Volker Koop

Zwischen Recht und Willkür 

Die Rote Armee in Deutschland

Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Rupert Scholz

 

1996 by Bouvier Verlag, Bonn  #   ISBN 3-416-02626-8
Umschlag: Michael Fischer, Köln.
Druck: Plump, Rheinbreitbach

Volker Koop :  Zwischen Recht und Willkür  (1996)  Rote Armee in Deutschland   - 

1996  *1945 

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detopia:   Koop Start

Aschebuch   PankowBuch

Kowalczuk  Wolle 2001  

 

Nachdem Koop bereits den "Spuren der NVA" gefolgt ist, nimmt er sich hier der "Roten Armee" auf DDR-Gebiet an. Heraus kommt ein Verbrechens­register von 1945 bis 1984, hübsch unterteilt nach Deliktarten, in dem immer wieder die besondere kriminelle Energie dieser Truppe kommentiert wird, so dass dem Autor im Nachwort wenigstens für die Länge eines Satzes Zweifel am Gesamteindruck, den das Buch tatsächlich hinterlässt - "Vom Wüten der Roten Armee in der DDR" untertitelt die FAZ -, kommen. 

Die Militärstaatsanwaltschaft der DDR kommt dabei als redlich um "deutsches" Recht und "deutsche" Ordnung bemühte Institution verdächtig gut weg, hingegen wird kaum nach Motiv und Situation der Täter geforscht, das Umfeld DDR kommt nur als Opfer vor. Schützenhilfe erhält Koop von seinem Ex-Chef Rupert Scholz, der schon im Vorwort verkündet, worum es hier geht, nämlich "darzustellen, dass kriminelle Handlungen sowjetischer Soldaten auf deutschem Boden geradezu systembedingt waren", also die um Besatzer aus dem "Reich des Bösen". - Einseitige Darstellung mit über 100 Seiten Dokumentenanhang.  (perlentaucher.de)


Trotz der offiziell immer wieder erklärten Parolen von den „Waffenbrüdern - Klassenbrüdern" dachte die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) in der DDR überhaupt nicht daran, sich an den 1957 formell geschlossenen Stationierungsvertrag zu halten, geschweige denn an das wenig später unterzeichnete Rechtshilfeabkommen.

Im Gegenteil: Diebstähle gehörten ebenso zum „Truppenalltag" wie Morde, Vergewaltigungen, ein geradezu krimineller Umgang mit Waffen und Munition oder grob fahrlässig verursachte Verkehrsunfälle, bei denen unzählige Bewohner der DDR ihr Leben hatten lassen müssen. Dieses ist kein Buch, das beschönigt oder verharmlost. Es soll aber auch keinen Keil zwischen Deutsche und Russen treiben, sondern in seiner Offenheit zur Bewältigung der jüngeren gemeinsamen Geschichte beitragen.

Wenn in der Regel Verallgemeinerungen auch nicht zulässig sind, dann gilt dieses hier ausnahmsweise nicht. Zweifellos kam die Rote Armee als Befreier vom Nazi-Regime. Doch aus den Befreiern wurden sehr schnell Besatzer, die sich auch stets als solche empfanden. Eine geheime Analyse des damaligen DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung noch aus dem Jahr 1988, die in diesem Buch erstmals veröffentlicht wird, weist schonungslos nach, daß die sowjetischen Streitkräfte in der DDR bis zuletzt den Status von Besatzungstruppen besaßen und ein entsprechendes Verhalten an den Tag legten. 

Volker Koop, geboren 1945 in Pfaffenhofen/Obb., lebt seit 1984 in Bonn. Nach journalistischer Tätigkeit, u.a. in Nienburg, Osnabrück, Hamburg und Bonn wechselte er 1984 als Sprecher des damaligen Berliner Senators für Bundesangelegenheiten, Prof. Dr. Rupert Scholz, auf die „andere Seite" des Schreibtisches und ging mit ihm auch ins Bundesverteidigungsministerium, wo er innerhalb des Informations- und Pressestabes die Medienredaktion aufbaute. 1994 verließ er den öffentlichen Dienst, um sich ausschließlich seinen journalistischen und publizistischen Arbeiten widmen zu können.

Inhalt  

Vorwort von Prof. Dr. Rupert Scholz  (7)

Einleitung von Volker Kopp  (11) 

Dokument: Militäroberstaatsanwalt 1986  (19)

 

TEIL I   Die Theorie  (23) 
Grundlagen des Stationierungs- und Rechtshilfeabkommens  (25) 

TEIL II    Die Praxis  (91) 

Die Schwerpunkte der Kriminalität: Straftaten von Vorgesetzten gedeckt oder gar befohlen  (93)
Fahnenflüchtige: Mit der Waffe schnell zur Hand  (113)
Vergewaltigungen an der Tagesordnung: Die Opfer verhöhnt  (122)
Rowdytum: Eine aktive Bedrohung im Alltag  (141)
Verkehrsunfälle: Deutsches Recht war Nebensache  (147) 
Forst Zinna: Sechs Menschen starben bei Eisenbahnunfall - Häufig Katastrophen in letzter Minute verhindert  (179) 

In Gössel die Kirchturmuhr zerschossen - In einzelnen Kreisen die Hälfte aller Waldbrände verursacht  (188) 

Handgranaten im Straßengraben: Grenzenloser Leichtsinn im Umgang mit Waffen und Munition - DDR befürchtete Bewaffnung von „Konterrevolutionären"  (192) 
Von der Futterrübe zur High-tech: Gestohlen wurde einfach alles - Diebstähle von sozialistischem und privatem Eigentum  (196) 

Nachwort  (239) 

 

TEIL III   Anhang (241)  
Abkürzungen (243)  Übersichten (244)

Dokumente (248) Zeittafel (250) 

 

   

 

Vorwort 

von Prof. Dr. Rupert Scholz

7-10

Millionen von sowjetischen Soldaten mit ihren Familienangehörigen waren zwischen 1945 und dem 31. August 1994 im Deutschland östlich der Elbe stationiert. Um wie viele es sich jeweils zu konkreten Daten handelte, war selbst der Regierung der DDR nicht bekannt, geschweige denn dem Westen. Sogar die DDR war, wie aus der Geheimen Verschlußsache A 426 034 des Ministeriums für Nationale Verteidigung noch aus dem Jahr 1988 (!) hervorgeht, darauf angewiesen, die Zahl der auf ihrem Gebiet stationierten sowjetischen Soldaten bzw. Änderungen in der Personalstärke anhand des Strom- oder Wasserverbrauches in den sowjetischen Kasernen zu schätzen.

Exakte Daten zur Truppenstärke können nicht einmal für das Jahr der deutschen Wiedervereinigung genannt werden: Einer Quelle zufolge befanden sich 1990 in der DDR in 60 Hauptstandorten 584.000 Soldaten sowie 185.000 Zivilbedienstete und Familienangehörige, wohingegen die russische Seite von 338.000 Soldaten sowie 207.400 Zivilbediensteten und Familienangehörigen spricht. Da in den Jahren zuvor die sowjetische Führung immer wieder einmal publikumswirksame "einseitige Truppenreduzierungen" vorgenommen hatte — so 1956 und 1980 —, ist sicher, daß die Zahl der in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten zeitweise erheblich höher gewesen sein muß.

Trotz aller westlichen Bemühungen, Erkenntnisse über die Stärke der sowjetischen Truppen, ihre Ausbildung und Bewaffnung und insbesondere natürlich über ihre militärische Stärke und Absichten zu gewinnen, ist dies – systembedingt – nie wirklich gelungen. Deutsche, die der DDR den Rücken gekehrt hatten und in den Westen geflohen waren, konnten zu dieser Thematik bei ihren obligatorischen Vernehmungen durch die Geheimdienste der westlichen Alliierten wenig Erhellendes beitragen.

Auch die westlichen Militärmissionen, die sich in der DDR theoretisch hätten frei bewegen können, wurden in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt, um nicht zu tiefe Einblicke über die Stärke der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und ihre Handlungen zu gewinnen. Dazu diente beispielsweise die Dienstanweisung 8/60 des DDR-Ministers des Innern und Chefs der Volkspolizei vom 22. Januar 1960, in der detailliert „Maßnahmen zur Einschränkung der Aufklärungstätigkeit der beim Ober­kommandierenden der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland akkredierten ausländischen Militär­verbindungs­missionen", die 1983 noch einmal aktualisiert wurde, beschrieben und befohlen waren.


Erinnerlich ist auch, daß noch längst nach Einsetzen des Tauwetters zwischen Ost und West ein amerikanischer Angehöriger der Militärverbindungsmission „in Ausübung dienstlicher Obliegenheiten" erschossen wurde.

Gab es also im Westen in den beschriebenen wichtigen politischen und militärischen Bereichen kaum Erkenntnisse über die sowjetischen Truppen in der DDR, fehlten sie in dem Komplex, mit dem sich der Autor in diesem Buch befaßt, völlig. Für die Führung der DDR und somit auch für die Bevölkerung der DDR war dieses Thema – von wenigen Ausnahmen abgesehen – tabu. "Waffen- und Klassenbrüderschaft" war angesagt, nicht aber die Zurkenntnisnahme von Straftaten oder gar deren konsequente Verfolgung. 

Natürlich wußten auch die Menschen in der DDR um die kriminelle Energie vieler sowjetischer Soldaten, und bisweilen kam selbst das Neue Deutschland nicht umhin, darüber berichten zu müssen. Dieses allerdings nicht bei Gewalttaten, bei Morden und Vergewaltigungen, sondern vornehmlich bei schweren Verkehrsunfällen, zumal dann, wenn diese sich auf Transitstrecken zwischen Berlin und dem übrigen Bundesgebiet ereignet hatten und es zu viele – auch westliche – Zeugen gab, um die Geschehnisse „unter den Tisch zu kehren".

Eine Zahl von 800.000 und mehr sowjetischen Soldaten einschließlich der Zivilbediensteten und der Familien­angehörigen entspricht der Bevölkerungszahl einer deutschen Großstadt. Neben den Berufssoldaten waren unzählige Wehrpflichtige unterschiedlichster Nationalität östlich der Elbe stationiert, was einer Unterwerfung unter deutsches Recht nicht eben förderlich war. Eingeräumt werden muß, daß die Anwesenheit von Besatzungstruppen auf dem Gebiet eines fremden Staates immer Probleme aufwirft. Dies war in den ersten Nachkriegsjahren in Westdeutschland nicht anders. 

Doch es gab wesentliche Unterschiede zwischen den Besatzungstruppen in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise dann später in der DDR und den in den Westzonen. In den Gebieten, in denen amerikanische, britische und französische Truppen stationiert waren, bildete sich sehr schnell ein rechtsstaatlicher Systemkonsens heraus, der es nach unvermeidlichen anfänglichen Schwierigkeiten ermöglichte, gemeinsam für Recht und Ordnung zu sorgen. In der DDR dagegen galt das Recht des Siegers, das zudem von der politischen Führung in Ost-Berlin verharmlost und bemäntelt wurde.

8


Es liegt auf der Hand — und dies ist nicht etwa symptomatisch für die sowjetische Armee —, daß sich unter 800.000 Menschen auch zahlreiche Kriminelle befinden. Dieses ist auch nicht der Vorwurf, der heute erhoben werden soll. Es geht um die kriminelle Energie einer Vielzahl von Soldaten und in erster Linie der vorgesetzten Offiziere, um die Disziplinlosigkeit innerhalb der GSSD und darum, daß deutsches Recht, dem auch die sowjetischen Soldaten spätestens mit Abschluß des Stationierungsabkommens (März 1957) beziehungsweise des Rechtshilfeabkommens (August 1957) formell unterlagen, bis zum 3. Oktober 1990 mit Füßen getreten wurde. Und es geht darum, darzustellen, daß kriminelle Handlungen sowjetischer Soldaten auf deutschem Boden geradezu systembedingt waren, daß auf sämtlichen Führungsebenen – von Einzelfällen abgesehen – schon aus Prinzip die Augen vor dem kriminellen Handeln geschlossen wurden.

Die sowjetischen Truppen hatten sich auf dem Gebiet der DDR als Staat im Staate eingerichtet; sie ließen nichts anderes gelten als ihre eigenen Gesetze — oder richtiger: ihre Gesetzlosigkeit. Sie mordeten und stahlen, sie vergewaltigten, verursachten grob fahrlässig schwerste Verkehrsunfälle oder Waldbrände, verkauften Waffen und setzten beim Scharfschießen sämtliche Sicherheitsbestimmungen außer Kraft, ohne in der Regel eine entsprechende Bestrafung fürchten zu müssen. Auf den Straßen der DDR unterlagen sie nicht deutschem Recht, sondern dem der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Nicht deutsche Richter urteilten über sie, sondern sowjetische Kommandeure oder Militärtribunale.

Ist es noch nachvollziehbar, daß die DDR-Führung der ersten Nachkriegsjahre, die in die Sowjetunion emigriert und 1945 nach Deutschland zurückgekehrt war, sich davor scheute, eine Kriminalität auf sowjetischer Seite überhaupt zu erkennen oder gar zu ahnden, kann man dies in späteren Jahren nicht mehr gelten lassen. Und dennoch hat sich bis zum 3. Oktober 1990 kein sowjetischer Soldat jemals vor einem deutschen Richter verantworten müssen. Die GSSD hatte sich einen rechtlichen Freiraum geschaffen, den sie nicht gewillt war, antasten zu lassen oder aufzugeben — und vom ZK oder Politbüro der SED war ein Beschneiden dieser Freiräume zu keiner Zeit ernsthaft zu befürchten.

Es ist legitim, zu fragen, ob es heute richtig und erforderlich ist, sich mit dem sowjetischen Unrecht in der früheren DDR zu beschäftigen. Die Antwort kann aus mehreren Gründen nur positiv ausfallen. Zum einen geht es schlicht darum, einen wichtigen Aspekt des 40jährigen Zusammenlebens zwischen Deutschen und sowjetischen Soldaten — wobei der Begriff „Zusammenleben" stark relativiert werden muß — zu dokumentieren und festzuhalten. 

9


Wer die Geschichte der DDR beurteilen will, kann nicht umhin, sich auch mit den auf ihrem Gebiet stationierten sowjetischen Streitkräften zu beschäftigen, die bis zum Tag der Wiedervereinigung offiziell — wenn auch nicht öffentlich zugegeben — den Status von „Besatzungstruppen" beibehalten hatten. Deutlich wird in jedem angeführten Beispiel die Ohnmacht der DDR gegenüber dem „großen Bruder", dem sich die Führung dieses Moskauer Satellitenstaates trotz aller Souveränitätsbeteuerungen ergeben hatte.

 

Die Problematik der einstigen kriminellen „Waffenbrüder" zu thematisieren ist aber auch insofern hochaktuell, als hier bereits die Wurzeln heutigen organisierten Verbrechens in der Bundesrepublik Deutschland zu finden sind. Zu DDR-Zeiten war die Staatliche Münze in (Ost-) Berlin erwiesenermaßen Anlaufpunkt für höchste Offiziere, die dort kiloweise aus der Sowjetunion geschmuggeltes Gold verkauften und mit in der DDR erworbenen, in der UdSSR knappen Konsumgütern in Maschinen der Luftstreitkräfte zurückkehrten, wo der Kreislauf von vom begann. Zum Teil dieselben — nunmehr ehemaligen — Offiziere sind es, die jetzt innerhalb der Russen-Mafia ihre Fäden ziehen und dabei ihre Erfahrungen und Verbindungen zu nutzen wissen.

Bei der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und dann der Westgruppe der Truppen hatte es sich um eine Armee gehandelt, deren militärische Vorgesetzte Straftaten häufig nicht nur duldeten, sondern — beispielsweise Diebstähle „für Belange der Truppe" - förderten oder gar befahlen und selbst daran teilnahmen. Das Prinzip der Inneren Führung oder das Ideal des Staatsbürgers in Uniform waren und sind in der sowjetischen beziehungsweise heute russischen Armee nicht gewollt und unbekannt, weil hierdurch Machtstrukturen, Hierarchien und nicht zuletzt und vor allem auch Pfründe in Zweifel gestellt worden wären. Dieses Buch zeichnet das Bild einer Armee in einer Diktatur, wie es die Menschen weder in den neuen Ländern noch in den alten bisher gekannt hatten oder auch nur annähernd hätten erahnen können.

*

10


   

Einleitung

Volker Koop

 

"... ist auch der Status der in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte nicht klar definiert. Nach den bestehenden Abkommen sind sie in der DDR verbliebene ehemalige Besatzungstruppen ohne Besatzungs­funktion ..."  

Aus der 1988 auf Beschluß des Politbüros des ZK der SED erstellten 
"Analyse des <Stationierungs­abkommens> vom 12. März 1957" 
Geheime Verschlußsache   GVS-Nr.: A 426 034

11-17

31 Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens über die zeitweilige Stationierung sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik, 33 Jahre nach der Gewährung einer (Schein-) Souveränität von Moskaus Gnaden für die DDR hatten die sowjetischen Streitkräfte im Deutschland östlich der Elbe noch immer den formellen Status von Besatzungs­truppen. Natürlich mußte eine solche Tatsache, die die Phrasen von der „Klassen- und Waffenbrüderschaft" wie eine Seifenblase hätte platzen lassen, wären sie denn bekannt geworden, vor der eigenen Bevölkerung geheimgehalten werden. Ihr wurde statt dessen immer wieder eingebleut, daß die Truppen der GSSD und der NVA „Schulter an Schulter gemeinsam an Elbe und Werra auf Wacht zum Schutz des Sozialismus, zur Verteidigung des Friedens stehen".

Doch die Wirklichkeit sah anders aus. In ihr zeigte sich bis zum Abzug der sowjetischen beziehungsweise zuletzt dann russischen Truppen aus Deutschland, daß sie von höchsten Offiziersdienstgraden bis hin zum Soldaten die Besatzermentalität unauslöschlich verinnerlicht hatten.


Gekommen waren sie 1945 als Befreier, wurden zur Besatzungsmacht und richteten sich dann, vom 20. September 1955 an, auch auf der Grundlage des Vertrages „über die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" auf ein dauerhaftes Bleiben im Deutschland östlich der Elbe ein.

Nach Artikel 4 dieses Vertrages war, ebenfalls am 20. September 1955, das „Protokoll über die Bedingungen der Stationierung sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der DDR" unterzeichnet worden, nach dem die Jurisdiktion ausschließlich dem Kommando der sowjetischen Truppen in der DDR überlassen blieb. Der scheinbaren Rechtshoheit der DDR auf ihrem eigenen Territorium wurde das Protokoll demnach in keiner Weise gerecht. Damit ist auch zu erklären, daß es weder nach der Gründung der DDR 1949 noch nach der angeblich erlangten vollen Souveränität im Jahr 1955 Aktivitäten von Einrichtungen der DDR, beispielsweise der Volkspolizei, gegen Straftaten durch Angehörige der sowjetischen Streitkräfte gegen die Bevölkerung der DDR gegeben hatte. Erst anläßlich gemeinsamer Verhandlungen zwischen Regierungsdelegationen beider Seiten vom 3. bis zum 8. Januar 1957 wurde festgelegt, daß ein Stationierungsabkommen abgeschlossen werden sollte, in dem unter anderem Fragen der Gerichtsbarkeit in Straf- und Zivilsachen zur Regelung anstanden. So wurde denn am 12. März 1957 ein die gerade einmal acht Jahre junge DDR tatsächlich eher knebelndes „Abkommen über die zeitweilige Stationierung sowjetischer Streitkräfte auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik" unterzeichnet, über dessen Fragwürdigkeit noch häufiger in diesem Buch zu sprechen sein wird.

12


Mit dem Ende der DDR und der deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 war auch der Abzug der damals noch sowjetischen Truppen geregelt worden. Besonders bis zum August 1994, als mit Befehlshaber Generaloberst Burlakow – von einem kleinen Nachkommando abgesehen – auch der letzte russische Soldat in die Heimat zurückkehrte, gab es in den neuen Ländern bei der Verabschiedung des vormaligen großen Waffenbruders immer wieder herzzerreißende Szenen. Hausfrauen gaben den Soldaten selbstgebackene Kuchen mit auf den langen Weg, insbesondere die unteren Dienstgrade wurden mit Geschenken geradezu überhäuft. Zigtausende ließen es sich nicht nehmen, die Abschiedsparade der russischen Truppen in Berlin-Karlshorst hautnah mitzuerleben.

Vergessen schien auf einmal, daß sich die ruhmreiche sowjetische Armee auch nach Unterzeichnung des oben erwähnten Abkommens nicht als Partner gezeigt, sondern weiterhin, bis zum Ende der DDR, als Besatzungsmacht aufgespielt hatte. Die staatlich verordnete Freundschaft war überwiegend hohl und ohne jedes wirkliche innere Leben geblieben. Dies galt vor allem für den Bereich der Armee, wo Aktivitäten wie die Patenschaftsaktion „Das Regiment von nebenan" nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß die sowjetischen „Militärberater", die in fast allen Dienststellen, Truppenteilen und Einheiten der Nationalen Volksarmee sowie der Grenztruppen zu finden waren, das letzte Sagen hatten.

War mit dem „Abkommen über die zeitweilige Stationierung sowjetischer Truppen auf dem Territorium der Deutschen Demo­kratischen Republik" der DDR der Anstrich der Souveränität gegeben worden, so wurde in diesem Papier auch formell eine Frage geklärt, die Auswirkungen auf alle Einwohner der DDR haben sollte: Es ging in der Folge um ein Rechtshilfeabkommen, von dem der Leiter der Delegation der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Dr. Ostmann, am 2. August 1957 an den „Sehr geehrten Genossen Suchodrew" schrieb, er habe

„die Ehre, die zwischen unseren beiden Delegationen getroffene Übereinstimmung zu bestätigen, daß das Verfahren bei der Durchführung von Verhaftungen und bei der Einleitung eines gerichtlichen Strafverfahrens gegen Personen, die den zeitweilig auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik stationierten sowjetischen Streitkräften angehören, in gleicher Weise gehandhabt wird wie das Verfahren gegen Angehörige der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik".

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In der Theorie sollte diese gegenseitige Rechtshilfe bedeuten, daß die Militärstaatsanwälte der NVA alle Straftaten sowjetischer Soldaten, die diese außerhalb ihrer Kasernen begingen, zu untersuchen und die Ergebnisse den sowjetischen Militärstaats­anwälten mitzuteilen hatten. Und das waren nicht eben wenige. Gewaltkriminalität sowjetischer Soldaten gegenüber Einwohnerinnen der DDR – vor allem Vergewaltigungen – gehörten ebenso zum Alltag wie Delikte gegen privates und „sozialistisches" Eigentum und die massive Gefährdung des Straßen-, aber auch Eisenbahnverkehrs. Trotz der formell geregelten gegenseitigen Rechtshilfe fochten die NVA-Militärstaatsanwälte jedoch einen einsamen und im Ergebnis weitgehend nutzlosen Kampf. Denn selbst bei erdrückender Beweislast wiesen die sowjetischen Militärstaatsanwälte in der Regel erst einmal und grundsätzlich jede Schuld eines sowjetischen Soldaten weit von sich. Ein Angehöriger der ruhmreichen sowjetischen Armee konnte wohl Vorbild, a priori aber niemals kriminell sein.

Eine wichtige Erkenntnis aus Aktenstudium sowie Gesprächen mit ehemaligen DDR-Militärstaatsanwälten über die Kriminalität sowjetischer Truppen in der ehemaligen DDR ist, daß die Leitung der Unterabteilung III Internationale Arbeit bei der Militär-Oberstaatsanwaltschaft der DDR in Hunderten von Briefen und Eingaben immer wieder beim Militärstaatsanwalt der sowjetischen Truppen in Wünsdorf gegen versuchte Rechtsbeugung protestierte und auf der Weiterverfolgung beziehungsweise Wiederaufnahme der Untersuchung von im Grunde bereits geklärten Fällen beharrte. Auf Sitzungen der NVA-Militär­staats­anwaltschaft wurde bereits frühzeitig und über Jahrzehnte hinweg in überaus deutlichen Worten die mangelnde Kooperations­bereitschaft der sowjetischen Militärstaatsanwälte beklagt. Ein Zeichen beachtlichen Mutes und Selbstbewußtseins gerade auch in Zeiten, in denen Kritik an der Sowjetunion verpönt war und von der Sowjetarmee zu lernen, gleichzeitig siegen zu lernen hieß.

Straftaten sowjetischer Soldaten waren in der früheren DDR niemals ein Thema, über das offen oder gar öffentlich geredet werden konnte und durfte. Dennoch ließ sich die Kriminalität nicht verheimlichen, denn nur allzuschnell sprachen sich Morde, Vergewaltigungen, Diebstähle, schwere Verkehrsunfälle oder Schießunfälle zumindest hinter vorgehaltener Hand herum. Der Bürger­protest hielt sich zwar in Grenzen, der Bürgerzorn jedoch war unverkennbar.

Dieses Buch soll nicht "nachkarten" oder gar "abrechnen". Es soll dokumentieren. Es soll aufklären über einen wichtigen Aspekt des „Zusammenlebens" zwischen DDR-Bevölkerung und sowjetischen Truppen, über den bisher – selbst Jahre nach Öffnung der Archive – so gut wie gar nichts bekannt ist. 

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Es soll einen Einblick in das „Zusammenwirken" von DDR- und sowjetischer Militär­staats­anwaltschaft geben und zugleich ein Bild vom inneren Zustand der sowjetischen Truppen in der damaligen DDR vermitteln. 

Es weist zudem nach, daß die Unterabteilung III beim Militär-Oberstaatsanwalt als wohl einziges Justizorgan der DDR in keinem einzigen Fall gegen Deutsche ermittelte oder sie gar anklagte; daß sie die Interessen der Einwohner der DDR gegenüber der übermächtigen Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland vertrat. Und das war keinesfalls eine leichte Aufgabe.

Dieses Buch – das muß eingeräumt werden – leidet möglicherweise darunter, daß es nicht die Kriminalität der sowjetischen Truppen während ihres gesamten Aufenthaltes in der SBZ beziehungsweise dann in der DDR exakt dokumentieren kann. Unbestritten beispielweise ist, daß die sowjetischen Soldaten in den ersten Nachkriegsjahren willkürlich Personen, über deren Schicksal bis heute nichts bekannt ist, von der Straße weg unter dem Vorwand, sie seien Nazis, verhafteten. Dies geschah selbst noch nach Gründung der DDR im Jahr 1949. Dennoch aber hütete sich die Regierung der neugegründeten DDR, gegen diese Willkürakte und Übergriffe zu protestieren oder einzuschreiten. Diese Tatsache spiegelt zugleich wider, welch geringe Bedeutung die Staatsführung der DDR dieser Problematik insgesamt beimaß.

Bis zum Abschluß des Stationierungsabkommens im Jahr 1957 können allenfalls – wenn überhaupt – sporadisch durch die Volkspolizei Straftaten sowjetischer Soldaten aufgenommen und kritiklos an die sowjetische Seite gemeldet worden sein, ohne daß sie auf die weiteren Untersuchungen oder Ermittlungen Einfluß hätte nehmen wollen oder gar können. Selbst nach Abschluß des Stationierungsabkommens, in dem ja festgelegt worden war, daß Straftaten sowjetischer Soldaten nach deutschem Recht hätten untersucht werden müssen, geschah dies nur in Einzelfällen – ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Staatsführung der DDR, die zu jener Zeit in ihrer Mehrzahl noch aus den Mitgliedern der „Moskauer Gruppe" bestand, nicht nur kein Interesse an der Realisierung des Stationierungsabkommens in dieser Frage hatte, sondern diese geradezu unterband.

Verläßliche Statistiken über Fälle von Kriminalität der Angehörigen der GSSD wurden durch den Militäroberstaatsanwalt der DDR erst seit 1967 geführt, zehn Jahre nach Inkrafttreten des Stationierungsabkommens, elf Jahre nach Bildung der Militär­staats­anwaltschaft der DDR und zehn Jahre nach Inkrafttreten des Rechtshilfeabkommens. Schriftliche Unterlagen aus der Zeit zuvor existieren nicht, ebenso finden sich heute auch keine Zeitzeugen mehr.

15


Nachdem die DDR-Führung der eigenen Militärstaatsanwaltschaft zugestanden hatte, Statistiken über die Zahl der Straftaten sowjetischer Soldaten in der DDR zu führen, ergaben sich bis 1987 folgende Zahlen, wobei anzumerken ist, daß es sich hierbei um jeweils einzelne Vorgänge handelt, die eine Vielzahl einzelner Straftaten beinhalten konnten:

-1967: 498 

-1968: 546 

-1969: 581 

-1970: 528 

-1971: 547

-1972: 651  

-1973: 835 

-1974: 1053

-1975: 1241 

-1976: 1273

-1977: 1482 

-1978: 1591  

-1979: 2006 

-1980: 2144 

-1981: 3220 

-1982: 3223

-1983: 2871 

-1984: 3217 

-1985: 2669 

-1986: 2504

-1987: 2340

Diese Zahlen sind insofern erläuterungsbedürftig, als aus der Tatsache, daß 1967 lediglich 498 Vorgänge durch die Militär­staats­anwaltschaft der DDR bearbeitet wurden, 1981 demgegenüber 3220, nicht etwa geschlossen werden darf, die Kriminalität innerhalb der GSSD habe in diesem Zeitraum in einem derartigem Maße zugenommen. Tatsächlich sind die genannten Zahlen Ausdruck einer effektiveren Arbeit von DDR-Militärstaatsanwaltschaft im Zusammenwirken mit Volks-, Transport- und Kriminalpolizei und der Aufdeckung von mehr Fällen zuvor latenter Kriminalität. Richtig allerdings ist, daß die Brutalität beim Begehen der Straftaten – auch durch den Einsatz von Schußwaffen – im Laufe der Jahre ständig zunahm; dies allerdings ist eine Erscheinung, die nicht nur innerhalb der GSSD, sondern auch im westlichen Europa zu verzeichnen war und ist.

Sowjetische Quellen über die Kriminalität von Angehörigen der GSSD stehen nicht zur Verfügung beziehungsweise sind insofern nicht aussagekräftig, als zahlreiche Fälle, die aus deutschem Rechtsverständnis eine Straftat darstellten, aus sowjetischer Sicht völlig anders eingeschätzt und beurteilt wurden. Zudem bemühte sich erst der sowjetische Militärstaatsanwalt Perepeliza, von dem im weiteren noch häufig die Rede sein wird, Mitte der 80er Jahre darum, auch auf sowjetischer Seite korrekte Übersichten über die Straftaten der in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten einzuführen und stieß hierbei auf erhebliche Schwierig­keiten nicht nur organisatorischer Art.

Unter der unbefriedigenden Quellenlage aus den Jahren vor 1967 leidet die Aussagekraft der Darlegungen in diesem Buch in keinem Fall, zumal davon ausgegangen werden kann, daß vor Unterzeichnung von Stationierungs- und Rechtshilfeabkommen angesichts bis dahin fehlender jeglicher Regelungen ähnliche, wahrscheinlich aber sogar höhere Kriminalitätsraten zu verzeichnen waren als nach Einführung der Statistiken.

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Volker Koop

 

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