Start   Weiter

 

 

MAI 1981

7

Seit 1978 bin ich Studentin am Institut für Schauspielregie in Berlin. Ich habe ein Anliegen und wende mich an den Direktor unseres Instituts.

An die Leitung des Instituts für Schauspielregie, 108 Berlin, Mittelstr. 28
Freya Klier, Studentin des 3. Studienjahres
Berlin, 26.5.81

Lieber Dieter Hoffmeier!

Wir alle sind uns darüber einig, daß wir in einer Zeit gefährlichster weltpolitischer Spannungen leben. Der Frieden in der Welt ist außerordentlich gefährdet, die Rüstungsspirale muß mit allen erdenklichen Mitteln gestoppt werden, anderenfalls endet sie in einer Katastrophe unübersehbaren Ausmaßes. Der XXVI. Parteitag der KPdSU hat dies mit Nachdruck zum Ausdruck gebracht - überall in der Welt finden in zunehmendem Maße Konferenzen, Meetings und Demonstrationen statt, um das Wettrüsten zum Stoppen zu bringen. Mit Hoffnung blicken wir auf jede Initiative, gleichzeitig gehen wir unserem Tagewerk nach mit der passiven Haltung, an der »weltpolitischen Lage« als einzelner doch nichts ändern zu können. Ich meine, es ist an der Zeit für uns alle zu überprüfen, welchen Beitrag wir zur Entspannung leisten können. Sei er auch noch so gering - für dieses wichtige Ziel lohnt jeder Einsatz. Damit möchte ich zum konkreten Anliegen meines Briefes kommen. Ich bin der Meinung, wir sollten uns die Frage stellen: Wo liegen die spezifischen Möglichkeiten eines künstlerischen Institutes für eine Friedensinitiative? Wir sollten nicht warten, bis wieder mal ein Startschuß »von oben« gegeben wird, wir sollten uns aus eigenem Antrieb dieser wichtigen Aufgabe widmen. Ich habe ein Gespräch mit dem stellvertretenden Sekretär des Friedensrates der DDR geführt; er ist der Meinung, das politische Bewußtsein der meisten unserer Bürger lasse zu wünschen übrig, und begrüßt ein Vorhaben für eine Friedensinitiative außerordentlich!

Ich möchte mit diesem Brief der Institutsleitung einen konkreten Vorschlag unterbreiten:

Um alle in diesem Zusammenhang auftretenden Fragen zu konkretisieren, ist sicher ein ausführliches Gespräch notwendig. Ich möchte hiermit meine Bereitschaft erklären, die Organisation einer solchen Veranstaltung zu übernehmen, natürlich unter Einbezug meiner Kommilitonen. Faßt man die 2. Septemberhälfte für die Durchführung der Aktion ins Auge, bliebe genügend Zeit für die Organisation und die Erarbeitung künstlerischer Beiträge.

Lieber Dieter Hoffmeier! Bitte geben Sie mir so schnell wie möglich Bescheid, wie Sie über die »Sache« denken, damit wir (im Falle einer Zusage) recht schnell eine FDJ-Versammlung zwecks konkreter Planung einberufen können.

Mit herzlichem Gruß, Freya Klier

8


1981, MITTE JUNI

Der Plan einer Friedensveranstaltung am Institut ist gescheitert. In einer besonderen Sitzung mußte ich meine Konzeption verteidigen - ich hatte vorrangig auf literarische Beiträge aus der Zeit des Ersten Weltkrieges zurückgegriffen. Diese schienen mir aufgrund ihrer starken, oft wuchtigen Sprache besonders geeignet, über den Kanal der Emotionen das völlig eingeschlafene Bewußtsein der Mitmenschen für weltpolitische Spannungsherde neu zu beleben. Und eben diese Auswahl wurde mir angekreidet. Es fehlte das Sowjetische, es fehlte das sozialistische Gegenwartsschaffen.

Die Sitzung verlief merkwürdig. Unser Parteisekretär, ein bescheidener und sehr sympathischer Mensch, glotzte die ganze Zeit über auf seine Hände. Er war bereits im Abgang vom Institut begriffen, denn als ausgeprägter Moralist war er zunehmend in Konflikt geraten mit seinem Auftrag, den Studenten gegenüber strikt die Parteilinie zu vertreten (besonders dann, wenn Realität und Partei-Darstellung extrem auseinanderklafften - und das war häufig der Fall -, überzog sich sein Gesicht mit einer Schamröte, die ihn geradezu liebenswert machte).

Auch andere Dozenten waren präsent und eierten herum. Dabei ging es freundlich zu wie fast immer in diesem Laden. Der Zyniker und brillanteste Rhetoriker des Institutes kochte hinter dicken Brillengläsern Demagogisches aus. Ich hatte das deutliche Gefühl, die Veranstaltung sollte gar nicht zustande kommen. Jedenfalls wurde ich mit fadenscheinigen Argumenten wie »mangelnde Parteilichkeit« erst mal auf den Herbst verschoben. Dann sollte ich ein neues Konzept vorlegen.

9


1981, ENDE JUNI

Seit zwei Wochen bereite ich mich auf ein Friedensfest in einer Berliner Kirche vor. Und zwar gemeinsam mit einer Freundin, die Pastorin ist.

Dabei habe ich den kulturellen Part übernommen und auf die schnelle eine kleine theaterwillige Truppe zusammengestellt  -das Material ist ja bereits vorhanden. Seit zehn Tagen proben wir emsig, der theatralische Höhepunkt wird eine 15minütige Aufführung des »Traumes« von Günther Eich sein. Für unser Bühnenbild benötigen wir lediglich ein Podest, vorgestern fragte ich deshalb im technischen Bereich unseres Instituts an. Die Sache ging klar, ebenso der Transport des Podests mit dem institutseigenen Kleinbus - eine Geste unserer Bühnentechniker, mit denen mich eine Skatfreundschaft verbindet. Heute allerdings wurde ich überraschend ins Direktorat zitiert. Man stellte mich zur Rede wegen des Podests und drohte mir Exmatrikulation an für den Fall, daß ich auf dieser Veranstaltung öffentlich in Erscheinung träte. Ich sei - so wurde ich hart ermahnt - Studentin einer staatlichen Hochschule und repräsentiere diese. Es sei mir also nicht gestattet, an einer Veranstaltung mitzuwirken, die den Interessen des Staates zuwider liefe. Nun ist es heraus - Loyalität contra Gewissen. Zwei Tage habe ich Zeit, über die Konsequenzen meiner Teilnahme nachzudenken. Die Proben für die nächsten Tage werde ich natürlich nicht ausfallen lassen, das Stück steht fast. Und doch bin ich total in der Klemme: Auf meine Arbeit als Regisseurin bereite ich mich nun schon seit fast zehn Jahren vor, und zwar mit einer immensen Leidenschaft. Auf der anderen Seite: Ich habe Robert Jungk gelesen, die SIPRI-Jahrbücher, Carl Friedrich von Weizsäcker - ich bin infiziert.

Was wäre noch wichtig, auf einer Bühne dargestellt zu werden, wenn diese elementare Bedrohung ignoriert würde? Und wie will ich je meine Arbeit machen, wenn ich schon so früh kneife? Ich ahne trotzdem, daß ich nicht hingehen werde...

10


1981, JULI

Es ist ausgestanden, irgendwie ist der Kelch an mir vorbeigegangen.

Ich war natürlich dort. Bin nicht gerade auffällig im Vordergrund herumgewirbelt, habe mich aber als Regisseurin des kleinen Stückes auch nicht verleugnet: Die Einrichtung von Scheinwerfern, Absprachen mit Mimen oder organisatorische Belange habe ich ebenso wahrgenommen wie in anderen Inszenierungen auch. Wer mich also sehen wollte, hat mich gesehen. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, daß mich überhaupt jemand sehen wollte - trotz gründlicher Ausschau ist mir niemand vom Institut aufgefallen. Und auch später hat mich niemand wegen der Veranstaltung angesprochen, die Angelegenheit wurde einfach übergangen.

Das ist das Anständigste, was sie tun konnten. Ich bin ihnen dankbar und lasse natürlich meinerseits das Thema erst recht ruhen.

Während der Veranstaltung ging mir nämlich der Arsch sozusagen auf Grundeis. Ich bin schließlich hingegangen, um mich nicht als Versager empfinden zu müssen. Aber ich habe Qualen ausgestanden dabei. Während meine köstlichen Amateure beim Spielen über sich selbst hinauswuchsen, mußte ich unentwegt an meine Exmatrikulation denken - die Frage bedrängte mich, ob meine Anwesenheit hier im Verhältnis dazu stand. Vermutlich bin ich deshalb nicht rausgeflogen, weil in unserem Studienjahr nur noch wenige Studenten vorhanden sind. Von ehemals neun sind es nur noch ganze vier, und einer steht schon auf der Kippe. Außerdem sind meine Leistungen ganz gut - ich habe nicht den Eindruck, daß ein Anlaß gesucht wird, mich loszuwerden.

11/12


1981, AUGUST

Friedensseminar. Sieben Tage in einem kleinen abgelegenen Dorf in Mecklenburg. Sechzehn »Friedenskämpfer« sind im Pfarrhaus einquartiert, das reichlich Kammer und Gelaß hat. Und Platz für Katzen und Kinder. Etwa weitere vierzig Gesinnungsgenossen logieren in den Pfarreien der umliegenden Nester.

Hier, in dieser Idylle weitab vom Schuß, sind junge Theologen zu finden, die der Amtskirche offenbar zu aufsässig sind. Dank geschickter Kaderpolitik wurden sie deshalb in kleine Dorfpfarreien verfrachtet, wo sie weiter keinen Schaden anrichten können. Denn das hier ist hartes Brot, und der Pope saust mit seinem Dienst-Trabant pro Sonntag drei bis vier Dörfer ab, um einer Handvoll alter Weiblein das Evangelium zu lesen und notfalls die Leviten - aber so, wie der Herr Pastor das auch früher schon getan hat und nicht mit so neumodischem Zeug. Mit Politik und so.

In dieser Sommerpause tanken die jungen Theologen auf. Sie haben ein Friedensseminar organisiert, mit Wanderungen und einer großen gemeinsamen Gedenkveranstaltung für die Opfer der ersten Atombombe.

Auch wir Stadtmenschen tanken auf. »Frieden schaffen ohne Waffen« - wie das möglich ist, beschäftigt uns heftig. Trotzdem geht alles locker zu und luftig, ohne Friedenskrämpfe. Ungewöhnlich schnell öffnen wir uns füreinander, finden eine gemeinsame Sprache. In diesem Land, in dem die Menschen zielgerichtet voneinander isoliert werden, in dem Gruppenerlebnisse nur in Sportstadien oder auf FDJ-Meetings zu haben sind, wird die Zeit, die man mit Gleichgesinnten verbringt, zu einem atemberaubenden Erlebnis.

Großzügiger gehen wir hier auch mit unseren Kindern um. Bei den Liedern, die wir am Lagerfeuer zu Gitarrenschrummel rührselig (und manchmal hilflos blödelnd) in die Mecklenburger Nacht senden, hätte mir bei anderer Gelegenheit der Stimmbandmuskel gestreikt. Hier stimmt alles. Und da wir ein paar Holländer und Bundis zu Gast haben, ist uns sogar, als ob die deutsch-demokratische Käseglocke, unter der wir zu schimmeln drohen, sich endlich hebe.

Daß (wie immer) die Staatssicherheit unter uns weilt und vor allem von außen drückt und wühlt, quittieren wir mit Lachen. Wir fühlen uns stark miteinander, unangreifbar. So etwas wie eine Bewegung ist im Entstehen.

 

DEZEMBER

Helmut Schmidt und Erich Honecker tauschen ein Bonbon auf dem Güstrower Bahnhof. Wir beginnen zu hoffen.

13


1982, FEBRUAR

Ich kehre nach Berlin zurück. Zwei Monate war ich in Bautzen und habe dort Dürrenmatts »Physiker« inszeniert, die bisher dritte Arbeit in meiner Studienzeit.

Bautzen - eine Kleinstadt hinter sieben Bergen, in der die Menschen vor sich hin muddeln, als gäbe es außerhalb ihrer Stadtmauern keine Welt mehr.

Wir haben trotzdem eine schöne Ensemblearbeit zustande gebracht; das Ergebnis läßt sich sehen, ich werde die Inszenierung als Diplomarbeit einreichen.

Für das Stück hatte ich vier kubanische Lehrlinge gechartert und sie alternierend als Wärter im Irrenhaus der Mathilde von Zahnd eingesetzt. Hatte dabei die größten Bodys rausgesucht, die es gab - die Wirkung war ungeheuer.

Daß plötzlich derart heftige Temperamente ins verschlafene Bautzener Theatervölkchen einbrachen, belebte das Ensemble geradezu prickelnd. Natürlich gab es auch tränenreiche Liebeshändel, doch der Haupteffekt der deutsch-kubanischen Liaison war, daß sie - für absehbare Zeit jedenfalls - die Isolation der Ausländer durchbrach. In dieser Art Kleinstadt herrscht normalerweise ein überdurchschnittlicher Rassismus. Die Ausländer, eine Mischung aus Lehrling und Gastarbeiter, wohnen kaserniert am Rande der Stadt und werden weitgehend gemieden. Zur Premiere nun rückten einige Dutzend kaffeebraune Burschen an und verwandelten die Feier in ein kreolisches Fest, das den Bautzener Kleinstadtmief für Stunden hinwegspülte. Anschließend wurden Adressen getauscht wie am Abschiedstag eines Kinderferienlagers, Einladungen nach Kuba und ins Bautzener Stübele machten die Runde.

14


1982, 13. FEBRUAR

Dresden. Meine Heimatstadt. Ich hole Freunde ab, wir gehen in die Kreuzkirche wie auch in den Jahren zuvor. Mit uns ist diesmal meine Mutter. Sie wohnte vor 1945 direkt im Zentrum der Stadt und entging den Flammen nur durch einen makabren Zufall - ihre Familie hatte wenige Tage zuvor die Wohnung getauscht...

An jedem 13. Februar, dem Tag der Zerstörung Dresdens, kommen hier viele Menschen zusammen. Doch was sich heute abspielt, ist unbeschreiblich. Scharen von jungen Frauen und Männern strömen durch die Portale. Sie scheinen aus der ganzen DDR zu kommen, die Kirche platzt aus den Nähten. Sie haben Schlafsäcke mit und Kraxen, irgendwo wird sich am Abend schon ein Plätzchen zum Schlafen finden. Auf Fleischerhemden, Leinenbeuteln und Jackenärmeln unser aller Symbol: der Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«.

In der Kirche findet ein Friedensforum statt; es geht um sozialen Ersatzdienst für Wehrpflichtige, um Friedenserziehung statt Wehrkundeunterricht, um die Rolle der Kirche im Staat. Häufig prasselnder Beifall, mitunter auch emotionsgeladene Buhrufe. Es lebt.

Und wirkt wie ein Sog: Am Abend hinüber zur Ruine der Frauenkirche, dem Mahnmal der zerstörten Stadt. Die meisten haben Kerzen in der Tasche.

Ich habe Angst und bitte meine Mutter, nach Hause zu gehen. Im Dunkel, die vielen Menschen mit Kerzen - es mögen zwischen dreihundert und fünfhundert sein -, es ist eine Zeit der Stille und Geschlossenheit. Denn nichts passiert. Niemand zerrt am Jackenärmel, um Aufnäher abzureißen, keine Uniform stellt sich uns in den Weg, es gibt keine Verhaftung. Die Staatsmacht bleibt in Reichweite, doch erstaunlich passiv. Fast scheint es wie ein erstes Zeichen staatlicher Toleranz.

15


1982, FRÜHJAHR

Ich halte Ausschau nach einem Arbeitsplatz. Konzentriere mich auf Halle. Im Sommer wird dort eine Regiestelle frei, die Chancen stehen also gut. Halle hat zwar eine schlechte Luft, dafür aber ein gutes Pflaster: Arbeiterzentrum, viele Studenten. Auch die Friedensbewegung ist hier präsent. Vom Hallenser Theater wird mir eine Probeinszenierung eingeräumt. Eine kleine, mehr als sechs Schauspieler kriege ich nicht zur Verfügung gestellt -das Stück allerdings darf ich selbst vorschlagen. Wälze also Textbücher. Nach der Lektüre entscheide ich mich spontan für »Picknick im Felde« von Fernando Arrabal. Das Stück ist von einer geradezu beklemmenden Aktualität: In einer kraterzerfurchten Landschaft, inmitten von Krieg, besucht eine Familie ihren Sohn - Soldat auf Posten. Gemeinsam breitet man Deckchen aus und picknickt. Weigert sich, die Realität anzuerkennen. Spannt, als Bombengeschwader im Anflug sind, kapriziös einen Regenschirm auf, tanzt einen Pasodoble. Ihre Ignoranz büßt die Familie mit dem Tod.

Das Stück macht mich heiß, es greift die gleichen passiven Verhaltensmuster auf, die ich auch von unseren Landsleuten zur Genüge kenne. Es hat eine Message.

Da es relativ kurz, also nicht abendfüllend ist, beabsichtige ich, zusätzlich einen kleinen Dokumentarfilm auf dem Hallenser Boulevard zu drehen und vor Stückbeginn einzuspielen: Interviews mit flanierenden Einwohnern. Mich interessiert, was für Wertvorstellungen sie haben, was ihnen im Leben wichtig ist. Ich reiche mein Konzeption ein - sie wird abgelehnt! Privates Filmen ist nicht erlaubt: Welche Meinung wer in der Öffentlichkeit vertritt, bestimmt ausschließlich der Staat. Ich muß mir also etwas anderes einfallen lassen. So entwickle ich den Gedanken an eine Frontrevue. Krame aus der Deutschen Bücherei Leipzig altes Material über Fronttheater im Ersten und Zweiten Weltkrieg aus. Von meiner Bühnenbildnerin lasse ich mir ein Unterstand-Theater entwerfen.

16


1982

Hier soll zunächst ein flotter Tingeltangel stattfinden - mit kleinen Witzen, verklemmten Sauereien und Soldatenliedern. Diese - der Fremdheit wegen - vor allem aus dem Ersten Weltkrieg. Der Übergang von der Frontrevue zum Stück soll fließend verlaufen. Bei Angriffsalarm wird die Vorstellung unmittelbar abgebrochen; die Bühne, auf der Rückseite mit Tarnwerg überzogen, wird runtergeklappt und ist in wenigen Minuten vom restlichen Bühnenboden nicht mehr zu unterscheiden. Ein Teil der Frontrevuetruppe wechselt auf Uniform und ist kurze Zeit später einsatzbereit.

Diesmal erhält das Projekt die Zustimmung, ich kann im April mit Proben beginnen.

 

18. MAI

Premiere. Sie ist ein großer Erfolg. Die riesige Probebühne ist dank Mundpropaganda und Kartenfreiverkauf völlig überfüllt, ein engagiertes und aufgeschlossenes Publikum. Auch das Ensemble ist vollständig anwesend.

Nach der Vorstellung suchen die Ensemblevertreter den Schauspieldirektor auf und votieren für meine Einstellung. Ich erhalte eine mündliche Zusage. Ausgepumpt und überglücklich fahre ich am nächsten Morgen nach Berlin zurück, schnappe meine Tochter und fahre ein paar Tage ans Meer.

 

21. MAI

Mich erreicht ein Telegramm - ich soll sofort zurück nach Halle kommen! Dort herrscht helle Aufregung. Gleich am Tag nach der Premiere hat die Nationale Volksarmee über den Rat der Stadt gegen meine Inszenierung interveniert und die Absetzung des Stückes gefordert. Von »Zersetzung der Wehrbereitschaft« ist die Rede, von »deutlich pazifistischen Tendenzen und verwischtem Klassenstandpunkt«.

17


1982

Es sei nicht erkennbar, wer die fortschrittlichen Kräfte seien und wer die Reaktionäre... Und vor allem meine Schlußlösung scheint es den Militärs angetan zu haben: Der Pasodoble endet für die Familie und zwei hinzukommende Sanitäter mit dem Tod. Sechs Menschen liegen so am Schluß verkrümmt auf der Bühne. Das Licht wird langsam rausgezogen, stehen bleibt ein einziger, kaum wahrnehmbarer UV-Strahler; gleichzeitig wird leise ein Geräusch von hoher Kurzwellenfrequenz eingeblendet. Im Fast-Dunkel der Bühne stehen die Schauspieler auf und ziehen aus einer Bühhenleiste ein silbergraues Bodentuch, so groß wie die gesamte Spielfläche, überspannen diese. Genau an jenen Stellen, an denen zuvor ihre verkrümmten Körper lagen, zeichnen sich nun auf dem Bodentuch deren Umrisse ab. Die Assoziation der Schatten von Hiroshima tritt automatisch ein - für jeden, der diese Bilder sah.

Die Theaterleitung verlangt mir eine Uminszenierung ab. Es ist eine groteske Forderung. Denn erstens fand auch sie die Inszenierung gut, und zweitens ist sie ein Erfolg - es gibt schon jetzt eine heftige Nachfrage nach Karten. Der Befehl jedoch kommt »von oben«.

Ich bin kompromißbereit, will die Inszenierung auf jeden Fall retten. Mache im Laufe des Tages immer wieder kleinere Vorschläge, bin auch bereit, empfindliche Spitzen umzuarbeiten und damit abzubrechen.

Das reicht nicht aus, die Forderung ist weitergehend: Völlige Uminszenierung des Stückes, außerdem Herausnahme der Frontrevue und statt dessen Brechts »Gewehre der Frau Carrar«. Als ideologischer Ausgleich sozusagen zum Spanier Arrabal. Ich bin empört und weigere mich, in solchem Ausmaß mitzutun. Am Abend bin ich entlassen. In doppelter Hinsicht, denn von einem Engagement ist nun keine Rede mehr... Auch ein Brief meines kleinen Ensembles an die Theaterleitung ändert daran nichts. Es geht um Stühle. Nicht um meinen, sondern um die Stühle der Theaterleitung.

18


1982

(Die Inszenierung wird erst mal auf Eis gelegt; später übernimmt der Schauspieldirektor die Umarbeitung selbst und macht daraus einen der üblichen DDR-Theaterabende. Das Interesse von Zuschauern geht zurück. In den Doppelabend Brecht/Arrabal werden nun vor allem Schulklassen hineindirigiert).

 

JUNI

Bin niedergeschlagen. Das Studium geht zu Ende, das Diplom habe ich in der Tasche, ein ziemlich gutes - und keine Arbeitsstelle.

Das gibt es nicht in diesem Land. Jeder, der ein Studium abschließt, erhält auch einen Arbeitsplatz. Und sei er 500 km entfernt, und sei es ein kaum zumutbarer... Der Einsatz der Absolventen erfolgt nach gesellschaftlichen Bedürfnissen. Wo ist das gesellschaftliche Bedürfnis nach meiner Arbeit? Von einer staatlichen Kommission erhalte ich eine Liste, die mir zeigt, an welchen Theatern noch eine Regiestelle frei ist. Das Angebot bestätigt meine Vorahnung: eine Reihe kleiner Knatter-Bühnen, die jeden Ansatz von gutem Theater einer pragmatischen Anspruchslosigkeit geopfert haben. Lustlos nehme ich die DDR-Karte zur Hand, messe mit einem Lineal die Entfernung zu Berlin. Wenigstens in der Nähe bleiben, immer schnell zurückfahren! Mit einem Schulkind ist man ortsgebunden, und wer da nicht aufpaßt, verkommt schnell zur kantinensitzenden Provinzmutti...

Das der Hauptstadt am nächsten gelegene Theater ist Schwedt. Schwedt, die Chemie-Stadt an der polnischen Grenze. »Chemie bringt Wohlstand, Schönheit, Brot« wie es unter Walter Ulbricht hieß. Und damals sollte sogar noch eine S-Bahn von dort nach Berlin gebaut werden...

Ich fahre zu Arbeitsgesprächen nach Schwedt. Der Intendant freut sich und bietet mir gleich eine große Inszenierung an.

19


1982

»Der Widerspenstigen Zähmung« von Shakespeare. Kriege wieder ein wenig Arbeitslust. Vor allem, weil die Ensemble-Situation sich als günstiger erweist, als ich angenommen hatte. Der bisherige Schauspielleiter hatte es geschafft, das halbe Ensemble aus dem Theater zu ekeln. Danach gelang es dann zwar dem noch verbliebenen Rest, ihn rauszuekeln (er fiel nach oben, da er eng mit der SED-Kreisleitung liiert war) - auf diese Weise sind aber zur Zeit neun Stellen für Schauspieler unbesetzt. Die möchte ich mit Gästen auffüllen. Ich weiß eine ganze Reihe guter freischaffender Schauspieler, etliche davon aus der gemeinsamen Arbeit, die bereits Interesse signalisiert haben. Die meisten von ihnen hängen in Berlin rum und kämpfen um ihren Lebensunterhalt. Denn die Theatersituation ist mittlerweile katastrophal. Es gibt keine Kündbarkeit für Schauspieler und deshalb auch kein funktionierendes Leistungsprinzip. Wer einmal ein Engagement hat, geht meist nicht wieder weg - besonders dann nicht, wenn er schlecht ist. Er hockt auf seiner Planstelle, lähmt den Betrieb, und keiner kriegt ihn von da weg. Er wird - eben weil er schlecht ist - wenig eingesetzt, hat demzufolge viel Freizeit und kann seinen Hobbys nachgehen. Diesen Luxus kriegt er nirgendwo anders geboten. Also bleibt er.

Von derartig blockierenden Mimen sind die Theater voll. Die Leidtragenden sind einmal ihre eigenen Kollegen, weil sie doppelt arbeiten müssen, und dann der Regisseur, weil er sich keine eigene Mannschaft mitbringen kann. Neun freie Planstellen aber sind ein guter Spielraum.

 

AUGUST

Nach den ersten Wochen straffer Inszenierungsvorbereitungen freue ich mich aufs Friedensseminar in Mecklenburg. Ausscheren aus dem Insiderklüngel Theater. Andere Menschen kennenlernen, die Gespräche um etwas anderes kreisen lassen... Unseren Freunden aus der westdeutschen Friedensbewegung

20


1982

wurde sämtlich die Einreise verweigert! Die Staatsorgane versuchen, uns international zu isolieren. Kontakte gewaltsam zu unterbinden, ist da ein taugliches Mittel. Sie besitzen die Macht, nur diejenigen in »ihr« Land zu lassen, die ihnen genehm sind. Wer sich mit Mitgliedern der Friedensbewegung treffen will, ist nicht genehm.

Bei den Holländern sieht es etwas besser aus, wenigstens einige von ihnen durften rein. Seit Monaten versucht die Stasi auch, den Mecklenburger Pastor fertigzumachen. Letzte Woche, vor Beginn unseres Friedensseminars, hat sie sich eine besondere Kostbarkeit ausgedacht: Ein Stück am See entlang gibt es eine kleine Stelle, die inoffiziell als Nacktbadestrand gilt. Dort haben sich Stasi-Leute im Gebüsch versteckt, dem Pastor aufgelauert und ihn, als er nackt war, fotografiert. Daraus fertigten sie dann eine Fotomontage, auf der plötzlich eine unbekannte blonde Dame neben ihm hockt... natürlich ebenfalls nackt. Die Unterschrift lautet: »Das ist unser Pastor mit seiner Geliebten«.

Diese Geschmacklosigkeit wurde vervielfältigt und anonym übers Dorf verteilt. So klebte sie am Schaukasten der Feuerwehr und am Fenster des Dorfkonsums. Auch in den anderen Dörfern, in denen der Pastor des Sonntags predigt, tauchte das Zeug auf. Zwar sieht man schnell, daß es sich um eine Fälschung handelt, doch ob die etwas prüden Mecklenburger Bauern da so genau hinschauen? Vor allem die schwangere Frau des Pastors leidet unter der Demütigung.

Die SED-Führung besteht vor allem aus Stalinisten. Hager, der wohl übelste unter ihren Demagogen, hat sich vor wenigen Wochen in Dresden auf dem X. Kongreß des Kulturbundes wieder die Friedensmaske aufgesetzt. »In unserem Land«, so verkündete er, »gibt es eine millionenstarke Friedensbewegung aller sozialer Schichten und weltanschaulicher Konzeptionen, der auch die Schriftsteller und Künstler, die Kulturschaffenden in Wort und Tat Ausdruck verleihen. Westliche Medien und andere Märchenerzähler, die das Gras wachsen hören, tun so, als ob zwischen uns und pazifistischen Friedensbestrebungen eine tiefe Kluft bestünde.«

21


1982

Eine verblüffende Unverfrorenheit. Denn gerade er ist maßgeblich verantwortlich für die parteiinterne Anweisung, daß jeder Student, der nicht etwa nur die amerikanischen, sondern auch die sowjetischen Atomwaffen für abschaffenswert hält, von einer DDR-Universität zu exmatrikulieren ist..., daß Akademiker solcher Anschauung kaltzustellen sind.

In der Friedensbewegung sind fast alle Berufssparten vertreten, Künstler dagegen kaum. Ein paar Maler, ein paar Graphiker, ein bis drei Puppenspieler, dann hat es sich. Ein Phänomen, über das nachzudenken ist.

Wenn ich mich umschaue, sind übrigens die meisten unserer Wissenschaftler schon nicht mehr Wissenschaftler, sondern inzwischen Heizer oder Pförtner. Bei den Ärzten geht das Engagement für globale Abrüstung meist mit milderen Strafen ab, mit Verwarnung oder Versetzung. Ärzte werden dringend gebraucht. Am schlimmsten ergeht es denen, die im Bildungswesen arbeiten - die können gar nicht so schnell gucken, wie sie rausfliegen. Nicht tragbar für unsere Kinder.

Die persönlichen Nöte nehmen einen großen Raum ein in unseren Gesprächen. Wohin sich retten und seine Ideale nicht verraten? Manch einer nimmt die Erfahrung auf sich, was es heißt, Hilfsarbeiter zu sein. Über den Männern schwebt zudem wie ein Damoklesschwert die Armee. Gehen will keiner, höchstens Spatendienst. Bei den Frauen macht sich praktisches Denken breit: Ein Kind oder das zweite wünschte man sich schon lange, warum soll es nicht jetzt kommen? Damit rettet man sich über zwei, drei Jahre.

In den Westen will niemand. Wir alle hoffen, wir werden es hier schaffen.

22


1982, OKTOBER

Schwedt. Eine große öde Betonsiedlung. Aus dem Boden gestampft in den 60ern, als plötzlich auf Petrolchemie gesetzt wurde. Mit Westfernsehen und dem Versprechen einer S-Bahn nach Berlin wurden Fachkräfte hierher gelockt; um ihr Unterhaltungsbedürfnis zu befriedigen, wurde ein monströses Kulturhaus ins Zentrum geklotzt. Das hat, zum Teil jedenfalls, nun das Theaterensemble auf dem Hals. Riesenbühne, 800 Zuschauerplätze - da will keiner ran.

Ich will. Und zwar auf dieser Bühne ein großes Spektakel veranstalten. Die Talente bzw. der methodische Stand im Ensemble reichen zur Zeit nicht aus, um sich mit einer subtilen Einzelleistung auf einer solch großen Bühne glanzvoll zu behaupten. Ein jeder hat aber irgend etwas, das ihm besonders liegt, das er besonders gut kann. Ich werde deshalb auf ein Hoffest mit Auftritt einer Vaganten-Truppe orientieren, mit vielen aparten Episoden, so daß jeder seine Eigenart einbringen kann. Die Hauptrollen muß ich allerdings fast alle mit Gästen besetzen. Das bringt zunächst Ärger und Gemaule. Ich führe Einzelgespräche, mache klar, daß ich es im Interesse der Sache für sinnvoller halte, einer spielt seine Episodenrolle gut, als daß er eine Hauptrolle schlecht spielt.

Es fällt auf, daß das Ensemble keinen Boden unter den Füßen hat, daß es geprägt ist von einer langen Phase üblen Machtmißbrauchs und fehlender methodischer Arbeit. Intrigen, Zerwürfnisse und permanenter Zuschauerschwund, aber auch Mangel an Selbstkritik sind die Folgen. Zudem gibt es ein paar harte Brocken. Vor lauter Hilflosigkeit (und um überhaupt noch spielfähig zu sein) hat der Intendant, als die große Schauspieler-Fluktuation einsetzte, ein paar theaterbegeisterte Amateure ins Ensemble aufgenommen. Die sind jedoch so hoffnungslos unbegabt, daß sie partout nicht auf eine Bühne gehören. Was machen mit ihnen, wo es keine Kündigung gibt? Freiwillig gehen sie nicht - und jetzt gleich gar nicht, da sich ein Aufschwung andeutet.

23


1982

Die Gäste habe ich sehr bewußt ausgesucht. Es geht in dem Fall nicht ausschließlich um ihre schauspielerische Begabung. Genauso wichtig ist es, daß sie warmherzig und kollegial sind und sich damit problemlos in ein kompliziertes Ensemble einfügen können. Es muß so schnell wie möglich gelingen, eine Truppe zu schmieden - die gute Zusammenarbeit aller Beteiligten ist nach meiner Erfahrung schon die halbe Miete.

Ich bin fest entschlossen, nicht nach Schwedt zu ziehen, sondern meinen Berliner Wohnsitz zu behalten, um so zwischen meinen Inszenierungen weiter meiner Friedensarbeit nachgehen zu können. Deshalb muß ich Nadja jetzt für sechs Wochen in Berlin zurücklassen. Sie wird betreut von der Kinderfrau meiner Hauptdarstellerin, die auch zwei Kinder hat und in der gleichen Situation ist wie ich: der Situation der alleinstehenden Frau mit beruflichem Impetus. Die ständig und stets vergeblich versucht, zwei Prioritäten unter einen zu eng geratenen Hut zu zwingen. Männliche Regisseure haben es da verdammt gut - sie haben ihre Frauen, die ihnen den Laden zu Hause schmeißen. Ich muß mich gegen mein schlechtes Gewissen abhärten, um ruhig arbeiten zu können. Zum Glück ist meine Hauptdarstellerin auch eine routinierte Trabant-Fahrerin. So »jagen« wir jedes Wochenende über die Autobahn zu unseren Kindern in den Prenzlauer Berg.

 

NOVEMBER

Wir stecken tief in der Arbeit - und sind total entflammt. Uns stehen für diesen Riesenschinken allerdings nur ganze sechs Wochen Proben zur Verfügung, eine indiskutable Zeit. Ich setze also drei Proben pro Tag an und staffle die Schauspieler so, daß jeder auf nur insgesamt zwei Proben kommt. »Der Widerspenstigen Zähmung« - wie geht man mit der frauenfeindlichen Grundaussage dieses Stückes um?

24


1982

Ein Mann zwingt eine aufbegehrende, selbstbewußte Frau mit Gewalt zur Unterordnung. Und zwar nicht nur zur Unterordnung unter seine männliche Vormachtstellung - er zwingt sie auch, sich den herrschenden gesellschaftlichen Zwängen überhaupt zu beugen und ihre Zweitrangigkeit als Frau hinzunehmen. Blöderweise ist Shakespeare auch noch ein witziger Frauenfeind. Seine Komödie ist durchaus passabel, man kann sie nicht einfach zur Farce oder zur Tragödie biegen, ohne das Stück zu beschädigen... Wir tüfteln und hecken aus, zwischen den Proben und die halbe Nacht hindurch, in großen und in kleinen Gruppen, beim Wodka und am trockenen Tisch. Bis uns eine geniale Idee kommt. Da wir ein »Spiel im Spiel« ablaufen lassen - sowohl die Vagantentruppe als auch die gesamte Hofgesellschaft befinden sich zweieinhalb Stunden über ununterbrochen auf der Bühne -, ist sie auch umsetzbar. Wir erfinden die verrücktesten Spannungsverhältnisse, das Ensemble lebt auf wie unter frischer Blutzufuhr, und auch die Werkstätten ziehen prächtig mit. Wenn der Intendant miese Laune hat, setzt er sich in die Proben, um sich aufzuheitern. Die Zeit rast.

 

9. DEZEMBER

Eine glänzende Premiere. Etliches von meinen Plänen hat sich in der Kürze der Zeit nicht verwirklichen lassen; diese Luschigkeiten treten durch den leidenschaftlichen Einsatz der Schauspieler, durch sprühende Einfälle und ein flottes Spieltempo in den Hintergrund.

Die Inszenierung wird zum Publikumsrenner. Der Intendant bittet mich, auch die zweite große Klassiker-Inszenierung der Spielzeit zu übernehmen: »Der Geizige« von Moliere. Doch das hat noch ein paar Monate Zeit, ich kehre nach Berlin zurück und hole mein Kind.

25


1983, JANUAR

Die Inszenierung hat mich wieder für das Thema Frau sensibilisiert.

Auf der Suche nach konkretem Material für das Programmheft hetzte mein Dramaturg von Bibliothek zu Bibliothek und machte eine dunkle Erfahrung: Über die Situation von Frauen in der DDR gibt es so gut wie keine Auskünfte. Natürlich, der Scheiß von der Frau im Sozialismus, der alle Türen offenstehen ..., die sozial aufgefangen ist und vollkommen gleichberechtigt - davon sind die Regale voll. Es steht nicht die Frauenfrage in der DDR zur Diskussion, sondern einzig die Klassenfrage. Und die ist nach Ansicht der Staatsmacht gelöst. Punkt. In Wahrheit wird das Thema zielgerichtet tabuisiert. Die Erkenntnisse über die tatsächlichen Probleme von DDR-Frauen werden streng geheimgehalten und nur einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern und Funktionären zugänglich gemacht. Sie gelangen über den Soziologie-Bereich der SED nicht hinaus. Die Tabuisierung ganzer gesellschaftlicher Felder ist noch immer ein probates Mittel, um Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Wie kann man Aussagen treffen, wenn man in bestimmte Bereiche keinen Einblick erhält?

Ich beschließe, mir mein Wissen selbst zu holen, und mache mich an die Arbeit. Ich entwerfe einen Fragebogen und konzentriere mich dabei auf folgende Schwerpunkte: Frauen zwischen Kindern und Beruf, Beziehungswandel von Mann und Frau im Laufe der Ehe, die besondere Situation alleinstehender Mütter. Meine Zielgruppe werden Frauen im Alter von 18 - 55 sein. Den Fragebogen lege ich einem befreundeten Soziologen vor; der korrigiert fachmännisch und sagt mir Unterstützung bei der Auswertung zu.

Alles muß geheim ablaufen, unangemeldete Befragungen sind streng verboten. Die Genehmigung für eine Befragung erhält man aber nicht, nicht mal zu Arbeitszwecken.

26


1983

Der Grund: eigene Erkenntnisse sollen verhindert werden, sie führen zur Einmischung in gesellschaftliche Angelegenheiten. Klammheimlich bereite ich deshalb die Befragung vor. Sie soll im Februar steigen und etwa 500 Frauen umfassen. Befragen werde ich in Dresden, Berlin und Schwedt - in diesen Städten habe ich in einigen Betrieben und Institutionen über Bekannte bereits einen Fuß drin. Knüpfe alle erdenklichen Fäden.

 

MITTE JANUAR

Der Autor Ulrich Plenzdorf trägt mir, nachdem er meine Shakespeareinszenierung gesehen hat, die Uraufführung seines Stücks »Legende vom Glück ohne Ende« an. Das Stück hat bereits Geschichte. Es wurde im letzten Jahr am Deutschen Theater Berlin probiert, dort kam es zu heftigen politischen Querelen. Die Proben mußten abgebrochen werden, das Stück verschwand. Der Intendant verschwand auch, er wurde nach Dresden abserviert. Nun will der Autor einen neuen Anlauf nehmen. Schwedt eignet sich. Es liegt nicht unmittelbar im Blickwinkel der Kulturbonzen, aber noch nahe genug an der Hauptstadt, so daß man von dort aus relativ schnell hier sein kann. Ich freue mich sehr über das Angebot, sehe darin einen attraktiven Start für die neue Spielzeit. Muß das Stück allerdings noch dem Schwedter Intendanten unterjubeln, der (wie alle Intendanten dieses Landes) lieber politische Vorsicht walten läßt.

Ich kehre in meinen Friedenskreis zurück, der stark angewachsen ist und inzwischen aus mehreren Arbeitsgruppen besteht: Friedenserziehung, Rüstungsfragen, Theologische Aspekte, Dritte Welt. Ich ordne mich der Gruppe für Rüstungsfragen zu; davon habe ich die wenigste Ahnung. Quäle mich mit Zahlen und Fakten, Kernwaffen-Potentialen und Sprengkraft-Berechnungen. Was ist Trinitrotoluol?

27


1983

Meine Amateur-Theatertruppe drängt mich, die begonnene Arbeit mit ihnen fortzusetzen. Gebe die wackere Truppe schweren Herzens an meinen Dramaturgen ab. Ich muß mit meiner Zeit haushalten: Inszenierungs-Vorbereitung für Moliere, Frauenbefragung, Rüstungsproblematik. Nebenbei bin ich noch im Elternaktiv der Klasse meiner Tochter. Die Kinder rechnen wie jedes Jahr damit, daß wir gemeinsam die Faschingsfeier vorbereiten.

 

MÄRZ

Der Intendant hat die Uraufführung des Plenzdorf-Stückes genehmigt. Ich kann Ende des Jahres in die Proben gehen. Das Stück ist wie ein Baukasten, dessen Steine man unterschiedlich zusammensetzen kann. Das wird das »Brot« meines Sommers sein - die für uns günstigste Spielvariante auszuknobeln... Vorerst jedoch bin ich mit einer anderen, sehr aufregenden Arbeit befaßt: meiner Frauenbefragung. Sitze zur Zeit häufig in Kantinen und am Rand von Fließbändern, in Wohnzimmern und Cafes. Vieles läßt sich in Berlin organisieren. Nach Schwedt muß ich ohnehin jede Woche - und nun zieht es mich eben auch wieder öfter in meine Heimatstadt, nach Dresden. Die Frauen reagieren ganz unterschiedlich. Meistens freuen sie sich, daß überhaupt mal jemand von ihnen Notiz nimmt - und packen dann geradezu wollüstig aus, erzählen ohne Umschweife von Ehe-Alltag, Arbeit und Kind. Manche Frauen können gar nicht über sich reden. Kriegen sich einfach nicht über die Lippen. Es verbirgt sich etwas in ihnen, das nicht nach außen kann (oder will). Andere fragen, ob sie sich noch einmal mit mir treffen können. Dann folgen mitunter beklemmende Enthüllungen.

Die meisten sind neugierig. Wollen wissen, was ich mit den Ergebnissen anstelle. Und vor allem: wie es den anderen Frauen im Leben ergeht! Mißtrauen gibt es, obwohl ich keinen offiziellen Schein habe, so gut wie gar nicht.

28


1983

Das erstaunt mich ein wenig, da die Menschen in unserem Land im allgemeinen eher verschlossen und ängstlich sind. Manche finden das Ganze geradezu abenteuerlich - an etwas teilhaben zu können, was eigentlich verboten ist. Geheimniskrämerisch werde ich an Kolleginnen und Freundinnen weitergereicht. Innerhalb differenzierter Berichte schiebt sich bereits jetzt ein Problemkreis deutlich in den Vordergrund: die Situation der alleinstehenden Frauen mit Kind. Es gibt kaum eine, die nicht über krassen Kontaktmangel klagt - einige wähnen sich aus der Gesellschaft völlig ausgegrenzt. Aus einer Gesellschaft, die alleinstehende Mütter zwar sozial integriert, die in ihrem Gesamtkonzept jedoch ausschließlich auf die »intakte Familie« ausgerichtet ist.

Das gibt zu denken, stand für mich bisher nicht als hautnahes Problem. Was die Frauen sagen, ist die eine Seite. Genauso bedeutsam ist, wie sie es zur Sprache bringen. Ihre Gesten, der Klang ihrer Stimme, der Sprechduktus, ihre Augen... manchmal erzählen sie etwas, und ihre Gesichter drücken etwas ganz anderes aus. Es ist spannend. Und es entstehen einige Freundschaften.

In Jena rumort es. Doch dringen nur unklare Berichte zu uns. Der Jenenser Friedenskreis hatte vergangene Weihnachten versucht, auf dem Marktplatz der Stadt eine Schweigeminute einzulegen, und wurde von der Stasi hart in die Mangel genommen. Jetzt, so hören wir, sind wieder etliche Mutige mit Transparenten losgezogen, um Frieden und Gewaltlosigkeit zu fordern. Da waren sie bei unseren Staatsorganen genau richtig, die Transparente wurden natürlich zerfetzt. Es soll mehrere Verhaftungen gegeben haben. Alle hängen am Radio und an der Tagesschau, um Genaueres zu erfahren.

Es ist eine brandheiße Zeit, und manchmal habe ich Angst, es könnte einer durchdrehen.

Im Straßenbild häufen sich diverse Aufsteller mit lachenden oder entschlossen dreinblickenden Soldaten.

29


1983

Auch in unseren Kinderzeitschriften häufen sich die Uniformen. Die Militarisierung des Alltags nimmt ebenso zu wie das Ringen der Friedensbewegung um einen Abbau von Feindbildern.

Vor allem mehren sich die Proteste gegen den in unseren Schulen eingeführten Wehrkundeunterricht. Die Kirche kritisiert offen die Erziehungspolitik des Staates. Aus unserem Friedenskreis macht sich die Arbeitsgruppe »Friedenserziehung« in die Spielzeugläden auf und versucht dort, bedenkenlose Eltern vom Kauf eines Plastikpanzers abzuhalten oder sie wenigstens vom Gummisoldaten auf einen Indianer umzulenken. Die SED-Mächtigen fahren in puncto Frieden mal wieder zweigleisig. Auf der einen Seite unterstützen sie propagandistisch die Olof-Palme-Idee einer atomwaffenfreien Zone entlang der Ost/West-Grenze. Auf der anderen Seite polieren sie in ihrer Armee-Zeitung die alten Feindbilder auf: »Haß auf den imperialistischen Feind. Wie sollte er häßlich sein und abstoßen, wo er doch geboren ist aus der Liebe zu unserem sozialistischen Vaterland, zum Frieden, zur Gerechtigkeit unseres Kampfes? Haß erleichtert, Haß schafft Gerechtigkeit, Haß veredelt!«

 

17. MAI

Schwedt. Probenbeginn zum »Geizigen« von Moliere. Wieder mit mehreren Gästen, diesmal aber in einer anderen Zusammensetzung. Das Ganze nicht ohne Risiko, denn einige kenne ich selbst kaum. Meine eingeschworene Shakespeare-Truppe kann aufgrund anderer Terminverpflichtungen erst zur nächsten Inszenierung wieder vollständig versammelt sein. Dem Intendanten habe ich meine Spielplan-Konzeption fürs kommende Jahr vorgestellt. Ich plane wieder zwei große Inszenierungen - nun aber keine Klassiker, sondern das Plenzdorf-Stück und eine große Majakowski-Revue. Der Intendant, durch meine letzte Inszenierung mit zahlreichen Streicheleinheiten auch »von oben« bedacht, ist wie Butter. Es sagt zu allem ja.

30


1983

»Der Geizige«. Habe einen Louis-de-Funes-Typ aufgegabelt und erhoffe mir einen spritzigen und intelligenten Abend. Ich möchte sehr gerne, daß die Menschen wieder ins Theater kommen. Ja, auch die Arbeiter, die besonders. Alle, die sonst nur Glotze gucken. Durch die Frauenbefragung steht mir wieder plastisch vor Augen, wie ausgepumpt die meisten abends in ihren Neubau-Buchten herumhängen. Um sie noch mal rauszulocken, muß man schon einen Köder auslegen. Bei Shakespeare hat das geklappt. Die Zusammenarbeit mit den Werkstätten funktioniert bestens, aber sie sind bei solch großen Schinken völlig überfordert. Die Rückansicht einer Villa, ein schweres Eisentor und ein tellergroßer Goldfischteich - das droht die Kapazität von Schlosserei und Tischlerei zu übersteigen. Auch finanziell ist es ein ganz schöner Happen. Die kleinen Theater in der DDR sind mit viel zu geringen Mitteln ausgestattet, um auf Dauer gutes, auch optisch gutes Theater machen zu können. Dabei haben sie oftmals mehr Stücke im Spielplan als größere Häuser. Mitte der Spielzeit geht dann bei einigen schon das Geld aus. Mein Vorschlag: den riesig-schlabbrigen Haufen von Kulturbürokraten abtragen und die frei werdenden Gelder dahin fließen lassen, wo sie tatsächlich gebraucht werden und wo sie denen zugute kommen, die sie erarbeiten müssen.

 

 

ENDE MAI

Seit einiger Zeit verkauft die DDR in den Westen, was nicht niet-und nagelfest ist. Zum Ausverkauf gegen Devisen kursieren bereits zahlreiche Witze.

Die Genossen machen auch vor dem Theater nicht halt. Es liegt eine Anweisung vor, daß alle Antiquitäten aus dem Möbel- und Requisitenfundus an den Staat abzuliefern sind. Irgendwie ist durchgesickert, daß in den nächsten Tagen eine entsprechende Kommission im Theater auftauchen wird. An Möbeln ist ohnehin nicht viel da, doch im Requisitenfundus lagern einige Schät-

31


^^^^

www.detopia.de