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Bestandsaufnahme 

 

(Jürgen Fiedler)

 

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Anfang September 1990. Vom Untergang beschattete Systeme suchen nach dem Schuldigen, und alles, was auch nur im geringsten vom Täglichen abweicht, ist schon schuldig. Die verendete Diktatur, die sich ironischerweise mit dem anspruchsvollen Namen "Deutsche Demokratische Republik" schmückte, schlitterte vom ersten Tag ihrer Gründung dem unabwendbaren Untergang entgegen. 

Ein solch verworfenes Staatswesen konnte sich allein durch die Feigheit eines vorteilsorientierten Teiles seiner Staatsbürger aufrechterhalten. So bleibt zu hoffen, daß die zukünftige Demokratie auf den Anstand und Mut ihrer Bürger bauen darf.

Anfang September 1990. Noch immer warten die unschuldigen Opfer unzähliger Schandurteile auf ihre Rehabilitierung. Einige wenige lernten Sie im Rahmen dieser Dokumentation kennen. Unverständnis, Verzweiflung und Anklage schlugen Ihnen entgegen. Eine aktuelle Bestandsaufnahme kann nur vollständig sein, wenn auch die Namen der Täter nicht verschwiegen werden; dies gebieten Anstand und Redlichkeit.

An dieser Stelle sei das Stenogramm zweier Bilderbuchkarrieren eingefügt: der beiden Chemnitzer Staatsanwälte Böhm und Rubitzsch. Sie wurden zu den primitivsten Handlangern des organisierten Verbrechens. Allerdings stehen die Namen dieser Topstaatsanwälte stellvertretend für Täter ähnlichen Kalibers.

Staatsanwalt Rubitzsch schloß 1961 sein Jurastudium ab und verdiente sich seine Sporen an verschiedenen Stellen des damaligen Bezirkes Karl-Marx-Stadt, unter anderem ab 1966 als Kreisstaatsanwalt in Reichenbach/Vogtland. Bereits 1969 trat er in die Abteilung I A der Karl-Marx-Städter Bezirksstaatsanwaltschaft ein. 1976 avancierte er zum Stellvertreter des Bezirks-Staatsanwaltes. In besagter Abteilung I A traf er erstmalig Staatsanwalt Böhm, der ab 1977 hier als Leiter berufen wurde. Diese Abteilung I A der Staatsanwaltschaft wird durch ihre tragenden Säulen Staatssicherheit, SED und Justiz zum schlagkräftigen Machtinstrument der herrschenden Clique. 

Unter strengstem Ausschluß der Öffentlichkeit besprechen die Vertreter dieser drei Einrichtungen ihr taktisches Vorgehen, um unschuldigen politischen Opfern ein unwahres Geständnis abzupressen bzw. sie in die gut vorbereitete Falle ihres wohldurchdachten Paragraphendschungels zu locken. Böhm und Rubitzsch ließen gemäß den Anweisungen der Partei ihren Opfern keine Chance, aus dem dichten Netz raffinierter Intrigen zu entkommen. 

Die enge Verflechtung Staatssicherheit — Partei — Justiz kommt auch darin zum Ausdruck, daß Böhm aktives Mitglied zweier dieser Organisationen war. Er versah zwischen 1972 und 1986 über 14 Jahre hinweg das Amt des Parteisekretärs am Bezirksgericht in Karl-Marx-Stadt. Hierdurch hatte er sich eine der wichtigsten Schlüsselpositionen am Bezirksgericht angeeignet, die sich durch hautnahen Kontakt mit der SED-Bezirksleitung auszeichnete. Böhm realisierte von dort aus die exakt formulierte Informationsanordnung der Bezirksparteileitung der SED, nach der über alle politischen Verfahren umgehend detaillierte Berichte an die Parteileitung zurückflossen.

Die Aufgabe des Staatssicherheitsdienstes im Rahmen dieses verbrecherischen Triumvirats bestand in der Zuarbeit durch die geistig-seelische Folterung in Form von bis zu 12 Stunden währender Verhöre, die bevorzugt in den Nachtstunden vorgenommen wurden. Rekapitulieren wir die ausgeklügelte Verfahrensweise: Informanten und Hauptamtler der Staatssicherheit stießen im engmaschigen Bespitzelungssystem auf politisch unliebsame Bürger und erstatteten daraufhin über ihre Vorgesetzten genauesten Bericht, oft auch gezielt frisiert an die Bezirksparteileitung. 

Diese ordnete mit Hilfe der Bezirksstaatsanwaltschaft die Untersuchung an, die wiederum unter strengster Geheimhaltung in enger Zusammenarbeit von Staatssicherheit und Bezirksstaatsanwaltschaft stattfand. 

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In steter Rückkopplung zur Bezirksstaats­anwaltschaft garantierten unmenschliche Vernehmungs­methoden in jedem Falle den angestrebten Erfolg und führten oft zu jahrelangen Haftstrafen. Die Rundverfügung "Öffentlichkeitsausschluß" beschränkte die Anzahl der beteiligten Staatsanwälte des Bezirkes auf einige wenige, besonders kaltschnäuzige, skrupellose Beamte. Diese exponierten Häscher wurden in der berüchtigten Abteilung I A der Bezirksstaatsanwaltschaft zusammengefaßt.

Waffenträger Rubitzsch und Böhm sowie ihre Kollegen der Abteilung I A der Bezirksstaatsanwaltschaft betrieben als moralische Nachfolger Roland Freislers (1893-1945) eine Art Sondergericht zur "gesetzlich" legalisierten Terrorisierung von Gegnern des herrschenden Systems. Oft wurde bereits der gestellte Ausreiseantrag in die Bundesrepublik Deutschland zum Anlaß genommen, um Bürgerinnen und Bürger dem vernichtenden Terrorsystem der beschriebenen Maschinerie auszusetzen. In den von den Angeklagten nicht anfechtbaren Urteilen erkannte dieses Sondergericht in Hunderten von Verfahren auf unmenschliche Freiheits­strafen. Das Ziel dieser "Justizmaßnahmen" war Abschreckung, die Einstellung konträrer politischer Aktivitäten und der Verzicht auf die Ausreise (besser wohl Flucht) in die BRD. Die Abteilung I A bezog ebenfalls die genaue Direktive zur "rechtlichen" Behandlung Ausreisewilliger von der Bezirksparteileitung der SED.

Es erübrigt sich, von den moralischen Qualitäten dieser Folterknechte einer entarteten Justiz ein Bild zu entwerfen. Besonders Böhm zeichnete sich durch Skrupellosigkeit, Ausgepufftheit, Kaltschnäuzigkeit und Demagogie aus. Bei diesen beiden Beamten, Rubitzsch und Böhm, bewahrheitet sich einmal mehr das häufig zitierte Wort von der Gnade einer späten Geburt. Sie hätten dem faschistischen Volksgerichtshof zweifellos zur Zierde gereicht.

Doch nicht genug damit. Die Ironie des Schicksals findet ihre Fortsetzung auch nach den ereignisreichen und befreienden Tagen des Herbstes 1989. Erneut wird die Bezirksstaatsanwaltschaft Karl-Marx-Stadt, später Chemnitz, zum auserwählten Ort eines makabren Geschehens.

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Und wieder spielen die beiden Herren, Rubitzsch und Böhm, die üble Hauptrolle. Beiden bleibt ihre privilegierte Stellung in der Bezirksstaatsanwaltschaft erhalten. Rubitzsch bleibt Abteilungsleiter, nicht mehr I A, verständlicherweise aufgelöst, doch weiterhin Strafrecht. Der eigentliche Höhepunkt des beängstigenden Possenspiels sieht Böhm wieder einmal an der Spitze des Geschehens. Er wird zum Leiter für Rehabilitierung der politischen Verfahren ernannt, die bis 1964 durchgeführt wurden. Man geht also nicht so weit, daß man ihm seine eigenen Unrechtsurteile zur Revision übergibt, sondern setzt ihn auf die "befohlenen Irrtümer" seiner Vorgänger an. Böhm entledigt sich dieser Aufgabe mit der notwendigen Gelassenheit des perfekten Erfüllungsgehilfen. Wie Rubitzsch wußte er "lediglich von den Methoden der Staatssicherheit, nicht aber von deren wirklichem Ausmaß". Beide wuschen ihre Hände natürlich in Unschuld.

Bereits im Februar 1990 wurde Rubitzsch und Böhm nahegelegt, ihre Posten bei der Bezirksstaatsanwaltschaft zu räumen. Vergebens. Bleibt die Frage, in welcher Weise diese Herren noch heute in der Lage sind, ihr verderbliches Unwesen zu treiben. Nichts Neues im Falle Rubitzsch. Böhm vertritt noch immer die Bezirksstaatsanwaltschaft Chemnitz in der Abteilung Eingaben. Dort befaßt er sich zur Zeit nicht mehr mit Fällen des Strafrechts, sondern bearbeitet mehrheitlich anliegende Grundstücksfälle, die auf ungerechtfertigte Zwangsenteignungen der Ulbricht- und Honecker-Ära zurückgehen. Die skrupellosen Vertreter totaler Repression kleben wie die Kletten an jeder einzelnen Sprosse ihrer Karriereleiter und sprechen in althergebrachter Weise noch immer "im Namen des Volkes" Recht. Die Opfer aber, einst zerbrochen und vernichtet, bangen um ihre nackte Existenz in diesen zerrütteten wirtschaftlichen Verhältnissen, Ergebnis einer unfähigen, selbstherrlichen Diktatur.

Die friedliche Revolution in der DDR des Jahres 1989 zeichnete sich durch den unschätzbaren Vorteil aus, daß sie ohne Blutvergießen vonstatten ging. Sie krankt hierdurch an der bösartigen Mangelerscheinung, nicht tief genug gepflügt zu haben. 

Die gründliche Aufarbeitung der unbewältigten Vergangenheit sollte im Interesse der Menschen und besonders der gequälten Opfer in zeitlich umgekehrter Folge vollzogen werden. Wir sollten am heutigen Tag beginnen, den gestrigen und alle weiter zurückliegenden Tage und Jahre als unwiderlegbare Beweisstücke nutzend, um der kalten Schandmoral der Rubitzsch, Böhm und Konsorten den Kampf anzusagen. Wem vor sich selbst übel sein sollte, der taugt schlecht zum Sachwalter der Allgemeinheit.

Wo der gesunde Menschenverstand zu versagen scheint, machen sich Skepsis und Resignation breit. Dieses Buch sollte Sie aufrütteln, hellwach aufzubegehren gegen verderbliche Schlamperei oder hinterhältige Absicht. Ihr Schaudern muß in Mitgefühl umschlagen, um den potentiellen Nachfolgern des Massenmörders Freisler das Handwerk endgültig zu legen. Die Zeit hat jene überholt. Ihr Protest und Zorn, liebe Leser, hat unser Land schon einmal verändert. Rasten Sie nicht vorschnell, sonst bleiben die Opfer, die in diesem Buch zu Wort kommen, auch durch Ihr Verschulden anonym und grau. Keine Angst. Vor allem kein Bedauern.

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Jürgen Fiedler

 

 

 

Ende

 

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