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10.  Fazit 

(Dr. Käbisch 2007)

 

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Pfarrer Rolf Günther verbrannte sich am 17. September 1978 in Falkenstein während des Gottesdienstes selbst, eine Verzweiflungstat in der Kirche, vor dem Altar, vor den Augen der eigenen Gemeinde, anstelle der Predigt — es war ein Fanal.

Die Selbstverbrennung belastete das oft beschworene gute Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR, so dass beide Seiten — wenn auch aus sehr unterschiedlichen Motiven — daran interessiert waren, den Fall Günther nicht an die Öffentlichkeit zu bringen. Die vorliegende Studie rekonstruiert diese Episode der sächsischen Kirchengeschichte und ordnet sie in die politische, kirchliche und religiöse Situation der 1978er Jahre ein.

Im Unterschied zur Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz erhielt dieses Fanal bisher kaum wissenschaftliche, öffentliche und kirchliche Beachtung. Brüsewitz' Suizid wurde von vielen als politische Symbolhandlung, die die DDR-Missstände anklagte, verstanden und öffentlich gemacht, so dass an das Fanal ständig und in unterschiedlichster Form erinnert wurde, und es somit nicht in Vergessenheit geriet. In diesen Zusammenhang gehören das Brüsewitz-Zentrum, das Mahnmahl auf dem Marktplatz in Zeitz, Gedenkgottesdienste und Fachtagungen, die den Flammentod thematisierten. Medien berichteten immer wieder davon, Dokumentationen wurden erstellt, Bücher geschrieben und Fernsehfilme gedreht. 

Die Erinnerung an seinen Selbstmord wurde über Jahrzehnte wach gehalten, und beeinflusste und veränderte zunehmend das Denken vieler. Sein Name wurde zu einer historischen Größe, und Brüsewitz erhielt einen festen Platz in den Geschichtsbüchern. Im Laufe dieser 31 Jahre konnte sich die Kirche diesem öffentlichen Druck nicht mehr entziehen, und es kam zu einer Haltungs- und Sinnesänderung.

Dagegen klagte das Fanal Günthers keine politischen, sondern kirchliche Missstände an und geriet in Vergessenheit. Es scheint sogar, dass sein Name aus dem Bewusstsein der Kirche gelöscht werden und seine Anklage "Wacht endlich auf!" für immer ungehört bleiben sollte. Jedoch begann Ende der 1990er Jahre der Freundeskreis öffentlich an seine Verzweiflungstat zu erinnern. Seitdem die Möglichkeit der Akteneinsicht besteht, bemühte sich auch der Verfasser kontinuierlich, diesen Selbstmord zu hinterfragen, wissenschaftlich aufzuklären und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Günther darf nicht dem zweiten Tod des Vergessens anheim fallen, denn dann hätten diejenigen gesiegt, die ein Mobbing bis hin zum Suizid des Opfers betrieben haben — die elitären Kreise der Volksmission. 

Aber auch diejenigen, die seine Verzweiflungstat benutzten, um neue Methoden der Kirchenbearbeitung einzu­leiten — die Stasi. Sie nahm das Fanal zum Anlass, geheimdienstlich in die Kirche einzudringen, auf sie einzu­wirken und sie im Sinne des Staates langfristig zu verändern. Mit dem Fanal begann eine neue Ära der konspirativen Kirchenbeeinflussung — besonders für die sächsische Landeskirche. Die Folgen dieser Beein­flussung müssen noch gewissenhaft weiter untersucht werden.


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Zum 30. Todestag von Oskar Brüsewitz (2006) wurde in der Zeitzer Michaeliskirche ein Gedenkgottesdienst abgehalten.
Anschließend legten Axel Noack, Landesbischof der Kirchenprovinz Sachsen und Reinhard Voirzsch, Superintendent von Zeitz, einen Kranz am Mahnmahl vor der Kirche nieder.
(Foto: Harald Krille)

 

Im Rückblick kann die Situation in der DDR für die mangelnde Aufarbeitung verantwortlich gemacht werden, doch jetzt — fast 18 Jahre nach der politischen Wende von 1989 — scheint die Zeit reif zu sein, diese Ereignisse und das schwierige Staat-Kirche-Verhältnis zu rekonstruieren, damit das Fanal von Falkenstein nicht zu dem wird, was die damaligen Machthaber mit ihren konspirativen Aktivitäten beabsichtigten: Das schnelle und folgenlose Vergessen einer Einzeltat.

Dazu kommt noch, dass sich immer noch Pfarrer öffentlich selbst verbrennen und neue Fanale des Protestes etrichten.734 Es scheint, diese Art der Selbsttötung bestimmt das Denken etlicher evangelischer Pfarrer, und die Selbstopferung wird als Martyrium, das Gott fordere und von ihm belohnt werde, angesehen. Dieser Irrglauben kann nur deshalb gedeihen, weil die bisher geschehenen Selbstverbrennungen weder seelsorgerlich noch theologisch aufgearbeitet wurden.

Die vorliegende Studie beschreibt einen Ausschnitt des Kirchenkampfes, der im SED-Staat mit offiziellen und inoffiziellen Mitteln verdeckt geführt wurde.

 

734)  Pfarrer i. R. Roland Weisselberg verbrannte sich am 31.10.2006 (Reformationstag) vor der Kirche im Erfurter Augustinerkloster selbst. Er wählte diesen Tag und Ort als Zeichen seines Protestes: Die Kirche wendete sich zu wenig gegen den sich ausbreitenden Islam. Seine letzten Worte seien „Jesus und Oskar" gewesen. Aus: Der Sonntag Nr. 46 vom 12.11.2006, S. 2; idea Spektrum Nr. 46 vom 15.11.2006, S. 12 und

wikipedia  Selbstverbrennung 

Am 26.11.2006 (Ewigkeitssonntag) fand im Augustinerkloster ein öffentliches Gedenken statt. Etwa zwanzig Anteilnehmende legten Blumen und Gebinde nieder. Kerzen wurden zum Gedächtnis entzündet und in der Kirche wurde eine Andacht gehalten. Aus: E-Mail am 29.11.2006 von Peter Hild; Archiv Käbisch.


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Zum Ewigkeitssonntag im Jahr 2006 wurde dieses Plakat im Augustinerkloster Erfurt angebracht.
Es erinnert an die drei ev. Pfarrer, die sich selbst verbannten:
Oskar Brüsewitz, Rolf Günther und Roland Weisselberg (Foto: Peter Hild).

 

Nach der Selbstverbrennung drang die Stasi mit neuen Bearbeitungsmethoden in die evangelische Landeskirche Sachsens und in die Frömmigkeit der Gläubigen ein, um den Einfluss der Kirche und Christen innerhalb der DDR zurückzudrängen. Die Kirche galt als Feind im eigenen Land, denn sie sei ein Überbleibsel einer überholten Gesellschaftsordnung, und in ihr könne die imperialistische Ideologie eine Plattform bilden. Das Fernziel des SED-Regimes war, die Kirche abzuschaffen und den Glauben auszurotten.

Es wird deutlich, dass die DDR ein Willkür- und kein Rechtsstaat war. In ihr konnten keine Rechte eingeklagt werden. Entfaltungsmöglichkeiten für die Kirchen hingen stets vom Wohlwollen des Staates ab.

So konnte die Stasi in den Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt Referenten für Kirchenfragen lancieren, die zugleich Stasi-Offiziere im besonderen Einsatz waren, um an dieser sensiblen Verbindungsstelle zwischen Staat und Kirche ihre Differenzierungs- und Zersetzungsmethoden auftragsgemäß zu entfalten. Die Methoden der Stasi beruhten auf einem perfekt aufgebauten und abgestimmten Zusammenspiel aller staatlichen und gesellschaftlichen Kräfte. Die Differenzierungs- und Zersetzungsmethoden wurden von der Stasi konzipiert und koordiniert, mussten aber stets in Abstimmung mit den SED-Führungskadern erfolgen, worin die Allmacht der Partei erkennbar wird. 

Die Kirche war die einzige nicht gleichgeschaltete Institution, und unter ihrem Dach versammelten sich zunehmend Menschen, die nach Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Beachtung der Menschenrechte und Glaubensfreiheit strebten, und die die DDR verändern wollten. Sie bildeten Basisgruppen und übten damit Druck auf die SED-Führung aus. Deshalb musste die Kirche mit allen Mitteln beeinflusst werden, um möglichst viele kirchliche Mitarbeitern zu einem staatskonformen Verhalten zu führen. Diese sollten dann von sich aus die feindlich-negativen Kräfte (wie die Andersdenkenden bezeichnet wurden) innerhalb der Kirche bekämpften und ausschalten. Dabei wurde mit Bestechungsmethoden gearbeitet. 


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Diese Denk- und Handlungsweise der Machthaber unterstreicht, dass die DDR eine Diktatur war, die keine demokratischen Grundrechte zuließ. So wurden kirchenspezifische Bearbeitungsformen der Stasi, die ein komplexes Geschehen waren, eingeführt und mit großem Aufwand betrieben. Dafür wurden Stasi-Mitarbeiter in den neusten psychologischen Erkenntnissen, die an der Stasi-Hochschule Potsdam-Eiche als operative Psychologie gelehrt wurden, ausgebildet.

Die Erforschung dieser Ereignisse bringt auch die Verlogenheit des SED-Staates ans Licht: Für die Welt­öffentlichkeit wurden Glaubens- und Gewissensfreiheit propagiert, doch tatsächlich wurde die Kirche wie ein Feind behandelt und bekämpft. In diesem Spannungsfeld hat sich ein undurchsichtiges, doppelbödiges und zwielichtiges Geflecht der Staat-Kirche-Beziehungen entfalten können.

Die vorliegende Studie konnte als Quellen nur auf die staatlichen Archive zurückgreifen. Dadurch konnte keine umfassende Beschreibung des Fanals von Falkenstein vorgenommen werden, die beispielsweise auch die Perspektive der Landeskirche Sachsens einbezieht. Wenn eine kirchliche Haltungs- und Sinnesänderung eintritt, und die Aktenbestände des sächsischen Landeskirchenamtes und die Archivalien der Kirchgemeinde Falkenstein eingesehen werden können, wird die Studie an historischer Tiefenschärfe gewinnen. Durch einen Quellenvergleich kann die Darstellung in vielen Details präzisiert werden und muss sicherlich auch an einigen Stellen modifiziert werden, denn die erhalten gebliebenen Akten des SED-Staates spiegeln nur die Denk- und Handlungsweise der DDR-Machthaber wieder. 

Die Darstellung dieser einseitigen Sichtweise war zwar ein bedeutender, aber eben nur ein Teil der DDR-Wirklichkeit. So soll die Studie nicht der Eindruck vermitteln, dass während dieser Zeit die evangelische Landeskirche Sachsens nur aus vielen auffälligen Pfarrern und Mitarbeitern bestanden habe, die ihrem eigentlichen Verkündigungsauftrag und ihrer Dienstpflicht nicht nachkamen. Die Kirche war nicht nur ein Raum für im Glauben verbundene Gleichgesinnte, sondern sie war die einzige Stätte in der DDR, die Andersdenkende als mündige Bürger aufnahm, ihre Ideen entfalten ließ und ihnen ein juristisches Dach gab. So wurde sie zu einer Art Katalysator und Inspirator der friedlichen Revolution von 1989.

Pfarrer Günther wurde vom Bischof in die Kirchgemeinde Falkenstein entsandt, in der sich eine volks­missionarische Frömmigkeit entwickelt und ausgebreitet hatte. Diese entsprach nicht Günthers Vorstellungen. Als Pfarrer Gneuß, ein begabter Vertreter und Verkündiger der Volksmission, in die Gemeinde kam, stießen zwei konträre theologische Positionen aufeinander. Günther und Gneuß besaßen unversöhnliche Glaubensüberzeugungen und waren der Ansicht, der jeweils andere vertrete eine Irrlehre, die konsequent bekämpft werden müsste. Ein landeskirchliches Lehrzuchtverfahren, das die Hinweise einer sektenähnlichen Frömmigkeit bzw. Irrlehre untersuchen sollte, wurde nicht durchgeführt. Stattdessen ließ man die aufgebrochenen Konflikte laufen — ein Zeichen kirchlicher Führungsschwäche.


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Als sich der Falkensteiner Kirchenvorstand auf Anraten der Kirchenleitung gegen Pfarrer Günther entschied und durch einen Kirchenvorstandsbeschluss das kirchen-juristische Verfahren der Nichtgedeihlichkeit einleitete, wollte Günther mit dem Akt der Selbstverbrennung ein sichtbares Glaubenszeichen setzen:

 

Günther verzweifelte an der Realpolitik der Amtskirche. Als ordinierter Pfarrer legte er testamentarisch fest, dass er nicht nach der Ordnung der Kirche beerdigt werden sollte. Auch die entrollte Losung: <Wacht endlich auf!> war sein letzter Aufschrei, weil er in Falkenstein eine Gemeinschaft ohne Seelsorge, Recht und Ordnung erlebte. Er hoffte, sein Flammentod würde eine Initialzündung sein, so dass die Institution Kirche aufwachen und ihr Versagen in Falkenstein erkennen werde. Dann werde ihm posthum Recht gegeben, und er werde als Sieger vor der Welt dastehen, weil er sich für das reine Evangelium eingesetzt habe. 

Auch die Stimmen, die während der Selbstverbrennung spontan und laut ausriefen, "Ihr habt ihn umgebracht", weisen darauf hin, dass Gemeindeglieder genau wussten, was sich im Hintergrund der Kirchgemeinde abspielte. Doch hat sich während der staatsanwaltlichen Untersuchung niemand aus der Gemeinde öffentlich zu den Hintergründen oder möglichen Ursachen geäußert. 

Es ist anzunehmen, dass die Lobby gegen Günther einen großen Einfluss besaß, der nach der Selbstverbrennung weiter zunahm. Kein Falkensteiner brachte bis heute den Mut auf, öffentlich gegen bestimmte Entwicklungen der Volksmission aufzutreten.735  

Günther fühlte sich zunehmend als einziger Verfechter des wahren evangelischen Glaubens, aber er entwickelte keine Strategie, um seine Überzeugung wirksam durchzusetzen. Seine Selbstverbrennung, die er heimlich vorbereitete, sollte ein Protest sein, der nicht wie bei Brüsewitz nach außen gerichtet war (weil sich die Kirche gegenüber dem kommunistischen Staat zu lasch verhalten würde), sondern nach innen, weil die Kirche nicht nach dem Evangelium lebe und falsche Lehren dulde.

Günther sah nicht, dass sich die Chemie in der Gemeinde, in die er entsandt wurde, verändert hatte und nicht mehr stimmte. Er war selber zu eigenwillig, intolerant und stur, um die innere Größe aufzubringen, freiwillig die Falkensteiner Gemeinde zu verlassen.

735)  Nach einem Vortrag des Verfassers am 15.10.1998 im „Bunten Zentrum" in Zwickau kam es zu einem Gespräch mit einem Falkensteiner, der Günther und die Praktiken der Volksmission gut kannte und Zeuge jener Ereignisse gewesen war. Er schilderte mir im Vertrauen seine Sichtweise. Sollte er persönlich identifizierbar sein, bedeutete das seinen Ruin, weil er der gängigen Meinung widerspräche. Er würde sich damit selbst zu einem Ausgestoßenen machen. Falkenstein sei ein „vogtländisches Dorf, wo jeder auf den anderen angewiesen sei.


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Hätte er die Gemeinde gewechselt, wären ihm seine lebensnahe Theologie und seine Erfahrungen der Gemeinde­arbeit von Nutzen gewesen. An einem anderen Ort wären seine Arbeit und sein Wirken vielleicht zu einem Segen geworden. Seine Selbstverbrennung war zwar eine Verzweiflungstat, die aber letztlich ein unverantwortlicher Selbstmord war, denn er gefährdete Hunderte von Gottesdienstbesuchern. Der Suizid kann theologisch nicht verantwortet werden. 

Er war nicht die Tat eines Helden oder Märtyrers, aber dennoch ein Fanal. Günther liegt bis heute vor der „Tür der Kirche", wie es damals der spätere sächsische Landesbischof und damalige Landesjugendpfarrer Volker Kreß, schrieb.

 

Die Studie belegt auch die politische Dimension der Selbstverbrennung. Die DDR-Staatsführung forderte, dass es ein „zweites Brüsewitz" mit einer vergleichbaren Öffentlichkeitswirkung nicht geben dürfte. Mit Hilfe der Stasi konnte erreicht werden, dass die Kirche die Tat als innerkirchliches Problem deklarierte. Die sächsische Landeskirche

Was SED-Staat und Stasi damals wollten, ist eingetreten: Es kam zu keiner öffentlichen Diskussion über das Fanal und seine Auswirkungen. Die Landeskirche Sachsens wurde auf diese Weise — wenn auch unfreiwillig — zu einem Erfüllungsgehilfen des SED-Staates, wobei man ihr das Gefühl gab, gleichberechtigter Partner zu sein. Tatsächlich hat das SED-Regime die Ereignisse von Falkenstein jedoch dazu benutzt, effektiver gegen die Kirchen vorzugehen und deren Einfluss zurückzudrängen.

Mit konspirativen Mitteln erforschte und analysierte die Stasi die Ursachen und Hintergründe der Falkensteiner Selbstverbrennung, doch behielt sie die Erkenntnisse streng für sich. Lediglich der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung wurde über den offiziellen Sachstand informiert. Mit dem erlangten Sachwissen drang die Stasi mittels operativer Maßnahmen und konspirativer Mittel in die inneren Angelegenheiten der Kirche ein. Sie beschaffte sich Informationen über die Zustände der Falkensteiner Kirchgemeinde, die Frömmigkeitsstruktur der Volksmission und die Schwachstellen der sächsischen Landeskirche. 


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Diese Informationen wurden mit dem Ziel gesammelt, verdichtet und ausgewertet, besser und effektiver auf die Kirche und ihre Mitarbeiter Einfluss nehmen zu können. Sie sollten gezwungen werden, nur kultische und religiöse Aufgaben auszuüben, sich mit ihren eigenen Problemen zu beschäftigen und „reaktionäre" Kreise zurückzudrängen und zu disziplinieren. Die Kirche sollte geschwächt werden und in der Bedeutungslosigkeit versinken. Eine gesellschaftliche Verantwortung durfte sie nicht übernehmen. So wurde die Selbstverbrennung als Vorwand genutzt, in der Kirche einen geplanten Differenzierungsprozess zwischen „progressiven" und „feindlich-negativen" Kräften zu forcieren und damit eine langfristige Zersetzungsarbeit einzuleiten. Für diese Aufgabenstellungen haben sich Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter als IM einsetzten lassen bzw. sie haben sich wie IM verhalten. Nur mit deren Hilfe und Unterstützung konnte der Differenzierungs- und Zersetzungsprozess eingeleitet, umgesetzt und durchgeführt werden. Für diese Arbeit erhielten sie materielle Vergünstigungen und Geschenke, staatliche Auszeichnungen, Reisen und Orden.

Seit dem Jahr 1978 kann im Bezirk Karl-Marx-Stadt eine neue Methode der Stasi-Bearbeitung an kirchlichen Mitarbeitern nachgewiesen werden. Sie war 1989 soweit ausgereift, dass sie für die ganze DDR zum Beispiel werden sollte.736 Diese neue Form der Kirchenbeeinflussung wurde nach den direkten Weisungen des BV-Leiters, Siegfried Gehlert, durchgeführt. 

So wurden die Referenten für Kirchenfragen von der Stasi mit neuen Aufgabenstellungen und Machtbefugnissen ausgestattet. Sie waren als IM verpflichtet oder als Offiziere im besonderen Einsatz in diese Funktion lanciert. Der Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt war im Sektor Kirchfragen fast nur mit solchen Offizieren besetzt, die bis zum Ende der DDR die Weisungen der Stasi konsequent umsetzten. Damit können drei Hypothesen aufgestellt werden:

  1. Der Sektor Kirchenfragen war eine Außenstelle der Stasi, oder wie es der OibE Steffen Klemm formulierte, „die Referenten für Kirchenfragen waren der verlängerte Arm der Stasi".737)

  2. Die Dokumente, die im sächsischen Staatsarchiv vom Sektor Kirchenfragen erhalten geblieben und archiviert sind, sind Stasi-Dokumente.

  3. Die Gespräche mit den Referenten, die die Vertreter der Kirchenleitung, Superintendenten, Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter führten, waren Stasi-Gespräche.

Doch belegen diese Dokumente und Gespräche auch, wie wichtig die Kirche genommen wurde — besonders die Basisgruppen, die in der evangelischen Kirche ein schützendes Dach fanden.

Die Stasi hat mit ihren Referenten sowohl die Kirche als auch die Staatsorgane getäuscht. Offiziell kannte keiner die wahre Identität der Referenten und deren Auftraggeber. Die Vertreter der Kirche sahen in ihnen die legitimen Vertreter des Staatsapparates.

736)  Rede Mielkes zur Dienstbesprechung beim Minister, Berlin 31.8.1989; BStU, MfS, ZAIG, B/215; Mitter/Wolle: Ich liebe euch doch alle!, S. 113 ff.
737)  Gesprächsnotizen mit Klemm vom 15.4.2002, Archiv Käbisch.


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Die Meisten ahnten in den Begegnungen und Gesprächen nicht, dass sie abgeschöpft und ihre Informationen sofort der Stasi übermittelt und ausgewertet wurden, um sie dann gegen die Kirche zu benutzen. So ähnlich erging es den Vertretern der Staatsorgane.

 

Zur neuen Methode der Bearbeitung durch die Stasi konnte recherchiert werden, dass zu „progressiven" Pfarrer und kirchlichen Mitarbeitern ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wurde. So wurde versucht, diese in einer Weise zu führen, dass sie im Sinne des Staates handelten, bestimmte Aufträge ausführten, und freiwillig Informationen oder Dokumente lieferten. Für die erbrachten Dienste und Leistungen empfingen sie Vergünstigungen. Konspiration wurde vorausgesetzt und erwartet, weil die Pfarrer nach ihrem Ordinationsgelübde der Verschwiegenheitspflicht unterlagen. Bei den Gesprächen zwischen den Referenten für Kirchenfragen und den Pfarrern oder kirchlichen Mitarbeitern wurde vorausgesetzt, dass jeder den anderen vertrauen kann. 

Die Stasi-Mitarbeiter waren jedoch für diese Gespräche psychologisch und theologisch geschult, ausgebildet und trainiert worden. Die Blauäugigkeit und Einfältigkeit vieler kirchlicher Mitarbeiter wurde ausgenutzt. Von jedem Gespräch, das staatlicherseits fast immer gut vorbereitet war und über jede Begegnung mussten Protokolle angefertigt werden, die dann analysiert und ausgewertet wurden. Über diese vielfältigen Kontakte mit den Staatsorganen wird innerhalb der Kirche bis heute kaum öffentlich gesprochen, so dass sich der Eindruck verfestigt, die Täter würden geschützt und das geschehene Versagen verdrängt.

Die folgende kurze Auflistung soll veranschaulichen, dass die Stasi und die Referenten für Kirchfragen die gleiche Methode anwandten:

 

Kriterien der Stasi bei IM-Tätigkeit 

Kriterien der Referenten für Kirchenfragen bei progressiven Pfarrern

Verpflichtung
Konspiration 
Berichte, Informationslieferungen, Auftragserfüllung
 
Vorteilsnahme 

freiwillige Kontakte zum Referenten
vertrauliche Gespräche
Informationsmitteilungen, Materialübergabe, Abschöpfung
Vergünstigungen, Zuwendungen, Vorteilsnahme

 

Die Referenten verwandten die gleichen Begriffe wie die Stasi für die Einteilung der kirchlichen Kräfte:

 

738)  Die Dreiteilung der Pfarrer war bereirs eine Nazi-Methode. In einem Gestapo-Bericht vom 6.11.1939 wurde festgehalten: „Die Priesterschaft beider christlicher Kirchen zerfällr etwa in drei Gruppen. Die erste Gruppe [...] bemüht sich um eine positive Einstellung [...] Der zweite Teil zeigt sich [...] nach außen uninteressiert [...] Ein dritter Teil betätigt sich mehr oder weniger zersetzend und gegnerisch". Aus: Adolf Diamant: Gestapo Leipzig, S. 119. Diese Information übermittelt mir Matthias Kluge in seinem Brief vom 25.11.2006; Archiv Käbisch.


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Die IM-Tätigkeit der kirchlichen Mitarbeiter wurde in der sächsischen Landeskirche durch die freiwillige Überprüfung behandelt und 1995 offiziell abgeschlossen. Jedoch wurde das kirchenschädigende Verhalten der Referenten für Kirchenfragen, die Kirchenleitungsmitglieder, Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter konspirativ beeinflusst und bestochen hatten, weder thematisiert noch aufgearbeitet. Festzustellen ist, dass deren Verhalten Vertrauens­missbrauch und Verrat war und die Arbeit der evangelischen Kirche langfristig geschädigt hat. 

Dieses Kapitel der DDR-Kirchengeschichte ist auch mit dem Abschlussbericht des sächsischen Stasi-Bewertungsausschusses nicht abgeschlossen und muss auch in Zukunft erforscht und öffentlich gemacht werden.739 Wenn das nicht geschieht, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die von der Stasi initiierten Mechanismen der Zersetzung unbewusst weiterwirken, was zu den Langzeitfolgen der Stasi gehört.

Wünschenswert für die weitere Arbeit ist dabei, dass auch kirchliche Archive ihre Aktenbestände für die Forschung zugänglich machen und innerhalb der Landeskirche eine aktiv-offensive Aufarbeitung dieser Vergangenheit vorgenommen wird. Die Diskussion sollte nicht nur an den Universitäten und in den Medien, sondern auch in den Gemeinden — insbesondere in Falkenstein — stattfinden.

Wenn der mühsame, ehrliche und oft bittere Weg der Aufarbeitung beschritten wird, dann besteht die Hoffnung, dass die Kirche glaubwürdiger und ihr neues Vertrauen entgegengebracht wird. Wird nach dem Grundsatz: <Zur Zukunft gehört die Erinnerung>740 gehandelt, könnte der Weg eines Neubeginnes beschritten werden und ein heilender Prozess der Versöhnung beginnen. In dem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, ob das noch heute praktizierte kirchliche Verfahren der <Nichtgedeihlichkeit>741 dem Grundgesetz der Bundesrepublik entspricht.

 

739)  In Sachsen sollen ca. 90% der Pfarrer ihre Zustimmung zur freiwilligen Überprüfung gegeben haben. Es wurde ein unabhängiger Stasi-Bewertungsausschuss der Landeskirche ins Leben gerufen, der die eingegangen Akten der Bundesbehörde prüfte und die Belastung jener Pfarrer feststellte. Das Ergebnis wurde dem Landeskirchenamt mitgeteilt, um dienstrechtliche Maßnahmen zu ergreifen. Im Abschlussbericht des sächsischen Stasi-Bewertungsausschuss vom 1.10.1995 steht, „wir haben die große Hoffnung, daß die oben geschilderten Beobachtungen über kirchliches Miteinander (dienstlich und privat) keine allgemeinen Erscheinungen sind. Dennoch meinen wir, daß darüber eine offene, umfassende und auf das Wohl der Kirche und des einzelnen bedachte Diskussion in den zuständigen Gremien und vor allem untereinander in Gang kommen soll. Das ist im Hinblick darauf unabdingbar, daß die Kirche wieder zu einem Raum für Vertrauen wird und ihr verloren gegangenes Ansehen wiedergewinnt." Überprüfungen auf Stasikontakte in den östlichen Gliedkirchen der EKD; Zeichen der Zeit, Beiheft 1, 1997, S.27 ff. 

740)  Unter dieser Überschrift arbeiteten Religionsschüler des Gerhart-Hauptmann- und Clara-Wieck-Gymnasiums in Zwickau in den Schuljahren 2004 bis 2006 das kirchliche Verhalten in den beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf.

741)  Kirchengesetz zur Regelung des Dienstes der Pfarrer und Pfarrerinnen in der VELKD vom 17.10.1995; im Amtsblatt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, 30.11.1995 Nr. 22/A 202, § 86. Dieses Verfahren führt häufig zu Mobbing, bei dem eine Weiterarbeit der Pfarrer/innen oder kirchlichen Mitarbeiter/innen wie bei Pfarrer Günther innerhalb der Kirchgemeinde unmöglich wird. Um solchen Menschen beizustehen, wurde der Verein DAVID eV gegen Mobbing in der Evangelischen Kirche gegründet. Website: www.david-uwd.de.

  

Silberschmied Mathias Heck fertigte dieses Kruzifix für die Friedhofskapelle in Falkenstein an. 

Es sollte dort hinter dem Altar angebracht werden. 

Nach Fertigstellung lehnte der Kirchenvorstand den Kauf ab, weil der Körper Jesu an den Flammentod Rolf Günthers erinnert. 

Auch das kostenlose Anbringen des Kruzifixes wurde abgelehnt. Seitdem hängt es in Hecks Werkstatt auf dem Wasserschloss Chemnitz-Klaffenbach.

 

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Ende

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