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  13   Schlußfolgerungen      Janov-1983

 

400-402

Die Behandlung der Auswirkungen des Geburtstraumas erfordert eine Therapie von Monaten und Jahren und ist vielleicht auch dann noch nicht ganz erfolgreich. Eine Änderung der Entbindungs­praktiken nimmt dagegen viel weniger Zeit in Anspruch und ist weit erfolgreicher.

Meiner Ansicht nach ist das das Wichtigste, was wir auf dem Gebiet der Psychohygiene tun können. Kein anderer einzelner Faktor kann die Psychose oder Neurose so grundlegend ändern. Keine Diät, keine Konditionierung, keine Veränderung der äußeren Umstände, keine Massage, keine Lektüre, keine Philosophie, keine Ideologie, keine Religion, keine noch so große Liebe und Zuneigung könnte leisten, was eine richtige Geburt zu leisten imstande ist.

Ich spreche nicht von den Millionen, die erforderlich wären, um groß angelegte Programme für die Behand­lung der Wirkungen schlechter Geburten zu entwickeln, sondern von einer einfachen, gründlichen Änderung der Verfahren. Ich spreche nicht von der Ausbildung von Tausenden neuer Therapeuten, sondern von dem koordinierten Einsatz der schon vorhandenen Gynäkologen, Geburtshelfer und Pädiater, um Einstell­ungen, Verfahren und Methoden zu ändern.

Die ungeheure Wirkung solcher Änderungen könnte so signifikant sein wie die Geburt selbst, denn sie würden die zahllosen psychohygienischen Probleme, vor denen wir stellen, erheblich reduzieren: die Lernschwierigkeiten, die psychosomatischen Krankheiten, die Phobien, Zwangs­neurosen, Perversionen — und sogar manche der tödlichen Krankheiten.

Letzten Endes würde eine einfache Änderung der Entbindungs­praktiken einen Einfluß haben auf unsere soziale Struktur, unseren Strafvollzug, unsere Nervenheilanstalten und die Wertmaßstäbe, nach denen wir unsere Kinder erziehen — die nächste Generation, die diese Erde erbt.

Ich praktiziere nun seit mehr als dreißig Jahren und habe jede mögliche Kombination von geistig-seelischen Erkrankungen gesehen. Ich habe gesehen, was schlechte Familien­verhältnisse, was Waisen­häuser und Ablehnung, was Vergewaltigung und Inzest anrichten können. Und ich bin immer noch der Überzeugung, daß Geburts- und Vorgeburts­traumata stärker sind als beinahe jede Art von späterem Trauma.

Denn beim Geburts­vorgang wird festgelegt, was wir später aus unserem Leben machen werden. Persönlich­keits­merkmale werden eingraviert, die Art, die Welt zu sehen, wird eingeprägt, Einstellungen werden geformt. Was wir werden, ist in der Geburtsmatrix schon zu sehen.

Der beste mir bekannte Beweis für die Bedeutung anderer Entbindungspraktiken ist der qualitative Unter­schied zwischen natürlich und nichttraumatisch geborenen Kindern und solchen, die unter konventionellen Umständen zur Welt kamen. Der zweitbeste Beweis, den ich kenne, ist die tiefgehende Veränderung, wie sie bei Primärpatienten stattfindet, die die bei der Geburt erlittenen Traumata wiedererlebten.

Diese Veränderung sagt uns etwas über die Wirkung und den Umfang des Geburtstraumas — eines Traumas, von dem wir nun wissen, daß es die Gewebe und Zellen, die Knochen und das Blut beinahe jedes Menschen durchdringt. Deshalb glaube ich, daß eine gute Geburt mindestens schon die halbe Kindererziehung ist und gleich viel wert sein kann wie Jahre von positiven Erlebnissen mit den Eltern. Anders gesagt, eine richtige Geburt kann die Wirkungen späterer negativer Erlebnisse dämpfen, während eine falsche Geburt den Menschen für die harm­losesten Ereignisse verwundbar macht.

Das Geburtstrauma ist eine Realität, dennoch ist es noch eine Realität, die viele nur äußerst schwer akzep­tieren können — vor allem diejenigen, die auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie arbeiten. Viele glauben noch, es handle sich um eine ungeprüfte Theorie. Das Gegenteil ist richtig: das Konzept des Geburts­traumas entwickelte sich nicht als eine die Wirklichkeit überlagernde Theorie, sondern aus der Beobachtung und Messung dieser Wirklichkeit. Es ist keine theoretische Erfindung; es ist eine Entdeckung. Es ergab sich daraus, daß wir konkrete Methoden fanden, das Unbewußte zu quantifizieren. Wir fanden Methoden, sichtbar zu machen, zu beobachten und zu messen, was in den tiefsten Tiefen des menschlichen Geistes vorgeht. Überdies hat uns die Arbeit mit Tausenden von Patienten aus den meisten Ländern der Welt zu dem Schluß gelangen lassen, daß das Geburtstrauma eine Realität ist, die Kulturen und Länder umfaßt und völlig unabhängig von der Sprache ist. Es ist universal.

Es ist eines der großen Paradoxa der menschlichen Gesellschaft, daß unsere angeblich fortschrittlichsten Methoden die primitivsten Ergebnisse hervorgebracht haben und daß wir bei den primitivsten Völkern die fortschrittlichste (das heißt, natürlichste und vorteilhafteste) Entbindungspraktik finden: die einfache Methode des Niederhockens und Gebärens.

Die moderne Technologie sollte nicht natürliche Prozesse behindern, sondern dazu verwendet werden, diese Prozesse zu unterstützen. Die Eltern sollten bei ihrer Suche nach einem Arzt und einer Klinik, die ihrem Kind den besten Eintritt in diese Welt gewährleisten können, nicht eingeschüchtert werden. Sie müssen auf den bestmöglichen Entbindungs­praktiken bestehen. Sie dürfen sich angesichts herkömmlicher Verfahren in den Kliniken, autoritärer Ärzte oder der Starrheit lang überlieferter Praktiken nicht geschlagen geben. Sie kämpfen für das Leben eines Menschen und haben jedes Recht, es beharrlich zu tun. Denn gleichzeitig kämpfen sie gegen die körperlichen Krankheiten ihres Kindes, gegen die späteren Lern- und Verhaltensprobleme, gegen die spätere Neurose und Geisteskrankheit ihres Kindes als Erwachsener. Gegen ungeeignete Entbindungspraktiken kämpfen, heißt für das Leben kämpfen — auf die konstruktivste und dauerhafteste Weise.

Wir haben gesehen, was eine schlechte Geburt in unseren Kliniken anrichten kann. Wir hatten Gelegenheit zu sehen, was eine richtige Geburt vollbringen kann. Kein Fachmann hat das Recht, sich gegen das Wissen zu verschließen, wenn so viel auf dem Spiel steht. Es gibt keine erdenklichen sozialen Programme, keine therapeutischen Verfahren, keine Institutionen, die so sehr dem Wohl der Menschheit dienen könnten wie eine einfache Änderung der Entbindungspraktiken. Wir sprechen davon, den Ursprung, die Ursache so vieler persönlicher und sozialer Probleme zu vermeiden. Wir sprechen von Minuten oder Stunden der Fürsorg­lichkeit, deren Folgen Jahre und Jahrzehnte andauern.

Eine radikale Veränderung der Gesellschaft ist möglich durch die natürliche Rückkehr zu unseren Ursprüngen.
So einfach ist das.

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Ende

 

 

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Arthur Janov 1983