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2  Urschmerz: Das große, verborgene Geheimnis

Janov 1991

 

  Die Natur emotionalen Schmerzes  

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Wenn kindliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben, werden sie in Schmerz verwandelt. Schmerz ist etwas, das wir gewöhnlich mit körperlichen Ursprüngen in Verbindung bringen. Wir sind vertraut mit Zahnschmerzen, mit dem Schmerz, den eine körperliche Verletzung oder eine Organstörung verursachen. Der Schmerz, den wir empfinden, wenn wir uns ungeliebt oder unerwünscht fühlen, ist ebenso real. Wenn emotionale Bedürfnisse unerfüllt bleiben, kommt es zu realen Empfindungen von körperlichem Unbehagen, Angst, Depression, Kopfschmerzen, Magenschmerzen und diffuser Furcht. Unbefriedigte Bedürfnisse sind eine Bedrohung der Integrität des Systems. Sie werden in Schmerz verwandelt, weil der Schmerz uns auf die Bedrohung aufmerksam macht, die diese Entbehrung darstellt.

Wenn die Bedürfnisse eines Kindes nach Liebe und Zuneigung, Berührung und Sicherheit nicht erfüllt werden, dann signalisiert der Schmerz dem System, sich zu mobilisieren und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Das Kind wird getrieben, auf die eine oder andere Weise die Erfüllung unbefriedigter Bedürfnisse zu suchen. Wenn es keine Möglichkeit zur Befriedigung der Bedürfnisse gibt, werden Verdrängungskräfte das Bedürfnis lähmen.

Mangel an Erfüllung bedroht das Überleben. Schmerz ist einfach ein Zeichen für diese Bedrohung, ein Zeichen für das, was fehlt. Er weist uns an, das zu bekommen, was wir brauchen, und wird schließlich selbst verdrängt. Die Stärke des Schmerzes entspricht der Intensität des Bedürfnisses. Wenn Sie die Liebe nicht erhalten, die Sie brauchen, dann geht Ihnen ein Teil Ihrer selbst verloren.

Später im Leben lernen wir, eine Bedürfniserfüllung durch eine andere zu ersetzen und nach symbolischer oder Ersatz­befriedigung zu suchen. Ein Baby, das etwas braucht, hat keine andere Alternative, als entweder ständige Qual zu fühlen oder sich abzuschließen. Es kann weder am Kiosk Zigaretten holen noch einen Freund anrufen, um ins Kino zu gehen. Es verdrängt. Verdrängung ist eine automatische Reaktion auf den Schmerz emotionaler Entbehrung.

Die Bedrohung, im frühen Leben beispielsweise nicht gehalten und getröstet zu werden, setzt eine komplexe Serie chemischer Prozesse in Gang.


Das Endergebnis dieser Prozesse ist ein Abschalten eben dieser Bedrohung. Das Bewußtsein der Bedürftig­keit hört auf. Statt dessen beginnt man, sie durch Befriedigungen zu ersetzen, die Ersatzwünsche repräsentieren. Beruhigungsmittel, Zigaretten oder Essen tun, was Berührung hätte tun sollen — sie entspannen uns. Kinder brauchen Berührung, um sich angemessen entwickeln zu können. Wenn sie sie nicht bekommen, verlangsamt sich ihre Entwicklung, und ihr Wachstum verzögert sich.

Als Kinder brauchen wir die Möglichkeit, unseren Eltern gegenüber unsere wahren Gefühle zu äußern. Wir leiden, wenn unsere Eltern gleichgültig sind. Wenn sie unseren Groll und unsere Wut zurückdrängen, leiden wir. Wir können nicht länger wir selbst und natürlich sein. Unsere »Natur« wird daher verbogen, und das verursacht Schmerz. Wenn ein Arm sich nicht natürlich bewegen kann, wenn er mit Klebeband gefesselt wird, wird er schmerzen. Wenn man natürliche Emotionen nicht zuläßt, kommt es zum gleichen Ergebnis. Diese Emotionen sind ebenso Teil unserer Physiologie, wie ein Arm Teil unserer Anatomie ist. Wenn ein Kind hungrig ist, muß es gefüttert werden. Das Bedürfnis, Gefühle zu äußern, ist ebenso physiologisch wie Hunger.

Ein Kind braucht das Gefühl, so akzeptiert zu werden, wie es ist. Geschieht dies nicht, ist es gezwungen, etwas oder jemand anderer zu sein — der Intellektuelle, der Athlet oder was immer. Es muß sich selbst neu gestalten, und das verursacht emotionalen Schmerz. Wir alle müssen in Harmonie mit uns selbst heranwachsen und uns in unserer Haut wohl fühlen. Wenn unsere natürlichen Gefühle uns Unbehagen verursachen, leiden wir. 

 

   Primärschmerz  

Es scheint einfach, Schmerz zu definieren. Was immer weh tut, muß Schmerz sein, wenn das auch nach einem Zirkelschluß klingt. Doch was ist mit emotionalem Schmerz, der nicht auf dieselbe Weise weh tut wie Zahnschmerzen oder ein Schnitt in den Finger? Wie können wir ihn nennen? Ich benutze den Begriff Primärschmerz, um emotionalen Schmerz zu bezeichnen, der zur Zeit seines Auftretens weitgehend unbemerkt bleibt. Primärschmerz ist ein Schmerz, der nicht wehtut, zumindest nicht bewußt.

Primärschmerz ist nicht wie ein Kneifen, bei dem wir »Au« rufen, die Finger schütteln und ihn nach ein paar Minuten überwinden. Primärschmerz ist, als würden Sie so hart gekniffen, daß Sie es nicht fühlen können, so daß der Schmerz ewig andauert. Primär­schmerz wird ständig unter der Ebene bewußter Wahrnehmung verarbeitet, aber das bedeutet nicht, daß er nicht da ist und seinen Schaden anrichtet. Es bedeutet nur, daß er zu stark ist, um gefühlt zu werden.

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Der verdrängte Schmerz vereitelter emotionaler Bedürfnisse ist unbeschreiblich. Wenn er sich dem Bewußtsein nähert, kann er Menschen zum Wahnsinn oder zum Selbstmord treiben. Jemand, der völlig abgeschottet ist, kann sich nicht vorstellen, welche Intensität hier im Spiel ist. Das ist der Grund, warum Patienten, die dem Primärschmerz nahe kommen, manchmal vom Suizid besessen sind. Sie sind geneigt, lieber den Tod zu wählen als die direkte Erfahrung des Primärschmerzes.

Die katastrophalsten Schmerzen sind die frühen Schmerzen, die lebensbedrohend sind. Schmerzen wie die, bei der Geburt dem Tode nahe zu sein, oder der Schmerz der Hoffnungslosigkeit eines kleinen Kindes, jemals geliebt zu werden, sind Beispiele hierfür. Das System ist nicht dazu ausgestattet, Schmerzen dieser Größenordnung zu ertragen. Ganz im Gegenteil: Es ist so angelegt, daß es einen morphinähnlichen Stoff erzeugt, um das Bewußtsein des Schmerzes abzublocken, damit das Baby nicht stirbt oder, im Falle eines Erwachsenen, damit die Person weiterleben kann.

Primärschmerz bringt immer Verdrängung ins Leben. Das Maß der erzeugten Verdrängung hängt von der Ebene oder Wertigkeit des Schmerzes ab. Die morphinähnlichen Substanzen, die wir innerlich erzeugen, um emotionalen Schmerz zu verdrängen, können hundertmal stärker sein als kommerziell zubereitete Morphine. Als Freud über Verdrängung schrieb, konnte er nur spekulieren. Jetzt haben wir ein viel klareres Bild davon, wie sie wirkt und wo im Gehirn sie am Werk ist.

Unsere Fähigkeit, Dinge auszuhalten, ist begrenzt. Schmerz mobilisiert das System wie nichts anderes. Er treibt den Herzschlag in die Höhe und steigert den Blutdruck. Ein neugeborenes Kind kann bei der Geburt einen Puls und Blutdruck von 200 nur für eine gewisse Zeit ertragen, ehe es in Lebensgefahr gerät. Die Verdrängung schaltet diese extreme Mobilisierung ab. Später werden wir sehen, wie beim Anheben der Verdrängungs­schranke die exakte frühe Erinnerung mit genau gleichem Herzschlag und Blutdruck reproduziert wird.

Wenn wir zu erfrieren beginnen, haben wir Schmerzen. Wenn der Schmerz zuviel wird, werden wir taub und spüren nichts mehr. Wenn wir wieder auftauen und zu fühlen beginnen, haben wir erneut Schmerzen. Dies ist das Paradigma für emotionalen Schmerz. Emotionaler Schmerz wird verdrängt und vergessen. Daraus ergibt sich eine emotionale Taubheit, eine Unfähigkeit zu fühlen. Wenn der Schmerz später erinnert wird, beginnt er von neuem wehzutun. So leiden wir beim ersten Anlaß, wenn emotionaler Schmerz auftritt, und wir leiden später wieder, wenn wir uns gestatten, uns an den ursprünglichen Schmerz zu erinnern.

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  Schmerz, Bedürfnis und natürliche Entwicklung  

Der Grund, warum wir Schmerzen leiden, ist, daß ein fremdes Eindringen unsere natürlichen Tendenzen blockiert und eine Verschiebung natürlicher Körperfunktionen bewirkt. Es tut weh, nicht natürlich zu sein. Wenn wir von unseren Eltern frustriert und depriviert werden, wütend reagieren und dann von ihnen wegen dieser Wut bedroht werden, so wird unser System deformiert. Wenn wir im Alter von einem Jahr stehen können sollten, von unseren ängstlichen Eltern aber gezwungen werden, mit acht Monaten stehen zu können, so tut uns dies weh. Das neurologische System wird beeinflußt. Wenn wir ein Jahr lang gestillt werden sollten, aber nach der dritten Woche entwöhnt wurden, so ist ein Grundbedürfnis frustriert worden. Wenn wir grollen, weil unsere Eltern ein anderes Geschwister vorziehen, und bestraft werden, wenn wir diesen Groll äußern, so tut uns dies weh. Wir können nicht sein, was wir sind, und nicht fühlen, was wir empfinden. »Laß mich sein!« ist der häufige Schrei, den wir in unserer Therapie hören.

Ich weiß nicht, wie ich den Schmerz beschreiben soll, den ich in der Primärtherapie gesehen habe. Ich habe siebzehn Jahre lang psycho­analytisch begründete Psychotherapie praktiziert und nie dergleichen erlebt. Wenn man Patienten sieht, die ein Gefühl fühlen, Stunde um Stunde, Monat um Monat, sich windend und zappelnd, schluchzend und schreiend, dann beginnt man einfach zu verstehen, was in den meisten von uns komprimiert ist. Das ist eine unbeschreibliche Erfahrung. Auf intellektueller Ebene ist sie nicht begreifbar. Wenn man diesen Schmerz einmal beobachtet hat, ist es kein Geheimnis mehr, warum wir später Herz­infarkte, Schlaganfälle oder Krebs bekommen.

Das große Wunder besteht darin, wie ein so gigantisches Maß an Schmerz komprimiert in unserem Körper vorhanden sein kann, ohne daß wir uns dessen bewußt sind. Das haben wir der Verdrängung zu verdanken. Verdrängung verteilt die Energie, so daß wir sie in unserem Bluthochdruck, in unserer zwanghaften Sexualität, in Asthma und Kolitis, in Tagträumen, Haltungsschäden und Kopfschmerzen wiederfinden. Es ist also kein Wunder, daß nach einem Kurs in Primärtherapie bei hypertonischen Patienten der Blutdruck im Durchschnitt um 24 Punkte absinkt.

Die Bedürfnisse und der Schmerz sind das, was uns umtreibt und ungeheure Energie verbraucht. Verdrängung löst die Energie des Schmerzes von seiner Erfahrung ab. Jemand mit starkem Antrieb ist im allgemeinen jemand mit ziemlich großem Schmerz. Deshalb kann sich der Neurotiker nicht entspannen. Ganz gleich, wie sehr er sich bemüht anzuhalten, sein Motor läuft ständig auf Hochtouren, und nichts kann ihn dauerhaft verlangsamen. Er läuft mit dem, was ich als »Primärtreibstoff« bezeichne.

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  Das Geheimnis des Primärschmerzes  

Es ist erstaunlich, wie elektrische Impulse und eine chemische Suppe, die im Schädel herumschwappt, in einem psychologischen Zustand enden können, den man Leiden nennt. Welcher Sprung verwandelt etwas, das mit einem geleeartigen Organ passiert, in etwas Psychisches? Und wie kommt es, daß wir durch ein psychologisches Manöver, durch psychische Selbsttäuschung, diesen Schmerz annullieren und glauben können, wir litten nicht? Soviel wissen wir: Schmerzsignale sind Formen von Information, die in ausreichender Quantität in der Lage sind, das System zu überlasten und das Gegenteil zu erzeugen — keinen Schmerz.

Ist emotionaler Schmerz ein Gefühl? Nein. Er ist das, was mit Gefühlen passiert, wenn sie nicht ihren natürlichen Lauf nehmen. Deshalb beendet das Empfinden von Gefühlen den Schmerz. Schmerz ist immer mit Unbewußtheit verbunden. Bis der Schmerz bewußt wird, ist er amorphes Leiden. Das leidende System bewegt sich auf den alten Nervenbahnen, die der Mittellinie des Nervensystems am nächsten sind.

Das leidende System projiziert Nervenfasern aus niedrigeren Gehirnstrukturen wie dem Thalamus auf große Teile des Neokortex. Deshalb wissen wir, daß wir leiden, wissen aber nicht, warum.

Das Schmerzsystem bezieht neuere Nervenpfade ein. Dieses System ist präziser und sagt uns, was weh tut, und oft auch, warum es weh tut.

Die Bewußtheit von Schmerz bedeutet Bewußtsein. Die unterscheidenden Schmerzwege beziehen selektive Ziele im Kortex ein, die uns wissen lassen, was genau darunter vorgeht. Diese Verbindungswege verwandeln Leiden in Schmerz und dann Schmerz in Bewußtheit. Eine Leere im Magen und einen ständigen Schmerz oder Krampf zu fühlen ist ein Teil des Leidens. Die Leere des eigenen Lebens zu fühlen ist eine damit zusammenhängende Empfindung. Depression und Verzweiflung zu fühlen ist ein Teil des Leidens. Die Hoffnungslosigkeit zu fühlen, von der eigenen Mutter nie geliebt zu werden, ist eine damit zusammenhängende Empfindung.

Verbindung vertreibt das Leiden, Verbindungslosigkeit erhält es aufrecht; dies ist ein Phänomen, das wir später in diesem Buch sehr viel eingehender untersuchen werden. Es bedeutet, daß Sie leiden werden, wenn Sie einen präzisen emotionalen Schmerz nicht fühlen können. Und wenn Patienten nur einen kleinen Aspekt eines alten Gefühls spüren, werden sie weiter unter jenem Teil leiden, der ungefühlt und unverbunden bleibt. Es ist nicht so, daß der Patient nichts erreichen würde. Nur bleibt da noch weiteres Leid, das verbunden werden muß. Das ist nicht in einem Tag zu leisten.

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Wir diskutieren über eine Energiequantität im Leiden, eine Energie, die in Körper und Geist kanalisiert werden kann. Ein Gefühl der Wut kann in heftige Kopfschmerzen umgewandelt werden. Die Wut ist jetzt im Symptom enthalten. Wenn die Wut geäußert wird — und sie muß voll geäußert, nicht nur verstanden werden —, verschwindet das Symptom. Wenn die Wut durch vollen Ausdruck bewußt wird (Schlagen, Schreien), wird sie in ein Gefühl verwandelt und ist nicht länger ein Element des Leidens. Um die Wut zu »wissen« hat nichts damit zu tun, sich ihrer bewußt zu sein. Eine Person, die ständig reden muß, erkennt, daß Leid in ihren Worten ist. Sie fühlt: »Ich muß dauernd reden, um nicht herauszufinden, daß keiner zuhört.« Es ist ein Werben um Aufmerk­samkeit. Diese Art des Redens ist symptomatisch für ein Gefühl. 

 

  Der Primärschmerzbehälter  

In Der Urschrei habe ich über den Primärschmerzbehälter gesprochen. Ich glaube, daß dieser Begriff heute noch ebenso gültig ist wie damals. Was er bedeutet, ist, daß sich während der ganzen Kindheit Schmerzen ansammeln und verbinden, wenn das Kind ungünstigen Ereignissen begegnet. Er ist eine bildliche Beschreibung dessen, was ich bei Patienten gesehen habe, aber irgendwie spiegelt er auch die Tatsache wider, daß es zu einer hochgradigen Ansammlung von Schmerz kommt. Dieser Behälter muß auf irgendeine Weise entleert werden, um dem System die Last zu nehmen und der Person zu gestatten, sich zu entspannen.

Beiträge zu diesem Primärschmerzbehälter können sowohl physische Verletzungen wie Operationen leisten als auch psycho­logische Wunden wie das Unbeachtetsein. Beide werden auf die gleiche Weise verarbeitet. Genügend chirurgische Eingriffe können sich ebenso zu einer Überlastung akkumulieren wie genügend Zurückweisung. Die Therapie muß mit der Zeit diesen Behälter ausleeren, um die Last des Schmerzes zu verringern und dem System zu erlauben, sich neu auszurichten. Dies geschieht, indem man immer etwas von einem Gefühl auf einmal wieder neu erlebt, es integriert und auflöst. Das ist die Umwandlung von Schmerz in Fühlen. So werden Neurotiker zu fühlenden menschlichen Wesen.

Es gibt eine Gruppe von Strukturen im Gehirn, denen es obliegt, Gefühle zu verarbeiten und abzuspeichern. Das limbische System ist ein Ring von Strukturen unter dem Neokortex. Es organisiert unsere Emotionen, wirkt als Kondensator, der eine bestimmte Ebene von Eingaben akzeptiert und den Überschuß an Gefühl an andere Kanäle, Organsysteme oder den ideen­bildenden Geist weitergibt. Damit ist es ein Behälter für Schmerz, aber einer mit begrenztem Fassungsvermögen. Wenn dieses Fassungs­vermögen überschritten wird und es zu einem durch emotionalen Schmerz verursachten Überfließen von Energie kommt, befinden wir uns in einem Zustand akuter Angst.

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Es gibt ein Experiment mit Hunden, deren limbisches System Tag für Tag einem leichten elektrischen Schlag ausgesetzt wurde. Dabei stellten die Experimentatoren fest, daß weit weniger Stimulation erforderlich war, damit die Hunde epileptische Anfälle bekamen. Das geringste Geschehnis erzeugte in ihnen eine massive globale Entladung elektrischer Energie — einen Anfall.

Dies scheint zu sein, was geschah, als wir Kinder waren. Kränkung um Kränkung wurde vom limbischen System verarbeitet. Der Schmerz sammelte sich an, bis wir sogar auf den neutralsten Reiz empfindlich reagierten. So konnte die leiseste Frustration zu massiver Wut führen. Bei unseren Gehirn­wellen­unter­such­ungen wiesen Personen, die sich auf ein riesiges altes Gefühl einließen, bezüglich der Gehirnaktivität nahezu einen epileptischen Zustand auf. Das limbische System gießt seine gespeicherte Energie aus. 

 

   Das Messen von emotionalem Schmerz   

Wir messen den Schmerz anhand seiner Verarbeitungsmechanismen, durch Untersuchung der Gehirnwellen, der Vitalfunktionen wie Blutdruck und Puls, der Hormone. Sowohl physischer als auch psychischer Schmerz stimulieren die gleichen repressiven Chemikalien. Der Körper unterscheidet nicht zwischen psychischen und physischen Schmerztötern. Ein gutes Schmerzmittel kann beide Arten von Schmerzen mit gleicher Wirksamkeit abstellen. Man kann jemandem suggerieren, die und die Tablette, selbst wenn nichts darin ist (ein Placebo), werde seinen Schmerz beseitigen, und er spürt ihn nicht mehr, genau wie jemand keine Schmerzen mehr hat, wenn man ihm ein echtes Schmerzmittel spritzt. Der Geist ist ein starker schmerztötender Wirkungs­mechanismus. Er ist genausogut und möglicherweise noch besser als jede Morphinspritze — aus Gründen, die wir in Kürze darlegen werden.

Primärschmerz kann gelindert, neu kanalisiert und verteilt, aber nicht beseitigt werden. Er läßt sich nicht hinwegreden oder vertreiben. Ein Süchtiger wird mit diesen Mitteln seine Sucht nach Schmerzmitteln nie überwinden. Selbst schwere Elektroschocks löschen die Erinnerung nicht aus. Dies hat sich in der Tierforschung gezeigt. Sobald einmal etwas in das System eingeprägt ist, kann es nicht mehr gelöscht werden. So verschwindet das Gefühl »Ich werde nicht geliebt« nie mehr, wenn es in der frühen Kindheit einmal angelegt ist. Es bleibt unberührt und rein und gleicht Freuds unwandelbarem Es-Unbewußtem, weil es immer bestehen bleibt und unveränderlich ist. Lebenserfahrung und die Liebe Hunderter werden an diesem Gefühl kein Jota ändern. Stellen Sie sich nur vor: ein Teil unserer Physiologie, vielleicht der einzige Teil, der keiner Veränderung zugänglich ist.

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Der Grund ist das Überleben der Spezies. Das schmerzliche Gefühl bleibt gespeichert und wartet auf seine Chance zu Bewußtheit und Lösung. Der Organismus wartet auf seine Chance, zur Gesundheit und zu seiner evolutionären Bestimmung zurückzukehren. Freud, der über eingeprägten Schmerz nicht genau Bescheid wußte, gab diesem Phänomen eine mystische Aura — das Es —, doch tatsächlich war es nur ein Duplikat der nun verinnerlichten frühen traumatischen Umgebung. Wie wir gleich sehen werden, geht der ganze evolutionäre Drang dahin, dieses »innerliche« Nicht-Selbst loszuwerden und zum realen — gesunden — Selbst zurückzukehren. 

 

  Die Natur emotionaler Erinnerung  

Jede Zelle unseres Körpers »erinnert sich« an ihren natürlichen Zustand. Nehmen wir beispielsweise die einzellige Amöbe. Wenn sie in eine Lösung aus mit Tuschekörnchen verschmutztem Wasser gesetzt wird, wird sie diese Körnchen buchstäblich absorbieren und in Vakuolen speichern. Die schädlichen Elemente werden Teil ihrer Physiologie. Wenn man sie dann in sauberes Wasser setzt (eine gesunde Umgebung), bewegen sich die Vakuolen an den Rand der Zellmembrane und geben die Körnchen wieder ab. So versetzt die Amöbe sich selbst wieder in einen gesunden Zustand.

Dies ist ein Paradigma auch für menschliches Verhalten. Schließlich sind wir nur eine Ansammlung mikroskopischer Zellen. Diese Zellkolonien funktionieren auf die gleiche Art wie die einzelne Zelle. Sie nehmen äußerliche, schädliche Ereignisse in sich auf und warten auf eine gesunde Umgebung, um sie wieder »auszuspucken«. Dies ist das Paradigma für die Lösung von Neurosen und die Rückkehr zur Gesundheit. Wir tun das, was die Amöbe uns in ihrer prototypischen Kindheit gelehrt hat, absorbieren äußere Gefahr und warten auf den geeigneten Moment, selbst wenn die Wartezeit dreißig Jahre beträgt. Ohne diese Fähigkeit zu Absorption und Warten würde es keine endgültige Lösung der Neurose geben.

Die Inkorporation ist ein Versuch, die äußere Umgebung weniger schädlich, und ein Bemühen, die Umwelt »rein« zu erhalten; denn selbst die einzellige Amöbe weiß, daß sie eine gesunde Umgebung braucht, um intakt weiterzuleben. Also »frißt« sie die Gefahr, integriert sie aber nie ganz. Sie wird nie wirklich »Teil« ihrer Physiologie. Sie bleibt eine fremde Kraft, und später werden wir sehen, wie schädliche äußere Ereignisse, die wir in uns aufnehmen, ebenfalls nie voll integriert werden. Sie bleiben eine fremde Kraft. Danach richtet sich der ganze spätere Drang darauf, diese fremde Kraft so bald wie möglich loszuwerden. In einer schwierigen Umgebung aber ist uns das nicht möglich. In einer solchen Situation müssen wir defensiv bleiben und unsere Beute verstecken, bis nicht einmal wir selbst mehr wissen, daß sie da ist.

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Allem organischen Leben sind gewisse grundlegende Prozesse gemeinsam. Jeder Organismus strebt danach, Homöostase zu erreichen, natürliches Gleichgewicht. Wenn früher Schmerz existiert, werden dessen Erinnerung und Ladung intakt in den Zellen der emotionalen Hirnzentren gespeichert und warten auf den Tag ihrer Freisetzung. Diese fremden Elemente sind jetzt Teil der Physiologie.

Wenn die Umwelt wieder günstig ist, wenn eine warme, liebevolle, therapeutische Umgebung zu Gefühlen einlädt, beginnt der alte Schmerz seine Entladung. Der Körper befreit sich von gespeicherten schädlichen Reizen wie die Amöbe von den Tusche­körnchen. Nach der Entladung des Schmerzes kehrt der Körper zu seinem ursprünglichen gesunden Zustand zurück.

Ich habe impliziert, daß emotionaler Schmerz auf irgendeine Weise angesammelt und gespeichert werden kann. Das ist natürlich eine Funktion des Gedächtnisses. Wir können sehr früh im Leben auf Streß reagieren; selbst im Mutterleib können wir ihn kodieren und speichern. Er bleibt als Erinnerung bestehen. Der Begriff des Wiedererlebens beinhaltet, daß Erinnerung dauert. Was früher außen war, ist nun innen. Alle Gerüche, Anblicke und Geräusche eines frühen Ereignisses sind in jeder Minute unseres Lebens da und können jede Sekunde abgerufen werden. Was für ein Wunder, daß sich ein Duplikat einer vollständigen Umgebung mit jedem kleinsten Detail in unserem Gehirn und Körper befindet. Darüber hinaus reagieren wir zuerst auf diese Umgebung und erst dann auf die äußere. Die traumatische Erinnerung wird zu einem Filter, der bestimmt, wie wir später auf Ereignisse reagieren.

Warum gibt es ein Duplikat von Kindheitsgeschehnissen? Das ist eine Möglichkeit, eine gefährliche Umgebung zu verinnerlichen und sie sowohl einzukapseln als auch unschädlich zu machen. In unserem Inneren können wir ihre explosive Ladung beseitigen oder uns zumindest von ihr entfernen, indem wir sie einkapseln. Wir können sie intern isoliert halten, bis wir erwachsen und in der Lage sind, den Schmerz zu erleben. Dann können wir ihn sozusagen »ausspucken«. Was für die Amöbe gilt, gilt auch für das ganze menschliche Leben.

Wir wissen sogar, daß ein Fötus im Mutterleib Schmerz fühlt. Zwei Forscher, Anand und Hickey, haben darauf hingewiesen, daß »die Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den niedrigeren Hirnzentren tragen, in der 35. bis 37. Schwanger­schaftswoche fast voll entwickelt sind... EEG-(Gehirnwellen)-Untersuchungen zeigen in der 26. Woche gut entwickelte elektrische Aktivität in beiden Hirnhemisphären«. — In diesem Alter ist der sich entwickelnde Fötus fähig, emotionalen und physischen Schmerz zu registrieren.

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In einem Bericht für das New England Journal of Medicine teilen Anand und Hickey weiter mit, daß nach der Beschneidung Anzeichen für eine fortgesetzte Erinnerung an dieses Ereignis vorliegen. Es gibt spätere Verhaltens­änderungen, die auf die Unterbrechung »der Anpassung neugeborener Säuglinge an ihre postnatale Umgebung« hindeuten.

Die Forscher schreiben weiter, die synaptischen und zellulären Veränderungen, die für diese Art sehr früher Erinnerung erforderlich sind, seien von der Plastizität und Formbarkeit des Gehirns abhängig, und diese seien »in der pränatalen und neonatalen Periode am höchsten«. Die Tatsache, daß frühe Erinnerungen bestehenbleiben, ist entscheidend dafür, daß man emotionalen Schmerz später erneut durchleben kann. Ohne kodierte Erinnerung wäre so etwas undenkbar. Solche emotionalen Erinnerungen hängen vom Funktionieren des limbischen Systems ab, einem Teil des Gehirns, von dem die beiden Autoren sagen, er sei »bei Neugeborenen gut entwickelt und funktionsfähig«. 

 

  Streßkapazität beim Neugeborenen  

Es ist keine Überraschung, daß Anand und Hickey feststellten, daß Babies auf Ereignisse viel stärker reagieren als Erwachsene. In einer Studie aus dem Jahre 1983 über die Streßreaktion von Babies, die einer Operation unterzogen wurden, schrieb Anand: »Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß die Streßreaktion von Babies fünfmal stärker ist als die von Erwachsenen bei ähnlichen Operationen. Hormonspiegel, Blutdruck, Herzschlag und die Spiegel metabolischer Nebenprodukte stiegen sämtlich steil an.« Wichtig ist dabei, daß die Reaktion offensichtlich stärker ist, als ein Baby ertragen kann. Ein Teil der Reaktion wird abgeblockt, eingegrenzt und für das ganze Leben gespeichert, und so wird sie zu einer Quelle späterer Spannung. Der emotionale Erinnerungs­apparat bleibt während der ganzen Zeit einsatzbereit.

Die Streßreaktion des Babies ist nicht auf Operationen begrenzt. Sie kann auch bei emotionalen Traumata auftreten. Dies ist die Funktion des limbischen Systems. Das System enthält Schmerzrezeptoren, deren Anzahl beim Vorliegen von Schmerz tatsächlich zunimmt. Doch Anand beweist experimentell nur, was wir seit Jahrzehnten gesehen haben: Wenn ein Patient aufgrund eines Sauer­stoffmangels bei der Geburt diese würgend und keuchend wiedererlebt, so ist dies eindeutig keine unechte Erfahrung. Durch keine Willens­anstrengung kann der Patient wieder zu Atem kommen; bis er das schafft, vergehen Sekunden. Dies ist Erinnerung in ihrer kristallinen Form. Innerhalb des limbischen Systems wird ein Aspekt einer Erinnerung mit einem anderen verbunden — ein Anblick mit einem Geruch, ein Geräusch mit einer Berührung. 

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Wenn ein Patient wieder in seinen alten Gefühlen ist, dann steigen alle Aspekte der Erinnerung in das Bewußtsein auf, und das emotionale Gedächtnis blüht.

Richard Thompson von der University of Southern California untersuchte Erinnerungsspuren bei Tieren. Er stellte fest, daß sich bei wiederholter Stimulierung bestimmte Nervenzellen mit anderen verbinden. Wird die Verbindung der Nervenwege aufrecht­erhalten, so erleichtert das die Bewegung durch die Synapsen oder den Abstand zwischen den Nerven, und das ist für die Erinnerung verantwortlich. Es ist wie bei einem Weichensteller, der alle Gleise freigegeben hat, so daß der Zug mühelos durchfahren kann. Wenn Sie so wollen, könnte man den Vorgang mit einer »Rille« vergleichen, in die spätere Ereignisse automatisch hineingleiten. Diese Rille ist für gewohnheitsmäßiges Verhalten verantwortlich. Wenn ein Baby dem Tode nahekommt, so wird der Gedanke an Tod angesichts widriger Umstände zu einer Erinnerung oder Rille. Wenn das Kind später erwachsen ist und vor Problemen steht, ist sein erster Gedanke dann vielleicht der an Tod und Selbstmord.

Nur zu oft betrachten wir den Fötus und das Neugeborene als eine Art Blase, die nichts registriert, weil der Fötus nicht darüber sprechen kann. Aus unseren Beobachtungen und neueren Forschungen ersehen wir, daß der Säugling Erfahrungen mit großer Wirkung registriert. Die Fähigkeit, die Erfahrung zu beschreiben oder zu diskutieren, hat mit dieser Wirkung nichts zu tun. Später wird die Person alle möglichen Fehlwahrnehmungen und seltsamen Gedanken haben, wenn sie versucht, wortlose, frühe Erfahrung in Worte zu fassen.

Tatsächlich hat der Säugling ein weit geöffnetes sensorisches Fenster und ist sensibler, als er je wieder sein wird. Er fühlt mehr, weil er keinen entwickelten Kortex und kein denkendes Gehirn hat, um Erfahrung zu verdünnen. Nichts von dem sollte uns überraschen, wenn wir bedenken, daß sogar Pflanzen sich erinnern. Wenn Sie eine Erbsenranke nehmen, die auf Licht reagiert, und ins Dunkle stellen, dann wird alles, was mit ihr geschieht, »erinnert«, bis sie wieder ins Licht gestellt wird. Wenn Sie sie im Dunkeln berühren, wird sie sich erst dann dieser Berührung entgegenneigen, wenn es wieder hell ist. Sie hat Information gespeichert. 

 

   Emotionale Erinnerung ist kein bewußtes Zurückrufen   

Emotionale Erinnerung ist nicht das gleiche wie bewußtes Zurückrufen. Wir können uns mühelos an die guten Zeiten unserer Kindheit erinnern. Dazu brauchen wir nur ein wenig in unserem Gedächtnis zu kramen. Doch keine willentliche, bewußte Entschlossen­heit kann schmerzhafte emotionale Erinnerung zurückrufen. Diese kann vom Gefühlssystem nur auf einer emotionalen Ebene erinnert werden.

Der Gedanke eines verborgenen Schmerzgedächtnisses ist schwer zu akzeptieren, weil Schmerz nicht mühelos erinnert werden kann und weil er verborgen ist. Deshalb benutzen wir den Begriff »Urschmerz«. Er ist wie die Schwerkraft, ein total unbewußter Einfluß, der immer da ist. Wenn die Schwerkraft nicht entdeckt worden wäre, hätten wir nie etwas über ihre Auswirkungen erfahren. Es ist an der Zeit, den Einfluß des Schmerzes zu erkennen. Er ist eine Kraft, der ganze Gesellschaften bewegt und doch gleichzeitig unser gegenseitiges Massengeheimnis ist. Wenn wir bedenken, daß unser intern hergestelltes Morphin sich in der Plazenta und in den primitivsten Gehirnstrukturen findet, müssen wir erkennen, daß Unbewußtheit im Mutterschoß beginnen kann. In gewissem Sinne sind wir, was das Leben betrifft, »draußen«, bevor wir »drinnen« sind. Ist es da ein Wunder, daß uns das nicht bewußt ist?

Der Urschmerz ist das große, verborgene Geheimnis unserer Tage, Teil der Massen­unbewußtheit — die unbewußte Verschwörung, bei der wir uns alle darauf geeinigt haben, die zentralen Realitäten unserer Zeit, unser zweifelhaftes Erbe aus verdrängten Bedürfnissen, Gefühlen und Schmerzen zu leugnen.

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