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Nachwort
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Ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende wird Europa von der Wiederkehr dessen erschüttert, was als überwunden galt und somit vernachlässigbar. Der Schock angesichts der Massaker an Zivilisten auf dem Balkan sitzt tief, eingeschliffene Antworten sind der Verunsicherung gewichen. Die Frage: »Was geschieht in Kriegen mit Frauen und Kindern?« fordert endlich die Erinnerung heraus, in einer Zeit, in der Vergewaltigungen und Deportationen von jahrzehntelanger Tabuisierung ins historische Vergessen zu gleiten schienen.
Noch immer steht Verdrängung auf der internationalen Tagesordnung: Bei einer kürzlich von MEMORIAL Moskau durchgeführten Befragung fand sich unter den einst in Deutschland einmarschierenden Veteranen der Roten Armee kein einziger, der sich an irgendeine Vergewaltigung erinnern konnte.
Und wie sieht es in dem Land aus, das den Zweiten Weltkrieg entfacht hat und dadurch letztlich mitverantwortlich ist für das Leid der Verschleppten? Die deutsche Einheit bescherte jenen Frauen eine zusätzliche Demütigung, die — aus Rußland heimkehrend — in der DDR landeten und dort nie einen Pfennig Entschädigung erhielten. Nach der »Wende« begannen sie zu hoffen. Doch im Dezember 1992, während die ersten Briefe mit der Bitte um Gleichbehandlung auf die Tische von Politikern und Stiftungsräten flatterten, wurde in Bonn gehandelt: Das nun auch für die neuen Mitbürger geltende Kriegsfolgebereinigungsgesetz wurde im Bundestag kurzerhand gekappt, unter Mitwirkung aller Parteien.
Seither scheitert jeder Versuch, deportierten Frauen aus der Ex-DDR eine Kur zukommen zu lassen, gar eine Entschädigung. Atemberaubend die advokatischen Winkelzüge, beschämend der Papierwust an Absagen und Erklärungen von Nichtzuständigkeit. Mangelt es an Geld oder an Gerechtigkeitsempfinden?
Die Bonner Heimkehrerstiftung jedenfalls, seit dem gekappten Gesetz zuständig auch für »Geltungskriegsgefangene« (wie deportierte Zivilisten etwas unzutreffend umschrieben werden), ist allein für das Jahr 1995 mit einem Etat von sechs Millionen Mark Steuergeldern ausgestattet worden. Von den Dutzenden verschleppter Frauen, die ich darauf ansprach, hat keine davon auch nur eine Mark gesehen — weder die aus der Ex-DDR noch ihre Leidensgefährtinnen im Westen.
Die Bitte um ein klärendes Gespräch im Berliner Abgeordnetenhaus wurde von der Heimkehrerstiftung abschlägig beschieden — aus Zeitgründen.
Die Glaubwürdigkeit des vereinten Deutschland messe ich auch daran, wie wir mit Menschen umgehen, die – körperlich und seelisch mitunter lebenslang geschädigt – für ein Kriegsgeschehen büßen mußten, an dem sie nicht schuldig waren. Noch immer sehe ich sie an den Rand des Vergessens gedrückt.
Charlotte S. aus Elbing fand kürzlich ein Photo mit Frauen wieder, die aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind. Unter dem Bild der handgeschriebene Satz an die Mitmenschen: WAS WISST IHR SCHON!
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Freya Klier