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»Stapelweise Modrow,

Gysi, Kant und Genossen«

 

Von Freya Klier

 

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Zehn Jahre liegen Montagsdemos und Mauerfall nun zurück — jener Umsturz, in dem wohl zum ersten Mal in der Geschichte europäischer Revolutionen Kerzenwachs floß statt Blut und in dem die Bürger der meisten osteuropäischen Staaten Regierungen zum Abtritt zwangen, die ihr Land in den Bankrott getrieben haben — den politischen, moralischen und wirtschaftlichen Bankrott. 

Zehn Jahre sind eine lange Strecke. Die »neuen Bundesländer« (die ich von nun an — da sie so neu nicht mehr sind — die östlichen Bundesländer nennen will) hatten in dieser Dekade einen Prozeß des gesellschaftlichen Umbruchs zu bewältigen, dem der Begriff »Demokratisierung« bei weitem nicht gerecht wird.

Denn im Osten Deutschlands fielen ja zwei historische Umwälzungs­prozesse zeitlich zusammen:

Erstens: Die DDR wurde 1990 nicht in eine Bundesrepublik der florierenden Prosperität — mit kontinuierlichem Wachstum, breitem gesellschaftlichem Wohlstand und einer vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenquote — integriert, wie sie die siebziger und achtziger Jahre beherrschte. Die DDR stieß zu einem Zeitpunkt dazu, welcher der Beginn einer großen technologischen und strukturellen Umbruchphase in Westeuropa war — ein Prozeß, der den Kontinent auch heute in Atem hält und den ich hier der Kürze halber mit dem Verständigungsbegriff »Globalisierung« umschreiben möchte. Von diesem Prozeß waren und sind noch immer beide Teile Deutschlands betroffen.

Zweitens: Ausgerechnet dieser europäische Prozeß aber, der ein Umdenken in völlig neue Arbeitskategorien und -zusammen­hänge erfordert, überlagerte jenen Umbruch, den man je nach Blickwinkel »Aufschwung Ost« oder »Aufbruch in die Demokratie« nennen kann und dem in Deutschland ausschließlich die östlichen Bundesländer ausgesetzt waren.

Ein doppelter Aufbruch also. Den innerhalb von zehn Jahren einigermaßen bewältigt zu haben, halte ich für eine enorme Leistung. Denn trotz Euphorie und der großen Bereitschaft vieler DDR-Bürger waren die Bedingungen für diesen Aufbruch alles andere als günstig. 

Lassen Sie mich dafür ein paar Punkte berühren, die — trotz ihres hohen Wirkungsgrades — in den öffentlichen Debatten bisher erstaunlich unterbelichtet blieben. Zuerst komme ich zu den fehlenden Auffangnetzen beim Bewältigen psychischer Berg- und Talfahrten.

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Um die Dimension dieses doppelten Umbruchprozesses, der kaum eine Familie im Osten verschonte, zu erfassen, habe ich mal das Bild des Teppichs geprägt, der den DDR-Bürgern plötzlich unter den Füßen weggerutscht war — es mag ein schäbiger gewesen sein, doch hatten sie immerhin mit beiden Beinen drauf gestanden. Die Tiefe des Sturzes fiel bekanntermaßen unter­schiedlich aus — und dort, wo nicht nur die Arbeitsplätze weg-, sondern auch die Familien auseinander­brachen, ist er zum Teil bis heute nicht bewältigt.

Insgesamt erinnern die Amplituden des Umbruchs in ihren Schwankungen an eine Achterbahn, an deren Ende nach heftigen Erschütterungen das Gleiten in eine neue Normalwelt steht. Mit Mauerfall und Währungsunion auf den Gipfel der Euphorie katapultiert, geriet zunächst der halbe Osten in eine Art Ausnahmezustand: Nach den Tränen der Freude und Fassungslosigkeit, den leidenschaftlichen Montagsdemos und ersten Erkundungsfahrten gen Westen stürzte die Republik der Trabis und Kittel­schürzen in einen Kaufrausch, in dem die Freßwelle nahtlos in die Möbel- und Pkw-Welle überging.

Viele waren benommen vom Ende ihres Haftdaseins. Ihr Glücksgefühl mündete in die schwindelerregende Kreditaufnahme. Die Begeisterung über die liebevoll aufgemachte Postwurfsendung, auf der sogar der eigene Name prangte, war so groß wie die Arglosigkeit, mit der mancher sich windige Versicherungen aufschwatzen ließ. Die Reisebüros verzeichneten Rekordumsätze.

Kein Rausch hält ewig. Die Katerstimmung setzte ein, als das Ausmaß, in dem Arbeitsplätze wegbrachen, die Mehrheit ost­deutscher Familien erreicht hatte. Feste Bezugskreise rissen plötzlich auseinander, weil Freunde und Bekannte auf der Suche nach neuer Arbeit die Stadt verließen. Ein Existenzkampf setzte ein, auf den niemand vorbereitet war; drückte auf die Familie und ließ sowohl die Scheidungs- als auch die Abtreibungsquote in die Höhe schnellen. 

Erst jetzt haben wohl viele gespürt, daß nicht nur der historische, sondern auch der existentielle Einschnitt ein gewaltigerer ist, als in der Euphorie vorausgesehen — all das Bekannte und Gewohnte war plötzlich außer Kraft gesetzt. Erste depressive Stimmungen machten sich breit und Angst, den Anforderungen der neuen Gesellschaft nicht gewachsen zu sein. Dabei wollten die meisten endlich ankommen und ihren Platz finden — aber wo? Und wie?

Allein die Terminologie der neuen Welt war eine fremde. Und empfand man schon die DDR-Bürokratie als ätzend, so hatte man sich nun durch einen bürokratischen Wust zu ackern, der den Verdacht nährte, eine riesige Beamtenschar müsse sich täglich neuen Schwachsinn ausdenken, um ihre Unersetzlichkeit nachzuweisen. Man rannte auf Ämter, wo niemand durchblickte; Seelsorger wurden rar, weil viele von ihnen ihr Herz für die Politik entdeckt hatten.


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Ein staatliches Beratungsnetz aber für die vielen, einander überlagernden psychischen und sozialen Probleme gab es schon zu DDR-Zeiten nicht — in einem Land, in dem es psychische und soziale Probleme nicht geben durfte. Wo es in westlichen Bundesländern seit langem ein breit-gefächertes Netz von Beratungs- und Anlaufstellen gibt, waren diese im Osten 1989 so extrem ausgedünnt, daß die meisten Bürger mit ihren Fragen, persönlichen Irritationen und psychischen Berg- und Talfahrten allein zurandekommen mußten.

Nicht ganz. Denn in diese Lücken stießen ausgerechnet jene vor, die sie zuvor selbst geschaffen hatten und denen die Nöte und Befindlichkeiten der Bürger bis dahin reichlich gleichgültig gewesen waren. Nun nicht mehr die in PDS umbenannte SED entdeckte, sich uneigennützig gebend, das Heer der Ratsuchenden als Wählerklientel zum Wiederaufstieg ihrer Partei. Von einem Wendetag zum anderen wurden Mieter plötzlich nicht mehr angeblafft, sondern freundlich beraten. Bereits im März 1990 hatten ranghohe DDR-Kader, unter ihnen ein Oberst des Ministeriums für Staatssicherheit, den Arbeitslosenverband gegründet, der wiederum kurz darauf ein Netz von Schuldnerberatungsstellen initiierte. Die PDS — dein Freund und Helfer.

Zugute kam der Partei die eigene Vorarbeit, eine Vorarbeit von Jahrzehnten. Denn über ihre Sortiermaschinen hatte sie längst diejenigen kaltgestellt, denen es bereits zu DDR-Zeiten — und ohne eigenes Vorteilsdenken — um die Bedürfnisse der Bürger gegangen war (was zwangsläufig mit Kritik am Unterdrückungssystem und seinen Funktionären einherging).

Auf verhängnisvolle Weise rächt sich zudem in der »Nachwendezeit« der Exodus von drei Millionen DDR-Bürgern, unter denen sich ein großer Teil der kritischen Intelligenz befand. Hier sind ganze Generationen abgetragen worden — von Ernst Bloch bis zu Armin Mueller-Stahl oder Reiner Kunze; die Vaclav-Havel-Generation der DDR ist kaum noch auffindbar. 

Damit aber ist eine Schicht ausgedünnt, die ich die <Hefe einer jeden Gesellschaft> nenne und ohne deren Glaubwürdigkeit und Engagement der Wechsel von einer Diktatur in die Demokratie nur schwer zu leisten ist. Nicht, daß wir uns falsch verstehen — solche Menschen gibt es noch immer, auch im Osten. Doch es sind zu wenige, um diesem zigtausende zählenden und optimal plazierten Genossen­heer mit Aufklärung und Widerstand erneut entgegenzutreten. Beides ist nötig, wenn ein Unrechtsregime von Jahr zu Jahr mehr verklärt wird. Dazu ein persönliches Beispiel:

Im Frühjahr 1991, als jene Einrichtung absehbar war, die heute Gauck-Behörde heißt, betrat in meiner Heimatstadt Dresden plötzlich eine ältere Dame das Atelier meines Vaters. Zitternd stellte sie sich als Staatsanwältin vor, die Mitte der sechziger Jahre sieben junge Männer aus Dresden ins Gefängnis gebracht hatte. Es war die Zeit nach dem Mauerbau, die Zeit, in der das Wort »Individuum« aus dem Vokabular der DDR gestrichen wurde, Autos mit Richtantennen durch die Städte fuhren, um die Hörer westlicher »Hetzsender« aufzuspüren und Polizisten eine schon hysterische Präsenz in den Straßen demonstrierten.


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Die Sache begann harmlos: Die Dresdner Jungs hatten zunächst verbotene Beatles-Texte getauscht und weigerten sich nun, den Inhalt ihrer Taschen dem »abschnitts­bevollmächtigten« Polizisten herauszurücken. Der hielt sie daraufhin in Schach und funkte ein Überfallkommando der Polizei herbei. Dann eskalierte der Vorgang: Die Jungs wurden kurzerhand zusammengeschlagen, einem jedem von ihnen der rechte Arm ausgekugelt; sie versuchten, sich zu wehren und schrien vor Schmerz und Wut »Ihr Nazi­schweine!«. Unter den Jungs war damals mein Bruder, keine achtzehn Jahre alt.

Die sieben Jungs wurden zu Haftstrafen zwischen vier und elf Jahren verurteilt; die Delikte: Rowdytum, Besitz verbotener Texte, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Staatsverleumdung (»Nazischweine«). Das Strafmaß wurde willkürlich verteilt, nach einem Muster, bei dem stets einer zum »Rädelsführer« erklärt wird. Mein Bruder hatte »Glück«, er war nicht Rädelsführer und kam mit vier Jahren »davon«. Es handelte sich um eines jener zahlreichen Abschreckungs­urteile nach dem Mauerbau, die Jugendlichen signalisieren sollten: »Schaut her, so geht es jedem, der hier noch aus der Reihe tanzt!« Denn es war üblich, derartige Urteile in Zeitungen zu veröffentlichen — selbstverständlich nicht, was tatsächlich passiert war, sondern eine propagandistische Variante, die Lesern den Eindruck vermittelte, hier hätten »negative Elemente« versucht, den Staat zu stürzen.

Was aus den anderen Verurteilten geworden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, was aus meinem Bruder geworden ist: Da es in der DDR politische Gefangene prinzipiell nicht gab, steckte man ihn unter Schwerkriminelle. Weil aber Häftlinge mit politischen Delikten aus »erzieherischen Gründen« stets eine miesere Behandlung erfuhren als Kriminelle, kam er in die Mecklen­burger Haftanstalt Bützow, wo Sachsen von den Zellenmitbewohnern schon mal aus Gründen des fremden Dialektes mit Prügeln empfangen wurden. Aus dieser Haft kam mein Bruder seelisch zerstört zurück. Er fand sich in der Gesellschaft nicht mehr zurecht und nahm sich mit dreißig Jahren das Leben.

Nun also kam die damals verantwortliche Staatsanwältin, um sich zu entschuldigen. Sie zeigte ein Unrechts­bewußtsein für ihre Taten. Mein Vater erinnerte sich, sie sei furchtbar aufgeregt gewesen, hatte von schweren Zeiten gesprochen und ungerechten Urteilen. Das traf zu. Auch gehörte zum Unrechtsregime DDR, daß Polizisten prinzipiell nie vor Gericht standen und daß Prozesse gegen Andersdenkende von der herrschenden Partei über ein ausgewähltes juristisches Personal dirigiert wurden. Wie häufig in solchen Fällen, lief auch der Prozeß gegen die Dresdner Jugendlichen unter Ausschluß der Öffentlichkeit, bekamen meine Eltern kein schriftliches Urteil ausgehändigt. Das kannten wir bereits — auch als mein Vater 1953 für ein Jahr in Haft kam, gab es nichts Schriftliches in die Hand, nichts, womit verzweifelte Familien den westlichen »Klassenfeind« hätten informieren können.


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Nach diesem merkwürdigen Besuch war unsere Familie sich einig, daß wir die Frau nicht zur Verantwortung ziehen würden: Das Wort »Rache« ist uns fremd, und mein Bruder würde davon nicht wieder lebendig, daß wir eine alte Frau hinter Gitter brächten. Und hatte sie nicht ein Schamgefühl offenbart und begriffen, was sie und ihr Justizsystem Menschen angetan hatten?

In gewisser Hinsicht waren auch wir nach der »Wende« naiv: Mitte der neunziger Jahre tauchte die alte Dame plötzlich in einer Dresdner Zeitung auf, als PDS-Veteranin, mit kleinen roten Söckchen am Revers. Dort gab sie kund, wie menschlich und sozial die DDR war, bevor sie vom Westen annektiert wurde. Sie hatte meinen Vater aus einem einzigen Grund aufgesucht: Die Angst im Nacken, nun von der westlichen »Siegerjustiz« für ihre Untaten belangt zu werden, zielte sie auf eine Art »Persilschein«.

Derartige »Wendebiographien« sind mir seit dem Mauerfall mittlerweile zuhauf begegnet. Und ganze Kompanien von Richtern, Lehrern, Stasispitzeln und SED-Funktionären haben der gesamtdeutschen Öffentlichkeit inzwischen chorisch bekundet, sie hätten »niemandem geschadet«, garniert von den Sätzen, Westler könnten »sowieso nicht mitreden, sie hätten nicht in der DDR gelebt«, und »DDR-Biographien sollte man endlich als gleichwertig anerkennen«. DDR-Biographien? Hat denn eine ganze Bevölkerung gespitzelt, im Polizei- und Justizapparat gesessen oder in hohen Parteifunktionen?

Aufklärung scheint mir auch nötig zu sein, damit nicht länger Sätze nachgeplappert werden, die fern der Realität lagen, doch so lange in die Öffentlichkeit gestanzt wurden, bis der halbe Osten sie nachsang, zum Beispiel den Satz »Die DDR war sozial«. War sie das wirklich?

In der DDR, in der ich gelebt habe, bekam meine Großmutter, die vierzig Jahre lang als Köchin gearbeitet hat, also zur »Arbeiter­klasse« gehörte, und nebenbei noch allein zwei Kinder großzog, mit sechzig Jahren eine Rente von 178,30 Mark. Das reichte nicht einmal für Bohnenkaffee - ein Rentner, der sich solchen Luxus leisten wollte, mußte einfach weiterarbeiten. Und was ist daran sozial? Was war sozial daran. Behinderten nicht einmal eine Schräge zum Einkaufen zu bauen? Und was sozial, die Bürger einer Umweltverpestung auszusetzen, daß in manchen Gebieten fast alle Kleinkinder an Bronchialerkrankungen litten?

Oder nehmen wir den Satz »In der DDR hatte jeder Arbeit«. 

Er ist einer der zynischsten, die mir je untergekommen sind. Ich erwähnte bereits die drei Millionen Arbeitskräfte, die aus dem Land geekelt wurden (und die, das nebenbei, der westdeutsche Arbeitsmarkt verkraften mußte). Bei einer Bevölkerung von siebzehn Millionen führt ein solcher Aderlaß in reziproker Logik zu Arbeitskräftemangel - eines der Hauptprobleme der DDR, was übrigens auch den steten Kampf um die Geburtenrate erklärt, der die Familienrechtler der SED schon 1972 an die »sozialistische Familienmoral« appellieren ließ, wie der »Neuen Justiz« zu entnehmen war: »Der dauernde Verzicht auf Kinder, auch die gewollten Beschränkungen auf ein Kind, ist moralisch in der Regel nicht gerecht­fertigt und allzu oft Ausdruck einer kleinbürgerlichen Haltung.«


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Das Arbeitskräfteproblem hat die Genossen derart gebeutelt, daß sie schließlich ihre Grundaversion gegen alles Fremde und Exotische überwanden und Kontingente von Vietnamesen und Mosambikanem für niedere Arbeiten ins Land holten. Erinnern wir uns doch daran, unter welchen Bedingungen diese Ausländer leben mußten: Sie waren streng kaserniert, durften keine Gaststätte aufsuchen, und ihre Frauen mußten schon im Heimatland unterschreiben, in der DDR keine Kinder zur Welt zu bringen; sie standen unter Abtreibungs­zwang. Der heimliche Traum der Rechtsradikalen — in der DDR war er Wirklichkeit geworden. Soviel zu einem Staat, dessen Verteidiger sich heute so »links« gebärden.

Übertragen wir die Bedingungen des Satzes »In der DDR hatte jeder Arbeit« (bei denen ich gnädigerweise weggelassen habe, daß man sich seinen Arbeitsplatz nicht aussuchen konnte, sondern — je nach politischer Haltung — auf Arbeitsfeldern »plaziert« wurde) mal auf das heutige, vereinte Deutschland. Hier haben wir es mit einer Achtzig-Millionen-Bevölkerung zu tun.

Ekeln wir zunächst die »politischen Quertreiber« raus (die drei Millionen hochgerechnet ergibt für das gesamte Deutschland knapp fünfzehn Millionen). Sodann fliegen alle Ausländer raus — die Kontingente derer aber, die wir für niedere Arbeiten noch brauchen, werden kaserniert, ihre Frauen unter Abtreibungs­zwang gestellt. Wer würde es wagen, sich hinzustellen, die soziale Wärme in diesem Land zu loben, den fröhlichen Satz auf den Lippen, in Deutschland habe jeder Arbeit (was dann garantiert stimmen würde)?

Ich habe diese beiden - durch andere austauschbaren - Beispiele aufgegriffen, um Ihnen deutlich zu machen, daß der kritische Diskurs, ohne den Demokratie weder aufzubauen noch zu verteidigen ist, in den östlichen Bundesländern lahmt — nicht zuletzt, weil Scharen von kritischen Geistern aus dem Land getrieben wurden.

Vor lauter Freude, mit den Brüdern und Schwestern im Osten wiedervereinigt zu werden, haben westliche Politiker verpaßt, eine genaue Analyse der Situation und Gemengelage im Osten zu erstellen. Unbestritten haben sie eine enorme Hilfeleistung für den Osten in Gang gesetzt. Und ich werfe den Einheitsschmieden um Helmut Kohl und Theo Waigel nicht ihre im Schwung der Geschichtsfreude etwas zu großzügig versprochenen »blühenden Landschaften« vor, sondern die Vernachlässigung eines Faktors, dessen Folgen sie — bei genauem Hinschauen und nüchterner Vorausschau — hätten erkennen können: des Faktors, daß keineswegs alle in dieser Umbruchzeit am Gelingen der Demokratie mitzuwirken gedachten.


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Das Markenzeichen des »Mantels der Geschichte« zum Beispiel, der 1990 in den Osten flatterte, hieß »Buschzulage« — und leider war das Programm. Denn von den wenigen, wirklich glaubhaften Pionieren abgesehen, die sich mit Herzblut und Hinter­grund­wissen in die Arbeit stürzten, machten sich vor allem zwei Arten von Westlern über die Zone her:

Diejenigen, die man schon immer gern loswerden wollte und die nun mit besagter Buschzulage über die Elbe geschoben wurden. Meist ohne Kenntnis von der Problemlage vor Ort, doch nicht selten mit der stolz geschwellten Brust des Mittelmaßes, zeigten sie den Brüdern und Schwestern im Osten nun, wie man eine Schubkarre richtig anfaßt. Keineswegs alle haben Modell gestanden für den Begriff »Besserwessi« - und als positives Gegenbeispiel sei der demokratische Umbau des Sächsischen Justizwesens erwähnt. Doch waren es zu viele »Besserwessis«, als daß sie spurlos an der entwurzelten Ostseele hätten vorübergehen können. Und: Sie waren die ersten — wenn auch unfreiwilligen — Helfer einer Kaderpartei, die sich nun nicht mehr SED nannte, die jedoch jede Gelegenheit nutzte, um ihren Standardsatz »Seht ihr, liebe Ostler, wir haben es doch gleich gesagt!« unters Volk zu streuen.

Geradezu harmlos wiederum nahm sich der »Besserwessi« gegen einen Typus aus, den wir gesamtdeutsch »Konjunkturritter« nennen und der über Ländergrenzen hinweg stets einen Riecher dafür hat, wann und wo sich ein Haufen Indianer findet, dem man glitzernde Glasperlen andrehen kann. Das nun war ein Typus, den man im Osten nur aus Filmen kannte — deutliche Warnungen, Aufklärung und notfalls juristische Vorschaltungen wären hier vonnöten gewesen statt des Köhlerglaubens, es werde sich schon richten, wenn alle nur das Beste wollen. Schutzmaßnahmen für die ersten marktwirtschaftlichen Gehversuche im Osten sind leider auch dort unterblieben, wo die Interessenlage westlicher Industriehaie berührt war: Ich erinnere an den ersten FCKW-freien Kühlschrank der Firma Foron, dessen Entwicklung von Managern solange torpediert wurde, bis auch Siemens in der Lage war, diesen Kühlschrank zu bauen.

Ein ebenso schwerer Einheitsfehler wie die Unterschätzung der kriminellen Energie jenseits der Elbe war die Unterschätzung der kriminellen Energie im »Beitrittsgebiet« selbst. »Wissen Sie«, sagte mir kürzlich ein ehemaliger Mitarbeiter des Bonner Innen­ministeriums, »wir haben damals geglaubt, ein Funktionär im Osten, das ist in etwa dasselbe wie ein Beamter bei uns oder in Holland oder Belgien.« »Herzlichen Glückwunsch«, konnte ich da nur entgegnen, »daß Ihnen der Irrtum inzwischen aufgegangen ist. Leider etwas spät, die Genossen bedanken sich!« Diesen Irrtum müssen seit zehn Jahren die Ostler selbst ausbaden. Denn die eklatante Fehleinschätzung hat zu Weichenstellungen geführt, die schon bald bei der Besetzung öffentlicher Ämter, in Personalabteilungen und Arbeitsämtern, in der Wirtschaft und in Schulen des Ostens griffen.


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Sie lieferten die Basis für eine erneute, fast problemlose Besetzung wichtiger Schaltstellen durch die PDS und ihre Zuarbeiter in anderen Parteien. Für die Genossen war es eine der ersten, sich noch oft wiederholenden Erfahrungen, daß Demokratie etwas ist, wo die anderen vor allem schlafen.

Eine zweite Erfahrung der Genossen mit der Demokratie war, daß man sie komfortabel für eigene Zwecke nutzen kann oder nötigenfalls darüber hinwegsteigt. Als eine Art Muntermacher möchte ich daher an die stets etwas unterbelichtete Wirtschafts­kriminalität Ost erinnern:

Am 31. Mai 1990 beschließt die Volkskammer der (Noch-)DDR, das Vermögen von Parteien und Massen­organisationen unter treuhänderische Verwaltung zu stellen. Als Stichtag für die Vermögens­übersicht gilt der 7. Oktober 1989, die treuhänderische Verwaltung wird durch Minister­präsident de Maiziere einer sogenannten »Unabhängigen Kommission« übertragen — eine Kommission, die zunächst wenig durchschaubar ist. So fehlt gerade in der chaotischen Umbruchzeit jeder demokratische Kontrollmechanismus — ein guter Vorlauf für jenes schwer überschaubare Netz von Kadern und Funktionären, das den Unrechts­staat DDR zusammenhielt und das nun Wirt-schaftskrinünalität auf »Weltniveau« zu heben beginnt.

Eine führende Rolle unter den Geldwäschern nimmt die (sich über Nacht mit einem »Links«-Etikett versehende) SED ein. Am 17. Dezember 1989, dem Tag ihrer Umbenennung in SED/PDS, verfügt die Partei über einen Bargeldbestand von 6.100 Millionen Mark der DDR, dazu einen umfangreichen Immobilienbestand und zahlreiche parteieigene Betriebe. Dieser aus dem SED-Monopol und der Repression einer Bevölkerung erzielte Reichtum soll in Sicherheit gebracht werden — und möglichst bevor sich eine tatsächlich unabhängige Kommission an die Überprüfung macht.

Während sich die Genossen schon in der Wendezeit propagandistisch zum Vorkämpfer der DDR-Bürger aufschwingen, schreiben sie ein letztes Kapitel zum Thema »Internationale Solidarität«: In atemberaubenden Transaktionen passieren Gelder Deutschlands Grenzen, die später nur noch mühsam aufzuspüren sind, wenn überhaupt. Zügig und großzügig gehen Finanzmanager an die Verteilung: Einen Batzen von 75 Millionen Ostmark samt Immobilien in erstklassiger Lage erhält ein palästinensischer Waffen­schieber, Millionenbeträge verschwinden in einem griechischen Telekommunikations-konzern. Im Herbst 1990 wird der PDS-Schatzmeister Pohl wegen eines 105-Millionen-Transfers via Moskau verhaftet, und die 500 Millionen DM, die von der Firma Novum mit krimineller Professionalität quer durch Europa verschoben wurden, halten noch heute die Justiz in Atem. 

Parallel zum Millionenpoker schafft sich die PDS zwei Superreißwölfe zum Vernichten von Originalakten an, die am Ende 2.000 Papiersäcke füllen.


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Zur Geldwäsche kommt die Bilanzfälschung. Bei einem Parteibetrieb wurde im Frühjahr 1990 — von aus dem Ausland angereisten Buchhaltern — gleich die komplette Buchhaltung umgeschrieben. In diesem Fall spürt die »Unabhängige Kommission« später noch 400 Millionen DM auf. Als die Bundesregierung im März 1991 zu dem bis dahin noch immer fast geschlossenen Kreis von Genossen, der sich »Unabhängige Kommission« nennt, die ersten sechs wirklich unabhängigen Mitglieder hinzuberuft, sind große Teile des gewaschenen Geldes bereits auf Nimmerwiedersehen versickert.

Der »Treuhand« — der bis zu ihrer Auflösung 70 Prozent Ostökonomen angehören — wird nun ein mit der Materie vertrauter Westchef vorgeschaltet, der kurz nach Amtsantritt erschossen wird. Im Berliner Polizeipräsidium wird eine »Zentrale Ermittlungs­stelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität« (ZERV) eingerichtet — ausgestattet mit entschieden zu wenig Personal und zu geringen Mitteln angesichts einer mafiosen Verschiebe- und Verschleierungskultur, die in ihrer Totalität dem Staat gleicht, der diese Kräfte hervorbrachte.

Dennoch beginnt — wenn auch fast zu spät — nun eine ernsthafte Phase des Aufspürens von unrechtmäßig erworbenem Vermögen — konterkariert von theatralischen Auftritten der PDS, die mal einen »Hungerstreik« inszeniert, mal eine Medienkampagne über die Ausplünderung von Ostbürgern. Die Wut der scheinsozialistischen Genossen ist nicht ganz unbegründet. Denn nicht nur die Partei selbst, sondern auch ihre zahlreichen Massen- und Nebenorganisationen müssen einen Großteil ihrer meist noch in der Wendezeit erworbenen Millionen herausrücken, um sie erstmals wirklich der Bevölkerung im Osten zukommen zu lassen.

Die losgeeisten Gelder kommen nun vor allem dem Erhalt östlicher Kultursubstanz zugute. Hilflos zunächst stochern sich ZERV und Unabhängige Kommission durch ein undurchdringliches Genossen- und Aktendickicht, nicht selten stochern sie im Nebel. Denn nicht nur die PDS selbst hat Bilanzen gefälscht oder gleich ganz verschwinden lassen (wobei sich ihre Führer stets und in jeder Hinsicht ahnungslos geben!), auch ihre zahlreichen Nebenorganisationen wie Parteigewerkschaft, Jugendverband, Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Gesellschaft für Sport und Technik, Journalistenverband der DDR oder der Zentrale Ausschuß für Jugendweihe vertuschen und verschleiern in sozialistischer Geschlossenheit.

Und das ist die Crux dieses gigantischen Erbe-Pokers: Nicht einzelne sind hier am Werk, sondern ganze Bataillone der Einheits­partei sowie zuverlässige Kader aus dem Parteienspektrum der Nationalen Front. Daß diese gewaltige Personaldecke von demokratischen Politikern über Jahre hinweg ebenso sträflich unterschätzt wurde wie die russische Gemengelage von westlichen Kreditgebern, war für das ostdeutsche Genossenkartell geradezu ermutigend.

Zu diesem gehört selbstverständlich auch das Ministerium für Staatssicherheit. Erst im Januar 1991 beauftragt Innenminister Schäuble das Kölner Bundesverwaltungsamt, das Vermögen des ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit zu erfassen und zu sichern — auch hier mehr als ein Jahr Vorlauf für die mit mafiosen Tricks bestens vertrauten Genossen.


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Dennoch liegen der ZERV bereits 1993 mehr als ein halbes Tausend Fälle vor, in denen Ex-Stasileute sich in Höhe von mindestens 200 Millionen Mark aus schwarzen MfS-Konten bedient haben. Dazu wurden der halbe MfS-Fuhr-park verscherbelt, Grundstücke und konspirative Wohnungen, verwandelten sich marode Stasifirmen über Nacht in florierende GmbHs. 

Die sogenannten »Abschaltprämien«, die an knapp achtzig Spione der Hauptverwaltung Aufklärung für die Gesamtheit ihrer geleisteten Arbeit verteilt wurden, beliefen sich pro Kopf je nach Bedeutung der Person auf Summen zwischen 50.000 und einer Viertelmillion Ostmark. Das Geld gab es cash, teilweise antransportiert im Schuhkarton.

Und nicht zu vergessen beim Geldwäschepoker: die Auslandsfirmen des KoKo-Imperiums, mit dem DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski einst der »Creme des Sozialismus« kapitalistischen Wohlstand bescherte. Auch sie werden von alten Kadern in die neue Zeit hinübergerettet — ein Schattenreich ehemaliger KoKo-Firmen entsteht, in dem Millionen in dubiosen Briefkastenfirmen zwischen Finnland und Hongkong versickern. 

Nun, vor der Jahrtausendwende, sind etwa 2.600 Millionen DM aus Parteienvermögen sichergestellt, vermutlich nur ein Bruchteil dessen, was Genossen mittels GmbH-Gründung noch rasch in ihre Scheuer fahren konnten. Denn zwischen Januar und April 1990, als sich die deutsche Wiedervereinigung deutlich abzeichnet, kommt es in der gesamten DDR zu einer Gründungswelle von GmbHs.

Wer aber sind die Besitzer dieser neuen Privatunternehmen? In einigen Fällen handelt es sich tatsächlich um das Eröffnen einer Boutique oder eines Blumenladens durch Bürger, die etwas angespart oder geerbt haben. Der überwiegende Teil jedoch läßt einen anderen Zusammenhang erkennen. Hier lohnt ein stichprobenartiger Blick in die Statistik der GmbH-Gründungen vom Frühjahr 1990 in Ost-Berlin: Von rund 2 800 solcher Gründungen erweisen sich bei näherem Hinsehen 2 500 als Transaktionen, in denen SED/PDS, FDJ, FDGB und Ministerium für Staatssicherheit auf legale Weise Volkseigentum in ihre privaten Taschen umschaufelten. Allein in Berlin wurden von ehemaligen MfS-Mitarbeitern mehr als 400 GmbHs gegründet, mit so effektvollen Namen wie Effect Vermögensverwaltungs GmbH oder Oktogon Immobilien Vermittlung GmbH.

Und ein ähnlicher Privatisierungsboom zieht sich durch die gesamte Ost-Landschaft. Der GmbH-Coup reicht von Busunternehmen über Hotels und Verlage bis hin zu Buchläden: Die bisherigen leitenden Mitarbeiter werden über Nacht zu Chefs einer GmbH — und jeder DDR-Bürger weiß, wer zu DDR-Zeiten leitende Posten innehatte

Vor dieser Folie wirkt die Nachwendesorge einiger westdeutscher Politiker, die sogenannten DDR-»Eliten« würden ins Nichts gestoßen, geradezu beschämend. Das Startkapital für die neue Zeit in die »richtigen Hände« gelegt, verfügen die scheinbar gewendeten Genossen jedoch nicht nur über einen finanziellen Vorteil, sie behalten damit auch einen Großteil ihres politischen Einflusses.


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Dafür ein kleines Beispiel, welches bisher noch nicht einmal ein Debattenthema hergab: Über die gesamten neunziger Jahre hinweg konnte, wer durch die ehemals staatlichen Buchläden des Ostens (also die überwiegende Mehrheit der Buchläden) streifte, neben den umsatzfördernden Koch- und Reisebüchern oft eine sichtbare Überpräsenz von PDS-Autoren im Sortiment ausmachen — stapelweise Modrow, Gysi, Kant und Genossen, dazu Sympathisanten wie Schorlemmer ... PDS-kritische Autoren dagegen werden dem lesewilligen Kunden weitaus weniger angeboten — er soll die DDR-Vergangenheit und das vereinte Deutschland wieder so sehen wie Modrow, Gysi oder Kant. Das ist eine subtilere Art von Gehirnwäsche als zu DDR-Zeiten.

Diese wenigen Beispiele mögen die Schieflage in der Wahrnehmung eines komplizierten historischen Prozesses deutlich machen. Eine Schieflage, die sich auch darin zeigt, daß die bundesdeutsche Wirtschaft die Auslandsschulden der DDR in zweistelliger Milliardenhöhe zu verkraften hatte — jene Partei jedoch, die diese Misere angerichtet hat, 1990 wie Phönix aus der Asche steigt, nun im Kostüm der Demokratie, um über eine zehnjährige, facettenreiche Propagandaschlacht die Realität erneut auf den Kopf zu stellen. Wenn PDS-Chef Bisky zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls lautstark die »Beendigung der Verfolgung früherer DDR-Bürger« fordert, dann sollte man sein Gespür dafür schärfen, wen er wohl damit meint. Ehemalige DDR-Bürger werden plötzlich in Kollektivhaft genommen. Tatsächlich ist der Ost-West-Konflikt ein zum Teil künstlich geschulter; er dient ausschließlich jenen, die den Keil hineingetrieben und sich selbst in die große, unverdächtige Ostmasse eingenebelt haben, damit ihnen niemand mehr auf die Finger schaut.

Zehn Jahre Mauerfall — nur ein Gruselalmanach? Keineswegs. Der Transferdschungel läßt sich heute kaum noch lichten, hier handelt es sich um ein kriminelles Erbe, von dem ganz Osteuropa betroffen ist — Besitzstandswahrung durch ein Netz alter Kräfte, die in ihrer Dimension und dem über Jahrzehnte erworbenem Know-how in nichts zu vergleichen ist mit den im Verhältnis dazu lächerlich wirkenden Seilschaften in westeuropäischen Staaten.

Während der letzten Wochen habe ich über die osteuropäische Stimmungslage mit einem Priester aus Prag gesprochen, einem Studenten aus Budapest, einem Architekten aus Sofia. Und alle beneideten die Ostdeutschen darum, ein zweites, demokratisches Deutschland zu haben, das ihnen beim Transformationsprozeß zur Seite stand. Zugegeben, dieser Vorteil wurde zu wenig genutzt und vieles ist schiefgelaufen, aus den genannten Gründen. Hier ist Nachbesserung angesagt, eine höhere politische Wachsamkeit und eine parteiübergreifende Verteidigung der im Osten noch jungen Demokratie.

Lassen wir uns dabei nicht entmutigen. Der Demokratisierungsprozeß braucht Engagement — in allen Bereichen der Gesellschaft. Ein Blick auf die Entwicklung — gerade hier in Sachsen — zeigt, daß die Menschen auf dem richtigen Weg sind. Die Beschäftigungsquote der Frauen in meinem Heimatland Sachsen, so las ich letzte Woche, liegt mittlerweile bei 73,7 Prozent (zum Vergleich: in den westlichen Bundesländern liegt sie bei 60 Prozent). Die Fach- und Hochschulen haben einen bundesweit guten Ruf, und viele Unternehmen sind heute leistungs- und konkurrenzfähig. So erfreulich wie hier sieht es nicht überall aus im Osten. Auch deshalb komme ich gern nach Sachsen.

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Bürgerrechtlerin Klier rechnet mit der PDS ab

»Atemberaubender Geldpoker« der SED-Nachfolgepartei

Bericht in der Freien Presse am 16.12.1999   von Annette Spickhoff

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Freya Klier redet Klartext. Besonders, wenn es um die SED-Nachfolgepartei PDS geht. Wie jemand diese Partei, die die Ostdeutschen vierzig Jahre lang traktiert habe, noch wählen könne, das ist für Klier, eine der führenden Bürgerrechtler der ehemaligen DDR, schwer verständlich. »Plötzlich wird der Bürger nicht mehr — wie zu DDR-Zeiten — angeblafft, sondern die in PDS umbenannte SED gibt sich als dein Freund und Helfer.« Hier sei Aufklärung nötig, meint die gebürtige Dresdnerin, die am Dienstagabend [14.12.1999] im Rahmen der Ringvorlesung »1989/1990-1999/2000: Revolution in der DDR — und zehn Jahre danach« genau das tut: aufklären — und zwar ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sprüche wie »Die DDR war sozial« höre sie heute immer wieder. Viele verklärten die Vergangenheit, weil die Wirtschaftsflaute den Osten zur Zeit besonders treffe. Und weil sich nur noch wenige ernsthaft mit der DDR befaßten.

Was war denn an der DDR sozial? fragt die 49jährige, die 1968 nach einem Fluchtversuch zu sechzehn Monaten Haft verurteilt worden war, 1985 als Schauspielerin wegen ihrer kritischen Haltung zur Militarisierung der DDR Berufsverbot erhielt, schließlich 1988 erneut verhaftet und einen Monat später zwangsausgebürgert wurde. — Klier: »Rollstuhlfahrern wurde noch nicht einmal eine Schräge eingebaut, in manchen Gebieten waren fast alle Kleinkinder wegen der starken Umweltverschmutzung an den Bronchien erkrankt.« 

Und das waren noch die harmloseren Dinge, die die Autorin und Regisseurin anprangerte. Scharen von kritischen Köpfen seien aus dem Land getrieben worden, Ausländer, etwa die Vietnamesen, lebten einkaserniert, vietnamesische Frauen unterlagen dem Abtreibungszwang. »Ausländische Babys waren im Arbeiter- und Bauernstaat unerwünscht.«

Kritisch zieht sie den Bogen vom Fall der Mauer bis heute. Bei den Montagsdemos »floß Kerzenwachs statt Blut«, doch der spätere Schritt vom Mauerfall zur florierenden Bundesrepublik sei noch nicht gelungen. Dennoch ist sie der Überzeugung, daß der Umbruch einigermaßen bewältigt worden sei.

Doch zunächst herrschte in den neuen Ländern Ausnahmezustand. Die »Republik der Trabis und Kittelschürzen« stürzte sich in den Kaufrausch. Dann kam die Katerstimmung: Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Familien brachen auseinander, die Scheidungs- und Abtreibungsquote schoß in die Höhe. Jeder wollte seinen Platz in der neuen Gesellschaft finden — aber wo? Verunsicherung und Depressionen waren die Folge. Die psychische Betreuung sei lückenhaft gewesen, sagt Klier. 

Und genau in diese Lücke sei die PDS gestoßen.

Verschärfend hinzu kamen zwei Arten von Westlern, die mit »Buschzulage« in die neuen Bundesländer übersiedelten. Die einen seien gen Osten geschoben worden, weil die niemand mehr im Westen haben wollte, die anderen seien die »Besserwessis gewesen«, meint die 49jährige. Frei nach dem Motto »ich schenke den Indianern Glasperlen« kamen sie. Auch das ging nicht spurlos an den ehemaligen DDR-Bürgern vorbei — und förderte nach Ansicht von Klier wiederum den Zuwachs der PDS. Die habe bereits prächtig vorgesorgt: Wichtige Schaltstellen seien von Parteimitgliedern besetzt worden. »Die führende Rolle unter den Geldwäschern übernahm die PDS.« Ein atemberaubender Geldpoker begann laut Klier: 6.100 Millionen Ostmark, dazu zahlreiche DDR-Betriebe und Immobilien — alles in vierzig Jahren DDR dem Volk abgepreßt — seien versickert. »Das meiste Geld gelangte ins Schattenreich von Briefkastenfirmen und neu gegründeten GmbH.« Nur 2.600 Millionen Ostmark aus dem Parteivermögen wurden sichergestellt.

Von einem Zuhörer auf ihre Fehde mit Gregor Gysi angesprochen, lacht Freya Klier: »Ich bin stolz darauf, daß Gysi und Bisky mit mir nicht mehr bei Diskussionen vor die Kamera treten.« Sie würden wohl ihre Argumente scheuen. Der PDS-Fraktions­vorsitzende hatte Klier bereits zwei Mal verklagt, weil sie ihn als »Handlanger des alten Systems« bezeichnet hatte, der »im Auftrag von Partei und Staatssicherheit« die Opposition bespitzelt hat. Gysi verlor beide Prozesse.

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Eckhard Jesse (Hg) Eine Revolution  und ihre Folgen (2000) 14 Bürgerrechtler ziehen Bilanz  Mitschriften einer Vortragsreihe  an der TU Chemnitz im Jahr 1999