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Wie ein Mann entsteht
Teil 1
Einladung zu einer Reise
Kapitel 1
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Als ich siebzehn geworden war, fühlte sich alle Welt — meine Mitschüler, meine Familie und die Gesellschaft im allgemeinen — dazu berufen, mir zu verstehen zu geben, was ein »richtiger Mann« ist.
Danach mußte man:
Einer Studentenverbindung beitreten.
Mitglied der Football-, Baseball- oder Basketballmannschaft werden.
Mit vielen Mädchen schlafen.
Sich nichts gefallen lassen (Schlag zu, wenn irgend jemand dich oder deine Freundin beleidigt!).
Keine Gefühle zeigen.
Literweise Bier trinken (es war noch vor der Drogenzeit).
Anständig bleiben (Beteilige dich nicht an Schlägereien und trinke keinen Alkohol!).
Das richtige Zeug tragen — nämlich dasselbe wie alle anderen: Mokassins usw.
Sich einen guten Job suchen, hart arbeiten und eine Menge Geld verdienen.
Sich einen eigenen Wagen anschaffen.
Dafür sorgen, daß andere einen mögen, beliebt sein.
Meine Großmutter schenkte mir eine Bibel und dazu eine Karte, auf der stand: »Lies jeden Tag darin, mein großer Junge — dann wird aus dir ein richtiger Mann.«
Ich hatte das Gefühl, daß es wahrscheinlich mein Schicksal war, nie ein Mann zu werden. Ich trank, rauchte und fluchte nicht. Ich war der einzige an der P.S-du-Pont-High-School in Wilmington, Delaware, der Cowboystiefel trug. Ich rasierte mich noch nicht, mein Schamhaar wuchs nur spärlich, und wenn wir uns nach dem Sport umkleideten, genierte ich mich. In keiner der wichtigen Sportarten bekam ich je eine Auszeichnung. Noch heute mache ich einen Bogen um jeden, der in meiner High-School-Klasse war, besonders um die alten Footballhelden. Ich haßte Verbindungen. Das einzige, was mich davor bewahrte, ein totaler Eckensteher zu sein, war die Tatsache, daß ich ein Auto und eine Freundin hatte, auch wenn das Auto nur ein Ford Modell A und das Mädchen keine von den begehrten »Cheerleaders« war.
Ich habe ein altes Foto vom Abschlußball jenes siebzehnjährigen Jungen vor mir liegen. Er trägt ein geliehenes weißes Dinnerjacket — schlaksig, linkisch, die zu großen Hände in einer Gary-Cooper-Pose auf die Hüften gestützt. Seine Freundin Janet neben ihm wirkt dagegen schon völlig erwachsen in ihrem traditionellen weißen Abendkleid mit der traditionellen lila Orchidee an der Schulter und ihrem traditionellen Traum vom Nestbau im Kopf.
Sie sind beide noch unberührt. Sein ungelenker Jünglingskörper läßt schon erahnen, was für ein Mann er einmal sein wird. Seine Haltung mit dem vorgeneigten Kopf, dem etwas eingefallenen Brustkorb und den sackenden Schultern hat etwas von einem Fragezeichen. Die Unbeholfenheit, mit der er die weltmännische Pose einnimmt, verrät sein Bemühen, sich der Situation gewachsen zu zeigen und die Männerrolle zu übernehmen, obwohl er sich noch immer als Junge fühlt. Ich weiß, daß er sich noch weit in die Erwachsenenzeit hinein wie ein Junge vorkommen und sich nicht als Mann unter Männern fühlen wird.
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Aber am betroffensten bin ich von seinem Gesicht. Offen. Leuchtend. Mit einer ganz eigenen Ausstrahlung von kraftvoller Unschuld und großen Träumen. Hinter der aufgesetzten Überlegenheitspose verbirgt sich seine schmerzliche Sensitivität, die er für ein Zeichen seiner Unzulänglichkeit als Mann hält. Was ich nicht sehen kann, aber woran ich mich noch gut erinnere, ist die Einsamkeit. die Unsicherheit und die Zwiespältigkeit, Stolz und Scham zugleich, wegen seines geheimen Innenlebens.
Zu seinem heimlichen Leben gehörten viele Beschäftigungen, die auf überhaupt keiner Liste mit den Anforderungen an einen richtigen Mann zu finden waren: ein Tagebuch führen; in den nahegelegenen Wäldern auf Entdeckung gehen und Sehnsucht nach der Wildnis zu empfinden; unter dem Sternenzelt schlafen; lange einsame Spaziergänge machen; beobachten, was passiert, wenn ein Kuckuck seine Eier in ein Grasmückennest gelegt hat; masturbieren und sich dabei seine Traumfrau vorzustellen; über die Begrenztheit unseres Verstandes nachdenken; die eigenen trüben Stimmungen erforschen; Gedichte schreiben; Bücher lesen und mit Ideen spielen; seine Eltern lieben; sich mit Gedanken an Krieg, Armut, Ungerechtigkeit, Folter quälen; sich wünschen, etwas zur Verbesserung der Welt tun zu können.
Heute ziehe ich meinen Hut vor diesem Jungen, denn ich bin mir bewußt geworden, daß er weit mehr über das Mannsein wußte, als er dachte. Zum Beispiel ging er in der Woche nach dem Schulball »auf die Walze«, d.h., er reiste quer durch die Vereinigten Staaten, wobei er sich sein Geld bei der Weizenernte, auf Viehranchen, Rummelplätzen usw. verdiente. In seinem jungen Herzen sehnte er sich heimlich danach, seine eigene Definition der Männlichkeit zu entdecken. Er war der Vater des Mannes der dieses Buch schreibt, doch er wußte nicht, daß er bereits zu einer Pilgerreise, einer Suche nach dem Gral aufgebrochen war.
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*
Tief unter uns sind die Erdschichten, auf denen unsere moderne Welt beruhte, ins Rutschen geraten. Revolutionen sind alltäglich geworden; die Machtzentren verschieben sich. Alte Feinde machen gemeinsame Sache. Grundüberzeugungen und Weltanschauungen verändern sich über Nacht. Die Gewißheiten von gestern sind der Aberglaube von heute. Das Heute ist randvoll von Chaos und Kreativität. Genau wie auf dem Plakat in unserer kleinen Autowerkstatt: »Nur wer Streß, Sorgen und einen kleinen Hau weg hat, kann verstehen, was hier los ist.« Niemand kann vorhersagen, wie die Welt von morgen aussehen wird.
Das Erdbeben, von dem Männer und Frauen, ihre Rollen und Beziehungen zueinander, erschüttert werden, ist ein Teil dieser Verschiebung der Welt. Die Veränderungen in unseren Geschlechterrollen sind nur ein Teilaspekt der Umwälzungen, die den Niedergang eines Zeitalters und die Geburt eines neuen begleiten. Und dieser Geburtsvorgang wird noch mehrere Generationen dauern.
In der Geschichte des Westens (die von den amerikanischen Feministinnen zu Recht als »his-story«, seine Geschichte, bezeichnet wird) wurden die längste Zeit die Männer als Norm der Menschheit betrachtet, als Maßstab, an dem Vernunft und Wert gemessen wurde, während die Frauen als geheimnisvoll, verdächtig und irgendwie von der Norm abweichend eingestuft wurden.
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Freud gab dieser allgemeinen Meinung Ausdruck, als er mutmaßlich im Ernst die Frage stellte: »Was will das Weib?« Bis vor kurzem wurden die Frauen als das Geschlecht angesehen, das ein Problem hatte. Aber vor fast einer Generation stellten sich die Frauen an die Spitze der Geschlechterrevolution. Feministische Philosophinnen, Theologinnen, Dichterinnen und Agitatorinnen haben einen langen Weg zurückgelegt, auf dem sie die moderne Gesellschaft einer systematischen Kritik unterzogen, die weibliche Identität neu definiert und gleiche Rechte festgeschrieben haben. Sie haben überdeutlich klargemacht, daß die Antwort auf Freuds Frage für Menschen, die guten Willens sind, heute und schon immer auf der Hand lag. In allererster Linie wollen die Frauen, was man ihnen versagt hat — Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Respekt und Macht.
Die Frage, die heute als Hefe im Teig der Gesellschaft wirkt, heißt: Was wollen die Männer? Die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit stehen unter Beschuß, und die Männer sind dazu aufgerufen, sich zu verteidigen, zu verändern, anders zu werden, als sie bisher gewesen sind. Das Thema wurde in einem kürzlich in der Zeitschrift Newsweek erschienenen Artikel folgendermaßen zusammengefaßt:
»Vielleicht ist die Zeit gekommen, ein neues Programm zu schreiben. Schließlich und endlich stellen die Frauen kein ernsthaftes Problem dar. Unsere Gesellschaft leidet ja nicht gerade unter Mißständen wie einem Übermaß an Einfühlungsvermögen und Altruismus oder einem Zuviel an Fürsorglichkeit. Das Problem sind die Männer — oder genauer gesagt, unsere Vorstellung von Männlichkeit ... Bloß dadurch, daß sie tun, was unsere Gesellschaft von ihnen erwartet, bringen sich die Männer reihenweise um. Ob jung oder alt, sie sterben bei Unfällen, sie werden erschossen, sie sind verheerende Autofahrer, sie stellen sich oben auf Fahrstuhlkabinen, sie trinken, was das Zeug hält. Und die Gewalt gegenüber Frauen ist unglaublich weit verbreitet. Vielleicht sind es die wildgewordenen männlichen Hormone (oder) ... es liegt daran, daß sie versuchen, ein Mann zu sein.«
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Fragen Sie mal irgendeinen Mann: »Was ist es für ein Gefühl, heutzutage ein Mann zu sein? Haben Sie das Gefühl, daß Männlichkeit honoriert, respektiert, geehrt wird?« Diejenigen, die sich genug Zeit nehmen, um ihren innersten Gefühlen nachzuspüren, werden Ihnen wahrscheinlich sagen, daß sie sich beschuldigt, herabgesetzt und angegriffen fühlen. Aber ihre Reaktionen werden vielleicht auch sehr vage sein. Viele Männer haben das Gefühl, daß sie in einem nächtlichen Dschungelkampf gegen einen unsichtbaren Feind verwickelt sind. Aus der Dunkelheit ringsumher ertönen provozierende feindliche Stimmen: »Die Männer sind zu aggressiv. Zu weich. Zu unsensibel. Zu macho. Zu machtbesessen. Zu sehr wie kleine Jungen. Zu Wischiwaschi. Zu gewalttätig. Zu sexbesessen. Zu gleichgültig, um sich in eine Beziehung einzubringen. Zu beschäftigt. Zu kopflastig. Zu konfus, um Führer zu sein. Zu tot, um noch etwas zu spüren.« Wie wir aber statt dessen sein sollten, wird, nicht klar.
Die Männer haben erst seit kurzem begonnen, über neue Sichtweisen des Mannes nachzudenken, die Männlichkeit neu zu definieren. Niemals in der neueren Geschichte hat es so viele unruhige Männer gegeben, die auf der Suche sind. Zugegeben, diese brodelnde Bruderschaft ist noch eine Minderheit, aber sie wirkt als starkes Ferment, das die Dinge zum Gären bringt. Bisher gibt es nur wenige Bücher, die solche Sucher ansprechen.
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Die geistigen Abenteurer unserer Zeit sind an Grenzen getoßen, wo die Reporter, die Popularisierer, die Psychologen, die sogenannten Fachleute für Männerfragen. noch gar nicht angekommen sind. Erkundigen Sie sich mal in einer guten Buchhandlung nach der Abteilung für Frauenliteratur, und man wird Ihnen eine weitgefächerte Auswahl von Büchern auf dem Gebiet der Gesellschaftstheorie und Linguistik zeigen, Biographien vergessener Heldinnen, Lyrik von Frauen, Studien über die Göttin, die Geschichte der Frauenbewegung usw. Wenn Sie nach Büchern zum Thema Mann fragen, wird man Ihnen vielleicht ein schmales Bord mit Titeln zeigen, die sich auf Homosexuelle beziehen oder ausschließlich mit den Unzulänglichkeiten und dem Versagen der Männer befassen (Männer, die Frauen hassen und die Frauen, die diese Männer lieben, Wenn Männer sich nicht ändern wollen, Das Peter-Pan-Syndrom usw. bis zum Brechreiz) oder drittens mit etwas, was sich »Männer-Befreiung« nennt und sich verdächtig nach einem aufgewärmten Feminismus mit umgekehrten Vorzeichen anhört. Jedenfalls gibt es hier nicht viel, das Kopf, Herz oder Hoden anspricht.
Dieses Buch ist ein Versuch, diese Lücke zu füllen. Es ist kein »Männlich werden in einer Minute« und bietet auch keine simplen Antworten für simple Männergemüter. Es ist für einen neuen Typ Mann gedacht, der jetzt eben im Schmelztiegel unserer chaotischen Zeit geschmiedet wird. Es ist für Männer gedacht, die bereit sind, sich auf eine spirituelle Reise zu begeben, deren, Ausgangspunkt das desillusionierende Bewußtsein ist daß das, was wir im allgemeinen als »normal« bezeichnen, nur eine Fassade ist, die sehr viel Entfremdung überdeckt. Doch es läßt das Schattental hinter sich und stößt zu einer neuen Sicht der Männlichkeit vor — einer Vision des Mannes mit Feuer im Bauch und Leidenschaft im Herzen.
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Es wandelt auf den gleichen Spuren wie unsere Helden von altersher, weg von der alltäglichen Normalität; der Weg führt hinab in das fremdartige Land der Un-Rast, wo Dämonen, schreckenerregende fremde Mächte, Schatzkisten und von Drachen bewachte Jungfrauen unsrer harren, und endet schließlich wieder zu Hause, mitten im Herzen des Gewöhnlichen.
Der Aufbau meines Buches beruht auf Vorstellungen von Paul Tillich, des vielleicht größten Philosophen und Theologen unserer Zeit, der zu sagen pflegte: »Jeder, der ernstlich nachdenkt, muß sich drei grundlegende Fragen stellen und seine Antwort darauf finden. Erstens, was stimmt nicht mit uns? Was fehlt den Männern? Was ist mit den Frauen nicht in Ordnung? In welcher Hinsicht sind wir entfremdet? Was ist unsere Krankheit, unsere Un-Rast? Zweitens: Wie wären wir, wenn wir geheilt und ganz wären? Wenn wir uns verwirklicht hätten? Wenn wir unser Potential erfüllt hätten? Drittens: Wie kommen wir aus unserer Gebrochenheit zur Ganzheit? Wodurch können wir heil werden?«
Hier ein Überblick über das Buch:
In der Einleitung vertrete ich den Standpunkt, daß die Männer erst zu sich selbst finden können, wenn sie sich von der Welt der FRAU lösen.
In Rituale der Männlichkeit vertrete ich die Ansicht, daß die Männer durch unsere modernen Entwicklungsriten — Krieg, Arbeit und Sex — geistig verarmen und sich selbst entfremdet werden.
In Wie man einen Mann bewertet vertrete ich die Ansicht, daß authentische Männlichkeit schon immer durch die Sicht bestimmt wurde, welchen Platz wir im Universum einnehmen, und durch die Bereitschaft, eine angemessene Aufgabe oder Berufung zu übernehmen — wobei sich letztere im Laufe der Geschichte mehrfach verändert haben.
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In Eine Fibel für gegenwärtige und zukünftige Helden zeichne ich die spirituelle Reise in das Ich nach, auf die sich die Männer unserer Zeit begeben müssen, und entwerfe eine Skizze der daraus hervorgehenden vorbildlichen Tugenden.
In Männer und Frauen: Wiederannäherung beschäftige ich mich mit der Versöhnung von Männern und Frauen und mit dem, wozu sie beide gemeinsam berufen sind.Ich habe dem Verhältnis von Männern zu ihren Vätern kein eigenes Kapitel gewidmet, obwohl das ganze Buch hindurch darauf Bezug genommen wird. In letzter Zeit sind sich viele Männer ihrer Vaterlosigkeit bewußt geworden und wie sehr die Abwesenheit ihrer Väter ihnen geschadet hat und welche Leere es bei ihnen hinterlassen hat, daß niemand sie in das Mann-Sein initiiert hat. Wie oft habe ich die Klage gehört: »Vater, wo warst du? Ich habe dich nie kennengelernt.«
Vor einer Generation fingen wir unter dem Einfluß der Pop-Psychologie an, alle Probleme der Männer auf Mutti (Mom) und den Mutterkult (Momismus) zu schieben. Mutter wurde angelastet, daß sie in Vaters Abwesenheit das Zepter ergriffen und so ihre Söhne zu Memmen gemacht habe. Inzwischen hat sich der Wind gedreht, und neuerdings ist es Vater, der zur Zielscheibe der Schuldzuweisung wird.
In diesem Buch versuche ich, über die psychische Verletzung durch das Fehlen des Vaters hinauszugehen und mich auf die politischen, wirtschaftlichen und mythischen Ursachen der männlichen Un-Rast und Krankheit zu konzentrieren.
Ich habe mich dafür entschieden, das Vater-Sohn-Thema mit anderen Themen zu verflechten, um auf diese Weise das, was ich für die zentrale Quelle der männlichen Entfremdung halte, um so mehr zu betonen — das Fehlen eines Gefühls der Sinnhaftigkeit oder, wie ich es lieber nennen möchte, einer »Berufung« in unserem Leben.
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Noch ein Wort zu den Quellen, auf denen dieses Buch beruht. Die Zeichen der Zeit erkennen zu wollen, ist recht gewagt. Wir alle spüren gefühlsmäßig, daß sich größere Veränderungen vollziehen. Je mehr die Frauen mit zunehmender Gleichstellung in das Wirtschaftsleben einbezogen werden und sich zunehmend anhand von Geld, Position und Macht definieren, kommt es in den Tiefen der männlichen und weiblichen Psyche zu Veränderungen. Bisher versteht noch niemand die Auswirkungen dieses Wandels in seiner ganzen Tragweite.
Vor vielen hundert Jahren waren wir abhängig von Omen, Orakeln und Weissagungen, um die Bedeutung der Ereignisse zu erkennen. Heute erfinden Soziologen und Psychologen immer neue Umfragen und überwachte Studien, die uns bändeweise mit statistischen Informationen über äußere Ereignisse versorgen, die jedoch wenig Weisheit enthalten und noch weniger Weitsicht in bezug auf unsere künftige Entwicklung. Allerdings beruft sich auch dieses Buch auf die statistische Auswertung einer wissenschaftlichen Umfrage über »Idealmänner«, die Dr. Ofer Zur und ich in der Zeitschrift Psychology Today im März und November 1989 durchführten und veröffentlichten (siehe Anhang).
Aber man darf nicht vergessen, daß unsere besten Marktforscher den Erfolg des (gescheiterten) Fordmodells »Edsel« vorhersagten und daß »Informations-Spezialisten« im CIA den religiösen Umsturz im Iran oder den Zusammenbruch der osteuropäischen Regime nicht vorhergesagt haben. In allen Humanwissenschaften ist eine »wissenschaftliche« Studie immer nur so, gut wie die Intuition derer, die sie durchführen.
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Der größte Teil der Ansichten, Urteile und Erkenntnisse in dieser Arbeit über die Männer von heute und was sie bewegt, stammt aus zwei ganz unwissenschaftlichen Quellen.
Die erste davon ist meine ein halbes Jahrhundert umfassende Beschäftigung mit dem Leben eines einzigen Mannes — nämlich mit mir selbst. Statt mich hinter einer objektiven, »wissenschaftlichen« Analyse zu verstecken, bilden meine eigenen Erfahrungen meinen einzigen bevorrechtigten Zugang zu Sinn und Geist unserer Zeit und zu der zugleich komplizierten und großartigen Tatsache, ein Mann zu sein. Die Reise, die in diesem Buch beschrieben wird, ist meine eigene. Die Fragen, die gestellt werden, sind meine Fragen. Um mit Henry David Thoreau in Walden zu sprechen: »Ich würde nicht soviel von mir selber reden, wenn es jemand anders gäbe, den ich ebenso gut kennen würde.«
Ich kann dem Leser also nicht die Wahrheit über »die« Männer anbieten, denn selbst wenn ich mir die Augen, Köpfe und Herzen anderer ausleihe, um die komplexe Realität des Mannseins zu erforschen, so bleibe ich doch ein WASP (White Anglo-Saxon Protestant), ein Mann aus dem Westen der USA, ein Heterosexueller, ein (zweifacher) Ehemann, ein Vater und ein Philosoph (ein »Sinn-Fixer«). Dieses Buch ist keine Enzyklopädie der männlichen Erfahrung, denn spräche ein Schwuler, ein Asiat, ein Indianer oder sonst irgendwer, würde jeder eine andere Geschichte erzählen. Aber ich bin davon überzeugt, daß wir immer dann auf etwas Allgemeingültiges stoßen, wenn jeder von uns von sich ganz persönlich spricht und damit das Quentchen, Wahrheit bezeugt, welches wir aus unserem individuellen Erleben herausfiltern können.
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Meine zweite Informationsquelle sind einige langjährige Männerfreundschaften und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von etwa einem Dutzend Männern, die sich seit 1978 jeden Mittwoch getroffen hat. Im Laufe der Jahre hat mich diese Gruppe, die sich einfach »Die Männer« oder manchmal auch SPERM (Society for the Protection and Encouragement of Righteous Manhood) nannte, herausgefordert, geliebt, geehrt, verändert und mich mehr über die allen Männern gemeinsamen qualvollen Kämpfe und ehrgeizigen Zielsetzungen gelehrt als alle Bücher oder »wissenschaftlichen« Studien. Viele Äußerungen in diesem Buch stammen aus diesem Freundeskreis, doch die Stimmen bleiben anonym, um die Unschuldigen wie die Schuldigen sowie die Intimsphäre der ganzen Gruppe zu schützen.
Und schließlich noch ein Wort zu den Frauen. Dieses Buch stellt zwar in erster Linie den Versuch dar, die Zwänge und Freuden, Verwirrungen und Sorgen moderner Männer von innen heraus zu sehen, aber die Zuhörer, an die es sich wendet, gehören beiden Geschlechtern an. Als ich zum erstenmal ein Seminar zum Thema »Männer verstehen« veranstaltete, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß die Hälfte der Teilnehmer Frauen waren, in der Mehrzahl Veteraninnen vieler Begegnungen im Kampf der Geschlechter. Sie waren von Vätern, Brüdern, Ehemännern, Liebhabern, Söhnen, Chefs und guten Freunden enttäuscht und verletzt worden, aber sie waren nicht rachsüchtig.
Alle hatten sie im Feminismus neue Kräfte und einen Rückhalt gefunden. Keine aber wollte am Seminar teilnehmen, um dort ihren Zorn von früher loszuwerden. Fast ausnahmslos waren die Frauen gekommen, weil sie gemerkt hatten, daß sie, obwohl sie ein Leben lang damit verbracht hatten, sich mit Männern auseinanderzusetzen, diese immer noch nicht verstanden. Viele Frauen sagten: »Bei diesem Seminar möchte ich nichts weiter sagen, sondern nur zuhören, was Männer zu sagen haben.«
Nach einem besonders gefühlsbetonten Wochenende, an dem verschiedene Männer darüber gesprochen hatten, wie sehr sie sich nach den nie gekannten Vätern sehnten, und über den Schrecken, die Schuldgefühle und die seelischen Narben, die der Krieg bei ihnen hinterlassen hatte, stand eine Frau auf, die bisher geschwiegen hatte, und sagte:
»Ich war zweimal verheiratet und hatte mehrere Beziehungen, die schlimm endeten. Wie die meisten Frauen habe ich immer den Männern >zugehört<, aber bis heute habe ich sie nie richtig verstanden. Ich habe nie zuvor Männer mit anderen Männern mit solch tiefem Ernst und solcher Liebe sprechen gehört. Und ich habe mir nie zuvor vorgestellt, was es bedeutet, wenn man weiß, daß man zum Töten bereit sein muß, oder wenn man so etwas Grauenvolles wie eine Schlacht erlebt. An diesem Wochenende hatte ich das Gefühl, mit Riesen zusammenzusein. Ich danke Ihnen, daß ich zuhören durfte.«
Ein Großteil der nun folgenden Beschäftigung mit dem Weg der Männer wird bei Frauen auf Resonanz stoßen. Zwar wird die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, vom Blickpunkt der männlichen Erfahrung her erforscht, doch sind Geschichten von Verletzungen und Hoffnungen für beide Geschlechter gleich relevant. Frauen werden vielleicht häufig feststellen: »Das erlebe, ich genauso.« Unsere Ähnlichkeit als Menschen ist stärker als alles Trennende, das mit unserer Geschlechtszugehörigkeit zu tun hat. Dessen ungeachtet werde ich versuchen, Vergleiche zu vermeiden und mich an das männliche Erleben halten, denn derzeit ist es für die Männer wichtiger, sich auf ihr ureigenstes Gebiet zu konzentrieren. Das Aussichtsreichste, was wir tun können, um den Geschlechterkampf zu beenden, ist, voreinander Zeugnis abzulegen, unsere Geschichten zu erzählen und still zuzuhören.
Ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, daß Sie bei der Lektüre dieses Buches zwei verschiedenfarbige Marker griffbereit haben, so daß Sie die Passagen, die mit Ihren Erfahrungen übereinstimmen, und die, die Sie anders erlebt haben, entsprechend markieren können.
Dieses Buch versteht sich vor allem als eine Einladung zu einem Gespräch. Ich hoffe, es liefert den Anstoß, daß Männer untereinander ins Gespräch kommen und daß Männer und Frauen miteinander reden. Zu neuen Sichtweisen des Männlichen und Weiblichen zu gelangen, ist ein Unterfangen, das uns noch Jahre beschäftigen wird.
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Sam Keen - Feuer im Bauch