch in einem Primal befindet sich sozusagen in einem Zustand des Entzugs. Seine automatischen Schleusenfunktionen sind unterbrochen worden, so daß er nicht mehr narkotisiert ist, auf genau die gleiche Weise wie der Süchtige, wenn ihm seine Drogen entzogen werden.
Ob der Entzug von Drogen oder von anderem herrührt, das daraufhin erfolgende Erlebnis ist stets das gleiche; der Betreffende ist partiell ohne Abwehr und ist altem Schmerz gegenüber offen. Und dann treten die Stigmata auf - die körperlichen Begleiterscheinungen der Schmerzen, die vorher nicht vollends erlebt werden konnten.
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TEIL IV -- Nachtrag
Aufgrund der Publikationstermine konnten die jüngsten Untersuchungen über Primals in diesem Buch nicht mehr berücksichtigt werden. Diese Untersuchungen weisen exakte Unterschiede zwischen Primals, Abreagieren und unvollständigen Primals nach. In einem Primal verändern sich die vitalen Körperfunktionen gemeinsam und fallen auf Werte unterhalb der Ausgangswerte ab. Beim Abreagieren verändern sich die vitalen Körperfunktionen nicht gemeinsam, noch erreichen sie die extremen Werte, wie sie bei Primals zu beobachten sind, und sie unterschreiten nicht die Ausgangswerte. Ein unvollständiges Primal beginnt zunächst mit dem physiologischen Muster eines Primais, verändert sich dann aber gegen Ende der Sitzung entsprechend dem Muster des Abreagierens, und es unterschreiten nur einige der vitalen Körperfunktionen die Ausgangswerte.
Leser, die sich darüber eingehender informieren möchten, seien auf den Aufsatz »Primals vs. Non-Primals« der Winterausgabe 1975 in The Journal of Primal Therapy hingewiesen.
E. M. H. September 1975
Warnung
Die Primärtherapie sollte von niemandem praktiziert werden, der dazu nicht qualifiziert, d. h. nicht ausgebildet ist. Sie wird ausschließlich im Primal Institute in Los Angeles durchgeführt.
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